Deutschlandradio Kultur Länderreport Hochspannung in Niedersachsen ? Wie re(a)giert die Politik in bürgerprotestreichen Zeiten? Auf die Deutschlandkarte kann man derzeit wohl blind mit dem Finger tippen - und landet an einem Ort, in dem es gerade hoch hergeht. Weil irgendetwas geplant ist, was den Ortsansässigen (oder Teilen von ihnen) nicht in den Kram passt. Besonders gerne sind das gerade Stromtrassen und Windparks - gerne aber auch Bahnhöfe, Flughäfen, Autobahnstücke... Wie geht die Politik damit um - mit dem zunehmenden oder zumindest lauter wahrzunehmenden Protest? Wird noch regiert oder reagiert man nur noch wahltaktisch darauf, wer am lautesten schreit? Und - war das mal anders? Der Länderreport geht diesen Fragen nach - am Beispiel der Stromtrassen in Niedersachsen. Autorin Schrammar, Susanne Redaktion Stucke, Julius Sendung 22.07.2011 (13 Uhr 07) Länge Beitrag 19?55?? MANUSKRIPT BEITRAG ATMO (Demonstration / Trommeln / Megafon) Wir sind mündige Bürger und wir fordern ?Ab in die Erde, ab!? - Ab in die Erde, ab! Ab in die Erde ab! Ab in die Erde ab! AUTORIN Begleitet von einer Trommelgruppe rollt eine kleine Demonstrationswelle durch Hannovers Fußgängerzone: Rund 200 Menschen ziehen vom Hauptbahnhof in Richtung Landtag. Viele tragen einen großen gelb gestrichenen Holzpfeil vor sich her. Auf jedem ist ein anderer Ortsname zu lesen - die Pfeilspitze zeigt immer nach unten. O-TON (Brinckmann) Wir sind mündige Bürger, wir wollen als mündige Bürger behandelt werden und wir haben auch das Recht auf Mitsprache! Wir spüren eine Bewegung in der Politik, aber das wirklich nur in Mäuseschritten, in ganz ganz kleinen Schritten, das sind keine Elefantenschritte, die wir uns eigentlich wünschen würden. Wie heißt das so schön? Stetiger Tropfen höhlt den Stein und wir gießen ständig immer mal wieder ein paar Tropfen auf die Steine, so dass wir irgendwann eine richtig schöne große Höhle kriegen und da wird mit Sicherheit diese Demo ein großes Teil mit dabei tun. AUTORIN Reinhard Brinckmann führt zum ersten Mal in seinem Leben einen Demonstrationszug an. Auf dem weißen T-Shirt des 55jährigen: eine Art Verkehrsschild: ?380 KV? steht in einem Kreis - mit einem dicken roten Balken durchgestrichen. O-TON (Brinckmann) Wir sind hier weil wir gegen die 380-KV-Freileitung demonstrieren. AUTORIN Brinckmann, gelernter Landmaschinentechniker, gehört zu einer von insgesamt 19 Bürgerinitiativen, die dafür kämpfen, dass eine jetzt geplante Stromtrasse nicht oberirdisch, sondern unter der Erdoberfläche verlaufen soll. O-TON (Brinckmann) Wir sind keine Leitungsgegner, sondern wir sind für eine Erdverkabelung in HGÜ-Technik, weil das für uns das Sinnvollste ist und weil sie auch von der Gesundheit her das Ungefährlichste ist. AUTORIN Erdkabel, HGÜ-Technik, Freileitungen - Fachbegriffe, mit denen sich in Niedersachsen immer mehr Bürger beschäftigen. ?Im Energieland Nummer 1?, wie es die Landesregierung so gerne nennt, hat 2007 die Planung neuer großer Stromleitungen begonnen. An der Küste erzeugter Windstrom soll damit in den Süden transportiert werden. Schon seit Jahren fordern Experten den Ausbau des deutschen Stromnetzes. Gebraucht werden vor allem neue Höchstspannungsleitungen, die beim Stromtransport wie Autobahnen große Entfernungen überbrücken. Bis 2015 sollen 850 Kilometer dieser Leitungen gebaut sein, fertig sind bislang nur knapp zehn Prozent. Die Dena - die deutsche Energieagentur - geht davon aus, dass bis 2020 weitere 3600 Kilometer Höchstspannungstrassen benötigt werden ? und diese Berechnungen beziehen sich nur auf einen Ökostromanteil von 40 Prozent. Jetzt nach den Beschlüssen der Bundesregierung zum Atomausstieg drängt die Zeit, sagt David McAllister Niedersachsens CDU-Ministerpräsident. O-TON (McAllister) Wir müssen mit dem Netzausbau in Deutschland und speziell bei uns in Niedersachsen schnell vorankommen und wir können uns keine weiteren Verzögerungen mehr leisten. Der Netzausbau ist das Nadelöhr und auch die Achillesferse des Umbaus unserer Energiewirtschaft. Niedersachsen ist dabei mit drei von vier Pilotvorhaben ganz vorne mit dabei. AUTORIN Die 190 Kilometer lange Pilottrasse von Wahle in Niedersachsen nach Mecklar in Hessen könnte dabei zum Stolperstein für die Politik werden. Knapp 22.000 Einwände, davon 14.000 allein in Niedersachsen, haben Bürger und Initiativen gegen das Vorhaben bislang eingebracht. Das Raumordnungsverfahren hat sich dadurch bereits um ein Jahr verzögert. Die Stromtrassengegner haben ihren Protest mit vielen Aktionen, zum Beispiel Mahnfeuer entlang der geplanten Strecken, lautstark zu Gehör gebracht. Seitdem haben die Bürgerinitiativen den Ruf: ?Verhinderer? des Ausbaus der Erneuerbaren Energien. Genau wie die Gegner von Windkraftanlagen oder Kohlekraftwerken, die auch nach dem beschlossenen Ausstieg aus der Atomkraft weiter protestieren. Ein Vorwurf, über den sich Udo Buchholz, Sprecher des Bundesverbandes der Bürgerinitiativen Umweltschutz mit Sitz in Bonn, ärgert. Er sagt: Auch diese Menschen wollen in der Regel die Energiewende, doch sie wollen sie nicht um jeden Preis. O-TON (Buchholz) Gerade diese Bürgerinitiativen, die sich engagieren, die setzen sich ja für positive Ziele ein, die setzen sich für den Umweltschutz, die setzen sich für Naturschutz ein, und das kann man nicht als Negativbewegung abtun, aus unserer Sicht kann es eigentlich nicht genug Leute geben, die sich wirklich einbringen. In Bürgerinitiativen sind die Leute gleichberechtigt - in Parteien kommt man nicht voran und dadurch entstehen auch gerade viele Initiativen. ATMO (Vogelgezwitscher / Bad Gandersheim) AUTORIN Die Hochburg des niedersächsischen Stromtrassenprotestes liegt in der Region rund um den kleinen Kurort Bad Gandersheim. Idyllisch gelegen, strukturschwach und vom Tourismus abhängig. Seit vier Jahren engagieren Bürger sich hier gegen die geplanten oberirdischen Stromleitungen. Alle dreihundert Meter, so die Befürchtung, könnten Strommasten die Landschaft verschandeln. Masten, etwa viermal so hoch wie die romanische Stiftskirche in Bad Gandersheim. Kurgäste könnten aus Angst vor Strahlung wegbleiben, Arbeitsplätze wegfallen und die eigenen Immobilien an Wert verlieren. Hinzu kommt die Sorge, die Hochspannungsmasten und -leitungen könnten Krebs auslösen. Etwa jeder Zehnte sei hier bereits in der Protestbewegung engagiert - schätzen die Initiativen. O-TON (Marg) Neu ist, im Vergleich zu den 70er Jahren die Altersstruktur der Teilnehmer. Die sind deutlich älter, die sind 20,30 Jahre älter, die Demonstrierenden sind tatsächlich grau und sie sind vorrangig selbstständig und es sind teilweise Landwirte, es sind Leute, die ein Grundstück besitzen, es sind Leute, die auch etwas zu verlieren haben, wenn eine Freileitung durch ihren Ort gebaut wird. Leute mit einem sehr hohen Bildungsabschluss, mit kommunikativen Fähigkeiten. Es dominiert tatsächlich der Typus der älteren Herren, das ist doch schon anders. AUTORIN Stine Marg ist Politikwissenschaftlerin am Institut für Demokratieforschung an der Universität Göttingen. Marg untersucht bürgerliche Protestbewegungen wie die Stromtrassengegner in Südniedersachsen. Sie hat festgestellt, dass ? anders als beispielsweise bei der Antiatombewegung ? die hier in den Bürgerinitiativen Engagierten keine jahrzehntelangen Protestkarrieren hinter sich haben. Viele werden erst im Rentenalter aktiv. O-TON (Marg) Sie haben jetzt die Zeit, also diese 45 ? 65jährigen, die Kinder sind aus dem Haus, sie haben noch ganz viel Energie und sie haben jetzt die Möglichkeit, sich einzubringen und sind es gerade vielleicht weil sie diesen hohen Bildungsstand haben und weil sie vielleicht eine leitende Position jahrelang hatten, gewohnt, dass das, was sie denken und das, was sie durch ihre Expertise festgestellt haben, auch so umgesetzt wird. AUTORIN Die meisten der Aktiven, sagt Politikwissenschaftlerin Marg, treten daher mit einem klaren Anspruch auf und bringen ihre Forderungen selbstbewusst vor: So verlangen die südniedersächsischen Freileitungsgegner zum Beispiel nicht nur, dass die komplette 190 Kilometer lange Stromtrasse von Wahle nach Mecklar per Gleichstrom-Erdkabel unterirdisch verlegt werden soll. Sie wollen darüber hinaus auch an den Planungen der Stromtrassen beteiligt werden und dabei ihr Wissen einbringen. O-TON (Marg) Ihr Selbstverständnis ist schon das, dass sie diejenigen sind, die hier kompetent mitreden können und gerade, weil sie so kompetent sind, gehen sie davon aus, dass sie auch gehört werden müssen. Sie wollen nicht jenseits des politischen Systems agieren, sondern sie wollen mit dem politischen System agieren. Das heißt sie suchen ganz verstärkt nicht nur den Kontakt zu den Unternehmen, mit dem sie dann gemeinsam die Leitungen planen wollen, sondern sie suchen auch ganz verstärkt den Kontakt zu den Politikern. ATMO (Besuch H.-H. Sander) AUTORIN Und die Politiker schlagen ? anders als früher - die Einladungen immer seltener aus. Niedersachsens Umweltminister Hans-Heinrich Sander unterwegs in seinem Wahlkreis, 25 Kilometer von Bad Gandersheim entfernt. Der kleine Ort Delligsen, eine Weserberglandperle mit sanften grün-satten Hügeln und viel unberührter Natur ist auch betroffen von den Planungen der Pilottrasse Wahle-Mecklar. Die Bewohner fürchten sich auch hier vor riesigen Strommasten. Darum hat die örtliche Bürgerinitiative den Minister eingeladen, sich vor Ort ein Bild von den möglichen Folgen der Leitungspläne zu machen. O-TON (Mann) Und dann kommt die Leitung hier durch das Tal hoch und hier oben oder unten wird es das Übergangsbauwerk geben. (Sander) 30 Meter hoch? (Mann) 30 Meter hoch, ja, der Masten ist 70 Meter hoch... AUTORIN FDP-Politiker Sander galt lange als Verfechter der Kernenergie, ist bei Umweltverbänden nicht sonderlich beliebt und gibt offen zu, als Bürgermeister in seinem Heimatort Windräder schon mal aus optischen Gründen verhindert zu haben. Im seinem Wahlkreis schätzen viele den 66jährigen, weil er als Politiker kein Blatt vor den Mund nimmt. An diesem Tag will Sander werben für die Pläne der niedersächsischen Landesregierung, denn der Minister hat erkannt: O-TON (Sander) Wenn ich die Akzeptanz nicht habe, dann kann ich mich auf den Kopf stellen, dann kriege ich gar nichts hin. AUTORIN Noch vor 15 Jahren, sagt Sander kopfschüttelnd, da hätte sich niemand gegen den Bau von notwendigen Stromleitungen gewehrt. Heute seien viele per se dagegen, nach dem Motto: ?Bitte nicht vor meiner Haustür?. Doch die Politik, gibt der Minister selbstkritisch zu Protokoll, habe es auch versäumt, die Menschen mitzunehmen und ihnen die Notwendigkeit solcher Vorhaben zu erklären. O-TON (Sander) Wir müssen auch als Politiker darüber nachdenken, ob diejenigen, die diese Verfahren durchführen, ob die darauf gut vorbereitet sind. Ob da nicht ein altes Behördendenken noch vorhanden ist: ich bin der Staat, ich beschließe, ich bestimme und Ihr Bürger, Euch setze ich das vor. AUTORIN Dass Politik allerdings durchaus auf Bürgerproteste eingehen kann, haben die Strommastengegner in Niedersachsen erlebt. Bereits zu Beginn der Planungen, 2007, erhob sich viel Gegenwehr gegen die oberirdischen Stromleitungen. Mit Erfolg ? kurz vor der Landtagswahl gab die schwarz-gelbe Landesregierung unter Christian Wulff dem Bürgerwillen nach. Das damals verabschiedete Erdkabelgesetz sah auf weiten Strecken Stromleitungen unterhalb der Erdoberfläche vor. Doch die damalige Bundesregierung kassierte dieses Gesetz kurz darauf wieder. Somit konnte die niedersächsische Landesregierung den Netzbetreibern eine Erdverkabelung nicht mehr anordnen. Anfang des Jahres sorgte Wulffs Nachfolger, David McAllister, im Bundesrat dafür, die ursprünglich niedersächsische Regelung auch auf Bundesebene durchzusetzen. Bei den vier im Land geplanten Pilottrassen kann die Landesregierung jetzt auf eine unterirdische Verkabelung bestehen, wenn die Leitung näher als 400 Meter an einer Wohnsiedlung vorbeiführt. Doch das reicht den Freileitungsgegnern nicht. Sie wollen eine Totalverkabelung und zwar nicht mit der jetzt vorgesehenen Wechselstrom-Technik, sondern als so genanntes HGÜ-Kabel mit Gleichstromtechnik. Diese sei schonender z.B. für die Landwirtschaft. Doch die Zuverlässigkeit der HGÜ-Technik, sagt der Netzbetreiber, das niederländische Unternehmen Tennet, sei noch nicht genügend erprobt, um sie bei dieser wichtigen Leitung von Nord- nach Süddeutschland zu verwenden. Geschäftsführer Lex Hartmann: O-TON (Hartmann) Die Folgen sind, dass das Risiko auf Störungen wächst. Das ist vielleicht für Verbindungen irgendwo im Lande, der nicht so wichtig ist, können wir da irgendwo da rum gehen, aber wir reden jetzt über die Zukunft von Hauptautobahnen von Nord nach Süd und da können wir es uns nicht erlauben und es uns nicht leisten, dass sie außer Betrieb sind. AUTORIN Und so kämpfen die Stromtrassengegner weiter für eine komplette Erdverkabelung in HGÜ-Technik. Dass die bis zu viermal teureren Kabel kommen werden, scheint auch aus wirtschaftlichen Gründen jedoch eher unwahrscheinlich. Bisher, so hat der Netzbetreiber durchblicken lassen, sollen höchsten 20 der 190 Kilometer langen Trasse unterirdisch verlegt werden. ATMO (Demo / Megafon Brinckmann) Diese Demonstration dient dazu, die Politiker nochmal wach zu rütteln, weil sie die Entscheidungsträger sind. Sie sollen nicht auf die Wirtschaft hören, sondern sie sollen dem Volk aufs Maul schauen. Wir sind mündige Bürger und wir nehmen unsere Rechte wahr! AUTORIN Beteiligung, sagen Protestforscher, sei kein Allheilmittel, um die Akzeptanz geplanter staatlicher Vorhaben zu erhöhen. Ohne sie wird es jedoch schwierig. Klagen können Verwaltungsprozesse jahrelang aufhalten, selbst wenn die Kläger am Ende nicht Recht behalten. Die Politik hat jetzt im Streit um die Stromtrassen auf den zunehmenden Unmut und den Wunsch nach mehr Bürgerbeteiligung reagiert. Anfang des Monats hat der Bundesrat der Novelle des Atomgesetzes und dem Gesetz zur Beschleunigung des Netzausbaus zugestimmt. Darin wird bei künftigen Vorhaben eine umfassende Öffentlichkeitsbeteiligung angestrebt, um mehr Transparenz zu gewährleisten. Den Menschen in Delligsen hat Landesumweltminister Hans-Heinrich Sander bei seinem Besuch versprochen, dass die Bürgerbeteiligung schon in den jetzt laufenden Pilottrassenverfahren verstärkt werden soll. O-TON (Sander) Dieses neue Beteiligungsverfahren muss auch für diese Trasse mit gelten. Ist auch gar kein Problem. (Mann) Ich bin nur nicht so ganz sicher, ob es wirklich mehr Bürgerbeteiligung ist. (Sander) Also, wenn ich Ihnen das jetzt ? wenn Sie sich den Gesetzesentwurf angucken, dann krieg ich es manchmal schon mit der Angst, wie wir das alles bewerkstelligen sollen. Ob das nicht noch längere Planungszeit... Wir wollen ja Doppeltes erreichen: Wir wollen schneller werden und wollen die Bürger besser beteiligen. AUTORIN Und genau das wird ein politischer Spagat, weiß auch David McAllister, CDU-Ministerpräsident in Niedersachsen. Wenn die Energiewende glücken soll, braucht es einen gesellschaftlichen Konsens. Um die Akzeptanz für den Netzausbau zu erhöhen, will McAllister die Kommunen, die von Freileitungstrassen betroffen sind, finanziell entschädigen. Außerdem hat der niedersächsische Ministerpräsident mehr Transparenz versprochen. Zwar warten die Stromtrassengegner noch immer auf einen angefragten Termin beim Regierungschef, doch McAllister scheint die Protestbewegung ernst zu nehmen. O-TON (McAllister) Wutbürger ? dieses Wort dokumentiert angeblich das große Bedürfnis der Menschen auch außerhalb von Wahlen ein Mitspracherecht bei gesellschaftlich und politisch relevanten Projekten zu haben. Es wird eine politische Herausforderung für uns alle sein, künftig die Menschen besser in transparente Planungs- und Diskussionsprozesse einzubinden und gleichzeitig ihnen den Nutzen und den Sinn von Infrastrukturprojekten ausführlicher zu erläutern. AUTORIN Die Opposition im niedersächsischen Landtag steht auf der Seite der Erdkabelbefürworter. SPD, Grüne und Linke fordern die komplette Verlegung der Stromleitungen unter der Erde. Früher seien Bürgerinitiativen vom konservativen Lager lange Zeit als Spinner abgetan worden, sagt Stefan Wenzel, Vorsitzender der grünen Landtagsfraktion. Bis sie gemerkt hätten, dass sich unter den Aktivisten auch viele Anhänger und Wähler der eigenen Parteien befinden und man sie deshalb nicht ignorieren könne. Mittlerweile begriffen Politiker Bürgerinitiativen als Teil gelebter Demokratie, sagt Wenzel. Der Protest der Trassengegner zum Beispiel, habe zu entscheidenden Veränderungen geführt. Ohne ihren Widerstand hätte es nie ein Erdkabelgesetz gegeben, glaubt der grüne Energieexperte. O-TON (Wenzel) Die Bürgerinitiativen haben hier sehr wichtige Impulse gesetzt, weil die Stromtrassenbetreiber am Anfang behauptet haben, dass ihre Lösung die einzig denkbare ist, dass es keinerlei technische Alternativen gäbe und das hat sich im Nachhinein als völlig interessengeleitete Argumentation herausgestellt. Also, es hat einen Diskurs ausgelöst, der am Ende zu besseren und effizienteren Lösungen führt. AUTORIN Dass Bundes- und Landesregierung jetzt mehr Bürgerbeteiligung angekündigt haben, halten die Grünen für einen ersten richtigen Schritt. Doch noch wichtiger sei mehr Transparenz. Die Betreiber der Stromnetze und die Energieunternehmen, fordert Wenzel, müssen ihre Daten offenlegen, damit die Öffentlichkeit sie überprüfen kann. O-TON (Wenzel) Und da haben wir immer noch den Zustand, dass die alten Monopolnetzbetreiber sagen: Das sind unsere Daten, das geht Euch gar nichts an und das schafft Misstrauen, führt dazu, dass solche Konflikte nicht gelöst werden und von daher liegt da noch ein ganz entscheidender Knackpunkt, der sich noch nicht zufrieden stellend entwickelt hat. AUTORIN Auch Detlev Tanke, umweltpolitischer Sprecher der SPD-Landtagsfraktion, sieht beim Thema Transparenz einen entscheidenden Punkt, damit Bürger sich ernst genommen fühlen. Vor dem Internetzeitalter hätten Politik und Wirtschaft es viel leichter gehabt, unliebsame Informationen zu verstecken. Mehr Zugang zu Informationen erhöhe die Sachgerechtigkeit einer Entscheidung, weil jeder sich daran beteiligen könne, so Tanke. Mehr Bürgerbeteiligung erfordere jedoch auch Politiker, die nach Abwägung aller Argumente einen festen Standpunkte einnehmen und den vertreten. Im Zweifel auch gegen die Interessen der Bürgerinitiativen. O-TON (Tanke) Es funktioniert nicht so, dass man als Politiker am Ende jedem Interesse einer Bürgerinitiative nachgeben darf, weil es hin und wieder durchaus gegenteilige Mehrheiten gibt, die anderer Auffassung sind. Am Ende haben wir als Politiker auch die Verpflichtung, Menschen zu sagen, dass bestimmte Dinge zwar diskutiert werden können, aber am Ende entschieden werden müssen. Ich glaube, dass ist die neue Herausforderung in der Demokratie: Nach fundierter Meinungsbildung, die dann auch offensiv und mit Rückgrat zu vertreten. AUTORIN Mehr Bürgerbeteiligung also als eine echte Stärkung der Bürgerrechte? Als Mittel, um Konflikte zu vermeiden? Oder ist es am Ende nur eine Beruhigungspille für die aufgebrachte Volksseele? Was steckt hinter dem Versprechen, Bürger und Initiativen stärker im demokratischen Entscheidungsprozess einzubinden? Stine Marg, Politikwissenschaftlerin am Göttinger Institut für Demokratieforschung glaubt, dass politische Akteure es sich zwar niemals leisten können, nicht auf die Stimme des Volkes zu hören, doch zu manchen Zeiten ist das Entgegenkommen offenbar besonders groß. O-TON (Marg) Also, hier in Niedersachsen ist es ja ganz klar. Es steht eine relativ wichtige Kommunalwahl im September an und wir haben 2013 die Landtagswahl. Und da ist die Kontaktaufnahme mit den Bürgerinitiativen für die niedersächsische Landespolitik zunächst auch eine sehr niedrige Ebene, wo man sozusagen Bereitschaft oder Zusammenarbeit signalisieren kann. AUTORIN Das Bemühen, den Bürger stärker einzubinden, allein mit populistischen Motiven abzutun, greift vermutlich jedoch zu kurz. Die beherzte und selbstbewusste Forderung nach mehr Mitsprache und Gestaltung zu erfüllen, macht das Regierungshandeln schließlich nicht leichter. Entscheidungen einfach so durchziehen, am Bürger vorbei regieren ? dieser früher durchaus gepflegte Politikstil scheint durch das Erstarken der Protestgesellschaft kaum mehr durchsetzbar. Zu groß ist die Angst der Politiker vor eskalierenden Konflikten wie Stuttgart 21 oder Gorleben. Die regierenden Akteure in Niedersachsen, hat Politikwissenschaftlerin Marg beobachtet, haben darauf bereits reagiert. O-TON (Marg) Also, man kann es nicht mehr so machen, dass man ein Projekt plant und dann umsetzt und sagt: Jetzt ist der Baubeginn, jetzt geht es los. Sondern ich glaube, die Strategie im Moment ist, eine frühe Einbindung zu machen und sowohl Politiker als auch Unternehmen wollen bei anstehenden Projekten die Bürger früh ins Boot holen, da frühe Kommunikationsangebote machen und so die Projekte dann doch noch gestalterisch umsetzen. AUTORIN Stückweise erobern sich Bürger immer mehr direkte gesellschaftliche Mitbestimmung. Doch ob damit auch das System der repräsentativen Demokratie nach und nach aufweicht? Die Entscheidungshoheit durch gewählte Volksvertreter ist um einiges schneller und kostengünstiger als wenn Bürger direkt entscheiden. Außerdem gilt ein repräsentatives Demokratiesystem als weniger anfällig für kurzzeitige Stimmungen. Und darum, glaubt Stine Marg, werden sich Politiker genau überlegen, wie viel Mitbestimmungsrecht sie den Bürgern künftig einräumen wollen. O-TON (Marg) Wir haben es ja in Hamburg gesehen, da gab es einen Volksentscheid und das ist ja letztendlich nicht gut für die Landesregierung ausgegangen. Insofern glaube ich, dass Politiker da auch immer vorsichtig sein werden, weil es immer tatsächlich passieren kann, dass es mit einem relativ knappen Votum so ausgeht, wie sie sich das nicht vorgestellt haben. AUTORIN Ob die Stromtrassengegner in Niedersachsen ihr Ziel, die Kabel für die neuen Hochspannungsleitungen unter die Erde zu bekommen, wirklich erreichen, ist mehr als fraglich. Doch eines haben sie geschafft: Die Protestbewegung hat das Thema Bürgerrechte einen erheblichen Schritt nach vorne gebracht. ENDE 10