COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von DeutschlandRadio / Funkhaus Berlin benutzt werden. DeutschlandRadio Kultur Sendedatum: 20.10.2009 Red.: Barbara Wahlster Schritte im Schatten Zum 90.Geburtstag der Nobelpreisträgerin Doris Lessing Eine Sendung von Maike Albath Autorin: Sie kommt aus Afrika ... O-1, O-Ton Doris Lessing (voice over)/ Sprecherin: Afrika hat den größten Einfluss auf mein Leben gehabt, ich war schließlich bis zu meinem dreißigsten Lebensjahr dort. Meine ganze Jugend. Autorin: ... .ist Verfasserin von Romanen, Erzählungen, AutoBiografien, Science Fiction, Abenteuergeschichten. O-2, O-Ton Doris Lessing (voice over)/ Sprecherin: Ich habe schon immer geschrieben. Die ganze Zeit. Autorin: Über vierzig Veröffentlichungen insgesamt. Ihre Produktivität ist ehrfurchtgebietend ... . O-3, O-Ton Doris Lessing (voice over)/ Sprecherin: Ich arbeite nicht mehr jeden Tag. Je älter man wird, desto mehr hat man zu tun. Autorin: Was sie als Last empfindet ... O-4, O-Ton Doris Lessing (voice over)/ Sprecherin: Man wird nicht weiser im Alter. Man ist leichter zu verärgern. Weiser kein bisschen. Eher genervter. Autorin: Und sie ist die Literatur-Nobelpreisträgerin von 2007 ... O-5, O-Ton Doris Lessing (voice over)/ Sprecherin: Ich habe alle Preise Europas bekommen, jeden einzelnen. Es freut mich, dass es wirklich alle sind. Und jetzt habe ich beim Pokern einen royal flush gelandet ... Regie: Atmo, A 1, bei Lessing im Haus Autorin (auf Atmo): Doris Lessing, die große alte Dame der angelsächsischen Literatur. Wir sind in Hampstead, im Norden von London. Hier ist Lessing seit neunundzwanzig Jahren in einem jener kleinen Ziegelsteinhäuschen mit Vorgarten zu Hause. Sie teilt das Haus mit ihrem Sohn Peter. Der einzige Nachteil: die Treppen. O-6, O-Ton Doris Lessing (voice over)/ Sprecherin, wie Atmo: Ich bekomme vom Treppensteigen eher schlechte Laune, als dass es mich jung hält ... Autorin (auf Atmo): Mit ihrem blauen, weiten Rock und einem Herrenoberhemd über dem T-Shirt hat die berühmte Schriftstellerin etwas angenehm Unprätentiöses. Unsere Gastgeberin lotst uns an Bücherstapeln, Zeitungshaufen, den Turnschuhen ihres Sohnes und einem überladenen Schreibtisch vorbei zu einem abgewetzten Sofa. Eine Katze lugt um die Ecke. Die Atmosphäre ist bohemienartig, alles wirkt auf sympathische Weise ungeordnet, offen für Überraschungen. 1919 als Tochter eines britischen Kolonialoffiziers geboren, wuchs Lessing in Rhodesien, dem heutigen Zimbabwe auf. Afrika ist ein Teil von ihr. O-7, O-Ton Doris Lessing (voice over)/ Sprecherin: Wer im Busch aufgewachsen ist, vergisst das niemals wieder. Unsere Gegend lag sehr hoch, sechstausend Fuß, es war trocken. Tagsüber wurde es heiß, aber die Nächte waren kalt. Es war eine raue Landschaft, manche empfanden sie als harsch. Autorin: Aber Doris Lessing hat sich dort immer zu Hause gefühlt. Auch Literatur gehörte mitten in der ungezähmten Natur von Anfang an zu ihrem Leben. O-8, O-Ton Doris Lessing (voice over)/ Sprecherin: Ich habe schon sehr früh lesen gelernt und meine Mutter war ziemlich gut darin, uns Lektüre zu beschaffen. Als ich mit acht Jahren auf die Klosterschule kam, hatte ich zum Entsetzen der Nonnen bereits Dickens gelesen, was sie unpassend für ein kleines Mädchen fanden. Aber mir hat das nicht geschadet, im Gegenteil. Lesen war meine Erziehung. Autorin: Anpassung war nicht ihre Sache. Mit vierzehn nahm sie von zu Hause Reißaus und schlug sich mit allen möglichen Jobs durch. O-9, O-Ton Doris Lessing (voice over)/ Sprecherin: Ich war zuerst Au-pair-Mädchen, wir hatten damals allerdings nicht so einen schicken Namen für diesen Job, dann arbeitete ich in der Telefonvermittlung, was mir großen Spaß gemacht hat. Danach war ich Sekretärin im Parlament und bei Regierungsausschüssen, da habe ich enorm gelernt. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, habe ich geheiratet. Alle heirateten damals, etwas Fiebriges lag in der Luft. Autorin (auf Musik): Frank Wisdom hieß Doris Lessings erster Mann, ein britischer Staatsbeamter. Das Paar bekam zwei Kinder. Lessing trennte sich nach vier Jahren Ehe, ließ die Kinder zurück und schloss sich einer Gruppe kommunistischer Intellektueller an. 1944 heiratete sie den deutschen Emigranten Gottfried Lessing, der interniert zu werden drohte. O-10, O-Ton Doris Lessing (voice over)/ Sprecherin: Der Krieg ist mir dadurch sehr nahe gerückt, mein zweiter Mann war schließlich vor Hitler geflohen und sprach von nichts anderem. Er wusste, was in Europa passierte, und dadurch nahm auch ich direkt Anteil. Autorin: Fünf Jahre dauerte die Beziehung. 1949 entschied sich die knapp Dreißigjährige, mitsamt ihrem Sohn Peter aus zweiter Ehe und einem unveröffentlichten Roman im Gepäck, von Rhodesien nach London zu gehen. Von ihrem zweiten Mann, der später in der DDR Karriere machte und der Onkel von Gregor Gysi ist, behielt sie den Nachnamen. Die Ankunft in Großbritannien war für Doris Lessing kein Kulturschock. O-11, O-Ton Doris Lessing (voice over)/ Sprecherin: Ich kannte England ja aus den Briefen unserer Freunde und Verwandten, es war schon immer Teil meines Lebens gewesen, alles schien sehr vertraut. Ungewohnt war allerdings die Härte des Alltags. In Afrika hatten wir genügend zu essen, und hier war alles rationiert. Die Häuser in London waren kalt, die Kleidung minderwertig. Autorin: Afrika und die Spannungen zwischen schwarz und weiß stehen im Mittelpunkt ihres literarischen Debüts Afrikanische Tragödie, das 1950 erschien. Lessing wickelt die Geschichte von ihrem Ende her auf und beginnt mit einer lakonischen Zeitungsnotiz über den Tod der weißen Farmersfrau Mary, die von ihrem schwarzen houseboy ermordet wurde. Unfähig, ihre Existenz selbst in die Hand zu nehmen, heiratete Mary den falschen Mann, litt unter der Armut, ließ ihre Wut an den schwarzen Bediensteten aus, bis der neu eingestellte Moses mit seiner beunruhigenden sexuellen Ausstrahlung das Verhältnis umkehrt. Zitatorin (auf Musik): Sie lag angespannt und mit hellwachen Sinnen auf dem Sofa; ihr Inneres bebte wie ein kleines gejagtes Tier, das seine Verfolger sieht. Es tat ihr alles weh vor Anspannung. Sie horchte auf die Nacht draußen, auf ihr eigenes Herz und auf die Geräusche, die aus dem Nachbarzimmer kamen. Sie hörte das trockene Stapfen hornhäutiger Füße, die über den dünnen Bodenbelag schritten, das Klirren von Gläsern, die umgestellt wurden. Dann hörte sie die Füße näher kommen und eine gleitende Bewegung, als der Eingeborene sich auf dem Sack zwischen den Schränken niederließ. Er war da, unmittelbar hinter der dünnen Wand, so nah, dass sein Rücken, wäre die Wand nicht, nur fünfzehn Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt läge! Sie stellte sich lebhaft den breiten, muskulösen Rücken vor und schauderte zusammen. Sie sah ihn so deutlich vor sich, dass sie sich einbildete, den warmen, säuerlichen Geruch wahrzunehmen, den die Körper der Eingeborenen ausströmen. Sie konnte ihn riechen, als sie im Dunkeln lag. Sie wandte den Kopf ab und vergrub das Gesicht im Kissen. (Doris Lessing, Afrikanische Tragödie, aus dem Englischen von Ernst Sander. S. Fischer Verlag Frankfurt 1982) Autorin: Aus Wut auf ihr Begehren behandelt Mary den Schwarzen mit Verachtung und provoziert ihn, bis alles auf eine Gewaltattacke zuläuft. Das ernüchternde Porträt der Kolonialgesellschaft war im London der Nachkriegszeit eine Sensation. O-12, O-Ton Doris Lessing (voice over)/ Sprecherin: Seit meinem ersten Buch lebe ich vom Schreiben. Am Anfang habe ich nicht sehr viel verdient, aber im Unterschied zu heute haben wir damals keine finanziellen Erwartungen gehabt. Schriftsteller schon gar nicht. Wir brauchten nicht viel Geld. Ich kannte niemanden, der welches hatte. Alle waren arm, alle kehrten gerade von irgendwelchen Schlachtfeldern zurück oder hatten in London den Blitzkrieg durch gestanden. Autorin (auf Musik) Ihr Umfeld bestand aus einem bunt zusammen gewürfelten Haufen von Künstlern, Schriftstellern und Theaterleuten, und mit einer Mischung aus Improvisation und Pragmatismus meisterte man den Alltag. 1949 trat Lessing in die kommunistische Partei ein, obwohl ihre unkonventionellen Positionen von Anfang an Unmut hervorriefen. O-13, O-Ton Doris Lessing (voice over)/ Sprecherin: Damals fiel alles auseinander, eigentlich war jeder in der Partei ein Außenseiter. Alle meine Freunde waren entweder Mitglieder gewesen oder wollten es werden oder trugen sich mit dem Gedanken, wieder auszutreten. Wir besaßen nicht diese moralische Inbrunst, außerdem sickerte langsam durch, was in der Sowjetunion passierte. Aber der Kommunismus hatte auch seine guten Seiten. Es gab zum Beispiel einen unglaublichen Optimismus, was die Zukunft der Menschheit anging. Nach den Jahren der Zerstörung und der Vernichtung brauchten wie diesen Optimismus sehr dringend. Autorin (auf Musik) Schritte im Schatten nennt Doris Lessing den zweiten Band ihrer AutoBiografie, der die Jahre 1949 bis 1962 umfasst. Der Titel ist programmatisch: es gelang ihr damals, aus dem Schatten ins Licht zu treten. Den Weg bahnte ihr das Schreiben. Die Literatur wurde zu einer moralischen Angelegenheit: Es galt Stellung zu beziehen und die Welt zu verbessern. Doris Lessing verstand sich als politische Schriftstellerin und wollte mit ihrem fünfteiligen Zyklus Kinder der Gewalt, der zwischen 1952 und 1969 erschien, auf die Missstände in Afrika und England aufmerksam machen. Der Idealismus ergriff viele Bereiche der Gesellschaft. Man suchte nach neuen Modellen des Zusammenlebens. O-14, O-Ton Doris Lessing (voice over)/ Sprecherin: Ich weiß nicht, wie es in Deutschland war, aber hier in London haben alle alles gemacht. Mein Agent Jonathan Clowe, der heute einige sehr bekannte Schriftsteller vertritt, war zum Beispiel Anstreicher und Kellner. Er war ein Sechziger-Jahre-Typ. Zwischendurch ging er für ein paar Freunde zu Verlagen und handelte Verträge aus. Als er merkte, dass er das gut konnte, wurde ein Beruf daraus, aber es war ein unglaublicher Zufall. Geschäfte wurden mit einem altruistischen Gedanken aufgezogen. So haben wir gelebt. Und ich muss sagen, dass das eine gute Sache war, auf diese Weise haben wir viel über das Leben gelernt. Aber sagen Sie, haben Sie meine AutoBiografien eigentlich nicht gelesen? Autorin (auf Schluss von O-14 setzen) : Oh, jetzt wird die alte Dame etwas unwirsch. Wir verstehen ihre Ungeduld, schließlich hat Doris Lessing vieles, was in ihrem Leben passierte, zu Literatur umgeformt. Wozu noch darüber reden? Regie: Atmo O-Ton Lessing A-2 (frei stehen lassen), - You're making statements all the time, but it wasn't like this ... Autorin: So schnell geben wir nicht auf, ein paar Dinge soll sie uns noch erzählen ... Als Autorin hat Lessing immer wieder polarisiert. Sie nahm es Schulter zuckend in Kauf, arbeitete unbeirrbar weiter und probierte immer wieder etwas Neues aus. Ende der 50er-Jahre begann sie, über weibliches Rollenverständnis zu schreiben und von Lebenskrisen zu erzählen. Lessing hatte den Vorteil, von außen auf England zu blicken und dennoch dazu zu gehören. O-15, O-Ton Doris Lessing (voice over)/ Sprecherin: Es ist unglaublich, wie bestimmend das Klassensystem bis heute in England ist. Damals gab es eine scharfe Grenze zwischen der Oberschicht und den unteren Schichten. Es ist viel besser geworden, aber es existiert immer noch. Die Menschen hier merken oft gar nicht, wie sehr es sie konditioniert und was das für Fesseln sind. Weil ich aus dem Ausland kam, konnte ich mir jede Menge Freiheiten heraus nehmen und mit allen möglichen Leuten Beziehungen anknüpfen. Ich besaß ganz einfach einen kühlen Blick und hatte Vergleichsmöglichkeiten. Das ist für einen Schriftsteller sehr nützlich. Afrika war in manchen Dingen weiter entwickelt als England. Autorin: Als Rhodesierin befand sie sich jenseits des Klassensystems, man konnte nicht einmal ihren Akzent richtig einordnen. Und vielleicht war der Blick von außen die Voraussetzung für Lessings 1962 erschienenes bahnbrechendes Werk Das goldene Notizbuch. Zitatorin: "Ungebundene Frauen", sagte Anna ungezwungen. Mit einem für Molly neuen Zorn, der ihr einen weiteren raschen, prüfenden Blick von ihrer Freundin eintrug, fügte sie hinzu: "Sie definieren uns immer noch im Hinblick auf Männerbeziehungen, sogar die besten von ihnen." "Wir tun's doch auch, oder etwa nicht?", sagte Molly ziemlich scharf. "Ich gebe zu, es ist furchtbar schwierig, es nicht zu tun", verbesserte sie sich hastig wegen des überraschten Blicks, den Anna ihr jetzt zuwarf. Eine kleine Pause entstand, während der sich die Frauen nicht ansahen, sondern überlegten, dass ein Jahr des Getrenntseins eine lange Zeit war, sogar für eine alte Freundschaft. (Doris Lessing, Das goldene Notizbuch, aus dem Englischen von Iris Wagner. Werkauswahl Band 1, Hoffmann & Campe, Hamburg 2007) Autorin: Für die Schriftstellerin Anna Wulf, die Heldin des Goldenen Notizbuches, und ihre Freundin Molly dreht sich alles um weibliche Lebensentwürfe und darum, welche Schwierigkeiten sie bergen. Zitatorin: Molly sagte schließlich seufzend: "Ungebunden. Weißt du, als ich fort war, habe ich über uns nachgedacht, und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass wir ein völlig neuer Frauentyp sind. Bestimmt, wir müssen so etwas sein." "Es gibt nichts Neues unter der Sonne", sagte Anna mit dem Versuch eines deutschen Akzents. Molly wiederholte entrüstet ? sie sprach ein halbes Dutzend Sprachen gut: "Es gibt nichts Neues unter der Sonne", mit der perfekten Wiedergabe der Stimme einer schlauen alten Frau mit deutschem Akzent. Anna schnitt eine Grimasse, die ihr Versagen eingestand. Sie konnte keine Sprachen lernen und war sich ihrer selbst zu bewusst, um jemals anders zu werden: Einen Augenblick lang hatte Molly ausgesehen wie Mother Sugar, sonst Mrs. Marks, zu der sie beide in die Psychoanalyse gegangen waren. Die Vorbehalte, die sie beide angesichts des feierlichen und schmerzhaften Rituals empfunden hatten, wurden durch den Kosenamen "Mother Sugar" ausgedrückt, der mit der Zeit viel mehr bezeichnete als eine Person, nämlich eine ganz bestimmte Lebensauffassung ? traditionell, verwurzelt, konservativ -, trotz ihrer skandalösen Vertrautheit mit allem Amoralischen. Trotz ? so hatten Anna und Molly es bisher empfunden, wenn sie das Ritual diskutierten; seit Kurzem hatte Anna mehr und mehr das Gefühl, dass es wegen dieser Vertrautheit war; und sie freute sich schon auf die Diskussion mit ihrer Freundin, speziell über diesen Punkt. (op.cit.) Autorin: Anna trägt viele autobiographische Züge. Das goldene Notizbuch dreht sich um ihren komplizierten Selbstfindungsprozess, denn sie schwankt zwischen verschiedenen Rollenmustern, Haltungen, Pflichten und Bewusstseinszuständen. Zitatorin (auf Musik): Jedes Mal, wenn ich mich zum Schreiben niedersetze und meiner Fantasie freien Lauf lasse, die Wörter, es ist so dunkel, oder etwas, das mit Dunkelheit zu tun hat. Entsetzen. Das Entsetzen von dieser Stadt. Angst, allein zu sein. Eins nur hält mich davon ab, aufzuspringen und zu schreien oder zum Telefon zu laufen, um jemanden anzurufen, das ist, mich bewusst zurückzuversetzen in jenes heiße Licht ... weiße Licht, lichtgeschlossene Augen, das rote Licht heiß auf den Augäpfeln. Die raue pulsierende Hitze eines Granitblocks. Meine Handfläche darauf ausgestreckt, sich über die Flechten bewegend. Die Maserung der Flechten. Klein wie winzige Tierohren, eine warme, raue Seide unter meiner Handfläche, hartnäckig an den Poren meiner Haut zerrend. Und heiß. Der Geruch der Sonne auf heißem Fels. Trocken und heiß, und die Seide aus Staub auf meiner Wange, nach Sonne riechend, die Sonne. Briefe von der Agentin über den Roman. Jedes Mal, wenn einer ankommt, möchte ich lachen ? das Gelächter des Abscheus. Übles Gelächter, Gelächter der Hilflosigkeit, Selbstbestrafung. (op.cit.) Autorin: Der drohende Zerfall des Ichs lagert sich auch in der Form ab: der Roman besteht aus lauter einzelnen Notizbüchern, die erst am Ende miteinander verklammert werden ? durch das goldene Buch, das der Auftakt von etwas Neuem ist. Das goldene Notizbuch ist formal ambitionierter als Lessings frühe Texte und kann bis heute als Höhepunkt ihres Werkes gelten. Auch international ist es ihr erfolgreichstes Buch: Man feiert, verdammt oder verehrt es bibelgleich. Endlich sagt jemand, wie es um die weibliche Seele wirklich bestellt ist und findet auch noch eine Sprache dafür. O-16, O-Ton Doris Lessing (voice over)/ Sprecherin: Der Roman wurde sehr unterschiedlich bewertet. Manche Leute hassten ihn. Es war von Anfang an ein sehr kontroverses Buch. Ich hatte damit nicht gerechnet, denn ich besaß eine gewisse Unschuld. Ich schrieb es ganz einfach. Aber einige Leute haben mich in dieser Kontroverse dann sehr unterstützt, bekannte Schriftsteller, Journalisten. Diese Angelegenheit durchzustehen, hat mir viel gebracht. Und es war übrigens auch nicht mein erstes Buch, das für Diskussionen sorgte. In Deutschland und Frankreich hieß es, der Roman sei zu aggressiv, also wurde er nicht veröffentlicht. Dabei war er schon überall auf der ganzen Welt erschienen! Autorin: 1962 war es in Deutschland für eine ungeschönte weibliche Introspektion noch zu früh. Als Das goldene Notizbuch 1974 endlich auf Deutsch erschien, kürte es die Frauenbewegung zum Manifest des Geschlechterkampfes. Lessing war entsetzt. Sie hatte unterdessen mit ihrer eigenen Mutter zu kämpfen und wurde nun mit dem konfrontiert, was sie ihren Büchern aufarbeitete: einem missglückten Frauenschicksal. O-17, O-Ton Doris Lessing (voice over)/ Sprecherin: Es war wirklich eine Tragödie, denn meine Mutter musste unbedingt mit jemandem zusammenleben. Wir haben uns überhaupt nicht verstanden. Das ist noch eine Beschönigung: wir kamen einfach gar nicht miteinander zurecht. Und dass sie nun aus Afrika nach London übersiedeln wollte, um mit mir zu leben, war lächerlich. Das musste ihr klar gewesen sein. Aber sie kam an und wollte mit mir leben. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie schrecklich das war, wie entsetzlich. Aber sie hat es nicht wahr haben wollen. Sie hatte diese konventionellen Floskeln im Kopf: "Es ist meine Pflicht, meiner Tochter zu helfen, ich muss mein Leben für meine Kinder opfern", und sie sagte diese Dinge ohne sich der Absurdität bewusst zu werden. Sie kannte England überhaupt nicht. Als sie England verlassen hatte, war sie jung und erfolgreich, sie hatte hier eine gute Zeit gehabt und viel Spaß, und nun kehrte sie nach dem Krieg zurück und erkannte das Land nicht wieder. Am Ende bot ihr ein entfernter alter Verwandter meines Vaters an, zu ihm zu ziehen. Aber sie musste sich um ihn kümmern, so wie sie sich immer um meinen Vater gekümmert hatte. Und am Ende ging sie einfach zurück nach Afrika. Autorin: Während Lessing mit ihrer Mutter stritt, nahm man sie in Deutschland als Stimme einer weiblichen Gegenöffentlichkeit wahr. Natürlich ließ sich die Schriftstellerin nicht vereinnahmen, schon gar nicht vom Feminismus. Ideologien waren ihr spätestens seit ihrem Austritt aus der Kommunistischen Partei 1956 ein Graus. Außerdem war sie längst in ganz andere Sphären eingetaucht und erprobte Anfang der 70er-Jahre mit den Romanen Anweisung für einen Abstieg zur Hölle und Memoiren einer Überlebenden das, was sie inner-space-fiction nannte, ein Ausleuchten des menschlichen "Weltinnenraums". Mystik, mittelalterliche islamische Heilslehren und der Sufismus flossen in ihre Bücher mit ein, bis sie mit der sehr erfolgreichen Science-Fiction-Serie "Shikasta" und dem Zyklus "Canopus im Argos: Archive" schließlich in die Zukunft projizierte Bildungsromane verfasste. Zitatorin (auf Musik): "Unser bedauernswerter Planet ist kein erfolgreicher Versuch!" "Niemanden trifft eine Schuld", erwiderte er, "etwas am Gefüge hat sich geändert ... unerwartet. Wir glaubten, dem Planeten 8 wäre Stabilität und langsames Wachstum bestimmt. Da es sich anders ergeben hat, beabsichtigten wir, euch nach Rohanda zu bringen. Doch zuerst muss dort eine bestimmte Entwicklungsphase abgeschlossen sein. Eine Spezies auf Rohanda muss erst einen gewissen Entwicklungsstand erreichen, damit sie, wenn ihr dorthin gebracht werdet, mit deiner Art ein harmonisches Ganzes bildet. Noch ist es nicht so weit. In der Zwischenzeit müsst ihr hier vor dem Schlimmsten geschützt werden." "Also dient die Mauer dazu, den schlimmsten Schnee abzuhalten?" (Doris Lessing, Die Entstehung des Repräsentanten von Planet 8, aus dem Englischen von Manfred Ohl und Hans Sartorius. Werkauswahl Band 8, Hoffmann & Campe, Hamburg 2009) O-18, O-Ton Doris Lessing (voice over)/ Sprecherin: Die Kritiker versuchen, mir bestimmte Phasen aufzudrücken, aber ich habe eigentlich immer alles gleichzeitig gemacht. Die Leute mögen Labels. Mara und Dann ist zum Beispiel eine Abenteuergeschichte, weil ich damals einfach eine Abenteuergeschichte schreiben wollte. Und dann kam die Shikasta-Serie, da ist mir selbst gar nicht klar gewesen, dass es sich um Science Fiction handelte. Die Science-Fiction Autoren sagten, warum muss sie denn jetzt auch in diesem Bereich ihre Muskeln spielen lassen, und erst da fiel mir auf, dass ich wohl Science Fiction geschrieben hatte. Aber es tat mir eine Zeit lang ganz gut. Die Leute lasen so etwas, es waren die sechziger, siebziger Jahre, und die frühen achtziger. In den USA gab es dann sogar eine Gruppe, die das, was ich geschrieben habe, für bare Münze nahm, und nach dem Vorbild meines Planetenvolkes eine Sekte gründete. Sie schickten mir Briefe. Ich antwortete, "Hört mal, das ist nur eine Geschichte ... ". Ich bin froh, dass diese Kommune inzwischen nicht mehr existiert. Autorin: Mitte der achtziger Jahre kehrte Doris Lessing mit ihren Romanen über die Geschäftsfrau Jane Sommers zum realistischen Erzählen zurück und warf einen gesellschaftskritischen Blick auf die englische Gegenwart. Aber auch davon hatte sie bald wieder genug: 2006 erschien Die Kluft, ein Buch, mit dem sie in prähistorische Gefilde vordrang. O-19, O-Ton Doris Lessing (voice over)/ Sprecherin: Ich habe in irgendeinem Zeitungsartikel gelesen, dass Frauen vermutlich die erste Spezies waren und Männer später hinzukamen. Mich hat das sofort überzeugt, weil ich oft das Gefühl habe, dass Frauen eine viel ursprünglichere Beziehung zum Leben besitzen, Männer scheinen mir weniger verankert. Autorin (auf Musik): Doris Lessing erfand kurzerhand ein weibliches Volk, "die Spalten" genannt, das auf einer Insel siedelt und über den Kontakt mit dem Wasser Nachkommen zeugt. Als eine der Frauen zum ersten Mal einen Jungen zur Welt bringt, herrscht Entsetzen. Die Spalten reagieren mit Gewalt und verstümmeln die männlichen Säuglinge, später setzen sie sie auf einem Berg aus. Die ausgesetzten Jungen, aufgezogen von einer Hirschkuh, bilden bald eine eigene Gemeinschaft, die "die Zapfen" heißt. Schließlich finden Frauen und Männer doch Gefallen aneinander, aber es kommt schon bald zu den typischen Geschlechterkonflikten: Die Frauen sehnen sich nach einem geregelten Dasein, die Männer fühlen sich von ihren Gefährtinnen gegängelt und gehen auf eine Expedition, um bald darauf die Frauen zu vermissen. O-20, O-Ton Doris Lessing (voice over)/ Sprecherin: Alles ist damit zu erklären, dass Frauen nun einmal Kinder zu Welt bringen und sie aufziehen. In meinen Augen leitet sich alles andere davon ab, man muss gar nichts erfinden. Autorin (auf Musik): Der Geschlechterkampf als eine anthropologische Konstante, an der sich bis heute nichts geändert hat. Um Ästhetik hat sich Lessing nie groß geschert ? ihre Stärke waren immer Gesellschaftspanoramen, Psychogramme, Beziehungsanalysen. Die Lebensleistung der Neunzigjährigen ist Respekt einflössend. Ihre Streitlust und ihr Mut, Missstände offen zu benennen, sind ungebrochen. O-21, O-Ton Doris Lessing (voice over)/ Sprecherin: London hat sich auch zum Besseren gewandelt. Wir hatten noch nie in der Geschichte eine so lange Periode von Wohlstand. Wir sind so wohlhabend, ich kann es kaum glauben. Es wird nicht anhalten, denn so etwas hält nie an. Aber heutzutage haben die Leute einfach unglaublich viel Geld, es gibt so viel von allem, viel zu viel. Regie: Atmo, A 3 O-22, O-Ton Doris Lessing (voice over)/ Sprecherin Pussycat, wir reden zu viel. In einer Minute bin ich bei dir ... Autorin: Der Langmut von Lessings Hausgenossin scheint überstrapaziert. O-23, O-Ton Doris Lessing (voice over)/ Sprecherin Ich bin ein Miesepeter. Ich bin eben einfach zu alt. Regie: Atmo, A 3 Autorin (Atmo): Und doch ist ihre Gesellschaft herrlich erfrischend. Wir bedanken uns für den Nachmittag und überlassen Doris Lessing ihrer Katze, ihrem Sohn und den ungeschriebenen Büchern, die auf sie warten. 1