DEUTSCHLANDFUNK Redaktion Hintergrund Kultur / Hhörspiel Redaktion: Ulrike Bajohr Tel. (0221) 345 1503 Feature am Freitag Werde, der du bist. Die Odenwaldschule Von Elke Suhr Sprecher/innen: Jacqueline Macaulay, Dieter Montag, Gunda Aurich, Sigrid Burkholder, Edda Fischer, Caroline Schreiber, Michael Hüssein Cirpici, Axel Gottschick, Simon Roden ... Redaktion: Ulrike Bajohr Regie: Christine Nagel Ton und Technik: Alexander Dorniak und Beate Braun Produktion: 25.3. / 31.3. bis 2.4. 2008 , Sprachaufnahmen Macauly/Aurich/Montag 27.3., DLR Berlin URHEBERRECHTLICHER HINWEIS Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. ? DeutschlandRadio Sendung: 11. April 2008 (Musik) Ansage Werde, der du bist. Die Odenwaldschule Ein Feature von Elke Suhr O-Ton/Paul Geheeb Ich habe von je her die Menschenbildung als eine durchaus individualistische Angelegenheit aufgefasst. Die Bildung hat sich an das Individuum zu wenden, nicht an die Massen. Zitatorin /Edith Geheeb Paul Geheeb und ich hatten uns 1909 in Wickersdorf kennengelernt; er war damals Leiter dieser Freien Schulgemeinde. Es war Februar und strenger Winter, als mein Vater und ich dort eintrafen. O-Ton /Edith Geheeb Wir fragten nach Herrn Geheeb, da wurden wir in das sogenannte Herrenhaus geführt // und im 2. Stock fand ich dort eine merkwürdige Gruppe Menschen. Herr Geheeb mit kurzen Hosen, ohne Strümpfe, in Sandalen - in seinem üblichen Anzug, den er getragen hat, bis zum Ende. Unverändert. (Lacht.)Und fünf sehr schöne Frauen in seinem Zimmer, und sie aßen Rührei mit Schinken. (Lacht weiter) Und das kam mir so wahnsinnig komisch vor (Lacht). Zitatorin /Edith Geheeb Ich war glücklich, als Erzieherin im Landschulheim Wickersdorf das zu finden, was ich mir als Arbeit erhofft hatte. Leben in der Natur, Einfachheit der Verhältnisse, die Möglichkeit, als Erzieherin in naher Verbindung mit Kindern zu leben, Glied einer Gemeinschaft zu werden. Dass Paulus und ich uns bald fanden, war für uns beide ein großes Glück. Desto trauriger war es für uns, dass schon nach kurzer Zeit Differenzen mit dem Kollegium auftraten und wir uns von Wickersdorf trennen mussten. O-Ton /Edith Geheeb Und dann sagte er mir, er möchte meinen Vater aufsuchen und ihm sagen, dass er mich heiraten will. //Mein Vater hat ihn empfangen, und dann rutschten ihm die Hosen immer hoch, und dann sah man die nackten Waden. (Lacht lange und herzlich.) Und so kam er also zu meinem Vater, um um die Hand der Tochter anzuhalten ... Und da hat mein Vater gefragt: "Womit wollen Sie denn meine Tochter erhalten ... ? Und da hat der Paulus gesagt: "Erhalten ... ?"... Zitatorin /Edith Geheeb Mein Vater war der Fabrikant Max Cassierer, Mitglied im Vorstand der deutschen Industrie, Stadtrat und später Ehrenbürger von Berlin. Zunächst war er begreiflicherweise gegen unsere Heirat und unsere Pläne. Aber je mehr er meinen und Paulus' ernsten Willen kennen lernte, unser Leben in Arbeit zu verbinden, desto interessierter zeigte er sich. Er stellte nicht nur die Mittel zur Verfügung, die eine große Schule benötigte, sondern er bedachte mit uns jede Einzelheit. O-Ton/Edith Geheeb Mein Vater sah dann eben die Notwendigkeit, dass man baute, 4 Häuser und ein Maschinenhaus für die Elektrizität. Zitator/Paul Geheeb Im Frühjahr 1910 gründete ich die Odenwaldschule in Heppenheim an der Bergstraße. 1930 besteht meine Schule aus 12 Landhäusern, die am obersten Ende eines von der Bergstraße sich nach Osten in den Odenwald emporziehenden Tales liegen, in herrlicher Landschaft, zwischen Bergen, Laubwäldern und Wiesen. 180 Kinder und junge Leute, ein Drittel Mädchen, sind auf die Häuser verteilt. (Musik) Zitator/Paul Geheeb In der Aula des Hauses, das von der Berghöhe hinab ins Tal und fern in die weite Rheinebene schaut, ist die Büste Platons aufgestellt als des unerschöpflichen Urquells aller Kultur des Abendlandes. Die übrigen fünf Hauptgebäude der Odenwaldschule sind an hervorragender Stelle mit den Bildnissen Goethes, Herders, Fichtes, Schillers und Wilhelm von Humboldts geschmückt - weil wir uns zu ihnen als unseren Heroen bekennen. Atmo /Musik Sprecherin: Geländegang mit Friedel O-Ton /Autorin/ Friedel - Meine Güte, ist das idyllisch, ein richtiges kleines Dorf ... - Das ist das Bachhaus, da wohnt nur eine Familie drin. Das ist klein, niedlich, furchtbar hellhörig.... O-Ton /Werklehrerin/ Typographie mache ich mit den Schülern, Schriften erkennen, was dann natürlich später auch auf die Computerbeschriftung umgesetzt werden kann. Atmo weiter 06 O-Ton / Werklehrerin Was mich auch immer wieder erstaunt ist, dass gerade Legastheniker damit sehr gut umgehen können, weil die ja sowieso langsamer denken, und beim Setzen ist es so, man muss spiegelverkehrt und auf dem Kopf setzen. Atmo O-Ton / Friedel Ich bin auch Legastheniker und ich hab als Tertialsarbeit über Typographie geschrieben. Es gibt so 'n Heft, und da steht drin, wie man das gestalten soll. Und dieses Heft ist selbst furchtbar gestaltet. Und dann hab ich beschlossen, dass ich selber 'ne Arbeit schreibe, um herauszukriegen //wie man das eigentlich regeln soll. Atmo O-Ton/Autorin Was ist denn mit dem Chemielabor und den neuen Technologien ... // Wo sitzen die? O-Ton/Friedel Da oben im Laborhaus./ Atmo Hier wohnt nur die 5. und 6. Klasse drin ... . Atmo Friedel Es gibt eben so wenig Fünft- und Sechstklässler, sie hier nachkommen. Autorin: Ja: Friedel: Man sagt, die Leute sollen auf die OSO kommen, dann haben sie Chancen, aber man gibt ihnen nicht die Zeit, um sich zu ändern. O-Ton/Autorin/Friedel Ich würde ganz gern dann auch mal in dein Zimmer kommen ... Friedel Ja, klar. Ich hab dem Jörg schon Bescheid gesagt, mit dem ich die beiden Kleinen betreue.// Jörg ist schon furchtbar lange hier, der ist seit der 5. Klasse hier, der ist in ´ner Zwölften, und ich bin erst seit der Siebten da, was heißt erst, das ist für die OSO schon relativ lang. Musik Sprecherin: Pädagogische Provinz. Gründungsjahre Zitator/Paul Geheeb Im Landerziehungsheim sollen die Kinder in reiner Luft, unverkümmert und unverbogen, sich zu wahrem Menschentum entwickeln, bewahrt von den Übeln der Zivilisation, von denen die Welt draußen voll ist. Unsere Kinder bilden den Mikrokosmos einer wirklich organischen, einheitlichen Lebensgemeinschaft. O-Ton/Edith Geheeb Jedes Kind durfte sich aussuchen, was es interessierte und womit es sich beschäftigen wollte, dazu sollte ihm die Gelegenheit gegeben werden. O-Ton/ Paul Geheeb Nach Pestalozzis Auffassung, der gern den Ausdruck "Individualbildung" brauchte, würde es schon ein Unrecht sein, auch nur zwei Kinder nach dem gleichen Lehrplan arbeiten zu lassen. So individualistisch fasste er Bildung auf. O-Ton / Edith Geheeb Und das hat sich doch gar nicht bewährt, der Paulus hat nämlich nicht bedacht, dass diese Kinder// gar nicht wussten, wie das Leben so einzuteilen war. Die bekamen ja jede Stunde alles vorgesetzt. Und so langweilten sie sich und schmissen Steinchen an die Häuser.. gar nicht schlimm, aber doch ohne irgendwelchen Inhalt. ... Und dann mussten wir eben doch anfangen, einzuteilen (dass jedes Kind 4 Tage in der Woche beschäftigt war). Zitator/Paul Geheeb Verzweifelt fragen Pädagogen, die noch immer vom Idol der allgemeinen Bildung besessen sind, wo sie auf längst überlasteten Lehrplänen immer noch neue Unterrichtsfächer und Stoffmassen unterbringen sollen. O-Ton /Edith Geheeb Das habe ich immer gefühlt, dass es richtig war, dass das Kind lernte, ernsthaft an einer Sache zu arbeiten, sich das wählen und daran festhalten. Zitator/Paul Geheeb Den Schlüssel zur Lösung dieses Problem hat uns bereits Goethe gegeben: "Narrenpossen sind eure allgemeine Bildung und alle Anstalten dazu. Eines recht wissen und ausüben gibt höhere Bildung als Halbheit im Hundertfältigen." O-Ton/Edith Geheeb Und da hat der Paulus als Schreinerei eingerichtet und hat selber Schreinern unterrichtet. (Lacht) Er hat das gelernt. Zitator/Paul Geheeb Für uns war immer die Devise Pestalozzis maßgebend: Kopf, Herz, Hand. In der Odenwaldschule wurde ein großes Gebäude errichtet, das überhaupt nur Werkstätten enthielt: eine tüchtige Schreinerei ... Atmo Werkraum/ Bohr- und Schleifgeräusche aus der OSO-Schreinerei von heute./ auf Musikmix Sprecherin: Lehrer Killich lehrt Fünftklässler das Bohren O-Ton/Autorin / Lehrer Sie messen ja dem Werkunterrichtt besondere Bedeutung bei ... O-Ton/Killich Also dass ist eine von mehreren Säulen der Odenwaldschule. Wir haben mehrere Werkstätten hier an der Schule und bereiten die Kinder in der 5. und 6. Klasse // darauf vor, dass sie ab der siebten Klasse dann die größeren Werkstätten also auch die Folgewerkstätten besuchen können und ggf. dann nach der elften Klasse, 12. Klasse, sogar 'ne handwerkliche Ausbildung machen können, parallel zum schulischen Teil ihrer Ausbildung. Da haben sie die Möglichkeit, eine Schreinerausbildung zu machen, den Gesellenbrief im Schreinerhandwerk oder den Gesellenbrief im Schlosserhandwerk. O-Ton/Autorin Und welchen Sinn hat das für Schüler, die Akademiker werden wollen? O-Ton/Killich Das hat für alle Schüler 'ne ganz große Bedeutung. Atmo Also im Prinzip hat jeder einzelne Mensch hier im Raum ganz viele Qualitäten, und in so 'm Projektunterricht können die natürlich ganz gezielt erst mal ihre Stärken rauspicken. Und da konnte 'ne Alisa, die in Mathematik schon ihre Frustrationserlebnisse aus der Grundschule mitgebracht hatte und erstmal gesagt hat, ich möchte überhaupt keine Mathematik mehr machen, die konnte dann, dadurch, dass sie ausrechnen konnte, erstmal ihre Divisionsfrustration überwinden: Mensch es stimmt ja alles, was ich da gerechnet hab. Atmo Chor O-Ton/ Geheeb/ Kollegen von öffentlichen Schulen und Internaten haben mich immer wieder beneidet um die herrliche Disziplin, die bei uns herrschte, einfach, weil sie darauf beruhte, dass weil sie darauf beruhte, dass jedes Kind schon möglichst früh zu einem starken Verantwortungsbewusstsein erzogen wurde. Schon die Kleinen/ waren verantwortlich für sich selbst und für die Gemeinschaft. Musik Sprecherin: Paul Lasker-Schüler, 1913 Zitatorin (Else Lasker-Schüler) In den Bergen zwischen Laub und Wiesen stehen bemalte Waldschlösschen. Jedes ist einem Dichter gewidmet. Und drinnen lachen Knaben und Mädchen mit ihren Lehrern und Lehrerinnen. Und unter ihnen lebt der Rübezahl mit seinen gütigen nussbraunen Augen und dem langen Weihnachtsmannbart. Paul Geheeb, er zaubert Freude durch die Hallen und Säle seiner Gnomhäuser. Mein Paulchen wird bald in Ihrer Schule sein. Er ist furchtbar schüchtern und mag es nur nicht zeigen. Er ist wirklich so ein gutherziges Kind und ich leide darunter, wenn er sich hier nicht so rumtummeln kann, da ich sehr herzleidend bin. Zitator (Paul Geheeb) Odenwaldschule, 2. Juli 1913 Liebe Frau Lasker-Schüler! Wenn ich zuweilen diese oder jene Verfehlungen Pauls scharf verurteilt habe, so tue ich doch nur meine Pflicht als Erzieher. Zitatorin (Else Lasker-Schüler) Paul fühlt, dass Herr Direktor ihn nicht leiden mag ... Zitator (Paul Geheeb) Ich möchte Ihnen ebenso dringend als herzlich versichern, dass ich von je her eine starke Sympathie für Ihren Paul gehabt habe. Zitatorin (Else Lasker-Schüler) Er hat Vögel vom Baum geschossen. Das ist mir direkt ein Rätsel. Denn Paul liebt die Tiere ... Ich habe nicht erlaubt, dass er ein Gewehr bekommt; er sollte sich einen Mantel kaufen für meines Mannes Weihnachtsgeld. Da kam er plötzlich mit einer Waffe, als Jäger, nach Haus. Ich war ihm direkt stundenlang bös. Ziehen Sie doch bitte nicht den falschen Schluss, dass ich Paul nicht verstünde oder nicht liebte, knallt er zum Beispiel die lieben Meisen von den Bäumen herunter, so bin ich sicher, dass dies nur Gedankenlosigkeit oder Unbesonnenheit ist. Zitator (Paul Geheeb) Wir haben ja bemerkt, wie schlimm es um ihren Sohn steht. Er ist wohl zu sehr verwöhnt, und infolgedessen ist seine Arbeitsfähigkeit zu wenig entwickelt worden. Für das Bedenklichste halte ich, dass die Regungen von Pauls Innenleben überhaupt nur aus Wünschen besteht. Wenn er Empfindungen oder Gedanken äußert, so sind das Wünsche, und zwar immer sehr egoistische Wünsche. Und ich glaube, liebe Frau Lasker-Schüler, Sie tragen einen großen Teil Schuld an dieser Abnormität, insofern Sie immer von dem Bestreben erfüllt gewesen sind, Paul nichts als ein fröhliches Kind sein zu lassen. Doch glauben Sie mir, Kinder lassen sich, schon erheblich jünger als Paul ist, zu sozial empfindenden kleinen Menschen erziehen. Ich glaube sogar, dass so absolute Egoisten wie Paul gar nicht die Fähigkeit haben, glücklich zu sein. Zitatorin (Else Lasker) Mein Paul hat in Ihrer Schule das Stottern gelernt, und zwar durch die ewige Angst und Qual, in der sich mein armes Kind befand. Es gibt keinen Menschen, den ich so sehr hasse wie den Leiter der Odenwaldschule. Atmo Sprecherin: Drudes Tagebuch Zitatorin/ Drude 14. Mai 1916 Also Herr Paulus Geheeb hat uns zur 8. und 9. Symphonie von Beethoven eingeladen. Wir wanderten nach Heppenheim und fuhren nach Darmstadt. Dort ging's erst in eine Konditorei, wo wir unendlich viel Kuchen aßen. Dann ins Opernhaus. - Und dann die Musik! Und Geheeb! In der Schulgemeinde lernt man ihn ja überhaupt nicht kennen. Aber alle sagen, man muss mit ihm spaziere gehen, dann sieht man ihn erst richtig. Ja, das sah ich nun auch, so kaufte er viele Blumen und schenkte jedem eine, immer ganz individuell ausgewählt. Ich bekam eine lila Schwertlilie, an deren aufblühenden Knospen ich mich täglich freue. Musik Jugendchor (Zuckmayer) Zitatorin/Edith Geheeb Drude - die Tochter des berühmten Jugendstilmalers Fidus - war eines der begabtesten und entzückendsten Mädchen, die ich je gesehen habe. Zitatorin/Drude 20. Mai 1916 Jetzt war gestern Fichtefeier. - Ja, hier versteht man's wirklich auf deutsche Art Feste zu feiern! Schon am Abend vorher eine Vorfeier. Wir gingen zur Jägersrast und hörten dort von Fichtes Leben. Am 19. gingen wir zusammen auf die Eulenwiese. Erst ein Gedicht von Goethe: "Das Göttliche". Dann Fichteworte vorgelesen und dann mein Gedicht: "Genius" von Schiller. Dann tanzten wir Volkstänze. Als Schluss kamen Lieder zur Laute. Zitator/Paul Geheeb In der 10. der Fichteschen Reden an die Nation heißt es: "Eine Absonderung der Geschlechter in besonderen Anstalten für Knaben und Mädchen würde zweckwidrig sein und mehrere Hauptstücke der Erziehung zum vollkommenen Menschen aufheben." So weit Fichte. Die Koedukation bildet einen ganz wichtigen Bestandteil aller Erziehung. Gibt es doch nirgends ein Kind, das in sexueller Isolierung aufwüchse; vielmehr entwickelt sich der Knabe oder das Mädchen in seinen wechselseitigen Beziehungen zum anderen Geschlecht. Zitatorin (Drude) 21. Mai 1916 Das Hauptproblem, an dem wir alle zu kauen haben, ist die Koedukation. - Es ist jetzt so ein unschöner Ton zwischen Jungen und Mädchen eingerissen, dass alle darunter leiden. So nun hatten wir großen Mädchen für uns eine Konferenz. Wir sind uns alle einig, dass jeder daran arbeiten muss, dass auch die Jungen sich vernünftig benehmen. Zitator/ Paul Geheeb Verantwortungsbewusstsein war der Grund, dass es mit der Koedukation, die ich vom ersten Tag an in der Odenwaldschule durchgeführt habe, immer gut gegangen ist. Dass nie etwas vorgekommen ist, das wir zu bedauern hatten. Und wir hatten doch Knaben und Mädchen in allen Altersstufen, bis zu 18, 19 Jahren. Zitatorin/Drude 12. Juni 1916 Worüber ich langsam und sehr schwer fortgekommen bin, ist Paul Geheeb. Er bleibt mir fremd. Nun bin ich aber darüber weg und erwarte nichts mehr. Wenn ich das Bedürfnis habe, ungestört zu sein, wird mir das unmöglich gemacht. Und wenn ich das Bedürfnis habe, still zu sein, dann fragt jeder, was mir fehlt, und alle reden, bis ich mich zwinge, lustig zu sein. Bis sich dann mit einem Mal von meiner inneren Gereiztheit und Unsicherheit etwas in einem ungezogenen, schnippischen Ton Luft macht. Dieses Wehren ist ja so schwer und macht einen auch wieder wund. Zitatorin/Edith Geheeb Als Drude 17 Jahre alt war, musste sie für einige Monate von unserer Schule nach Berlin beurlaubt werden, wo gerade eine Grippe wütete. Das Mädchen wurde infiziert und bekam eine schwere Lungenentzündung und war nach 5 Tagen tot. Musik Sprecherin: Annika, 12. Klasse O-Ton Annika/Autorin Bei mir ist so ´ne Spaltung, hab ich das Gefühl: Entweder die Leute mögen mich oder sie hassen mich ... . Autorin Und wie ging`s, als du hier auf die OSO kamst,w as für ein Gefühl hattest du? Annika Ich war sehr glücklich, weil ich hatte das Gefühl hier frei zu sein, mich entfalten zu können - ich war sehr froh, hier zu sein. Atmo Also das Du-Sagen auf der OSO finde ich auf der einen Seite richtig gut, weil man dadurch 'ne bessere Beziehung aufbauen kann.// In keiner anderen Schule kann man so ´ne gute Beziehung zu den Lehrern aufbauen, aber man kann dadurch auch den Respekt verlieren. Autorin Herr Bueb würde jetzt ja sagen, ja, da sehen wir doch mal: Salem ist eben doch besser mit mehr Respekt. Annika Also, auf Salem ist ´n Kumpel von mir gegangen und als er zurückkam, sein erster Satz war: Wenn man dort mit einem Mädchen befreundet ist, das man fickt, er hat das so formuliert: Freundschaftsficken, und dass es nicht so seriös ist, wie es von außen aussieht, Autorin Du meinst da ist mehr los ... Annika ... als man glaubt. Sprecherin: Über Disziplin.Odenwaldschul-Lehrer Hans Traxl contra Bernhard Bueb, Salem- Leiter Atmo O-Ton Hans Traxl/Autorin Wir sind hier im Grunde ein kleines Dorf mit 250 jungen Menschen//. Hier bekommt man viel mehr mit, es gibt viel mehr Auffälligkeiten, man kommt auch viel mehr mit den Kindern durch den Alltag zusammen. Deswegen fällt einem vieles stärker auf, als Eltern außerhalb des Internats.// Es wird vermutlich niemandem gelingen, das Problem Alkohol oder Drogen oder Sucht ein für alle mal für eine größere Gruppe zu klären. Es wäre völlig unglaubwürdig zu sagen, wir sind hier ein Dorf, bei uns gibt's das nicht. Autorin Da würde Herr Bueb vielleicht sagen, das hätte er in Salem besser unter Kontrolle gekriegt ... Hans Traxl Das, was Herr Bueb betreibt ist Schein und Design. Er verspricht: wir testen, wir verhindern Drogenmissbrauch, aber er sagt nicht, welche Drogen.// Es verspricht Sicherheit, es ist ein Aushängeschild, es ist eine geniale Marketingaktion, aber es hat mit Pädagogik und dem vernünftigen Umgang mit jungen Menschen und ihrem Wachsen und Gedeihen inklusive ihrer Fehler wenig zu tun. Autorin Was machen Sie denn, wenn Sie einen erwischen? Hans Traxl ....Wir können überlegen, eine Probezeit zu eröffnen, wenn ein Schüler sich auf Dauer so verhält, dass er sich und andere mit seinem Konsum schädigt, oder wenn er jetzt dealt im Sinne von Weitergeben an Alkohol oder Drogen an Jüngere, dann trennen wir uns auch von dem Schüler. Autorin Das ist ja eine wahnsinnig freundliche Atmosphäre hier, auch zwischen Lehrern und Schülern. Hans Traxl Ich glaube, das ist eine Einstellungssache. Das hängt zusammen mit dem grundsätzlichen Duzen und mit der Vorstellung auch, dass hier weniger Schule denn eine gewisse Lebensform, eine Lebensgemeinschaft auf Zeit praktiziert wird. Die aber auch den Unterricht befördern soll. Autorin Was sind die Vorteile der Odenwaldschule gegenüber Salem? Hans Traxl Zum einen glaube ich, dass die Gesamtschule eine richtige Antwort ist auf verschiedene Fragen und Studien von Pisa bis OECD. Das Schöne find' ich hier, wenn sie hier im Alltag durch die Bibliothek oder über das Gelände gehen, Sie werden den Unterschied nicht finden zwischen sogenannten Selbstzahlern und sogenannten Jugendamtskindern. Das halte ich für eine der selbstverständlichsten und deswegen genialsten Leistungen dieser Schule. Ähnlich geht es mit dem Umgang mit Zeit..Das gehört für mich zu den Genialitäten dieser Schule. Wir haben hier keine Schulglocke, wir haben fast nirgendwo Uhren - und trotzdem funktioniert 's. Die Menschen kommen fast immer rechtzeitig zum Unterricht und zu ihren Terminen. Atmo Autorin Aber immerhin gibt's nen Gong ... ! 0-Ton Hans Traxl Im Speisesaal, im Speisesaal. Weil: der Speisesaal ist so etwas wie ein sozialer Brennpunkt der Schule. Man muss sich vorstellen, dass nach möglicherweise sechs Stunden Unterricht und manchmal sehr freudigen Erlebnissen und manchmal sehr frustrierenden Erlebnissen 50, 60 Erwachsene und 250 junge Menschen im Alter von zehn bis 20, 22 in diesen Raum strömen. // Da haben wir gesagt: Da brauchen wir eine Form, und das ist dieser Gong: Der markiert, ab wann man am Tisch sein soll, der markiert, ab wann gegessen werden soll und wann zusammengeräumt werden soll bzw. wann man andere Tische besuchen kann, um sich zu verabreden. Atmo Sprecherin: Klaus Mann und der "Alte" Zitator /Klaus Mann 12. Juni 1923 Es existiert in Deutschland die "Erziehungsanstalt" nicht, in der ich so hätte leben dürfen und können, wie Sie es mir ermöglicht haben. Dass ich dennoch fort will und muss, liegt daran: die Atmosphäre, die Luft einer derartigen Anstalt ist nichts für mich. Vom Essen angefangen (vielleicht ist mir das das Unwesentlichste nicht ) bis zu letzten unaussprechlichen Feinheiten - es ist nichts für mich - ich bin fehl am Ort. ... Grüßen Sie den Odenwald und den lieben blonden Uto-Jungen. Ich aber bin Ihr dankbarer und treuer Klaus Mann. Zitator (Geheeb) Ich habe ihn von den vielen 100 Menschen mit denen ich in Berührung kam, mit am liebsten gehabt ... Zitator/Klaus Mann Der Alte liebte es, wenn gegen Abend, nach dem Nachtmahl, einzelne seiner Schüler und vor allem seiner Schülerinnen ihn in seinem Zimmer besuchten. Wenn der Alte still und ohne sich zu regen eine Zeitlang gewartet hatte, klopfte es und irgend ein Mädchen kam, ihn zu besuchen. Wenn ungefähr eine Viertelstunde vorüber war, ging er zu Zärtlichkeiten, und, hinter dem weißen Barte zuckend, suchte sein großer, roter und alter Mund den ihren. Es klopfte aber bald wieder und ein anderes Mädchen kam. ... Zitator / Paul Geheeb 27. Juni 1925 Mein lieber Klaus, Sie müssen einsehen, dass Sie mit jener Skizze "Der Alte" in Ihrem Novellenband "Vor dem Leben" unverantwortlich gehandelt haben. Man wird ganz gewiss ausrufen: "Ei, da schildert er ja den Paulus!" und entweder entrüstet sein und Ihre Schilderung als gemeine Verleumdung empfinden oder vielleicht mit einem gewissen Schmunzeln äußern: "Ei, ei, also ein solcher Kerl ist der Paulus!" Vielleicht ist gelegentlich schon derartiger Klatsch über mich zu ihm gedrungen, der ja wohl auch Ihnen nicht ganz unbekannt sein wird. Sie sollten einsehen, dass Sie bewusst nichts tun durften, einen Menschen, dem Sie innerlich so gegenüberstehen, wie Sie es mir gegenüber tun, einer solchen Gefahr auszusetzen. Zitator/Klaus Mann Ich liebe doch leider den Knaben Uto und muss viel kostbare Geschenke für ihn erhandeln, da er so sehr nett ist ... Atmo Sprecherin: Marvin, 12. Klasse O-Ton Marvin/Autorin Also, ich hab Schulprobleme gehabt, lange Zeit, bin auf 'ne andere Schule gekommen, das war ne' Hauptschule, also ne V-Schule für verhaltensauffällige Kinder ... . Autorin Und was war an dir auffällig? Marvin Ich hab psychosomatisch reagiert, wenn ich morgens in die Schule musste, //, ich musste dann echt zum Klo und musste kotzen, das war krass, das war ne krasse Zeit ... Autorin Hattest du Angst? Ja, ich hatte Angst: Wenig Selbstbewusstsein. Mitschüler, die einen gemobbt haben. Davor hatte ich Angst, ja. Dann hat meine Klassenlehrerin aber relativ schnell gesagt: Marvin, Du gehörst hier nicht her. Wenn Du willst, dann kannst Du Dein Abitur schaffen. Und dann hat sie ganz krass dafür gekämpft, dass ich an die Odenwaldschule darf. Und das Jugendamt hat dem schließlich zugestimmt. Und so bin ich hier gelandet. Autorin Wie kam das denn, dass du gemobbt worden bist? Marvin Ja, also ich war, als ich klein war, noch viel dicker als ich's jetzt bin. Autorin Ja, wenn Du Deinen Speck mal los bist, dann wirst Du eine Gefahr für die Mädchenwelt, das ist Dir hoffentlich klar? Marvin Ich bin schwul. Autorin Wie geht's den Homosexuellen hier in der Schule ... Marvin Als ich mich geoutet hab, war das nie kein großes Thema, // es war okay, es war absolut okay. Ansonsten, wir haben hier bekennende Homosexuelle, fünf im Moment, eine lesbische Lehrerin, eine Lesbe und drei Schwule. Und ich glaub, denen geht's ganz gut hier allen miteinander. Sprecherin: Eine Kameradenfamilie. Friedel, Jörg, Jakob und Julius Atmo O-Ton Julius Redet das Ding mit Ihnen? Jörg Dir ... Wir waren beim Duzen ... O-Ton/Autorin Wie lange bist Du jetzt hier? Jacob Ein Jahr. O-Ton/Autorin Und ... ? Jakob Hat so 'n paar schlechte Seiten und so 'n paar gute ... Das Gute ist, dass einem eigentlich nie langweilig ist, also man kann immer irgendwas machen. Und das Schlechte ist halt, wenn es einem schlecht geht, dann hat man manchmal nicht so richtig die Möglichkeit, sich zurückzuziehen. Ja, und ich finde die Regeln, die zur Probezeit hinführen, ein bisschen krass. Also, dass ich jetzt in die Probezeit komm, ist eigentlich schon berechtigt, weil ich Sachen getan hab, die man nicht tun darf ... . O-Ton/Autorin Was denn? Jakob Ja, ich hab geraucht. Julius Ja, ich auch. O-Ton/Autorin Cannabis, oder wie? Julius und Jakob Nein!!! (Im Chor.) Ganz normale Zigaretten. Es gab eine Vereinbarung, dass wir nicht in die Probezeit kommen, und die war: dass wir keine Zigaretten anpacken ... Und wir war 'n so doof und haben uns dabei erwischen lassen. Und das Problem war halt, mein Opa war, bevor ich auf die Schule kam, da Rektor, und die haben alle große Stücke auf mich gehalten, weil mein Opa voll von mir geschwärmt hat, und ich hab mir das voll versaut. Jörg/Jakob/Friedel Autorin Wie lange seid ihr jetzt zusammen als Kameradschaft? Friedel Das Tertial. Autorin Und warum habt ihr diese Früchtchen auf Euch geladen? Friedel Weil die keine langweiligen Streber haben wollten. Julius Wir warn die einzigsten, die jeden Morgen geduscht haben ... Friedel Wir wollten 'ne Kameradschaft machen, weil `s hier die Möglichkeit gibt, dass man die Erfahrung machen kann, dass man selbst in die Position des Familienoberhaupts kommt. Vor allem hat man dann eigentlich keinen mehr über sich. Und dann haben wir halt im Pestahaus geguckt, wo die 5 und 6 Klassen sind ... Julius Du wolltest Rebellennachwuchs haben ... Friedel Genau, Rebellennachwuchs ... Julius Im Moment finde ich Friedel ganz gut ... Geplänkel, geht in Atmo-Musimix über Friedel Bis heute Abend! Julius Bis heute Abend, weil ich dann wieder ins Bett muss ... ! Autorin Was willst Du eigentlich weiter machen? Jörg Erstmal Hauptschule ... Das ist der erste Abschluss, den du hier bekommst ... Julius Aber nicht der letzte! Jakob Ich mach Abi! Julius Der macht Abi, genau wie ich ... Jakob Genau, weil ich heute nur einen Fehler im Vokabeltest hatte... Sprecherin: Hans Sen. Ein Chinese blickt zurück Zitator/Han Sen Geboren bin ich am 6. März 1922 in Berlin. Damals lebten viele revolutionäre Chinesen in Deutschland. Ich war ein Jahr alt, als meine Mutter zurück nach China fuhr und dort blieb. O-Ton 24 Han Sen Nach siebzig Jahren diese Schule wieder zu sehen, ist für mich ein ganz großes Glück. (Weint.) Nach meinem Verlassen der Odenwaldschule haben mich die Erinnerungen an die OSO nie verlassen. Ich habe davon geträumt, eines Tages doch noch mal die Schule zu besuchen. Zitator/Han Sen 1926 wurde mein Vater Mitglied der chinesischen kommunistischen Partei. Als allein Stehender, dazu noch politisch aktiver Mann konnte mein Vater mich nicht selbst aufziehen, und so kam ich am 5. April 1929 in den Odenwald. O-Ton/ Han Sen Das erste Mal hat mich mein Vater selbst zur Odenwaldschule gebracht. Und dann ist er einfach weggegangen. Als ich merkte, dass mein Vater weg gegangen war, wurde ich wütend, habe geschlagen an die Fenster des Zuges, aber dann, nach kurzer Zeit, war ich wieder ziemlich fröhlich, habe die Leute hier mit meiner komischen Redensweise amüsiert....schnell. Zitator/ Han Sen Wir Kleinen bastelten und zeichneten viel. Ich machte einmal einen Mann mit erhobener geballter Faust. Die Tonfigur war als Geschenk für meinen Vater gedacht. 1932 war mein Vater nicht mehr imstande, für meinen Aufenthalt in der Odenwaldschule zu zahlen. Als "Berufsrevolutionär", der er nun war, hatte er kein festes Einkommen. O-Ton Und später als ich schon in anderen Ländern war habe ich immer an die Odenwaldschule als meine Familie zurückgedacht. O-Ton/ Paul Geheeb Nun waren alle Kinder eingeteilt in kleine Gruppen von fünf, sechs oder höchstens zehn Mitgliedern, die durch einen Erwachsenen, einen Mann oder eine Frau geleitet, die man Familienhaupt nannte. Und ein solches Familienhaupt hatte die Verantwortung, die normalerweise Eltern für ihre Kinder zu tragen haben. Atmo Stine/Denise/Autorin/Marlene Und wie lange bist Du jetzt hier? Sprecherin: Abendrunde mit Familienhaupt Marlene Marlene Das finde ich das Gute an diesem Familienkonstrukt. Die Kinder versuchen schon, untereinander ´ne Linie rein zu bringen, sich gegenseitig zu helfen. Und Verantwortung zu übernehmen ... Stine/Denise/Autorin/Marlene Ich bin hierher gekommen, weil ich daheim in der Schule Probleme hatte, Migräne, Schulphobie, Sozialphobie zum Schluss dann auch, und dann war ich in der Klinik zweimal, dann bin ich hier gelandet Autorin Und wie war das, als Du hier her gekommen bist. Stine Am Anfang leicht komisch. Nachname war egal, Hauptsache Vorname. Daran musste mich daran gewöhnen, alle Lehrer hier zu duzen... Dann war ich in der Familie und dachte, oje, wo bist du denn hier gelandet. Denise Also ich kam dahin, also, als ich die alle gehört habe, weswegen die hier sind, da habe ich gedacht: Gott wo bin ich gelandet, o Jemine. Aber die Familie ist richtig cool.// Wir sind'ne richtig gute Gemeinschaft. Stine und Denise im Chor Ja, die ist richtig cool, die Familie. Stine Also ich krieg' hier total viel Leben mit: Lebenserfahrung, wir kriegen mit viel anderen Leuten zu tun, also, wir haben Punks, total extreme Punks, aber die sind total lieb. (Musik) Sprecherin: Rosalinda von Ossietzky zu Gast in der Odenwaldschule O-Ton (Rosalinda) Ich war kurz hier, es kam mir aber so unendlich lang vor, irgendwie. Weil alles so anders war. Als wenn ich hier tatsächlich schon einen Teil meines Lebens verlebt hätte. Zitator /Carl von Ossietzky 10. April. Nachts. Meine liebe Maudie! ich habe das Lütt eben abgeliefert. Hier ist genau das verwirklicht, was wir wohl oft gewünscht und niemals gehabt haben. Das ist keine Schule im alten Sinne, sondern eine Kinderrepublik. O-Ton/ Rosalinda Das war das Letzte was er machte, bevor er ins Gefängnis ging. 1932 im Mai, da fuhr mein Vater mit mir hierher. Zitator (Ossietzky) Du kannst noch nicht verstehen, was mich betroffen hat und warum ich jetzt auf lange Zeit fort muss. Aber Du brauchst Dich dessen nicht zu schämen und kannst den Kopf hoch tragen-es geschieht alles für eine gute anständige Sache. O-Ton Rosalinda Jemand nahm mich mit, ich glaub das war Paul Geheeb, mich dann mit.// Er hatte Rehe und Eulen und zeigte auf eine : " Das ist eine ganz junge oder neue Eule. Die werde ich Chachara nennen. Das ist Dein indischer Name. //Das bedeutet "Die Rastlose." Und ich fühlte mich natürlich ungeheuer geschmeichelt. Zitator (Ossietzky) Liebes Baby! Ich habe Dich aus Berlin genommen, damit Du hier keine Unannehmlichkeiten hast, keine Quälereien und Neckereien durch andere, damit Dir die heitern Jahre nicht verdorben werden. O-Ton (Rosalinda) Das war ja nun nicht gerade angenehm für mich als Kind, da herumzulaufen, mit einem Vater, der ins Gefängnis ging.(7.50) Zitator (Ossietzky) Spandau, 2. März 1932 Meine liebste Maudie, Ich befinde mich seit gestern Abend in Schutzhaft. Ich weiß nicht auszudenken, in was für einer Verfassung Du Dich befunden hast. Schreibe Baby bitte, ich grüße und küsse sie. O-Ton Rosalinda Meine Mutter hatte mir einen kleinen Brief geschrieben, und da schrieb sie sowas : Mein liebes Kind, wir können Dich leider nicht mehr in dieser schönen Schule lassen, denn Dein Vater hat kein Einkommen mehr. Ja, ich bekam zu hören von Paulus: "Ich muss dir leider sagen, ich würde dich so gern hier behalten. Das geht aber nicht, du kannst nicht hierbleiben. Das war ja natürlich ein Elend, das kann ich ja nur sagen. Und ich hoffe, dass das heute nicht mehr so ist, wenn heute Menschen die Oso verlassen, dass sie denken: Mein Gott, jetzt komm' ich in diese schreckliche Gesellschaft zurück ... .machen.... Sprecherin: Altschülerin Geno Hartlaub erinnert sich an 1933 O-Ton (Geno Hartlaub) Der erste Scheiterhaufen, also Bücherverbrennung in Deutschland, war in der Odenwaldschule. Das war nämlich unmittelbar nach den Märzwahlen. Da haben sie dann die ganzen Bibliotheken von den Kindern und Lehrern durchsucht, hatten ihre schwarzen Listen. Und da mussten wir alle auf Goetheplatz// dabei sein, wie das alles verbrannt wurde. Und da wurden auch schon die jüdischen Lehrer misshandelt, habe ich selber gesehen. Es gab überhaupt viele Juden in der Schule, als Kinder auch. Sehr viel Ausländer und sehr viele Juden. Und einer, der die Gefahr nicht so erkannte, auch nicht nach dem Scheiterhaufen, war der Leiter der Schule, der Geheeb. Der hat zu mir selber gesagt: "Gott so schlimm sind die Leute eigentlich gar nicht, die haben mit mir Tee getrunken. Das war für die Haltung der Schule sehr typisch. In der Nähe, in Heppenheim, wohnte ja Buber. Und der Buber hielt 'nen Vortrag - der war Ziomist - und sagte: Die Sache wird ganz furchtbar werden und uns nach Palästina treiben. Und plötzlich war da so ein Getrappel auf dem Flur vor der Wohnung von dem Geheeb, Und da wurde er ganz wütend, da sträubten sich seine Haare, er hatte ja so 'n Bart, völlig jugendbewegt und sagt: "Was ist denn nun los, das ist ja Hausfriedensbruch und ging raus, und da waren seine eigenen Kinder, Schüler - inzwischen war 'ne Hitlerjugend gegründet worden - und die hatten dieses "Verschwörernest" ausgehoben: Also Verschwörernest war Buber und die eingeladenen Leute. Juden meistens. Und daraufhin hat der Geheeb - also durch die Verletzung seiner privaten Sphäre - erst gemerkt, was eigentlich los ist. Und hat sich noch am selben Abend entschlossen, zu emigrieren. Da waren die Nazis schon ein halbes Jahr dran. (Musik) Sprecherin: Altlehrer Hartmut Alphei über Geheebs Nachfolger Heinrich Sachs O-Ton Hartmut Alphei Geheeb hatte alles aufgegeben, hatte sich neu etabliert in der Schweiz, unter einigen Mühen. Und Sachs war dageblieben. Und die Familie Geheeb befürchtete, dass Sachs sich da ein Nest bauen wollte, was, glaube ich, nicht ganz richtig ist. // Also er hatte sich da durch schwere Zeiten gekämpft und hatte jetzt sicherlich nicht die Absicht, ganz schnell die Odenwalschule zu verlassen, um irgendwo in diesen schwierigen Zeiten im Nichts zu versinken. Also er hat sich sicherlich festgehalten an der Idee: ich mache die Odenwaldschule weiter. Auf der anderen Seite geht aus vielen Äußerungen von ihm hervor, dass er die Absicht hatte, die Odenwaldschule für Geheeb zu erhalten. Und wenn man das so sieht, ist es ihm ja auch gelungen. Es ist ihm auch gelungen, in der ganzen Zeit dieses Eigentum nicht verstaatlichen zu lassen, man konnte zwar die Miete jetzt nicht auf ein Cassiererisches Konto überweisen, über das Cassirers verfügten, weil es Judeneigentum war, aber man hat quasi das was an Miete fällig gewesen ist, benutzt, um zu investieren. Also die Schule ist wirklich gut erhalten in das Jahr 45 gegangen und ironischerweise ist es von dem ganzen Cassiererischen Besitz das einzige, was übrig geblieben ist. Und die Sorge war, dass Sachs irgendetwas tut, was das Eigentum aus den Händen der Familie Cassierer nimmt. Zitator (Geheeb, liest vor sich hin) 16. September 1945 Lieber Paulus, liebe Edith! Mir ist seit Monaten: ich rufe ins Leere. Hört ihr mich nicht? Oder könnt Ihr nicht kommen, nichts tun. Ich habe in schweren Jahren gar vielen Kindern eine Heimat gegeben, ein Paradies bewahrt, alle Barbarei, die Seele verdunkeln und Geist stören wollte, von den Unschuldigen ferngehalten. Eltern kommen von allen Seiten hergewandert und danken, dass ich der Menschlichkeit hier unsere Herzen geweiht habe - dies alles unter Kompromissen wohl, doch niemals, keine Sekunde nur das hohe Ziel verlierend. Ihr Heinrich Sachs Hartmut Alphei Also er hat auf die Sachsbriefe nicht reagiert, und die sind teilweise mit Bleistiftnotizen von Geheeb versehen, das heißt, er hat sie gelesen, er hat aber nicht drauf reagiert, und man muss sich fragen, warum nicht? Sprecherin: Ausgebildet zur Rebellion? Daniel Cohn-Bendit Atmo O-Ton Cohn-Bendit Die Werte die heute gefragt werden - ich sage nicht dass Aufklärung nicht notwendig wäre - und die Odenwaldschule ist nun mal ein Kind der Aufklärung und des Humanismus. Und da geht's erst mal nicht weiter. Weil ich meine, dass heute neue pädagogische Entwürfe nur in Städten entwickelt werden können. Zitatorin (Herta Cohn-Bendit) 7. Mai 1958 An die Odenwaldschule Marc Daniel ist am 4.4.1945 in Südfrankreich, wohin seine jüdischen Eltern sich während des Krieges zurückgezogen hatten, zur Welt gekommen. Cohn-Bendit Es war eine Schule, wo ich sicher war, dass es keine ehemaligen Nazis gab. Zitatorin (Herta-Cohn Bendit) Er ist bei Mitschülern und Kameraden sehr beliebt. Er ist bei seinen Arbeiten für die Schule ziemlich gewissenhaft, aber sein Betragen in der Schule war bisher nicht einwandfrei, weil er sehr schwatzhaft und vorlaut ist. Atmo Cohn-Bendit Meine Fähigkeit, Dinge dreißig Sekunden bevor jemand es denkt, zu formulieren, das hat mich nach vorn gestürmt, auch die Freiheit, die ich in meiner Erziehung in der Odenwaldschule gewonnen hab, hat mir geholfen, dass ich plötzlich zum Lautsprecher einer Bewegung wurde und zum Symbol einer solchen Bewegung. Atmo Sprecherin :Amelie Fried in der Pädagogischen Provinz Amelie Fried Ich glaub, das, was einen OSO-Schüler am stärksten prägt, das seine Denkweise prägt, das ist dieses: dass jeder Mensch etwas wert ist, und jeder auf seine Weise einen Wert hat, auch einer der Problem hat und nicht so toll ist -also das ist einfach die Menschenliebe, die hier gelehrt wird ... einen sehr stark prägt. Zitatorin /Inge Fried Ulm, 12. März 1969 Sehr geehrte Herren, der Artikel über Ihre Schule, der in der " Zeit" erschien, hat mich sehr beeindruckt.// Ich musste feststellen, dass Amelie unter dem hoffnungslos antiquierten Lehrstil am humanistischen Gymnasium sehr leidet. Besteht eine Möglichkeit, dass sie im Herbst 1969 bei Ihnen aufgenommen werden kann? Ich fürchte, die Nachfrage ist sehr groß. Meine Tochter Amelie wurde am 6.9.1958 geboren. Das Kind ist immer voll Begeisterung nach einer Unterhaltung. Wir sprechen zum Beispiel über Bücher, extra ausgewählte Fernsehsendungen, über das Hitler-Regime (mein Mann ist Halbjude), über die Möglichkeit, unter der schwierigen psychischen und physischen Situation des Vaters nicht zu leiden, sondern sie von ihren Gründen her ein wenig zu verstehen, über die Liebe und die Sexualität, über die Antibabypille. Amelie Fried Ich hab bei sehr vielen Freunden mitbekommen, dass die Eltern sie hierher abgeschoben haben, froh waren, wenn sie die Kinder loshatten. Dann sind die nach fünf, sechs, acht oder zehn Jahren aus der Schule losgekommen, und waren auf eine Weise sozialisiert und erzogen, mit der die Eltern überhaupt nicht mehr anfangen konnten. Ich kann mich erinnern: meine Mutter hat mir mit sechzehn, als ich aus der Schule war, die letzte Ohrfeige gegeben. Und hat hinterher gesagt: Amelie, ich war einfach so hilflos, ich hab jetzt erst kapiert: Deine Erziehung ist fertig und ich hab überhaupt keinen Einfluss mehr auf Dich zu nehmen. Und das sollten sich Eltern rechtzeitig überlegen. Zitatorin (Inge Fried) Nun zu den negativen Seiten: Seit etwa 2-3 Jahren kommt A nicht mehr recht mit sich selbst klar. Das äußert sich in sehr schwankenden Stimmungen, in Bockigkeit, Unfreundlichkeit, Unordentlichkeit sowie in einer penetranten Streitsucht gegenüber ihrem jetzt knapp sechsjährigen Bruder. Sie langweilt sich entsetzlich, und vor allem langweilt sie sich in der Schule. Ulm, den 8. April 1969 Inge Fried Amelie Fried Ich glaube schon dass die OSO in gewisser Hinsicht gesellschaftsfern ist. Das Problem fängt eben an, wenn man diese Welt wieder verlässt, wenn man nach einigen Jahren wieder herauskommt und plötzlich feststellt, dass die Welt draußen einfach nach anderen Gesichtspunkten funktioniert, als hier drinnen. Atmo/ (Musik) Zitator /Paul Geheeb Wie kann die Schule, anstatt zu einem Ort des Seufzens und der Qual zu einer zu einer Stätte der Freude gestaltet werden, mit der der Erwachsene später seine frohesten Kindheitserinnerungen verbindet? Die Aufgabe lässt sich kurz in den drei Worten des alten griechischen Weisen Pindar ausdrücken: genoio ojos essi. "Werde, der du bist!". Atmo/ (Musik) Sprecherin: Werde, der du bist. Die Odenwaldschule Sie hörten ein Feature von Elke Suhr Es sprachen : Jacqueline Macaulay, Dieter Montag, Gunda Aurich, Sigrid Burkholder, Edda Fischer, Caroline Schreiber,Michael Hüssein Cirpici, Axel Gottschick, Simon Roden und Beate Schulmann. Ton und Technik: Alexander Dorniak und Beate Braun Regie: Christine Nagel Redaktion: Ulrike Bajohr Eine Produktion des Deutschlandfunks 2008 1