COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Länderreport 3.2.10 (1) Kreative Milieus: Das Tacheles in Berlin (10'05) Autorin: Katja Bigalke Red.: Claudia Perez Atmo Straße / Treppe In der Oranienburger Straße, die von spiegelndem Glas und glatt verputzen Fassaden dominiert wird, sorgt das Haus mittlerweile für Irritation. Die graue, notdürftig geflickte Kaufhausruine ist von Graffiti überzogen. Etliche Veranstaltungsplakate kleben in dicken Schichten übereinander im Hauseingang. Das Tacheles, das seinen Namen der ostdeutschen Künstlerinitiative verdankt, die das Haus am 13 Februar 1990 besetzte, wirkt heute wie ein Denkmal. Es erinnert an eine Zeit, in der die freie Meinungsäußerung ungeheuer euphorisierte und in der die Mitte der Stadt zur Spielwiese von Künstlern und Lebenslaboranten gemacht wurden. O-Ton Das war das größte Haus wo Künstler waren. Wo die Leute nicht gewohnt haben da waren viel Bekannte aus der DDR und aus Westberlin und es war super aktiv es war wie ein surrealistischer Film kurz nach der Wende wo meine Erziehung dann ein weißes Blatt war -. war das so der Ort wo ich was gefunden habe, wo man was machen konnte Autorin Paulo San Martin, ein gebürtiger Chilene, der in der DDR Kunst studiert hatte, erinnert sich gerne an diese Anfangszeit des Tacheles. Mit viel Unterstützung aus der freien und staatlichen Theaterszene baute er damals die Bühne des Hauses auf. Vorraussetzung zum Mitmachen, war im Jahr 1990 vor allem viel Energie - um den ganzen Schutt zu beseitigen und das Gebäude überhaupt nutzbar zu machen. Wer danach noch dabeiblieb, den hielt die Lust aufs Experimentieren: O-Ton Der Tacheles Verein, der hatte einfach das Ziel ein offenes internationales Kunsthaus zu machen. Dazu gehörten Experimente die nicht ganz so etabliert waren, wo auch viel Musik war und Performances. Musik Rammstein Rammstein gab in den 90er-Jahren Konzerte hier, die Tanztruppe um Sasha Waltz machte hier Station. Eine der schönsten Aufsteigergeschichten, die das Haus zu bieten hat ist aber immer noch die von der Fashion-Queen Donatella Versace, die durch die zugigen, nach Urin stinkenden Flure des Hauses stackst und in den Collagen von Tim Roeloff ihre neue Inspirationsquelle findet. Über Nacht war aus dem Undergroundkünstler ein Star geworden Musik Kreuzblende Atmo Haus Autorin 20 Jahre nach der Gründungsbesetzung euphorisiert diese Aufbruchszeit immer noch viele Berlinbesucher. Und auch wenn man über die heute im Tacheles gezeigten Werke durchaus geteilter Meinung sein kann: Auf der Suche nach dem experimentellen Geist Berlins stranden jährlich 100.000nde Touristen hier. Und auch die Künstler aus aller Welt sind immer noch da - die 30 Ateliers des Kunsthauses zum Teil sogar überbelegt. O-Ton Ich mag an diesem Atelier, dass es historischen Charakter hat man sieht die Geschichte des Hauses und die Spuren der Künstler die hier vorher waren. Das ist für mich ein Gefühl das sich gut anfühlt O-Ton sagt etwa der Illustrator Roman Kroke der in in der vierten Etage des Hauses an seinen Storyboardartigen Geschichten arbeitet. Atmo Aufwärmtraining Autorin Die Rumänin Maria Stoyanova, die sich im Studio nebenan mit ihrer kleinen Theatertruppe aufwärmt, schwärmt von der experimentellen Offenheit des Ortes O-Ton Bei vielen Theatern steht das Ergebnis im Vordergrund und der Arbeitsprozess wird diesem Ziel untergeordnet. Manchmal stirbt so die Kreativität. Hier im Tacheles können wir unseren Weg gehen und wirklich recherchieren. Es gibt keinen Druck Autorin Und auch der italienische Elektromusiker Gino Connicpolni, der sich mit seiner Technik hinter der einfallslosen Modekollektion seiner Freundin verbarrikadiert hat, wüsste nicht wo er lieber sein würde O-Ton Alle die hier arbeiten haben etwas mit Kunst zu tun und es ist schön diese Auseinandersetzungen zu haben man bekommt viele Ideen. Manchmal komponiere ich hier und dann kommt einer dazu und sagt, hey da würde ich zu singen, da würde ich gerne ne Gitarre zu hören und so vermischt sich hier alles. Das ist ein super künstlerischer Ort. So etwas wie das Tacheles gibt es nicht noch einmal. Autorin Mit dem bunten Nebeneinander wird demnächst aber wohlmöglich Schluss sein. Schon seit mehr als einem Jahr bemüht sich der Tacheles e.V darum, seine Überlebenschancen zu sichern. Rechtlich sieht die Situation für das Haus allerdings so schlecht aus wie noch nie: Der Mietvertrag, nach dem der Verein dem Eigentümer bis 2008 eine symbolische Monatsmiete von 50 Cent überwies, wurde nicht verlängert. Erschwerend hinzukommt, dass das Gelände, auf dem das Tacheles steht mittlerweile zwangsverwaltet wird: Linda Cerna Sprecherin von Tacheles e.V. O-Ton Es gibt einen Eigentümer des gesamten Areals also nicht nur des Tacheles sondern des ganzen Areals - das ist die Fundusgruppe von Herrn Jagdfeld ? bekannt auch durch das Hotel Adlon oder in Heiligendamm das Grand Hotel - die sind in finanzielle Schwierigkeiten geraten und daraufhin hat die Kreditgebende Bank die HSH Nordbank Ende 2007 die Zwangsversteigerung bzw. die Zwangsverwaltung des Areals beantragt. Und zusätzlich eine Miete eingeklagt die sich auf über 100.000 beläuft. Autorin Der Tacheles e.V musste daraufhin selbst Insolvenz anmelden und erwartet seitdem jeden Tag den Räumungsbescheid. Letzte Hoffnungen ruhen nun auf der Politik: In einem offenen Briefe an die Regierenden der beiden an der HSH Nordbank beteiligten Länder Hamburg und Schleswig Holstein warnt der Vorstand des Tacheles e.V eindringlich davor die kreative Mitte Berlins zugunsten von Luxusbebauungen eines noch gar nicht existierenden Investors zu zerstören. O-Ton Unsere Forderung ist, dass das Tacheles mittel Erbpacht herausgelöst wird und in eine öffentliche Stiftung überführt wird und dass man es so ein gemeinnütziges Projekt bewahren kann. Autorin Als relativ aussichtslos beurteilt allerdings der Insolvenzverwalter des Tacheles diese Perspektive. Dass Recht sei auf Seite der HSH Nordbank, sagt Joachim Voigt Salus. Dass zu diesem Zeitpunkt die Politik das Ruder noch herumreißt hält er für unrealistisch. O-Ton Das Tacheles müsste zweierlei ? die Berliner Politik begeistern. Dann müsste die berlinerbegeisterte Politik in Hamburg und Schleswig Holstein wirken und drittens müsste man noch eine Sponsor finden der so viele Mittel zur Verfügung stellt damit man die HSH Nordbank noch ein bisschen zufrieden zu stellen. Sehr unrealistisch glaube ich. Ich kann mir nicht vorstellen dass die Berliner Politik in der Lage ist etwas zur Verfügung zu stellen und ich kann mir auch nicht vorstellen dass die Hamburger und die Schleswig Holsteiner Luftsprünge machen, wenn die Berliner bitten auf die Bank einzuwirken. Autorin Bislang springen tatsächlich nur wenige: In Schleswig Holstein unterstützen die Grünen das Tacheles, in Hamburg wird die Linke eine Pressekonferenz im Rathaus organisieren, bei der unter anderem 70.000 gesammelte Unterschriften für den Erhalt des Hauses verteilt werden sollen. Im Berliner Kreativmilieu herrscht hingegen Schweigen. Bis auf einzelne Unterstützer wie den Künstler Jonathan Meese kam es bislang zu keiner nennenswerten Solidarisierungswelle mit dem Kunsthaus Tacheles. Woran das liegt? Atmo: Straße in Berlin Mehrere Straßen vom Tacheles entfernt ? neben dem Hamburger Bahnhof, hat Friedrich Loock seine Galerie Wohnmaschine. Auch er gehörte zu denen, die Berlin Mitte Anfang der 90er-Jahre aufgemischt haben. Auch er experimentierte damals mit einem eigenen Kunstraum in der Auguststraße, dem heutigen Galerienzentrums der Stadt. Und auch er verfolgte neugierig was im Tacheles so passierte: Aber nur die ersten Jahre, wie er betont: O-Ton Das spannende war, dass das Haus ja nie abgeschlossen und dementsprechend so ein Ort war an dem sich Kunst besitzfrei entwickelt hat also auch der Künstler der da geschaffen hat war mit der Situation konfrontiert dass da am nächsten Tag jemand weitergebastelt hat. Diese unglaubliche Offenheit alles zu tun in dem Gebäude von Bildender Kunst und auch die ersten Technoveranstaltungen Musik und Performances, da hat das Haus ja in den ersten Jahren wirklich interessante Projekte gehabt. Aber ehrlich gesagt seit zehn Jahren war ich nicht mehr in dem Gebäude und sehe auch nichts mehr was da raus kommt was mich interessiert. Also dann waren die Kunstwerke viel spannender und sind auch ein Ort der internationale Bedeutung hat und da interessante Sachen bewegt und das kann man über Tacheles ja nicht sagen Autorin Dass das Ende des Tacheles dem Ende der kreativen Mitte gleichkomme, so wie es die heutigen Vorsitzenden des Tacheles Vereins behaupten, bezweifelt Loock. Für ihn steht mit dem Tacheles eine Touristenattraktion auf dem Spiel, nicht ein Ort von ernstzunehmender Kunstproduktion um den es sich zu kämpfen lohnt. Das Tacheles sei lediglich eine Zeitkonserve in einem Bezirk der sich eher zum Schaufenster als zum Produktionsstandort der Kunstszene etabliert habe. O-Ton Die künstlerische Produktion die findet eh schon ganz woanders statt. Das verteilt sich über die ganze Stadt. Alles hat seine Zeit. Ich mein die Wohnmaschine ist ja auch nicht mehr Ecke Tucholskystraße das ist jetzt die Nobelbotique von Joop Wunderkind drin. Wir haben uns auch weiterentwickelt sind nicht mehr in 40 sondern in 400 Quadratmetern. Entweder man entwickelt sich sich dann auch weiter und ist erfolgreich oder ? die Dinge verlieren dann auch schnell ihre Daseinsberechtigung Autorin Und trotzdem: Sollte das Tacheles im Jahr seines 20. Geburtstags tatsächlich geräumt werden, wird einer der letzten Erinnerungsort der Nachwendezeit aus Berlin Mitte verschwinden. Und auch wenn es das Haus verschlafen hat, sich neu zu erfinden - Viele wird es mit Wehmut erfüllen, wenn dann die letzte Fassade der Oranienburger Straße glatt verputzt und das Tacheles wohlmöglich in Tacheles-Residences verwandelt wird.