COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. von Catrin Watermann und Diana Engel Ich vermisse Dich, Jude! - Unterwegs mit einem polnischen Provokateur Atmo 1: Schiebetür geht auf, Autotür knallt. Erzählerin: Am Marktplatz von Katowice, Polen. Atmo 1: Schiebetür geht nochmal auf Erzählerin: Es ist kurz nach eins. Samstagmittag. Ein schlaksiger Mann öffnet die Seitentür seines Kleinbusses und holt einen Lehnstuhl heraus. Atmo 1: Schiebetür geht wieder zu Erzählerin: Auf dem Stuhl liegen ein weißes Lammfell und eine schwarze Kippa. Atmo 1: Autotür geht zu. . Atmo 2: Markt- und Straßengeräusche (unterlegen) Erzählerin: Der Mann trägt den Stuhl zu einer Gruppe, die vor einem Denkmal wartet. Früher stand hier die Große Synagoge. Die Wehrmacht hat sie im September 1939 in Brand gesetzt - genau an dem Tag, als sie in die südpolnische Stadt einmarschiert war. O-Ton 1: Rafal Betlejewski (Overvoice) (hochziehen) Ich begrüße alle, die die Juden vermissen!" Atmo 3: Schnelle Schritte einer vorbei gehenden Frau O-Ton 2: Rafal Betlejewski (Overvoice) Ich heiße Rafal. Ich freue mich, dass Ihr gekommen seid! Erzählerin: Rafal Betlejewski kommt aus Warschau. Er ist Aktionskünstler. Der Stuhl mit der Kippa gehört zu seinem Kunstprojekt. Es heißt: "Ich vermisse dich, Jude". O-Ton 3: Rafal Betlejewski (Overvoice) Wie werden wir das Foto arrangieren, vielleicht hat jemand einen Vorschlag? Vielleicht macht Susanna einen Vorschlag. Wo ist Susanna, die den Fototermin organisiert hat? Erzählerin: Susanna ist eine der Freiwilligen vor Ort. Sie ist Studentin und arbeitet in der Internet-Redaktion vom "Forum Polnischer Juden". Sie hat die Leute zusammen getrommelt und das Treffen mit Rafal Betlejewski organisiert. O-Ton 4: Susanna (Overvoice) Also ich weiß nicht, vielleicht so, dass man den Markt sieht? (Rafal unterbricht sie: Ja!") Wollen wir, dass man das Denkmal sieht? Erzählerin: Das Denkmal, von dem Susanna spricht, erinnert an die Juden von Katowice, die zwischen 1939 und 1945 von den Deutschen ermordet wurden. Katowice liegt keine 40 km entfernt vom früheren Vernichtungslager Auschwitz. Früher war Katovice durch den Kohleabbau bekannt - heute ist die Stadt ein florierender Wirtschaftsstandort in Polen. Atmo 4: Wieder Schritte einer vorbei gehenden Frau Erzählerin: Rafal Betlejewski will das Foto direkt auf dem Marktplatz machen, gleich neben dem Gemüsestand. Atmo 5: Stimmen, lachen (auch unterlegt) O-Ton 5: Rafal Betlejewski (Overvoice) Super, ich würde vorschlagen, irgendwo hier. Erzählerin: 20 Leute gruppieren sich um den Stuhl mit dem Lammfell und der Kippa. Die meisten sind jung, kaum jemand ist älter als 30 Jahre. Susanna stellt sich hinter den Stuhl, ihre Hände berühren vorsichtig das Lammfell. Sie lächelt, und dann geht es auch schon los. Atmo 6: Klicken der Kamera (unterlegt) (Leika) O-Ton 6: Rafal Betlejewski (Overvoice) Super. Entschuldigung, einen Moment bitte. Erzählerin: Rafal Betlejewski wechselt den Film seiner alten Leika. Atmo 7 : Film fällt auf den Boden, Kruscheln Erzählerin: Als der 41-Jährige zur Schule ging, da war er bei einer Klassenfahrt nach Auschwitz dabei. Ihm wurde gesagt, dass in dem Vernichtungslager eineinhalb Millionen Polen gestorben seien. Von Juden war keine Rede. Das war in den 80ern. In den 90ern hatte sich das Geschichtsbild kaum verändert: Für die meisten war Auschwitz immer noch der "Ort des polnischen Martyriums". Nur ein Bruchteil der Polen brachte Auschwitz mit dem Holocaust in Verbindung. O-Ton 7: Rafal Betlejewski (Overvoice) Kommen Sie! Noch jemand von Ihnen, der zeigen will, dass wir der Juden von Katowice gedenken wollen, die hier gewohnt haben und nicht mehr hier wohnen? Zeigen wir der Welt, dass wir keine Antisemiten sind. Ich lade Sie ein! (kurze Pause, nur Hintergrundatmo) O-Ton 8: Rafal Betlejewski (Overvoice) Achtung, ich fotografiere! Ich bitte um ein Lächeln, damit das Foto nicht so traurig wird... Achtung! Jetzt kommt das Vögelchen... (lacht) Atmo 8: Klicken Kamera O-Ton 9: Rafal Betlejewski Super! Erzählerin: Wieder zu Hause in Warschau wird Rafal Betlejewski Fotos auswählen und auf seine Website "tesknie.com" stellen: "ichvermisse.com" heißt das übersetzt - und damit auf eine tiefe Wunde in der polnischen Gesellschaft zeigen: Vor dem Einmarsch der Deutschen lebte ein Drittel der Juden Europas in Polen. Am 27. Januar 2010 hat Rafal Betlejewski sein Kunstprojekt gestartet, am Jahrestag der Befreiung des Vernichtungsslagers Auschwitz. Ein Jahr lang hat er die polnische Öffentlichkeit damit konfrontiert und viel Aufmerksamkeit erregt. Am Marktplatz von Katowice kramt eine junge Journalistin Block und Stift aus ihrer Tasche. Sie schreibt für die örtliche Lokalzeitung. O-Ton 10: Journalistin (Overvoice) Ok, sagen Sie, der Satz "Ich vermisse dich, Jude" kann auf zweierlei Weise gesehen werden: positiv - oder negativ als Zeichen des Antisemitismus... O-Ton 11: Rafal Betlejewski (Overvoice) Das Wort "Jude" hat eine negative Bedeutung in Polen. So sind wir erzogen worden. Wir wurden daran gewöhnt, dass das Wort "Jude" einen negativen Beigeschmack hat. Und wir haben zugelassen, dass das so ist. O-Ton 14: Journalistin (Overvoice) Wo werden Sie den Satz "Ich vermisse dich Jude" in Katovice hinschreiben? Oder ist das ein Geheimnis? O-Ton 15: Rafal Betlejewski (Overvoice) Ich wähle dafür leer stehende Gebäude und herunter gekommene Häuser, damit mir nicht der Vorwurf des Vandalismus gemacht werden kann - was immer wieder passiert. Erzählerin: Die Journalistin ist mit ihren Fragen durch. Sie steckt Block und Stift zurück in ihre Tasche. O-Ton 16: Journalistin Super. O-Ton: 17 Rafal: Dobrze. Erzählerin: An den Hauswänden und Fassaden kann man immer wieder antisemitische Parolen finden. "Hau ab, Jude" steht da. Und Schlimmeres. Als Rafal Betlejewski das erste Mal nachts "Ich vermisse Dich, Jude" an einen Brückenpfeiler in Warschau schrieb, da waren viele verstört. Plötzlich stand da genau das Gegenteil an der Mauer, in riesigen roten Buchstaben. Manche fragten sich: Ist dieser Satz auch antisemitisch? Genau das will er erreichen. Atmo 9: Markt- und zunehmend Straßengeräusche, Gemurmel, Überqueren der Straße (unterlegen) Erzählerin: Es ist Viertel vor zwei. Rafal Betlejewski hängt sich die Kamera um, trägt den Stuhl mit dem Lammfell über den Markplatz. Nächste Station ist ein Wohnhaus, vor dem eine Frau mit Handtasche wartet: Malgosia. Sie ist gekommen, um einer Jüdin zu gedenken, die hier früher gewohnt hat. Betlejewski stellt den Stuhl vor die junge Frau und bereitet seine Kamera vor. O-Ton 18: Malgosia (Overvoice) Dieses Haus gehörte der Familie Golinski. Frau Golinski war wie eine Traum-Oma für mich. Als ich klein war, habe ich sie manchmal mit meiner Mutter in ihrer Wohnung besucht. Da habe ich die Menora gesehen, das Symbol für das ewige Leben. Damals wusste ich aber noch nicht, was das ist. Erzählerin: Betlejewski bittet Malgosia, noch ein, zwei Schritte näher an den Stuhl heran zu treten, damit er das Wohnhaus im Hintergrund mit aufs Bild bekommt. Dann schießt er ein paar Fotos von ihr hinter dem leeren Stuhl mit der Kippa und dem Lammfell. Atmo 10: Klicken der Kamera (unterlegt) Erzählerin: Malgosia verabschiedet sich... O-Ton 19: Do widzenia! Erzählerin: ... und verspricht, noch einen Text mit ihren Erinnerungen für die Website zu schicken. Atmo 11: Gemurmel, Musik, Verkehr (unterlegt) Erzählerin: Auch die anderen verabschieden sich. Rafal Betlejewski geht zurück zum Auto und packt den Stuhl ein. Atmo 12: Stuhl wird eingeladen, Schiebetür und Türen gehen zu, Motor geht an, losfahren // Straßengeräusche (unterlegt) Erzählerin: Rafal Betlejewski ist viel unterwegs in diesem Jahr. Sein nächstes Ziel ist Bedzin - eine Kleinstadt 15 Kilometer nordöstlich von Katowice. Im September 1939 hat eine nationalsozialistische Sondereinheit jüdische Bewohner von Bedzin in die Große Stadtsynagoge getrieben und sie dann in Brand gesteckt. Kaum ein Bedziner Jude hat den Holocaust überlebt. Atmo 13 : abschnallen, Autotür, Schiebetür wird aufgeschoben, Hintergundgeräusche (unterlegen) Erzählerin: Betlejewski hat seinen Wagen am Rand einer Durchgangsstraße geparkt. Neben ihm parken Susanna, die Freiwillige aus Katowice, und zwei Journalisten. Er holt Stuhl, Lammfell und Kippa aus dem Kofferraum und geht durch eine Toreinfahrt in den Hinterhof eines Hauses, von dem der Putz abblättert. Atmo 14: Hofatmo mit Hund, Kind, Gehämmer O-Ton 20: Rafal (engl., Overvoice) In diesem Haus war eine Synagoge. Es gab hier auch eine Einrichtung für die Armen, es war ein gut gehendes Haus. Jetzt gibt es keine Juden mehr und alles ist herunter gekommen. Erzählerin: Betlejewski stellt den Stuhl mitten in den Hof. O-Ton 21: Rafal spricht Frauen im Hof an (keine Overvoice) (bis Atmo 15 als Hintergrundatmo unterlegt) Erzählerin: Er begrüßt zwei Frauen, die mit ihren Kindern auf dem Weg in ihre Wohnungen sind. Er sei hier, um der Juden zu gedenken, die hier früher gelebt haben, erklärt er. Dann überredet er die Frauen, sich mit dem leeren Stuhl fotografieren zu lassen. Atmo 15: Fotoklicken O-Ton 22: Susanna Okay, yes! Atmo 16: Türen gehen zu, anschnallen, Motor an, losfahren, beschleunigen (kurz unterlegen) Erzählerin: Bevor er zurück nach Warschau fährt, macht er noch Station an der Universität von Katowice. Susanna, einige Kommilitonen und ihre Professorin wollen mit dem Aktionskünstler über sein neuestes Vorhaben diskutieren: Rafal Betlejewski will eine Scheune in Brand setzen. Damit will er ein Zeichen für ein Verbrechen setzen, das einige Polen vor fast 70 Jahren an ihren jüdischen Nachbarn begangen haben - ein umstrittenes Projekt. Susanna fragt in die Runde: O-Ton 23: Susanna (Overvoice) Entschuldigung, ich möchte fragen: Gibt es hier eine Person, die diese Aktion für eine gute Idee hält? (KommilitonInnen lachen) O-Ton 24: Professorin Magdalena Pikara (Overvoice) Künstlerische Aktionen, die mit dem Holocaust zu tun haben, sind in Polen immer ein Skandal... Erzählerin: sagt Magdalena Pikara, Philologie-Professorin an der Universität von Katowice und fügt hinzu: O-Ton 25: Professorin Magdalena Pikara (Overvoice) Vielleicht sind die Kunstaktionen die mit dem Holocaust zu tun haben, ein Beweis dafür, dass die polnische Gesellschaft ungern erinnert werden will. Erzählerin: Am 10. Juli 1941 haben die Bewohner der ostpolnischen Kleinstadt Jedwabne ihre polnisch- jüdischen Nachbarn in einer Scheune zusammen getrieben und sie bei lebendigem Leibe verbrannt. Der Aktionskünstler will für dieses Verbrechen ein Bild schaffen. Ein Bild, das provoziert. Ein Bild, das bleibt. Es dämmert, als er sich in seinen Wagen setzt. Atmo 19: während der Autofahrt, beschleunigen (auch unterlegen) Erzählerin: Müde fährt er durch die Nacht zurück nach Warschau. Atmo 20: Auf dem Feld in Zawada, Stimmen (langs. einspielen, durchgängig unterlegt bis Atmo 21): Erzählerin: Einen Monat später, 130 Kilometer südwestlich von Warschau, in einem kleinen Dorf namens Zawada. Hier steht heute zum ersten Mal ein Ü-Wagen des polnischen Fernsehens. Es ist heiß an diesem Sonntagnachmittag. 500 Menschen haben sich versammelt: Dorfbewohner aus Zawada, viele junge Leute aus Warschau und auch ausländische Gäste. Sie stehen in Gruppen an der schmalen Dorfstraße oder sitzen im Gras und blicken auf eine große alte Holzscheune mit einem Strohdach. Dahinter rasen die Lastwagen auf der Schnellstraße vorbei. Rafal Betlejewski steht auf dem abgemähten Feld vor der Scheune, von Journalisten umringt. O-Ton 26: Journalist (Overvoice) Sagen sie mir bitte, warum haben wir hier uns hier versammelt? Erzählerin: ... will einer der Journalisten wissen. O-Ton 27: Rafal (Overvoice) Wir stehen hier, weil diese Scheune in den nächsten 30 Minuten durch ein Feuer zerstört wird. O-Ton 28: Journalist (Overvoice) Ist das nicht gruselig: Vor 69 Jahren sind Menschen in einer ähnlichen Scheune bei lebendigem Leib verbrannt - und heute wird daraus eine Show gemacht? O-Ton 29: Rafal (Overvoice) Ich bin ein Performer und es ist mein Job, Show zu machen. Erzählerin: Drei Monate vorher hat Betlejewski öffentlich bekannt gegeben, was er vorhat. Die Proteste hat er mit eingeplant, sie sind Teil seiner Aktion. In der Menge erkennt er Susanna aus Katowice. Sie ist mit Pawel gekommen, auch er ist beim "Forum Polnische Juden" aktiv. Betlejewski weiß, dass die beiden sein Vorhaben verurteilen. Er winkt sie heran, sie sollen der Presse gegenüber ihre Kritik äußern: O-Ton 30: Pawel (Overvoice) Die Scheune ist ein Symbol des Todes von fast tausend Menschen. Das, was hier heute passiert, nimmt diesen Menschen, die gestorben sind, dieses Symbol weg. Das ist eine schlechte Idee. Natürlich hat ein Künstler das Recht auf Verwirklichung seiner Ideen. Aber wir sind dagegen, hier herrscht eine Picknickatmosphäre. O-Ton 31: Susanna, fällt ihm ins Wort (Overvoice) Die Leute wissen nicht, worum es geht, ich habe gesehen wie eine Gruppe junger Leute in kurzen Hosen in die Scheune gegangen ist, um sich alles anzuschauen. Und wenn wir das mit der Tragödie vergleichen, die vor 69 Jahren passiert ist, dann stellt sich die Frage, was für einen Sinn das hier hat, ob die Leute das überhaupt reflektieren werden. Erzählerin: Susanna und Pawel gehen zu ihrem Auto und fahren zurück nach Katowice. Sie wollen nicht dabei sein, wenn Betlejewski die Scheune anzündet. Der Künstler tritt an sein Mikrofon: O-Ton 32: Rafal durchs Mikro (Overvoice) Ich heiße Rafal Betlejewski, seit mehreren Jahren arbeite ich an diesem Projekt. Es heißt "Ich vermisse Dich, Jude". Ich vermisse die Menschen, die nicht mehr unter uns sind - aufgrund der Deportationen und Vernichtungen in den 40er Jahren, aufgrund der Massaker und der antisemitischen Verfolgungen Ende der 60er Jahre. Erzählerin: Er spricht von den antisemitischen Verfolgungen, die es in Polen auch unter kommunistischer Herrschaft gegeben hat. Die Menschen hören ihm aufmerksam zu. O-Ton 33: Rafal durchs Mikro (Overvoice) Heute bin ich im Dorf Zawada, wohin ich zufällig geraten bin... Erzählerin: Wochenlang hatte er nach dem richtigen Ort für seine Performance gesucht. In Zawada fand er eine Scheune, die er günstig kaufen konnte. Rafal hat sie mit seiner Crew in der Nähe von Zawada abgebaut und auf dem Feld vor der Schnellstraße wieder aufgebaut. Alles ist perfekt geplant. Das Feld, auf dem sie steht, hat er gepachtet. Feuerwehr und Polizei stehen bereit. O-Ton 34: Rafal durchs Mikro (Overvoice) Diese Wahl ist zufällig und betrifft Sie nicht. Sie müssen nicht reagieren. Sie müssen sich nicht fragen, warum diese Scheune ausgerechnet im Dorf Zawada steht. Die Scheune steht überall. Erzählerin: Die wenigen hundert Einwohner Zawadas haben bis zu diesem Tag nichts davon geahnt, dass ein Künstler aus Warschau ihr Dorf auserwählt hat. Neugierig stehen sie am Straßenrand. Einige fühlen sich übergangen. Ein junger Familienvater regt sich auf, dass die Scheune ausgerechnet in seinem Dorf steht. Ein Rentner steht an seinem Gartenzaun und versteht nicht, was das alles soll: O-Ton 36: Älterer Dorfbewohner (Overvoice) Wir hatten einen Präsident, Kwasniewski, der hat sich doch entschuldigt für das Massaker, das die Polen in Jewabne verübt haben. Erzählerin: Eine ältere Frau, die auf Familienbesuch in Zawada ist, fragt sich, wer eigentlich die Verantwortung für das Massaker in der Scheune von Jedwabne trägt: O-Ton 37: Ältere Frau (Overvoice) Ich bin nicht sicher, ob das wirklich die Polen waren. Und deswegen will ich erfahren, wie es wirklich war. Weil die Polen auch sehr unter den Deutschen gelitten haben, durch die Konzentrationslager. Und ihre Familien verloren haben. O-Ton 38: Rafal laut durchs Mikro (Overvoice) Ich muss Ihnen ehrlich sagen, dass ich auf mich selbst mit dem Finger zeige und sage: Ein typischer polnische Ignorant! Vor zehn Jahren ist das Buch "Nachbarn" von Jan Gross erschienen. Dieses Buch war für mich ein Schlag aus heiterem Himmel. Erzählerin: Der amerikanisch-polnische Historiker Jan Tomasz Gross deckte mit seinem Buch "Nachbarn" auf, was in Jedwabne geschah. Es fußt auf Zeitzeugenberichten. O-Ton 39: Rafal laut durchs Mikro: (Overvoice) Das Buch hat mir klar gemacht, wie wenig ich über die Geschichte der polnischen Juden weiß, wie viele Juden in Polen gelebt haben, wie sie die polnische Kultur geprägt haben, was der Holocaust war, und warum wir nicht darüber reden. Jedwabne ist eine Stadt wie jede andere in Polen. Warum haben wir diese Phobien, warum habe ich diese Phobien? Erzählerin: Rafal Betlejewski unterbricht seine Rede. Zwei Studenten aus Warschau durchkreuzen seine Dramaturgie: Sie haben die Scheune besetzt. Heimlich haben sich Jacek und Christoph in die Scheune geschlichen und sind auf den Heuboden geklettert. Atmo 21, unterlegen: In der Scheune, Heugeraschel, Stimmen, ab und zu Fotoklicken Erzählerin: Alle drängen in die Scheune und wollen sehen, was nun geschieht. Christoph erklärt der Presse, warum sie die Scheune besetzen. O-Ton 40: Christoph (Overvoice) Wir protestieren, weil wir der Meinung sind, Betlejewski soll diese Aktion nicht durchführen. Das ist Trivialisierung und Verkauf, Aneignung und Kommerzialisierung von den Symbolen der Vernichtung. Und das ist Werbung für Rafal selbst und das ist unmoralisch! Erzählerin: Auch Tamir und Maja stehen in der stickigen Scheune zwischen Kameras. O-Ton 41: Tamir (ohne overvoice) Are you jewish? Erzählerin: will Tamir von Christoph wissen. Tamir ist Jude, er kommt aus Kanada und lebt jetzt in Warschau. O-Ton 42: Christoph (Overvoice) Das tut hier nichts zur Sache! O-Ton 43: Maja (Overvoice) Ich will euch meine Interpretation sagen! Erzählerin: mischt sich Maja ein. O-Ton 44: Maja (Overvoice) Ich bin jüdisch und komme aus Israel. Mich berührt diese Aktion sehr. Ihr aber meint, man darf den Holocaust nicht antasten! Erzählerin: Tamir ist derselben Meinung: O-Ton 45: Tamir (Overvoice) ... wie das Goldene Kalb in der Bibel: Berühr es nicht, sprich nicht darüber, diskutier nicht darüber, lass es in Ruhe! Ich bin anderer Meinung. Jedwabne, das bedeutet nicht nur: Juden brannten in der Scheune. Es waren Polen vor der Scheune, die dies taten - das ist ein wichtiger Teil der Geschichte und das sollte breit diskutiert werden, um aus der Geschichte zu lernen. Atmo 22, unterlegen bis Atmo 23 aufgebrachte Stimmen in der Scheune. Erzählerin: Einige Männer aus dem Dorf werden ungeduldig. Sie wollen die Scheune endlich brennen sehen. Als die Polizei kommt, klettern die beiden Studenten vom Heuboden. Atmo 23: Auf dem Feld: Stimmen, im Hintergund Polizist, der per Funk etwas durchgibt. Erzählerin: Sie müssen nun alles von der Rückbank des Polizeiwagens verfolgen. Rafal Betlejewski tritt wieder ans Mikrofon. Atmo 24: Auf dem Feld: Stimmen (unterlegt bis Atmo 25) O-Ton 47: Rafal durchs Mikro (Overvoice): Ok, wir fangen jetzt an! Ich werde die Liste vorlesen, von denen, die sich bei mir wegen der Blätter gemeldet haben. (Er liest die ersten Namen vor, nach ca. 10 Sek. unterlegen) Erzählerin: Über 100 Menschen sind seinem Aufruf auf der Website gefolgt und haben ein leeres weißes Blatt Papier bei ihm bestellt. Jedes Blatt symbolisiert antisemitische Gedanken und Vorurteile. Diese Gedanken sollen keinen Platz mehr in Polen haben. Darum wird Rafal die Blätter in der Scheune verbrennen (Namensliste am Ende wieder lauter) O-Ton 48: Rafal durchs Mikro (Overvoice): Wir befinden uns genau vor dem Ort, an dem die Scheune gleich brennen wird. Ich bitte Sie, sich der Scheune nicht zu nähern. Ich hoffe, Sie bewahren Vernunft. Erzählerin: Betlejewski greift nach einem Benzinkanister und geht das Feld hinab zu der Scheune. Er geht um die Scheune herum und schüttet das Benzin an die Holzwände. Dann geht er in die Scheune, verteilt die Blätter im Heu, gießt Benzin über sie. Und zündet sie an. Atmo 25: Scheune fängt an zu brennen, Feuer knistern (unterlegt) Erzählerin: Sofort brennt die Scheune lichterloh. Die gelben Flammen schlagen weit in den Himmel, dann bildet sich eine immer größer werdende schwarze Rauchwolke. Auf der Schnellstraße erlahmt der Verkehr: Atmo 26: Vorbeifahrender hupender LKW. Erzählerin: Einige Zuschauer auf der Wiese machen Fotos oder unterhalten sich. Jemand fragt: Wo ist eigentlich Betlejewski? Doch die meisten betrachten stumm, wie das Feuer das Holz verschlingt. Plötzlich taucht der Künstler wieder auf, inmitten seines Publikums. Seine Performance ist vorbei. Atmo 27: Ansage durchs Mikro (ohne Overvoice), vereinzeltes Geklatsche Erzählerin: Er bedankt sich bei seinem Publikum. Die Scheune fällt in sich zusammen. Allmählich löst sich die Menge auf: Die Dorfbewohner gehen zurück zu ihren Häusern, die Warschauer zu ihren Autos. Auch Betlejewski macht sich auf den Weg nach Hause. Atmo 28: Schiebetür und Autotür gehen zu Erzählerin: Die Feuerwehrmänner fahren mit ihren Feuerwehrautos an die Stelle, wo eben noch die Scheune stand und löschen die Glut. Atmo 30: Husten, Stimmen, Feuerwehr löscht Feuer (unterlegen) Erzählerin: In den nächsten Tagen berichten die polnischen Medien über die brennende Scheune in Zawada. Auf der Webseite und auf Facebook laufen die Debatten wochenlang. Die einen finden, es sei falsch, aus der Tragödie von Jedwabne ein Event zu machen. Die anderen meinen, die Aktion sei wichtig gewesen, denn so bleibe das Massaker in Erinnerung. Rafal Betlejewski fährt noch monatelang weiter mit seiner Leika durchs Land und legt den Finger weiter in diese tiefe Wunde der polnischen Gesellschaft. Atmo 31: Feuerwehrwagen geht aus, Stimmen, Husten ENDE. 2