DeutschlandRadio Kultur Redaktion: Winfried Sträter ZeitReisen - Manuskript: Peggy Fuhrmann Sendung: 18. Mai 2011 Zeit: 19.30 - 20 Uhr Scheinbar aussichtslos Amnesty International und der Kampf um die Menschenrechte ____________________________________________________________ Regie Atmo 0 (Stimmengewirr) Regie Atmo 1 (Aktion von Amnesty) Stimmengewirr Meine Damen und Herren, ich darf Sie heute hier zu dieser Veranstaltung begrüßen im Namen von Amnesty International, ... (danach unter Text legen) Spr.in Berlin, Pariser Platz, Februar 2011. Regie Atmo 1 wieder hoch (Aktion von Amnesty) Die Situation in Ägypten und in anderen arabischen Staaten geht nicht nur die Menschen dort an, sondern geht uns alle an. Worum geht es dort: Es geht um die Menschenrechte. ... (danach unter Text legen) Spr.in Auf einer Bühne vor dem Brandenburger Tor steht die Generalsekretärin von Amnesty International Deutschland, spricht durch ein Megafon die fotografierenden Berlinbesucher und Flaneure auf dem belebten Platz an. Viele bleiben stehen, um ihr zuzuhören. Regie Atmo 2 (Aktion von Amnesty) Seit Beginn der Demonstrationen in der MENA-Region sind Teams von Amnesty International nach Tunesien gereist, sind in Ägypten vor Ort, beobachten und berichten und stellen immer wieder Menschenrechtsverletzungen fest. ... (danach unter Text legen) Spr.in Verteilt in der Menschenmenge stehen Mitglieder von Amnesty, halten Schilder in rot-weiß-schwarz hoch, den Landesfarben Ägyptens: Im schwarzen Feld rote Schriftzüge: "Für ein soziales, gerechtes Ägypten" steht da, und "Notstandsgesetz abschaffen". Andere Mitarbeiter bitten die Zuhörer, sich in Unterschriftenlisten einzutragen, auf denen Amnesty die Freilassung verhafteter Oppositioneller fordert. Die Listen werden an die jeweiligen Regierungen geschickt. Regie Atmo 3 (Aktion von Amnesty) Dieser Neuanfang in Ägypten ist nur dann ein wirklicher Neuanfang, wenn die Verantwortlichen dringend zur Rechenschaft gezogen werden. (Klatschen) Von der Bundesregierung fordern wir ein ganz klares Signal zugunsten der Menschenrechte. (Klatschen) (danach unter Text legen) Spr.in Amnesty International reagierte schnell auf die Demokratiebewegungen in den arabischen Ländern. Unter anderem mit dem weltweiten Aktionstag, der parallel in 15 Ländern zur Unterstützung der Oppositionellen aufrief. Ganz anders als in den ersten Jahrzehnten ihrer Existenz veranstaltet Amnesty heute häufig plakative Aktionen, weil sie größere Aufmerksamkeit - auch durch die Medien - garantieren. Die Organisation kämpft auch nicht mehr ausschließlich für Menschenrechte in einem engeren politischen Sinn, sondern ebenso für soziale Rechte wie etwa das Recht auf medizinische Versorgung und sauberes Wasser, auf Wohnung, auf Bildung. Weltbekannt aber wurde Amnesty durch sein Engagement für politische Gefangene. Um diesen Menschen zu helfen, gründete der Londoner Rechtsanwalt Peter Benenson die Organisation. 1961. Den Anstoß gab ein Zeitungsartikel, erzählt Benenson bei einem Gang durch die Londoner Straßen. Regie Wort-Take 1 mit Atmo Straße (Benenson) Übersetzung Zit. Ich saß in einer U-Bahn und las den "Daily Telegraph". Ein Artikel weckte meine besondere Aufmerksamkeit. Er berichtete, dass zwei portugiesische Studenten zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden waren für kein anderes Vergehen als dass sie in einem Lissabonner Restaurant einen Trinkspruch auf die Freiheit ausbrachten. Das war während der dunklen Tage des Salazar-Regimes. Vielleicht weil ich dem Freiheitsgedanken besonderen Wert beimesse, weckte diese Nachricht in mir eine gerechte Entrüstung, so dass ich beschloss, solche Verbote nicht länger hinzunehmen." Spr.in Benenson entwickelt eine Idee mit Durchschlagskraft. Er will möglichst viele Menschen dafür gewinnen, Briefe an die betreffenden Regierungen zu schreiben, in denen sie die Freilassung der politischen Häftlinge fordern. Und so veröffentlicht der Rechtsanwalt im britischen "Observer" einen Aufruf mit dem Titel: "Die vergessenen Gefangenen". In vielen Ländern drucken Zeitungen den Artikel nach. Regie Wort-Take 2 mit Atmo Straße(Benenson) Übersetzung Zit. "Ich erinnere mich, dass der Artikel mit den Worten begann: "Öffne Deine Zeitung an irgendeinem Tag in der Woche, und du wirst einen Artikel finden über irgendjemanden, der in irgendeinem Land gefangen genommen, gefoltert oder getötet wurde, weil seine Ansichten für seine Regierung nicht akzeptabel waren." Spr.in Benenson endet mit den Worten: Zit. "Wenn sich die Gefühle von Abscheu zu gemeinsamer Aktion vereinten, dann könnten wir wirklich etwas bewegen." Spr.in Das ist die Geburtsstunde von Amnesty International. Anfangs besteht die Organisation nur aus einer Handvoll Menschen. Das Besondere: Sie recherchieren einzelne Fälle, schreiben diesen politischen Gefangenen und schicken den jeweiligen Regierungen Petitionen mit der Aufforderung, diese namentlich genannten Häftlinge zu entlassen. Notfalls treten sie wieder und wieder an die Regierungen heran, um zumindest Hafterleichterungen durchzusetzen. Die Gefangenen werden also persönlich betreut. Um weltweit möglichst viele politisch Verfolgte zu unterstützen, wirbt Amnesty intensiv um neue Mitglieder. Auch in Deutschland, wie der Journalist Gerd Ruge berichtet: Regie Wort-Take 3 (Gerd Ruge) Im Sommer 61, da gab es Amnesty International noch gar nicht, das hieß noch "Appeal for Amnesty", "Amnestie-Appell" in London und war drei Monate alt. Und da kam Eric Baker aus London, ein Quäker, nach Köln und stand vor der Tür und klingelte. Hatte unsere Adresse durch Freunde bekommen und schlug nun vor, was man mit Amnesty machen müsste. Und das passte im Grunde in die Stimmung bei uns in der Gruppe. Spr.in Gerd Ruge, die Journalistin Carola Stern und der Schriftsteller Felix Rexhausen suchten damals mit weiteren Gleichgesinnten nach wirksamen Wegen, die Meinungs- und Veröffentlichungsfreiheit vor politischen Eingriffen zu schützen. Regie Wort-Take 4 (Gerd Ruge) Es ging um die Erfahrungen vieler, die aus der Nazizeit kamen, auch aus dem kommunistischen, dem stalinistischen System, und da kam die Idee, die aus London kam, und das kam ganz deutlich hin, denn hier war man für Gefangene im Osten, im Westen und in der Dritten Welt, der Antikolonialbewegung im Wesentlichen. Und dadurch war natürlich die Bereitschaft, sich daran zu beteiligen, sehr groß. Spr.in Ziel ist, in Deutschland eine eigene Sektion aufzubauen. Und so informieren die Mitarbeiter auf einer großen Veranstaltung über den neu gegründeten Verein "Appell für Amnestie". Zu den Interessenten gehörte auch der damalige Jurastudent Wolfgang Piepenstock: Regie Wort-Take 5 (Wolfgang Piepenstock) Carola sagte gleich: Bleiben Sie hier, wir brauchen junge Leute. Und dann kamen eben die ersten Fälle, die uns von London, aus der Zentrale, zugewiesen wurden. Zu den ersten Gefangenen gehörte Edson Swobko, damals in Rhodesien inhaftiert, Rhodesien war noch eine britische Kolonie, und er hatte eine Unabhängigkeitsbewegung gegründet und wurde sofort festgenommen und interniert. Und nun galt es, sich für seine Freilassung einzusetzen, hinzu kam auf Kuba José Gonzedo, auch festgehalten, von Fidel Castro, und dann schrieben wir Briefe an die Regierenden, an die Gefangenen selbst. Und siehe da, wir bekamen, aus Rhodesien zumindest, auch Antwort, die Briefe waren angekommen, der Gefangene bedankte sich überschwänglich, er freute sich, dass jemand an ihn dachte, und wir waren ermutigt, weiter zu arbeiten. Spr.in Dass Amnestys Briefe bei den jeweiligen Regierungsvertretern nicht sofort im Papierkorb landen, liegt vor allem daran, dass sich die Organisation mit ihren Forderungen auf ein internationales Abkommen berufen kann: die "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte", 1948 von der UNO verabschiedet. Regie Wort-Take 6 (Eleanor Roosevelt) Übersetzung Zit.in "Wir stehen heute an der Schwelle eines großen Ereignisses sowohl im Dasein der Vereinten Nationen als auch im Leben der Menschheit. Diese ‚Allgemeine Erklärung der Menschenrechte' möge die internationale Magna Charta aller Menschen weltweit werden." Spr.in Eleanor Roosevelt, die Vorsitzende der UN-Menschenrechtskommission, verkündete vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen die Verabschiedung des ersten internationalen Menschenrechtsabkommens. Es benennt umfassende politische, soziale, kulturelle und wirtschaftliche Rechte aller Menschen, die kein Staat antasten dürfe. Jahrelange zähe Diskussionen waren dem Abkommen voraus gegangen. Vor allem der sich verschärfende Ost-West-Konflikt erschwerte eine Einigung. Und so musste die Kommission den ursprünglichen Plan eines völkerrechtlich verbindlichen Vertrages aufgeben und sich auf Empfehlungen beschränken. Dass überhaupt ein Abkommen zustande kam, war der historischen Situation geschuldet, erklärt Heiner Bielefeldt, Professor für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik an der Universität Erlangen. Regie Wort-Take 8 (Heiner Bielefeldt) Diese Erklärung ist eine ganz unmittelbare Reaktion insbesondere auf die Erfahrungen der Nazi-Barbarei, der Völkermord an den Juden, andere Vernichtungsaktionen, die Schrecken der Weltkriege waren Anlass, dieses Dokument zu formulieren, aus dem das gegenwärtige UN-Menschenrechtsschutzsystem hervor gegangen ist. Spr.in Die UN-Deklaration war das erste internationale Menschenrechtsabkommen. Doch den Gedanken, Menschen bestimmte Grundrechte zu garantieren, entwickelten bereits die Philosophen der Aufklärung. Einer der Wegbereiter, der deutsche Philosoph Samuel von Pufendorf, sprach schon Ende des 17. Jahrhunderts von der "Würde des Menschen" - eine Wertung, die 150 Jahre später Eingang in die UN-Deklaration und das Grundgesetz fand. Warum Menschen Würde besitzen, erklärte Pufendorf so: Zit: "Der Mensch ist von höchster Würde, weil er eine Seele hat, die ausgezeichnet ist durch das Licht des Verstandes, durch die Fähigkeit, Dinge zu beurteilen und sich frei zu entscheiden, und die sich in vielen Künsten auskennt." Spr.in Der britische Philosoph John Locke entwickelte Pufendorfs Ideen weiter. Er betrachtete Leben, Freiheit und Eigentum als natürliche Rechte jedes Menschen, die nur dadurch begrenzt sind, dass sie die Rechte anderer nicht beschneiden dürfen. Knapp hundert Jahre später wurden Lockes Vorstellungen erstmals Verfassungswirklichkeit. Zunächst in den Vereinigten Staaten. Dann in Frankreich. Regie Atmo 4 (Marsaillaise) Spr.in Die französischen Revolutionäre konstatierten in ihrer "Erklärung der Menschenrechte" von 1789: Zit. "Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es. Unterschiede dürfen nur im Gemeinwohl begründet sein. Der Endzweck aller politischen Vereinigungen ist die Erhaltung der natürlichen und unveräußerlichen Menschenrechte. Diese Rechte sind die Freiheit, das Eigentum, die Sicherheit und der Widerstand gegen Unterdrückung." Spr.in In Deutschland dauerte es noch 60 Jahre, bis mit der Paulskirchenverfassung 1849 erstmals umfassende Menschenrechte offiziell verkündet wurden. Doch diese "Grundrechte des deutschen Volkes" fanden nur zum Teil Eingang in die Gesetze der einzelnen deutschen Staaten. Erst die Weimarer Verfassung regelte für das gesamte Reich die "Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen". Sie galten bis 1933. Der Reichstagsbrand diente den Nazis als Vorwand, sämtliche Grundrechte außer Kraft zu setzen. Regie Atmo NS-Heil-Rufe Spr.in Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurden mit der UNO-Deklaration weltweit umfassende Menschenrechte anerkannt. Doch weil sie nur den Charakter einer Empfehlung hatte, hielten sich vor allem Diktaturen kaum an die beschlossenen Vereinbarungen. Immerhin ließ sich mit dem Hinweis auf die Deklaration ein gewisser Druck auf die Regierungen ausüben. Dies nutzt Amnesty International in seinen Kampagnen. Wolfgang Piepenstock erklärt: Regie Wort-Take 9 (Wolfgang Piepenstock) Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte wurde unsere feste Grundlage, und sie ist es ja bis heute geblieben. Und ich lese noch immer mit großer Begeisterung die einführenden Artikel: Dass wir alle mit Würde und gleichen, unveräußerlichen Rechten geboren sind und einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen sollen. Das hat mich damals sehr angerührt, und es ist bis heute unsere Leitlinie geblieben. ... Nur die Durchsetzbarkeit der Menschenrechte lässt immer noch zu wünschen übrig. Spr.in Drei Jahre nach der Gründung unterhält Amnesty in fünf Staaten Sektionen, die jeweils in ihrem Land die Arbeit organisieren. Seit dieser Zeit treffen sich Delegierte aller Mitgliedsländer - deren Zahl stetig wächst - einmal im Jahr, um Arbeitsschwerpunkte festzulegen. Sie gelten dann für die gesamte Organisation. Regie Wort-Take 10 (Wolfgang Piepenstock) Zunächst ging alles von London aus. Da wurden also Zeitungen ausgewertet, Radiosendungen abgehört. Vor Ort gab es erste Mitarbeiter zunächst inoffiziell, und gerade in den riskanten Ländern wurde auch heimlich gearbeitet. Wir hatten hier und da einen Unterstützer in einer Botschaft, der uns mitteilte, was es vor Ort Neues gab. Spr.in Es sind immer wieder ganz ähnliche Schicksale, mit denen Amnesty konfrontiert ist: Regie Wort-Take 11 (Ruben Ruíz) Vielleicht die Orte sind andere. Aber die Arbeit bleibt. Spr.in ... konstatiert der Lehrer Ruben Ruíz, der nach dem Militärputsch in Chile inhaftiert wurde und heute Amnesty unterstützt. Regie Wort-Take 12 (Ruben Ruíz) Was ich vor dem Putsch 1973 in Chile getan habe, ich war in Kontakt mit vielen sozialen Gruppen. Und da habe ich gemerkt die große Ungerechtigkeit, die in dieser Gesellschaft war. Und habe sehr aktiv mit dem Theater daran gearbeitet, dass diese Mehrheiten, die so schlecht hatten, auch eine Stimme bekommen. Tatsache ist, dass es am 11. September 1973 zu diesem Putsch kam, und eines Tages, als ich im Unterricht war, sind im Klassenraum fünf oder sechs Militärs gekommen mit Maschinenpistolen und haben mich festgenommen. So kam ich ins Gefängnis. Die Militärs wollten, dass wir erzählen, welche Gräueltaten wir vorbereiteten. Und da es keine gab, versuchten sie, das irgendwie herauszukriegen, oder dass jemand einfach lügt. Und ich wurde auch mehrmals gefoltert. Spr.in Amnesty erfuhr über einen deutschen Bischof in Chile von Ruben Ruíz' Gefangenschaft. Und erreichte nach zwei Jahren seine Freilassung. Er ist einer von knapp 50.000 politischen Gefangenen, die Amnesty in seinem fünfzigjährigen Bestehen unterstützt hat. Die Briefaktionen erregen zwar schnell weltweite Aufmerksamkeit. Doch Erfolge stellen sich nur langsam ein. Etwa jedem dritten der persönlich betreuten Gefangenen konnte Amnesty helfen: Das bedeutete nicht immer Freilassung, aber zumindest Hafterleichterungen und anwaltliche Unterstützung. Wer sich bei Amnesty engagiert, braucht einen langen Atem, weiß Wolfgang Piepenstock aus 48jähriger Erfahrung: Regie Wort-Take 13 (Wolfgang Piepenstock) Dass man durch gute Argumente Machthaber gewinnt und sie zu Verfechtern der Demokratie zu machen und Menschen frei zu lassen, diese große Hoffnung, die auch Benenson hatte - er zündete eine Kerze an und sagte: das ist unsere Hoffnung, die wir in die Welt tragen - dieser seelenvoll-romantische Zug, der musste viel härter werden. Denn in vielen Ländern - Kuba, Syrien - hat sich die Diktatur ja fast oder bis in unsere Zeit hinein gehalten. Also die Systeme, unter denen Menschenrechte verletzt wurden, waren viel härter und stringenter als wir es uns am Anfang ausgemalt haben. Spr.in Dabei verabschiedete die UNO bereits in den 60er Jahren mehrere Pakte, in denen sie die Menschenrechte rechtlich bindend festschrieb. Doch es dauerte viele Jahre, bis die Mehrzahl der Länder diese Pakte ratifiziert hatte. Bei Kuba, Pakistan und China steht das noch heute aus. Und so blieb es oft abhängig von den politischen Verhältnissen in einem Land, welchen Stellenwert die Menschenrechte erhielten. Amnesty International begann deshalb nach einigen Jahren, Verantwortliche direkt anzusprechen, um politisch Verfolgte zu schützen. Regie Wort-Take 14 (Wolfgang Piepenstock) Ich bin Prozessbeobachter im Iran gewesen, kurz vor Ende der Schah-Zeit, und habe mich bis zum Premierminister durchgerungen in der Hoffnung, ihn zu etwas zu bewegen. Vergebliche Hoffnung. Das wollte er nicht. Das konnte er nicht. Aber immerhin: vor Ort zu untersuchen und die Verantwortlichen aufzusuchen, das kam hinzu. Prozessbeobachtungen, ausführliche Berichterstattungen, dann auch Vertretungen bei der UNO, beim Europarat, also Einflussnahme auch durch Experten, die wir neben unserer Laienarbeit inzwischen in großer Zahl engagieren. Sodass es also eine Zusammenarbeit gibt von professionellen Hauptamtlichen und Bürgerinnen und Bürgern, die das ehrenamtlich betreiben. Spr.in Amnesty betreut auch nicht mehr nur einzelne Gefangene, sondern kämpft grundsätzlich gegen Folter und Todesstrafe. Monika Lüke, die Generalsekretärin der deutschen Sektion: Regie Wort-Take 15 (Monika Lüke) Amnesty arbeitet seit den 70er Jahren zum Folterverbot. Und zunächst haben wir ziemlich was erreicht, wir haben erreicht, dass die Vereinten Nationen zunächst eine Erklärung verabschiedet haben gegen Folter und letztlich haben wir die Staaten auch zu der Antifolter-Konvention getrieben. Also es gab große Fortschritte. Die wurde dann 1984 verabschiedet. Regie Atmo 5 (Verleihung Nobelpreis an Amnesty) Spr.in International wächst das Ansehen von Amnesty besonders stark, nachdem die Organisation 1977 den Friedensnobelpreis erhalten hat. Der Kampf um die Menschenrechte bleibt dennoch zäh, konstatiert Wolfgang Piepenstock: Regie Wort-Take 16 (Wolfgang Piepenstock) Und da helfen Appelle von außen nur bedingt, sondern die betroffenen Gesellschaften müssen sich selbst entwickeln. Und das ist ein schwieriger Punkt geblieben: Was können wir, was kann ich in ein fremdes Land hinein transportieren an Mobilisierung, ohne dass ich jemanden bevormunde und ohne dass ich jemanden gefährde. Und das sind schwere, schwierige Pfade, die gefunden werden müssen und bei denen man auch müde werden kann. Spr.in Auf der UNO-Weltkonferenz über Menschenrechte von 1993 bekennen sich 171 Staaten zu ihren menschenrechtlichen Verpflichtungen - darunter viele, die es bei der Verabschiedung der Deklaration 1948 noch gar nicht gab. In der Abschlusserklärung heißt es: Zit. "Die Förderung und der Schutz aller Menschenrechte und grundlegender Freiheiten muss als vorrangiges Ziel der Vereinten Nationen betrachtet werden, im Besonderen mit der Bestimmung zur internationalen Zusammenarbeit." Spr.in Bei festgestellten Verstößen gegen die Konvention "empfiehlt" der UN- Hochkommissar für Menschenrechte, die Missstände zu beseitigen. Auf massive Menschenrechtsverletzungen kann die UNO auch mit Sanktionen reagieren. Doch in der Gemengelage unterschiedlicher Interessen der verschiedenen Staaten sind solche Beschlüsse selten. Und so ähnelt das Ringen um die Menschenrechte fast dem Kampf mit der Hydra, jenem Ungeheuer, dem immer neue Köpfe nachwuchsen, wenn ein Kopf abgeschlagen wurde. Es gibt durchaus Erfolge, aber auch immer wieder neue Probleme. Einen besonders massiven Einschnitt markieren die Terroranschläge vom 11. September: Regie Wort-Take 17 (Monika Lüke) Der so genannte Kampf gegen den Terror hat die Menschenrechte massiv in Gefahr gebracht und bringt es auch jetzt noch. Namentlich das Folterverbot. Spr.in ... konstatiert Monika Lüke, die Generalsekretärin der deutschen Sektion. Regie Wort-Take 18 (Monika Lüke) Tatsächlich verzeichnen wir Rückschritte. Dass eben Staaten versuchen, Folter zu legitimieren, zu rechtfertigen mit dem so genannten Kampf gegen den Terror, und dass dieses Argument von der Öffentlichkeit, auch von Juristen, Juraprofessoren, akzeptiert wird, und nicht nur das, sondern gestützt wird. Das ist sicher eine der großen Herausforderungen für die kommenden Jahre, hier wieder endlich ganz klar zu machen: Folter ist nicht erlaubt, unter keinen Umständen. Folter bricht die menschliche Würde und kann deswegen nicht akzeptiert werden. Spr.in Amnesty hat besonders die USA in diesem Zusammenhang immer wieder scharf kritisiert. Regie Wort-Take 19 (Monika Lüke) Man muss sagen, seit dem Machtwechsel von Bush zum jetzigen Präsidenten Obama sind die USA teilweise auf den Boden des Rechts zurückgekehrt, aber bedauerlicher Weise nicht vollständig. Der amerikanische Präsident hat sein Versprechen nicht einlösen können, das Gefangenenlager in Guantanamo zu schließen, wenigstens wird dort nicht mehr gefoltert. Was aber noch aussteht, ist, dass Obama diejenigen zur Verantwortung zieht, die eben in der Vergangenheit die Folter angeordnet haben, hier muss sich auch einiges ändern. Spr.in Durch das Engagement für politische Menschenrechte wurde Amnesty weltweit bekannt. Doch vor zehn Jahren beschloss die Organisation, sich außerdem für wirtschaftliche und soziale Menschenrechte einzusetzen. Regie Atmo 6 (Bagger zerquetschen Papphäuser, im Hintergrund Atmo während Zwangsräumung: laute Rufe, Megafonansagen) Spr.in Berlin, Potsdamer Platz. Aktivisten von Amnesty International haben Meter hohe Papphäuser auf dem Platz verteilt. Andere entrollen ein Banner: "Stoppt Zwangsräumungen" ist zu lesen. Eine Mikrofonstimme schallt über den Platz: Regie Wort-Take 20 mit Atmo (Aktion gegen Zwangsräumung) Wir sind sechs Milliarden Menschen auf der Erde. Eine Milliarde davon, jeder sechste Mensch, hat nur ein Haus aus Pappe, Wellblech, vielleicht auch Folie. Und das Schlimme, viele von denen, die in solchen Slums wohnen, werden inzwischen von dort, wo sie sind, auch noch vertrieben. Spr.in Nun zerquetschen Bagger die Papphäuser. Dazu ertönen Originalgeräusche einer Zwangsräumung. Viele Menschen bleiben stehen - die Aktion erregt Aufsehen. An einem Infostand sammelt Amnesty Unterschriften gegen Zwangsräumungen. Die Listen sollen an Regierungen der Länder geschickt werden, die Zwangsräumungen anordnen oder dulden. Regie Atmo 7 (Bagger zerquetschen Papphäuser, Hintergrund Atmo während Zwangsräumung: laute Rufe, Megafonansagen) Regie Wort-Take 21 mit Atmo (Aktion gegen Zwangsräumung) Es ist überall auf der Welt Realität, dass plötzlich Radlader und Bulldozer durch die Slums fahren, weil irgendeine korrupte Stadtverwaltung, irgendein Investor beschlossen hat, dass Menschen aus ihrem Slum jetzt vertrieben werden müssen, dann kommt der Radlader, die Menschen haben vielleicht ein paar Minuten Zeit, ihr persönliches Hab und Gut zusammen zu räumen. Spr.in Das Recht auf eine Unterkunft ist eines der sozialen Menschenrechte, die bereits in der UNO-Deklaration von 1948 genannt werden. Weitere sind: das Recht auf Bildung und auf Arbeit, auf ausreichende Ernährung und medizinische Versorgung, auf sauberes Wasser. Viele soziale Menschenrechte sind in etlichen Entwicklungsländern nicht einmal ansatzweise verwirklicht. Regie Wort-Take 22 (Monika Lüke) Für mich ist es zwingend, dass Amnesty sämtliche Menschenrechte thematisiert. Spr.in ... betont Monika Lüke. Regie Wort-Take 23 (Monika Lüke) Denn man kann politische Rechte wie die Meinungsfreiheit gar nicht trennen von den so genannten sozialen Menschenrechten. Wenn ich nicht die Möglichkeit hab, in die Schule zu gehen, das heißt, mein Menschenrecht auf Bildung nicht verwirklichen kann, dann weiß ich in der Regel gar nicht, wie wichtig es ist, zu Wahlen zu gehen. Ich hab viel größere Probleme, eine politische Meinung zu haben. Amnesty hat das erst sehr, sehr spät erkannt. Spr.in Dennoch war die Ausweitung des Mandats sehr umstritten. Als die Delegierten der Länder auf ihrer jährlichen Versammlung darüber abstimmten, entschieden sich die deutsche und die französische Delegation sogar dagegen. Aus guten Gründen, denkt Wolfgang Piepenstock: Regie Wort-Take 24 (Wolfgang Piepenstock) Ich gehöre bis heute zu den zurückhaltenden, etwas skeptischen Beobachtern dieser Entwicklung, weil es ein so weites Feld ist, sich für die sozialen Rechte einzusetzen, für das Recht auf hinreichende Ernährung, für Unterkunft, für Bildung, aber eine große Mehrheit hat beschlossen, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte mit allen Rechten in das Zielfeld von Amnesty zu übernehmen. Aber es geht gar nicht, über alle Rechte zugleich zu sprechen, deshalb müssen wir Schwerpunkte bilden. Spr.in Die Skeptiker argumentierten auch, dass viele Hilfsorganisationen bereits seit Jahren in diesen Bereichen arbeiten. Und deshalb auch eher überblicken, welche Art von Unterstützung notwendig ist. Amnesty muss sich diese Expertise erst aneignen. Regie Wort-Take 25 (Wolfgang Piepenstock) Wir müssen das Expertenwissen anderer Organisationen mit nutzen und sie stützen, wo es sinnvoll ist. Aber richtig ist, dass viele karitative Organisationen, wenn wir an die Diakonie, an Caritas, die Arbeiterwohlfahrt denken, die wissen viel mehr vor Ort über soziale Problemlagen. Deshalb vermeiden wir Doppelarbeit und suchen hier und da ein Arbeitsfeld wie das etwa der Vertreibung, das weniger von diesen karitativen Organisationen besetzt ist. Aber zum Kern, wenn ich das mal so respektlos sagen darf, zum Kern des Geschäfts unseres Anliegens gehört immer noch die politische Verfolgung, die Jahresberichte sind ganz überwiegend voll mit Einzelberichten über Länder, in denen es politische Verfolgung gibt. Spr.in Gerade junge Mitglieder, die zu Amnesty gekommen sind, nachdem die Organisation ihr Mandat ausgeweitet hatte, betrachten die Neuausrichtung aus einem anderen Blickwinkel. Regie Wort-Take 26 (Ruoxi Yu) Ich denk, das ist ne ziemlich gute Idee gewesen, und das ist auch wichtig, weil die Welt sich seit den letzten 50 Jahren auch verändert hat. Spr.in ... sagt zum Beispiel die Medizinstudentin Ruo-Xi Yu. Heute seien in vielen Ländern die Lebensgrundlagen der Menschen - und damit die sozialen Menschenrechte - erheblich stärker bedroht als früher. Regie Wort-Take 27 (Ruoxi Yu) Selbst wenn Menschen frei von Folter oder vielleicht Gefängnis leben, heißt das noch lange nicht, dass sie in Würde leben oder deren Menschenrechte gewahrt sind. Regie Wort-Take 28 (Florian Oswald) Amnesty beruft sich in der Arbeit auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Und nun stehen diese Menschenrechte ja alle drin, und da steht auch, dass die unteilbar sind und universell. Spr.in ... argumentiert der Politik-Student Florian Oswald. Vielleicht spricht die Ausweitung des Engagements sogar besonders viele Menschen an. Denn Amnesty boomt. In den letzten 15 Jahren hat sich die Mitgliederzahl mehr als verdoppelt auf über drei Millionen Menschen in 150 Ländern. Ob die Organisation es aber schafft, sowohl in den alten als auch den neuen Aufgabenfeldern effektiv zu arbeiten, bleibt vorerst offen. Denn bisher verzeichnet Amnesty die größten Erfolge bei den klassischen Aufgaben, wie Monika Lüke feststellt: Regie Wort-Take 29 (Monika Lüke) Für mich gibt's da zwei Stränge. Zum einen finde ich das, was wir beim Thema Todesstrafe erreicht haben, ziemlich stark. Als Amnesty 1961 gegründet wurde, hatten gerade mal zehn Staaten die Todesstrafe abgeschafft oder wandten sie zumindest nicht an, jetzt ist es so, dass 139 Staaten und damit mehr als zwei Drittel aller Länder weltweit nicht mehr hinrichten. Und zum anderen natürlich die Erfolge, die wir erzielt haben für die einzelnen Gefangenen, Bedrohten, für die wir uns einsetzen. Da haben wir Tausende in diesen 50 Jahren mit in die Freiheit gebracht, und da haben wir wirklich viel erreicht und erreichen wir immer noch viel. Spr.in Trotz aller Rückschläge haben die Menschenrechte weltweit in den letzten Jahrzehnten immer größeres Gewicht erhalten - wie auch die Demokratiebewegungen in den arabischen Ländern zeigen. Dazu hat auch das Engagement von Amnesty International beigetragen. Dass immer mehr Menschen für das Thema sensibilisiert sind, demonstriert auch das weiter wachsende Interesse an Amnesty International. Für Gerd Ruge, einen der Gründungsväter, ein unerwarteter Erfolg: Regie Wort-Take 30 (Gerd Ruge) Niemand hat sich das vorgestellt, dass wir eine Millionenorganisation werden. Nein, das haben wir nicht erwartet. Das ist natürlich wunderbar, dass wir so viele sind und sich das so entwickelt hat. Das habe ich auch nicht erwartet. Und das ist natürlich sehr befriedigend, dass man da einen kleinen Anstoß gegeben hat. Ende 1