COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von DeutschlandRadio / Funkhaus Berlin benutzt werden. Deutschlandrundfahrt Und sie bleiben doch! Duisburgs wilder Norden Eine Sendung von Christoph Lixenfeld Sendung: 23. Februar 2013, 15:05 Uhr Ton: Alexander Brennecke Regie: Roswitha Graf Redaktion: Margarete Wohlan Produktion: Deutschlandradio Kultur 2013 Kennmelodie Städtenamen sind Marken. Mit ihnen verbindet sich ein Image. Das von Duisburg ist nicht gut. Die Stadt ist nur grau und nur arm, sagen jene, die niemals hier waren. In Wahrheit ist das Duisburg zwischen Marxloh und Bruckhausen auch grün, friedlich und bunt. Und es lebt von Menschen, die Duisburg lieben, weil sie es kennen. Die für ihr Viertel kämpfen und die nie, nie von hier weggehen würden. Sprecher v. Dienst Und sie bleiben doch! Duisburgs wilder Norden Eine Deutschlandrundfahrt von Christoph Lixenfeld Atmo 1: Einsingen ThyssenKrupp Chor Hotel Montan. Bleibt einige Sekunden stehen. Im folgenden O-Ton spricht Sartingen über den (leiser gewordenen) Klängen des Einsingens. O-Ton Wort 1: Dieter Sartingen (''50) Warum macht das Spaß zu singen? Es macht Spaß in den Proben mit den Jungs zusammen, und erst recht, wenn wir dann nach den Proben auf der Bühne stehen, und dann, wie jetzt auch in den Weihnachtskonzerten oder auch in den Frühlingskonzerten, unseren Lohn abholen, sprich Applaus; wenn wir merken, dass wir beim Publikum gut angekommen sind, dann macht uns das Freude. Und in der Chorgemeinschaft mit den Männern zusammen jeden Montag die Probe, das ist eben Toll. Ich bin 36, 37 Jahr im Chor. Bin auch noch einer der Jüngeren mit knapp 69 Jahren. Ich habe gut 10 Sänger, die jenseits der 80 sind dabei, die meisten davon noch mit auf der Bühne. Musik 1: Wie im Stahl der Klang. (''50) Atmo 2: Hotel Montan läuft unter dem Text und den nächsten beiden O-Tönen weiter Autor 1: 'Wie im Stahl der Klang, so tönt unser froher Sang'. Am Ende der Probe singen sie das immer, die Männer vom ThyssenKrupp-Chor. Passend dazu das Lokal: Hotel Montan. Ein Kunstwort für das, was hier jahrzehntelang aus dem Boden gekratzt, verarbeitet und in die Luft geblasen wurde. Montanindustrie. Kohle und Stahl. Für die Sänger lange vorbei. Rentner bis auf einen, aber der ist kein Stahlkocher. Satz "bestell mir schon mal ein Bier" ist zu hören. Trotzdem bleibt der Name: ThyssenKrupp-Chor. Und auch sonst gibt es noch diverse Verbindungen zum Stahlwerk. O-Ton Wort 2: Dieter Sartingen (''16) Wir werden seit Jahren finanziell unterstützt, denn sonst kann man keinen guten Chorleiter bezahlen. Wenn Sie das nur über Beiträge machen wollen, Mitgliedsbeiträge, dann hält sich das auch in Grenzen. Ohne diese Unterstützung gäb es uns wahrscheinlich auch schon nicht mehr. Autor 2: Dieter Sartingen ist Vorsitzender, Mädchen für alles, Ansprechpartner, Organisator. Gemeinschaft ist für die Chormitglieder mindestens so wichtig wie die Musik. Die alten Herren machen Ausflüge, feiern zusammen, kümmern sich um einander. O-Ton Wort 3: Dieter Sartingen (''28) Jetzt in dem Alter: Die meisten kommen schon nirgendwo mehr hin. Gesundheitlich und so. Und montags in der Chorprobe, da haben sie mal was anderes zu erzählen, weil sie ja den Nebenmann in der Probe die ganze Woche nicht gesehen haben, oder auch mir dann was zu erzählen haben. Ich kriege oft so zwischendurch auch Anrufe von Sängern, die alleine leben, die einfach nur mal sagen: Du, Dieter, nächsten Montag komme ich nicht, ich habe dieses oder jenes gesundheitliche Problem. Das muss sein. Atmo 3 Weseler Str. wird unter dem Text lauter Autor 3: Der Chor probt mitten in Duisburg-Marxloh, Multikulti-Stadtteil zwischen größtem Binnenhafen Europas, ThyssenKrupp-Stahlwerk und Rhein. Nur dreihundert Meter sind es vom Hotel Montan zur Weseler Straße, DER Geschäftsstraße Marxlohs. Wenige alte Häuser, viele aus den 50er bis 70er Jahren, stilistisch unsensibel in die Lücken geworfen. Davor schmale Bürgersteige und breite Straßen. Der Traum von der autogerechten Stadt. Auch Vergangenheit. Genau wie der vom Wachstum. Duisburg hatte mal 600.000 Einwohner, jetzt sind es keine 500.000 mehr. Es gibt zu viele Wohnungen, 15.000 sollen leer stehen in Duisburg. Atmo 3 wird lauter, ausländische Gesprächsfetzen sind zu hören. Marxloher Türken haben die größte Moschee Deutschlands gebaut. Und die Weseler Straße heißt hier nur Brautmeile. Mehr als 50 Läden. Brautkleider, Anzüge, Schmuck, Frisuren, Catering. Fast alles türkisch. Musik 2: Marxlow (insgesamt '4''30) ca. 2 Minuten laufen lassen, abruptes Ende Autor 4: Dieter Sartingen, der Vorsitzende des ThyssenKrupp-Chors, wohnt 20 Minuten zu Fuß von hier. Auch Marxloh, aber eine andere Welt. Der "Stille Winkel" ist, in der Tat, still. Wohnstraße, Doppelhäuser aus den 20er Jahren. Bauhausstil, Fenster über Eck. Parterre, erster Stock, spitzes Dach. Rote, saubere Klinkerfassaden. In Wurfweite ein gepflegter Park, der Jubiläumshain, fünf Minuten weiter der noch größere Revierpark Mattlerbusch. Duisburg ist grün. Atmo 4: Betreten des Hauses von Dieter Sartingen, Gesprächsfetzen, "hammerhartes Wochenende", Atmosphäre Wohnung. Folgender Text über Atmosphäre Autor 5: Ein Dienstag im Dezember, später Vormittag. Mit dem hammerharten Wochenende meint Dieter Sartingen, erstens die alljährlichen Weihnachtskonzerte und zweitens die große Chorfeier gestern. Er geht in die Küche, kocht Kaffee. Das Wohnzimmer ist groß, cremefarbene Ledergarnitur, links eine elektronische Orgel. Künstliche und echte Blumen in weißen Vasen, viele Bilder, Schrankwand mit Glasvitrine, Bücherregal. Alles hat seinen Platz. In ein paar Tagen steht neben der Orgel die Zimmertanne, zwei Meter hoch. Die Kinder werden da sein und die vier Enkel der Sartingens. Frage aus der Küche: Zucker in Kaffee? Nee, am liebsten ganz Schwarz, nur Kaffee. Familie ist wichtig im Ruhrgebiet. War sie immer. O-Ton Wort 4: Dieter Sartingen (''49) Ich bin geborener Duisburger, allerdings kein Marxloher, sondern ich bin in Neudorf, direkt am Hauptbahnhof, Neudorfer Seite, da bin ich geboren, und im Königreich Duissern, wie man so sagt, also im Stadtteil Duissern, hab ich gelebt vom elften bis zum 21. Lebensjahr. Dann habe ich geheiratet und bin dann nach Marxloh gezogen, wo meine Großeltern lebten. Die hatten son kleines Häuschen wie da vorne. Und weil man kein Geld hatte als junge Leute sind wir bei den Großeltern in dieses Häuschen unters Dach gezogen erstmal. Und dann natürlich auch gleich mit Kind. Da war die Weseler Straße, unsere Brautmeile, damals noch Einkaufszentrum. Da war noch richtig was los. Ist heute auch wieder. Aber eben anders, nech. Autor 6: Kein Gespräch in Marxloh über Marxloh, in dem es nicht - auch - um die Brautmeile geht. Ein Symbol: Das früher mal deutsche Einkaufsviertel hat die türkische Community zu ihrem gemacht. Kaum noch ein deutscher Bäcker oder ein Schreibwarengeschäft. Aber chice Modeläden statt massenhaftem Leerstand wie in den 80er und 90er Jahren. Gutbürgerlicher deutscher Furor? Wir gegen die? So ist Duisburg nicht. O-Ton Wort 5: Dieter Sartingen (''43) Es gibt hier wenig Streit untereinander. Wobei ja hier in Marxloh nicht nur die Türken leben, türkische Mitbürger, sondern hier sind ja weiß nicht wie viele Nationen noch vertreten. Von schwarz bis weiß ist alles hier vertreten. Das Zusammenleben funktioniert hier wunderbar. Es gab keine großen Proteste, ich glaub sogar überhaupt keine, bezüglich der Moschee. Die Moschee ist auch relativ offen, die haben unten drunter ein Begegnungszentrum, damals noch vom Land gefördert, gebaut. Also das läuft alles wunderbar eigentlich. Ich bin stolz darauf, wie das hier läuft. Wenn ich sehe, was in Köln oder wo auch immer abgeht, nur weil da mal ne Moschee gebaut wird...Leben und leben lassen, ist so meine Devise, und das funktioniert hier eigentlich so ganz gut. Musik 3: Du, du, liegst mir am Herzen. ('2''53) Nur anspielen und ausklingen lassen Die letzten Klänge des Liedes ziehen sich unter den Anfang des folgenden Textes. Autor 7: Dieter Sartingens Frau Rosemarie ist nach Hause gekommen. Eine schlanke, sportliche Mittsechzigerin mit kurzen Haaren. Sie erzählen vom nächsten Nachbarschaftsfest im September, die Vorbereitungen laufen schon. Kinderbespaßung, Kuchentheke, Zapfanlage, Disko für die Jungen. Ein ganzes Wochenende. Die Wohnungsgesellschaft sponsert und unterstützt. Wie früher aufm Dorf, sagen die beiden. O-Ton Wort 6: Dieter Sartingen und Rosemarie Sartingen (''55) Das ist aber glaube ich überall so in so kleinen Wohngegenden. Wo die Leute sich kennen ist das noch so. Jeder kennt hier jeden, wir sind alle per Du miteinander. Gibt's aber noch ganz viele Ecken, wo das so ist. Es war ja auch früher im Ruhrgebiet üblich, dass... in den 50er Jahren war die Polizei stark beteiligt, die hat für ihre Beamten dann Siedlungen gebaut. Oder in Wedau war es die Bahn, die Deutsche Bahn, die für ihre Beamten da Häuser gebaut haben. Die ganzen Siedlungen. Die gibt 's so immer noch diese Konstellation. Nicht mehr so häufig wie früher, aber es gibt sie noch. Oder es gibt ja wunderschöne Ecken, fällt mir gerade ein, das Bauhauskarree ist doch wunderbar renoviert worden hier oben in Hamborn. Das ist wirklich schön geworden. Das sah auch über Jahre immer so aus: Ach, da tut sich überhaupt nichts. Und irgendwann war dann die Initialzündung und dann ging es da los. Und das ist traumhaft schön geworden. Und das ist auch alles vermietet. Autor 8: Typisch Duisburg und typisch Ruhrgebiet ist auch, dass nur ein paar hundert Meter liegen zwischen Gegenden, wo alle weg wollen und Siedlungen mit Wartelisten für Neuvermietungen. O-Ton Wort 7: Dieter Sartingen und Rosemarie Sartingen (''42) Wenn die Leute so das Gefühl haben, da tut sich was, dann bleiben sie auch da. Da hat man die Innenhöfe alle wunderschön gemacht, die Wohnungen auf den neuesten Stand gebracht, und da ist kein Leerstand. Es gibt viele Ecken in Duisburg, wo man sehen kann: Es tut sich was. Und hier auf der Kampstraße, da sind auch Einfamilienhäuser jetzt gebaut, auch überwiegend von ausländischen Mitbürgern, also Migranten, überwiegend Türken. Neben unserem Sohn haben auch Ausländer gebaut und das ist genau wie hier. Wie eine Dorfstraße. Die haben Fußball im Sommer alle zusammen geguckt...eine Garage wird leergemacht, da setzen wir uns alle zusammen mit einem Großbildfernseher rein. So was finde ich schön! Musik 4: So schön wie zu Haus ist kein Platz auf der Welt. ('1''58) Gesang ist zu hören bis Klavierintermezzo ab 1:58, das läuft unter dem O-Ton weiter. Notfalls O-Ton kürzen. O-Ton Wort 8: Dieter Sartingen und Rosemarie Sartingen (''37) Wenn Leute sich untereinander kennen, dann sind die Probleme auch nicht so groß. Da lass ich mich überhaupt nicht von abbringen. Denn wenn man jemand näher kennt, dann weiß man, das ist genau son Mensch wie du. Der hat vielleicht eine andere Haarfarbe oder eine andere Hautfarbe. Das ist das größte Problem, dass die Leute übereinander reden statt miteinander. Und sobald die Leute miteinander reden, ist alles kein Problem mehr. Das sehe ich bei meinem Sohn. Wie gesagt der türkische Nachbar bringt aus seiner Kost was mit. Und hinten ist ein Jugoslawe, der da wohnt, ein Libanese, dann haben die eine bunte Mischung am Grillabend, quer durch Europa. Musik 5: "Passing Clouds" Interpret+Komponist: James Kaleth Label: UBM Records, LC-Nr. 13808 Atmo 5: Außengeräusch, Vogelgezwitscher Läuft bis zum Ende von Autor 9 weiter. O-Ton Wort 9: Horst Niewrzol (''35) Und hier sieht man mal, was hier noch wohnt. Am besten siehst du das natürlich, wenn du abends im Dunkeln rumläufst, wo noch Licht ist. Hier wohnt nur noch einer da oben, dem seine Eltern wohnen bei mir im Haus. Da wohnt einer, da wohnen eins, zwei, drei, vier. Das ist ziemlich leer, das Haus, da wohnen nur noch fünf, sechs Parteien. Hier wohnen dagegen noch, ich weiß nicht, zwanzig, dreißig Parteien, das ist noch ganz gut voll das Haus. Bei uns sind noch über 20, von 40, 48. Autor 9: Marxloh, 800 Meter Luftlinie entfernt von der Wohnung der Sartingens. Horst Niewrzol lebt in der Zinkhüttensiedlung: knapp 400 helle Wohnungen mit großzügigen Balkonen, verklinkerte Mietshäuser in luftiger Zeilenbauweise. Architekt war der berühmte Berliner Max Taut. Die Niewrzols sollen ausziehen, genau wie sämtliche Nachbarn. Obwohl sich hier alle sehr wohl fühlen. O-Ton Wort 10: Horst Niewrzol (''16) So, und das ist dann die Wiese, da hinten das Stück, wo ich dann im Sommer die Pavillons aufstelle und mit den Leuten bisschen Spaß habe. Man redet seine Sorgen los, man lacht auch mal wieder. Wenn die Leute dann nach Hause gehen, nehmen die was mit, für ein paar Stunden wieder. Atmo 6: Niewrzol Treppe hoch, Aufschließen seiner Wohnung O-Ton Wort 11: Horst Niewrzol (''16) Es gibt keine Siedlung mit so viel Platz und so einer großen Wiese zwischen. Diese Riesenbäume, die sind ja mit uns gewachsen, die stehen auch über 50 Jahre. Guck dir mal diese herrlichen Bäume hier an, die gibt's doch kaum noch in Städten. Die gibt's nur noch in Parks, so wie England. Autor 10: Mittlerweile sitzt Horst Niewrzol im Wohnzimmer neben seine Frau Ursula. Die beiden leben seit Jahrzehnten hier. Fragt sich nur, wie lange noch. Häuser abreißen, Grünflächen betonieren, das will die Stadt. Die Zinkhüttensiedlung soll Parkplatz werden für das daneben geplante Factory Outlet Center. Markenware zu Schleuderpreisen, Resterampe der globalen Warenwelt. 800 Billigjobs hinter Hochglanzfassaden. Der Investor kommt aus den benachbarten Niederlanden und hat zusammen mit dem Besitzer der Siedlung die Entmietung vorangetrieben. Für Umzugswillige gab es Ersatzwohnungen, bezahlten Umzug und ein kleines Handgeld. Knapp zwei Drittel der Mieter zog aus, auch weil sie den Druck nicht mehr aushielten. Wer blieb, wehrte sich heftig, eine Bürgerinitiative entstand. Experten gehören dazu. Juristen und Wissenschaftler, die sich mit der Bodenbelastung durch die ehemalige Zinkhütte beschäftigten. Horst Niewrzol betreibt eine Webseite zum Thema, malt in seinem Keller kunstvolle Plakate, die jetzt draußen groß und bunt an der Fassade hängen: Sprecherin: Mein Heim ist meine Burg. Wir bleiben stehen, der Holländer muss gehen. Politiker Verkaufen Bürger für Outlet-Center. O-Ton Wort 12: Horst Niewrzol (''54) Wenn die mich sehen, sind die sofort draußen, die Leute. Wollen was wissen: Horst, gibt's was Neues? Und was machen wir jetzt? Und du musst den Leuten wieder Mut zureden, auch wenn es dir selbst beschissen geht. Du musst lügen, musst immer stark sein, darfst keine Schwächen zeigen. Auch darfste keinem erzählen, dass du mal nächtelang nicht pennst. Dann sagen die: Oh! Du musst immer vorne stehen wie ne Eiche, dass die Leute Vertrauen haben. Man muss den Leuten aber auch - ich, von meiner Seite - viel Dank sagen, dass sie uns ihr Vertrauen schenken. Weil die vertrauen uns ja, dass wir das schaffen, nech. Dann muss man diese Leute auch mal mitloben. Das wird eigentlich oft vergessen. Unsere Arbeit ist ja...gut, das machen wir nun mal. Aber man muss auch die Leute loben, die an uns glauben, die immer dabei sind, die zu den Versammlungen kommen. Das sitzen ja 50, 60, 70 Leute, (in der Kirche) hatten wir 200 Leute, da muss man auch mal dran denken. Autor 11: Motivieren kann Horst Niewrzol, andere und sich selbst. In dem kleinen Zimmer gegenüber dem Wohnzimmer lehnen zwei Rennräder an der Wand. Eins davon aus Carbon, 7500 Euro. Auf dem Schrank Pokale, an den Wänden Medaillen und eingerahmte Trikots. Gegenüber an der Wand Fotos: Horst Niewrzol mit Eddy Merckx, mit Marco Pantani, mit Jens Voigt. Niewrzol hat vergleichsweise spät das Talent fürs Radfahren bei sich entdeckt, ist dann zum Getriebenen, fast Besessenen auf zwei Rädern geworden. Gewinnen kann in diesem Sport nur, wer zäh und extrem willensstark ist, Eigenschaften, die Horst Niewrzol jetzt beim Kampf um die Zinkhüttensiedlung sehr helfen. Angefangen hatte er wie die meisten mit einer anderen Sportart. O-Ton Wort 13: Horst Niewrzol ('1''14) Ich hab früher so etwa 25 Jahre Fußball gespielt und dann so mit 36 oder 37 bei den alten Herren gespielt. Aber da haben die dann so gekloppt und da habe ich gesagt, sagt mal, seid ihr bescheuert? Da bin ich zum ersten Mal vom Platz geflogen wegen Prügelei, die haben sich geprügelt wie die Kesselflicker. Und dann habe ich gesagt nee, das mach ich nicht mit, so eine Scheiße. Und dann habe ich mal ein Jahr nichts gemacht oder zwei. Aber es war so: Immer Durst, der Durst blieb ja und das Feiern mit den Kollegen. Und ruck zuck war ich an die zwei Zentner! Und dann habe ich ein Fahrrad geholt. Nur um Bewegung zu haben und überhaupt mal was zu machen, um schneller in die Kneipe zu kommen wahrscheinlich auch noch. Und dann hat mal einer gesagt: Hör mal, du fährst so schnell, du fährst ja mit uns mit, mit unseren Rennrädern, du müsstest dir mal ein richtiges Fahrrad kaufen, komm mal in den Verein und so. So hat sich das entwickelt. Und dann war ich zehn Jahre in Wesel. Und dann haben die Duisburger gesagt, weil ich immer in der Zeitung stand: Hör mal, du bist doch Duisburger, was fährst du da in Wesel rum. Du musst doch hierhin, wir machen eine neue Mannschaft auf, da musst du Trainer sein. Und so war das dann eben. Fahrrad neu, noch neuer, bisschen anders trainiert, mehr trainiert noch. Und dann hat mal einer gesagt: Hör mal, du musst mal Rennen fahren. Musik 6: Das Rennsteiglied (ca. '1''30) Autor 12: Im Radsport gibt es Rennen für jede Altersklasse. Mit 54 geht Horst Niewrzol vorzeitig in den Ruhestand, reist für den Radsport um die Welt. Meistens zusammen mit seiner Frau. O-Ton Wort 14: Horst Niewrzol (''44) Dann sind wir nach Italien gefahren, nach Österreich, in die Schweiz, nach Frankreich. Und irgendwie habe ich dann in Frankreich, in Paris, Leute kennengelernt aus England. Und die haben gesagt: Hör mal, wir machen Weltmeisterschaft bei uns. Musst mal kommen, bist doch gut und so. Und dann sind wir da hingefahren, ich glaub ein, zwei Jahre zum Üben im Gelände, war ja sehr schwer dort. Und dann 94 habe ich zum ersten Mal gewonnen, die WM dort, im Einzelzeitfahren. Und dann habe ich gleich nen Hattrick hingelegt, 95 und 96 nachgelegt. Und dann habe ich noch die Italienrundfahrt gewonnen, dann habe ich in Österreich die Weltradsportwoche gewonnen. Und dann ging das immer so weiter. Ursula Niewrzol: Europameister warst du auch. Europameister war ich ja 1990. Ursula Niewrzol: Hier bei uns. Autor 13: Bei uns, die Heimat, das ist für das Ehepaar Niewrzol nicht die ganze Stadt Duisburg, sondern ihr nördlicher Teil und die angrenzenden Städte. Im Ruhrgebiet, das wissen Fremde meist nicht, gibt es ein enormes Süd-Nord-Gefälle. Der Süden ist wohlhabend, hügelig und idyllisch, der Norden windig, ärmer, voller lebendiger und toter Industrie. Das ist in Bochum so, in Dortmund. Alfred Krupp baute im 19. Jahrhundert seine repräsentative Villa Hügel im Essener Süden, die Gussstahlwerke standen im Norden. Duisburg schmiegt sich lang und dünn an den Rhein, Norden und Süden liegen hier besonders weit auseinander. Nicht nur geografisch. O-Ton Wort 15: Horst Niewrzol (''38) Wenn wir raus wollen, wir fahren immer Richtung Norden raus. Ich brauch hier nur fünf Kilometer, dann fängt es hier an mit Bauernhöfen, Grün, Wiese, Wälder. Das gibt es auch nirgendwo. Zwischenfrage: Und in den Duisburger Süden fahren Sie nicht? Nee, den mag ich überhaupt nicht. (Seine Frau lacht.) Den mochte ich früher nicht, den will ich jetzt nicht. Ich weiß es nicht, warum, das ist so drin. Ich bin da früher schon mal viel hingefahren, weil ich da näher am Bergischen Land bin, um da Berge zu trainieren. Aber dann fahre ich hier im Norden 50 Kilometer gegen den Wind zum Rhein, sag ich, und wenn dann mal richtig Windstärke sechs ist, tust du den dicksten Gang drauf, das ist genau wie am Berg fahren. Autor 14: Den dicksten Gang und die Kraft, ihn zu treten, die wird Horst Niewrzol noch brauchen. Zwar stockt aktuell der Bau des Centers. Wegen des Widerstands und weil der Investor die Grunderwerbssteuer für den Kauf der Siedlung bisher nicht gezahlt hat. Der ursprüngliche Besitzer legte den Verkauf auf Eis, stoppte den Umzugsservice. Doch die Stadt will das Center um jeden Preis bauen, mit diesem Investor oder mit einem anderen. Obwohl Christoph Zöpel, zehn Jahre lang Minister für Stadtentwicklung in Nordrhein-Westfalen, eindringlich davor warnt. Obwohl der prominente Stadtplaner und Shoppingcenter-Experte Walter Brune sagt, das riesige Center mache die Innenstadt von Duisburg wirtschaftlich platt. Ja, er sagt, das Projekt sei das Ende dieser Stadt. So weit ist es noch nicht. Eigentlich sollten im Dezember 2012 die Bagger rollen. Davon kann keine Rede sein, nicht mal Kündigungen haben die Widerständler erhalten. Horst und Ursula Niewrzol sitzen lächelnd nebeneinander auf dem Sofa, über sich an der Wand ein geschnitztes Bild von Mostar. Aufgeben werden sie nicht. Plan B, so ihre Überzeugung, ist was für Verlierer. O-Ton Wort 16: Horst Niewrzol ('1''44) Wenn ich ein Radrennen habe, dann mache ich das zu Ende. Und wenn wir ein Etappenrennen haben, das geht über sechs Wochen oder drei Wochen oder zwei Wochen oder eine Woche, dann machst du jeden Tag von einem Tag auf den anderen. Dann denke ich nicht schon, wer am Schluss gewinnt. Du musst doch jeden Tag gewinnen. Wenn wir hier auch im Moment ein bisschen die Nase vorn haben: Wir haben nur einen Etappensieg errungen, wir haben noch nicht das Ende gefunden. Es geht ja immer weiter. Und deshalb sollten wir uns nicht schon mit dem nächsten Tag beschäftigen oder mit dem Plan B, wenn ich doch ausziehen muss. Dann muss ich mich dann darum kümmern, aber nicht jetzt schon. Ich würde mich ja bescheuert machen, wenn ich mir jetzt eine Wohnung suchen würde. Ich wüsste ja gar nicht: Will ich da hin? Ist es da schön? Will ich hierbleiben? Mach es, wenn es so weit ist und nicht eher. Wir haben Arbeit genug und Stress genug auch wirklich. Frau Niewrzol: Wir könnten ja sofort ....unser Sohn hätte eine Einliegerwohnung bei sich am Haus. Aber...(lacht.) Wenn wir hier wegziehen würden, was meinst du, was die Leute denken. Hast hier alles aufgebaut, alles in Gang gebracht, und verschwindest hier klammheimlich. Frau Niewrzol: Nein, das würde ich doch nie machen. Ich auf keinen Fall. Das geht gar nicht, funktioniert nicht. Ich könnte doch gar nicht mehr ruhig schlafen. Ich würde da noch weniger glücklich sein wie hier mit dem Stress. Das muss man zu Ende führen. Und alles, was ich angefangen habe, habe ich auch zu Ende geführt. Das ist genauso, wenn du ein Rennen anfängst und kommst nicht mehr mit und hörst auf. Das geht nicht! Dann wirst du nie im Leben irgendwas zu Ende führen. Das ist so. Das hat mir auch sehr geholfen im Sport. Deswegen hab ich auch gesagt: Du musst alles zu Ende führen, wenn du was angeleiert hast. Das überlegst du ja vorher: Mach ich das überhaupt? Ich wusste ja vorher schon: Wenn du so was machst, dann kniest du dich so rein, das ist so viel Arbeit und so intensiv. Aber das hab ich nicht lange überlegt. Wenn ich was mache, dann weiß ich ja wie ich bin. Dann geht das bis zum bitteren Ende. Oder zum glücklichen eben. Musik 7: Der Wanderer ('4''23) Geht über in Atmo 7: Straßenbahn und Kaiser-Wilhelm-Straße. Geräusch der Straßenbahn und der Straße schwillt plötzlich an und ist dann sehr laut, wird unter dem folgenden O-Ton und dem folgenden Text leiser, bleibt aber hörbar. O- Ton Wort 17: Katrin Gems (''34) Wir haben einen Teil, eine Hälfte des Stadtteils, in dem fast ausschließlich leergezogene Häuser stehen. Die Häuser kommen immer weiter runter und es ist einfach, wenn man hier durchgeht, kein schöner Anblick, in Fenster, in Häuser zu gucken, die keine Fenster mehr haben, die leer stehen, wo sich Müll häuft. Jetzt haben wir gerade nicht so viel Müll, aber im Sommer hat es ganz extreme Situationen gegeben. Es hat was von einem aufgegebenen Viertel. Autor 14: Duisburg-Bruckhausen, drei Kilometer entfernt vom Zinkhüttenplatz und von den Niewrzols. Auch hier soll planiert werden, auch in Bruckhausen wehrt sich eine Bürgerinitiative. Katrin Gems gehört dazu. Die vierspurige Kaiser-Wilhelm-Straße mit der lärmenden Straßenbahn trennt das gründerzeitliche Wohnviertel und seine überwiegend türkischstämmige Bevölkerung von einem der größten Stahlwerke Europas, 12.000 Menschen arbeiten hier. Noch. ThyssenKrupp will in Duisburg massiv Arbeitsplätze abbauen. Jene 120 Häuser, die nahe am Stahlwerk liegen, sollen ebenfalls verschwinden, ungefähr 40 sind bereits abgerissen. An ihrer Stelle will die Stadt einen breiten Grünstreifen anlegen. Kosten: etwa 72 Millionen Euro, bezahlt von der EU und vom ThyssenKrupp- Konzern. Experten warnen, die Stadt reiße die eigenen Wurzeln heraus. Rheinpreußen, Bergarbeiterkolonie in Duisburg-Hochheide, sollte in den 70er Jahren ebenfalls verschwinden. Massive Proteste einschließlich Hungerstreiks verhinderten das. Heute ist die Stadt stolz auf die schmucke Siedlung. Duisburg-Bruckhausen dagegen ist in beklagenswertem Zustand. Ein Grund ist die Stadt, die die Hausbesitzer seit Jahren daran hindert, die Häuser zu restaurieren, zu beleihen oder langfristig zu vermieten. Die meisten haben an die Stadt verkauft, sind weggegangen. Der westliche Teil von Bruckhausen: eine Geisterstadt mit 90 verlorenen Seelen. Geschätzt. Genau weiß das niemand. Atmo 7 wird wieder lauter, bleibt einige Sekunden stehen. O-Ton 18: Katrin Gems (''46) Frage: Glauben Sie, dass Bruckhausen, ausgehend von dem Zustand, in dem es jetzt ist, sanierbar, erhaltbar und zu retten ist? Ja, im Moment ist ja noch trotz erheblicher, bedauerlicher Verluste eine Menge da. Wir gehen ja gerade durch die Dieselstraße, da gibt es jetzt hier gerade die eine Abrisslücke, aber wenn Sie die Straße entlang gucken bis zum Schwarzen Diamanten, dann sehen Sie noch eine komplette Gründerzeitliche Bebauung. Und die Häuser sind in der Struktur noch völlig in Ordnung. Wenn man das Geld jetzt wirklich für eine Sanierung einsetzen könnte, dann könnte man hier wieder eine attraktive Wohnstraße draus machen, klar. Atmo 7: Kaiser-Wilhelm-Str. m. Straßenbahn, Straßenlärm. Straßenlärm mit Straßenbahngeräusch einige Sekunden allein, bleibt dann deutlich hörbar (!) unter folgendem Text stehen. Autor 15: Ein Konzept zur Rettung von Bruckhausen haben zwei Studenten entwickelt, einen von ihnen treffen wir im Schwarzen Diamanten. Die Kneipe an der Kaiser-Wilhelm-Straße hat freie Sicht aufs Stahlwerk, den Krach macht allerdings der Verkehr. Geöffnet ist fast rund um die Uhr, die türkischen Betreiber machen weiter, so lange man sie lässt. Etwa in Mitte des Texte Ende von Atmo 7: Tür auf u. Betreten des Schw. Diamanten Atmo 8: Schwarzer Diamant innen bleibt einige Sekunden stehen. Läuft dann unter dem Text weiter. Hier treffen sich alle: Stahlarbeiter, türkische Kartenspieler, junge Frauen an den Internetterminals. Riesenglotze an der Wand, grelles Neonlicht. Tee. Im Kühlschrank auch Bier. Pierre Kramann-Musculus, 30 Jahre alt und auffallend gutaussehend, studiert an der Bauhaus-Universität Weimar Gestaltung. Mit Duisburg beschäftigt er sich, weil er Mitglied im Deutschen Werkbund ist. Der legendäre, über 100 Jahre alte Zusammenschluss von Künstlern, Architekten, Unternehmern und Sachverständigen engagiert sich für den Erhalt von Bruckhausen. Pierre Kramann-Musculus: O- Ton Wort 19: Pierre Musculus ('1''03) Wir reden hier von einer Form des Protestes. Wie machen wir Protest. Und wir machen Protest, indem wir eine Vision darlegen und nicht, indem wir ablehnen. Wir sagen auch nicht nein zu den Beweggründen von Thyssen-Krupp. Sondern die sind uns letztendlich egal. Wir sehen uns das konkrete Resultat an, und das ist eine Wiese, die 70 Millionen Euro kostet. Und das kann kein Gestaltungsanspruch sein. Eine Wiese für 70 Millionen kann jeder machen. Das ist keine Idee, das ist keine Vision, das haben wir uns angeguckt und haben gesagt: Was kann man denn darüber hinaus machen? Frage: Wie sieht eure Vision für Bruckhausen aus? Meine Vision für Duisburg-Bruckhausen ist, dass Konstrukte wie das Factory Outlet Center mit einer dahinter liegenden globalen Wirtschaftslogik verlieren zugunsten eines mikroökonomischen Experimentes im Duisburger Norden, in dem wir eine lokale Produktion und lokale Konsumption auch politisch schützen, damit sie sich entwickeln kann. Musik 8: "Ramses Curs" Interpret+Komponist: Rob van den Berg Label: UBM Records, LC-Nr. 13808 Bleibt ca. eine Minute stehen und läuft dann unter dem Text weiter. Autor 16: Das mikroökonomische Experiment für Bruckhausen nimmt sich Karawansereien zum Vorbild, befestigte Herbergen, die um das zehnte Jahrhundert in Zentralasien entstanden. Hochmodern ist die Idee insofern, als Karawansereien komplette Produktions- und Dienstleistungszentren waren, Werkstätten hatten, Herbergen, Bäder, Restaurants, Läden mit breitem Sortiment. Dinge dort herstellen, wo die Kunden leben statt Billigprodukte vom anderen Ende der Welt: Das Konzept ist hochaktuell, Kramann-Musculus und seine Kommilitonen folgen exakt jenem Trend, der seit Monaten von Ökonomen, Journalisten und Aktivisten diskutiert wird. Die Makers-Bewegung - sie will mit 3D-Druckern Alltagsprodukte in jedem Wohnzimmer herstellen - basiert auf dieser Idee. Und Konsumenten sind bereit, mehr zu bezahlen, wenn Produkte aus der eigenen Nachbarschaft stammen, fanden Forscher heraus. Made in Bruckhausen: Das Gründerzeitviertel mit Hinterhöfen, kurzen Wegen und einer überwiegend türkischstämmigen Bevölkerung würde sich bestens für ein solches Experiment eignen, findet Kramann-Musculus. Musik schon unter Ende von Autor 16, wird lauter, bleibt kurz stehen, dann wieder leiser, verschwindet unter O-Ton 15 O- Ton Wort 20: Pierre Musculus (''35) Frage: Hast du eine Idee, wo das Geld herkommen könnte? Von Thyssen-Krupp zum Beispiel. 35 Millionen hat Thyssen-Krupp der Stadt Duisburg gegeben, dann können sie uns auch für die Karawanserai die 35 Millionen geben. Auch wenn das jetzt vielleicht naiv klingt, ich sag das jetzt einfach so salopp. Wir haben den Vertrag nicht eingesehen, es ist ein privatwirtschaftlicher Vertrag zwischen der Stadt Duisburg und Thyssen-Krupp, der geschwärzt nur herausgegeben wird. Wir würden gerne diesen Vertrag sehen und würden gerne mit Herrn Cromme und Herrn Beitz darüber verhandeln, wie wir die 35 Millionen, die Thyssen-Krupp der Stadt Duisburg spendet, besser einsetzen könnten. Autor 17: ThyssenKrupp hat eine Spende im Wert von 36 Millionen Euro geleistet für den Bau des sogenannten Grüngürtels. Warum genau sich der Konzern diese Wiese wünscht, ist unklar. Mit Journalisten darüber sprechen möchte ThyssenKrupp nicht. Jedenfalls behauptet niemand mehr, dass durch eine 300 Meter breite Wiese neben dem Werk die Schadstoffbelastung der Einwohner maßgeblich sinkt. Hochöfen sind heute massiv weniger umweltschädlich als noch vor 15 Jahren. Belastend bleiben sie, ob mit oder ohne Grünstreifen. Im Kern geht es auch gar nicht um die Frage Grünstreifen oder nicht Grünstreifen. Es geht ums Abreißen, weil Duisburg zu viele Wohnungen hat. Miet- und Kaufpreise sind im Keller. Die Stadt wünscht sich mehr gutbürgerliche, wohlhabende Einwohner, will chicer werden, düsseldorfiger. Kein Schmuddelkind mehr. Ein Fehler, findet Pierre Kramann-Musculus. Er stammt aus Duisburg, das ist der zweite Grund, warum er sich hier engagiert. Die Familie ist früh weggegangen, aber ihn zog es immer wieder zurück. O- Ton Wort 21: Pierre Musculus ('1''55) Tanten, Onkel, jede Ferien war ich hier, sechs Wochen im Sommer, jede Herbstferien, jede Osterferien, ich war permanent hier. Und als Kind war das auch eine sehr emotionale Geschichte, heute kann ich das in Worte fassen. Ich habe mich da einfach wohl gefühlt. Während es meine Mutter über ihren Mann in anderen Unternehmerkreis geschafft hat, da habe ich mich nie wohlgefühlt. Ich habe mich auch gegen den Betrieb entschieden, deswegen studiere ich auch heute. Und mich würde auch nie Köln als Gestaltungsaufgabe so reizen wie das Ruhrgebiet. Also irgendwie mag ich dieses alltägliche Leben hier im Ruhrgebiet, dieses sehr Familiäre, diese Straßenkultur, die es hier im Ruhrgebiet hat. Das Ruhrgebiet hat schon ein bisschen was Südländisches. Das hört sich für Nichtruhrgebietler ein bisschen absurd an, weil man das immer mit der Schwerindustrie und mit den Betonwüsten verbindet. Aber wenn man hier lebt, in Krefeld-Uerdingen oder auch in Duisburg-Bruckhausen, das hat ja etwas sehr Südländisches, das Flair. Das Leben ist auf der Straße, es wird gegrillt, die Kinder spielen in den Innenhöfen. Es ist auch ein bisschen schmuddelig und ein bisschen dreckig. Und genau dieses bodenständige Leben, das finde ich sehr schön. Das ist ja ein ästhetisches Urteil, das man auch auf sich selber überträgt dann: Den Dreck und das Chaos und die Willkür als Schmuddel zu definieren, ist ja eine Perspektive, man kann das aber auch als geordnetes Chaos definieren oder als eine ganz eigene Ästhetik definieren. Und die ist für mich lebenswerter als die bürgerliche, glatte, gradlinige Kultur, die man jetzt in Düsseldorf oder Köln findet. Wo das Leben dasselbe ist, die Schmuddeleien dieselben sind, sie aber hinter einer schönen Fassade kaschiert werden. Also hier im Ruhrgebiet spürt man viel eher den Puls des Lebens, der Menschen, als man das in Köln oder Düsseldorf entdeckt. Atmo 3: Weseler Straße Setzt schon unter den letzten Sätzen des vorigen O-Tons ein, wird dann kurz laut, bleibt ein paar Sekunden stehen, läuft unter folgendem Text weiter. Geht dann im Text nahtlos in das Läuten der Glocken über, das allmählich lauter wird. Atmo 9: Glocken St. Peter und Paul. Autor 18: Zurück in Marxloh, Weseler Str., DEM Zentrum des Duisburger Nordens. Zwischen ganz viel Brautmode, Dönerläden, türkischen Cafés und türkischen Supermärkten ragt St. Peter in den Himmel, eine kleine Insel des Katholizismus. Der knapp 100 Jahre alte Bau trägt einen spitzen, grau verputzten Turm und schmückt das Kirchenschiff mit gotischen Zitaten. Rechts von der Kirche das Pfarrhaus und der hell erleuchtete Kindergarten, die Glocken übertönen Kreischen und Lachen. Ein Montag im Januar, morgens kurz vor neun. Glockenläuten wird lauter und bleibt ein paar Sekunden stehen, läuft leise weiter und geht dann über in O-Ton Atmo 10: Kirche innen Atmo 10: Kirche innen, Orgelspiel Autor 19: Es ist eiskalt in dem riesigen, fast menschenleeren Kirchenschiff. Drei Bänke hinter dem Altar, sie bilden mit ihm zusammen ein Viereck. Mehr als genug für neun Seelen. Die Messe hält Pater Oliver. Er stammt aus Duisburgs Nachbarstadt Mülheim, war lange in Magdeburg, ist seit ein paar Monaten zurück im Ruhrgebiet. Kräftiger Typ, Vollbart, gewinnendes Lächeln. Am Ende der Messe wird er jedem einzelnen die Hand schütteln. O-Ton Wort 22: Pater Oliver in der Kirche (''27) Gott unser Schöpfer und Erlöser: Dein ewiges Wort ist Fleisch geworden aus Maria der allzeit jungfräulichen Mutter. Dein Sohn, der unsere menschliche Natur angenommen hat, schenke uns Anteil an seinem göttlichen Leben. Er, der in der Einheit des Heiligen Geistes mit dir lebt und herrscht in Ewigkeit, Amen. Atmo 11: Orgelspiel in der Kirche Geht über in Musik 9: Mag der Himmel euch vergeben. (ca. '2 Min.) Atmo 12 Pfarrhaus innen mit Glocken zu Beginn und Reinkommen Pater a. Ende Atmo 13 Geräusch Pfarrbüro evt. unter gesamten Kapital stehen lassen Autor 20: In Pater Olivers Büro stehen Dinge, die jeder mit einem katholischen Priester verbindet: Dunkle Möbel, ein Kreuz auf der Anrichte, kleine Bilder in Goldrahmen. Aber auch ein Computer, der in unregelmäßigen Abständen Laute von sich gibt. Auf dem Boden die Laptoptasche. Und natürlich hat der Priester, Jahrgang 1970, ein Smartphone. Fast wäre er gar nicht hier gelandet: Vor etwas mehr als einem Jahr sollte St. Peter - neben anderen Kirchen - geschlossen werden. Massive Proteste beim Bischof, auch durch die Muslime der nahegelegenen Merkez-Moschee, verhinderten das. Dennoch bleibt die Lage der Katholiken im Duisburger Norden schwierig. O-Ton Wort 23: Pater Oliver ('1''24) Das Bistum Essen fährt eine Strategie, dass Gemeinden, also früher eigenständige Pfarreien, zusammengelegt werden zu großen Pfarreien mit über 30.000 Pfarrangehörigen, in der Regel sechs Gemeinden, die nicht mehr Pfarrei sind. Die nicht mehr alle auch einen Priester haben. Und alle anderen Kirchen werden als weitere Kirchen unter Umständen auch geschlossen. Also wenn es keine Möglichkeiten gibt, auch von Seiten der Gläubigen da gegenzusteuern, ein Finanzierungskonzept zu entwickeln, dann werden diese Kirchen unter Umständen abgerissen. In meiner Gemeinde, in der ich jetzt hier tätig bin, waren es drei Kirchen, und davon sind zwei jetzt geschlossen. St. Konrad, St. Paul. Und die stehen jetzt als geschlossene Kirchen da, teilweise vergammeln die, und das ist für die Leute außerordentlich bedrückend, das so zu sehen. Im Ruhrgebiet sind die Entfernungen nicht groß: St. Paul ist 600 Meter vor hier weg, also von St. Peter weg, aber das ist trotzdem als Kirche für die Menschen eine Heimat gewesen. Das ist ihre Kirche gewesen, wo sie getauft wurden, wo sie geheiratet haben. Und das fällt jetzt weg. Das ist eine Umbruchsituation, die zunächst noch bewältigt werden muss, das ist noch nicht abgeschlossen, dieser ganze Prozess. Autor 21: Pater Olivers Job ist es, Probleme zu lösen, den Menschen im Stadtteil zu helfen. Und zwar ausdrücklich nicht nur den katholischen, nicht nur den christlichen. Ein Projekt ist die Ausbildung von Schulsanitätern. Adressaten sind türkische Jugendliche, Kids ohne Migrationshintergrund gibt es an Hauptschulen in Marxloh ohnehin fast keine. Die Schulsanitäter lernen und übernehmen Verantwortung, stabilisieren sich und ihr soziales Umfeld. Läuft es gut, soll später ein Beruf daraus werden. Pater Oliver sagt, er will die Steigbügel halten, damit einige irgendwann aufs Pferd steigen können. Den Unterricht übernimmt er selbst; der ausgebildete Krankenpfleger hat jahrelang in diesem Beruf gearbeitet, erst mit 30 ging er ins Kloster und wurde Priester. Eine Herausforderung sind auch Sinti und Roma aus Bulgarien und Rumänien, die wegen der leeren Wohnungen nach Marxloh kommen und ein prekäres Leben führen, weil sie hier zwar sein, aber nicht hier arbeiten dürfen. Am Tag nach dem Interview im Pfarrhaus besuchen wir ein Mietshaus, in dem ausschließlich Menschen aus Bulgarien und Rumänien leben. Mit dabei: Esref Avdosgi, den Pater Oliver zufällig auf der Straße kennenlernte, von dem er nur weiß, dass er neben Kosovarisch, Deutsch und Niederländisch auch Rumänisch, Bulgarisch und Türkisch spricht. Ausländische Stimmen, Geräusch Treppensteigen vom Beginn des folgenden O- Tons setzt schon am Ende des Textes ein. Atmo drunter. Klopfen O-Ton Wort 24: Pater Oliver, Esref Avdosgi ('1''49) Türkische Fetzen, Pater Oliver: Guten Tag. Avdosgi: Können wir Platz nehmen ein bisserl und dann gehen wir noch zwei, drei Wohnungen oben? Türkischer Dialog läuft leise weiter, Sprachfetzen, bei denen die Worte Pater Oliver und Katholische Kirche rauszuhören sind. Autor 22: Die Bulgarischen Roma sprechen türkisch. Pater Oliver weiß noch wenig über ihre Situation. Wie viele Menschen sind es? Wie viele Kinder haben sie? O-Ton Wort 24: Pater Oliver (Forts.) Für mich wäre es spannend zu erfahren,...also ich brauch mal ein paar Leute, die mal in der Lage sind zu sammeln, wo jetzt für uns Ansatzpunkte sind, ranzugehen. Also wo die Not am größten ist. Also da brauche ich einfach mal ein bisschen Insiderwissen. Und dann können wir gucken, wie wir da sinnvoller Weise vorgehen. Also das müsste mal gesammelt werden. Türkischer Dialog läuft weiter und fadet dann aus. Autor 23: Viel Arbeit. Und Geld, Geld für seine vielen Projekte, gebe es faktisch keins, sagt er. Weil die Gemeinde arm ist und die Mittel überall im Bistum drastisch zusammengestrichen wurden. Trotz dieser schwierigen Situation wirkt der Pater voller Energie und hoch motiviert. O-Ton Wort 25: Pater Oliver ('1''16) Also der sicher große Motivationsfaktor ist das Kloster, das ich im Rücken habe, das mir auch eine spirituelle Heimat bietet. Dann gehe ich ja nach wie vor sehr fest davon aus, dass der Heilige Geist in diese Kirche lebt und wirkt und da auch durchaus sein Ding zu beitragen wird. Und die Menschen, mit denen ich hier zusammenarbeite, sind alle unglaublich motiviert, das macht total Spaß. Die Leute wollen was bewegen, die machen was. Und hier wird nicht stundenlang diskutiert und diese ganzen Sachen. Und die Menschen lassen sich auch sehr schnell emotional ansprechen und gehen dann auf die Straße und machen auch was, wollen was bewegen. Im Positiven wie im Negativen, aber das geht zunächst erst mal so. Nebenan zum Beispiel. Nebenan sitzt jetzt eine junge Dame. Ich hab irgendwann gesagt, dass die Leute, die hier die Gemeindenachrichten machen, das sind nur noch ganz wenige, also die mit dem Computer umgehen können und das so schreiben können. Und da ist jetzt eine Dame krank geworden und ich hab gesagt: Irgendwer muss jetzt hier mal mit das Ding schreiben. Und sofort spontan ist dann jemand da und macht das. Da wird auch nicht lange diskutiert und hin und her geredet. Sondern da ist jetzt jemand da und der macht das. Und das ist mir so in dieser Form woanders nicht begegnet. Autor 24: Mit den Menschen lässt sich also viel anfangen im Ruhrgebiet, bei der Politik ist Pater Oliver schon skeptischer. Auch er sieht, dass jede Stadt ihre eigene Suppe kocht, ihr eigenes Einkaufscenter baut, weil die Nachbargemeinde auch eins hat, und das keiner sieht, wie die kleinen, alteingesessenen Läden dabei überall vor die Hunde gehen. O-Ton Wort 26: Pater Oliver ('1''24) Das Ruhrgebiet verändert sich. Weg von dieser Industrielastigkeit, hin zu...tja, wohin? Diese Frage ist glaube ich innerhalb des Ruhrgebiets noch nicht geklärt. Noch ist das Ruhrgebiet eine Ansammlung von lokalen Bürgermeistern, die ihre lokale Stadt im Blick haben, aber es ist nie so richtig eine Gemeinsamkeit gewachsen. Diese Trennung Rheinland - Westfalen ja noch dazwischen - es ist kompliziert. Und dieser Prozess wird sich glaube ich eher verstärken. Ich sehe es nicht, dass das Ruhrgebiet weiter zusammenwachsen wird, ich sehe eher, dass es noch weiter auseinanderfallen wird. (Standuhr schlägt) Ich wollte hier nie weg! Als ich in Magdeburg war, habe ich immer Heimweh gehabt. Weil ich aus dem Ruhrgebiet komme. Und wenn Leute mich fragen: Wie? In Marxloh bist du? Ja klar, natürlich, das ist mitten im Ruhrgebiet, und hier fühle ich mich wohl. Wenn aber so ein Gedanke kommt: Wir haben es jetzt geschafft und können hier wegziehen, das ist glaube ich so ein Problem. Dass das Ruhrgebiet aus sich heraus nicht attraktiv genug ist, um hier Menschen zu halten, aus denen, wie man hier so sagt, was geworden ist. Kennmusik Sprecher vom Dienst: Und sie bleiben doch! Duisburgs wilder Norden Sie hörten eine Deutschlandrundfahrt von Christoph Lixenfeld Ton: Alexander Brennecke Regie: Roswitha Graf Redaktion: Margarete Wohlan Eine Produktion von Deutschlandradio Kultur 2013 Manuskript und Online-Version der Sendung finden Sie im Internet unter dradio.de 1