COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschland- radio Kultur benutzt werden. DEUTSCHLANDRADIO KULTUR Forschung und Gesellschaft, 11.09.08, 19.30 Uhr "Bruchstellen des Rechtsstaats. Freiheitsrechte und Sicherheitsgesetze im Widerstreit" Im Gespräch mit dem ehemaligen Verfassungsrichter Prof. Dr. Wolfgang Hoffmann-Riem Die Fragen stellte Ralf Müller-Schmid Müller-Schmid: Professor Hoffmann-Riem, ganz herzlich Willkommen. Hoffmann-Riem: Guten Tag. Müller-Schmid: Welche Rolle spielt denn aus Ihrer Sicht dieser 11. Septem- ber 2001 dafür, wie wir heute in der Gesellschaft über Sicherheit und Sicher- heitsgesetze sprechen? Hoffmann-Riem: Herr Müller-Schmid, der Anschlag vom 11. September war ein bestialischer Akt, der uns alle - mich auch - erschüttert hat, und er hat in der Tat unser Denken beeinflusst und verändert. Vor allem ist es jetzt schwe- rer geworden, rational über das Ausmaß der Gefahr zu sprechen und zwi- schen Sicherheit und Freiheit so auszubalancieren, dass auch die Freiheit gewahrt bleibt. Die terroristische Gefahr ist diffus geworden, und deswegen besteht das Risiko, dass man diffuse Gegenmaßnahmen vorsieht. Das be- deutet aber, dass die rechtsstaatlichen Grundsätze der Vorhersehbarkeit staatlichen Handelns, der Bestimmtheit von Ermächtigungen eventuell nicht beachtet werden und auch ein Risiko besteht, dass Maßnahmen des Staates unverhältnismäßig werden. Müller-Schmid: Schon bald nach den Attentaten in den USA gab es ja auch in Deutschland - zunächst unter Rot-Grün und dem damaligen Innenminister Otto Schily - eine ganze Welle neuer Anti-Terror-Gesetze, die immer in Pa- keten verabschiedet wurden und die den Ermittlern bessere Möglichkeiten der Strafverfolgung einräumen sollten. Ich nenne mal beispielhaft das Flugsi- cherheitsgesetz, dann den so genannten Großen Lauschangriff; Rasterfahn- dung war ein Thema, aber auch Online-Durchsuchungen. Nun haben aber angesichts dieser Entwicklung Kritiker wie der ehemalige Bundesinnenminis- ter Gerhard Baum von einem entgrenzten Präventionsstaat gesprochen, von einem Staat der übertriebenen Vorsorge. Ist es denn nicht, ganz pauschal gesprochen, die Aufgabe von Regierungen und Behörden, in größtmögli- chem Umfang die Bevölkerung zu schützen? Hoffmann-Riem: Ja, selbstverständlich. Aber die Regierung hat dabei zu berücksichtigen, dass es nicht nur ein Schutzgut gibt, sondern mehrere. Es geht nicht um Sicherheit pur, sondern um Sicherheit, die es ermöglicht, in Freiheit zu leben. Und wenn das Bundesverfassungsgericht in den von Ihnen angesprochenen Entscheidungen sich kritisch mit einigen Gesetzen befasst hat, dann hat es nicht die Möglichkeit des Staates verneint, Instrumente zur Gefahrenvorsorge und Gefahrenabwehr bereit zu haben, sondern es hat ge- fordert, dass dies unter rechtsstaatlichen Bedingungen geschieht. Müller-Schmid: Sie haben ja selbst Mitte Juli in Ihrer Abschiedsrede in Karlsruhe noch einmal rückblickend Kritik an der Anti-Terror-Gesetzgebung geübt. Sie haben gesagt, wenn Regierung und Parlament die Freiheit der Bürger im Interesse ihrer Sicherheit einschränken wollten, dann hätten sie eine Bringschuld: dass nämlich der Eingriff in die Freiheit jeweils und immer durch einen hinreichenden Gewinn an Sicherheit aufgewogen werden müs- se. Das würde aber der jetzige Bundesinnenminister Schäuble doch ohne weiteres unterzeichnen. Hoffmann-Riem: Ja, das ist eigentlich eine rechtsstaatliche Selbstverständ- lichkeit, aber gelegentlich beschleicht mich die Sorge, dass sie doch gegen- wärtig nicht mehr so selbstverständlich angenommen wird wie früher. Wir müssen immer berücksichtigen, dass eine Bedrohung nicht irgendwelche Gegenmaßnahmen rechtfertigt, sondern nur solche, die auch die Bedrohung in Erfolg versprechender Weise abwehren können, die ihr begegnen kön- nen. Und wir haben doch das Problem, dass wir viel zu wenig darüber wis- sen, unter welchen Bedingungen denn die jetzt diskutieren Maßnahmen auch wirklich geeignet sind. Mich hat es beispielsweise erschüttert, dass bei der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht zur Online- Durchsuchung unsere Frage, was denn die bisherigen Online- Durchsuchungen, die es schon gegeben hat, gebracht haben, damit beant- wortet wurde, dass die entsprechenden Präsidenten des Verfassungsschutz- amts und des Bundeskriminalamts auf ihr Aussageverweigerungsrecht ver- wiesen. Wir bekamen keine Informationen. Mich bedrückt auch, dass die Zahl der Telefonüberwachungen in Deutschland in den letzten Jahren rasant angestiegen ist, aber es gibt keine systematischen Auswertungen des Er- folgs dieser Maßnahmen. Das würde aber zu einem Rechtsstaat dazu gehö- ren, dass der Staat auch Rechenschaft darüber gibt, ob seine Maßnahmen denn wirklich greifen. Müller-Schmid: Nun ist ja Sicherheit ein sehr subjektives Empfinden. Nach den Attentaten in New York gab es Folgeattentate in Madrid, in London und in Deutschland die versuchten Anschläge auf Züge. Das Sicherheitsempfin- den scheint vor diesem Hintergrund in der Wahrnehmung der Bürgerinnen und Bürger zutiefst erschüttert. Gleichwohl bleibt die Frage: Kann der Staat überhaupt dieses Defizit in irgendeiner Weise ausgleichen geschweige denn Sicherheit garantieren? Hoffmann-Riem: Es gibt fast immer ein Auseinanderklaffen zwischen dem subjektiven Sicherheitsgefühl der Menschen und der objektiven Sicherheits- lage. Das ist in der Kriminalsoziologie seit Jahrzehnten beobachtet worden. Die Frage ist, ob der Staat selbst dazu beiträgt, die Bürger zu verunsichern, oder ob er bemüht ist, soweit es Sicherheitsrisiken gibt - und Sie haben ja schreckliche Ereignisse eben erwähnt -, auch zu zeigen, wo die Grenzen nicht nur der Gefährdung liegen, sondern auch, wo die Grenzen der Möglich- keit, sie zu bekämpfen, liegen. Illusionen zum Zielwert Sicherheit helfen nicht weiter, Furcht und Einschüchterung sind schlechte Ratgeber. Und insbeson- dere muss man sich davor hüten, dass man eine solche Lage, in der wir seit Jahren leben, nutzt, um populistisch Forderungen nach Law and Order zu erheben, ohne aber damit wirklich das Problem bewältigen zu können. Und die terroristischen Gefahren haben viele Ursachen, an die wir gar nicht her- ankönnen; die Möglichkeiten, sie zu bekämpfen, sind sehr beschränkt. Müller-Schmid: Lassen Sie mich da einhaken, was Sie zu Anfang gesagt haben, dass offensichtlich diese Sicherheitsgarantien und dieses Bestreben nach staatlich garantierter Sicherheit durch Anti-Terror-Gesetze ja auch zu einer Verunsicherung der Bürger führen kann. Es scheint ja so zu sein, wenn man sich anschaut, was Ihr Karlsruher Kollege Winfried Hassemer, der auch aus dem Amt geschieden ist, unlängst gegenüber der Süddeutschen Zeitung sagte, dass die Karlsruher Richter - zumindest bei Ihnen im ersten Senat - doch den Eindruck haben, dass seitens des Staates oft übers Ziel hinausge- schossen wird, was die Sicherheitsvorkehrungen angeht. Hassemer spricht davon, dass im Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit die Sicher- heit die Oberhand gewonnen habe. Stimmen Sie zu? Hoffmann-Riem: Ich glaube, dass ein derartiges Risiko besteht und immer wieder bestanden hat. Ich denke aber, durch die Intervention des Bundesver- fassungsgerichts ist dieses Risiko gebannt worden. Es stände in Deutsch- land um die Freiheit schlechter, wenn das Bundesverfassungsgericht nicht in den letzten Jahren viele Dinge zum Anlass genommen hätte, um Grenzen für den Staat zu setzen, aber gleichzeitig ihm Möglichkeiten zu belassen, die Gefahren zu bekämpfen. Ich nenne nur die Beispiele der Entscheidung zum großen Lauschangriff, zur Rasterfahndung, zur Kennzeichenüberwachung oder jüngst zur Online-Durchsuchung und zur Vorratsdatenspeicherung. Das sind alles Versuche, die Freiheit und Sicherheit so auszubalancieren, dass beide zu ihrem Recht kommen. Müller-Schmid: Ein Gesetz, mit dem das Bundesverfassungsgericht aus- führlich befasst war, ist das Flugsicherheitsgesetz, das insofern ein beson- ders spektakulärer Fall ist, als hier nicht nur die öffentliche Debatte sehr auf- geregt war. Darf also ein vollbesetztes Flugzeug, das von Terroristen geka- pert wurde zum Zwecke eines Attentats, abgeschossen werden, um eine noch größere Anzahl von Menschenleben zu retten? Die Karlsruher Richter sahen darin einen Verstoß gegen das Grundgesetz. Warum eigentlich? Hoffmann-Riem: Seit langem hat das Bundesverfassungsgericht gesagt, dass jedes menschliche Leben als solches gleich wertvoll ist, sodass man nicht in reinen Quantitäten denken und auf dieser Grundlage abwägen kann. Die Frage ist - und das hat der erste Senat bejaht -, ob es einen Verstoß gegen die Menschenwürde darstellt, wenn Menschen, hier also die Passa- giere und die Besatzung, zum bloßen Objekt einer Rettungsaktion gemacht werden, und zudem in einer Situation extremer Unsicherheit darüber, ob ers- tens überhaupt eine Gefahr für Dritte besteht, und zweitens, ob man mit die- ser Maßnahme die Gefahr bewältigen kann. Wir haben in der mündlichen Verhandlung etwa die Vertreter der Pilotenvereinigungen gehört, und die ha- ben uns gesagt, es ist praktisch unmöglich und gelingt fast nie, aufzuklären, was in einem möglichen Angreiferflugzeug passiert, und zu überprüfen, ob hier ein Risiko für die Menschenleben anderer, etwa durch den gezielten Ab- sturz, besteht. Letztlich muss aufgrund einer spekulativen Einschätzung ge- handelt werden mit einem hohen Fehlerrisiko, unter hohem Zeitdruck - den- ken Sie nur an die Kleinheit des Überfluggebiets der Bundesrepublik Deutschland - unter dem dann viele Entscheidungen getroffen werden sol- len, übrigens durch die Bundesregierung selbst in Abstimmung mit den Län- dern und nach Abklärung sowie nach vorheriger Warnung. Das sind alles Dinge, die den Eingriff sehr, sehr schwierig machen. Und deswegen haben beispielsweise die Piloten davor gewarnt, eine solche Ermächtigung vorzu- sehen. In einer solchen Unsicherheitssituation sollen Menschenleben geop- fert werden, die sich selbst nicht wehren können, und ohne dass sicher ist, dass dieses Opfer notwendig ist, um eine Gefahr zu bekämpfen. Müller-Schmid: Könnte man das nicht, wenn man die Kritik aufnimmt, die Bundesinnenminister Schäuble im Anschluss an das Karlsruher Urteil zum Teil auch sehr polemisch vorgebracht hat, könnte man das nicht auch als Einladung an die Terroristen verstehen? Wenn das oberste deutsche Gericht so viele Einschränkungen und Vorbehalte im Hinblick auf eine zugegeben ja sehr schwierige Situation formuliert, dass die Terroristen durch diese Vorbe- halte letztendlich auch geschützt würden? Hoffmann-Riem: Es geht um den Schutz von Menschen, die gemäß der Ermächtigung vom Staat gezielt getötet werden sollen. Die Frage ist, ob es in der Bundesrepublik Deutschland, die die Erfahrung des Totalitarismus hinter sich hat und deshalb die Menschwürde zum höchsten Gut erklärt, angehen kann, dass der Staat eine gesetzliche Ermächtigung zum gezielten Töten erhält. Das haben wir verneint. Müller-Schmid: Nun ist das ja innerhalb der Rechtswissenschaft nicht un- umstritten. Der Kölner Staatsrechtler Otto Depenheuer wurde weiteren Krei- sen bekannt, nachdem sich Innenminister Schäuble mehrmals auf ihn berief. Depenheuer vertritt die Position einer so genannten Selbstbehauptung des Rechtsstaats, die eben auch von den Bürgerinnen und Bürgern Opfer ver- langen darf, wenn damit das Staatsgefüge insgesamt geschützt werden kann. Was sagen Sie dazu? Hoffmann-Riem: Bei den Maßnahmen, die das Luftsicherheitsgesetz vor- sah, ging es nicht darum, das Staatsgefüge zu schützen, sondern es ging darum, einen möglichen Unglücksfall zu bewältigen. Also es ging nicht um die Reaktion auf Angriffe, die auf die Beseitigung des Gemeinwesens oder die Vernichtung der freiheitlichen Staatsordnung gerichtet waren. Die Aus- gangsfälle, die den Gesetzgeber zum Erlass des Luftsicherheitsgesetzes veranlasst hatten, waren zwei: Es war ein Fall, dass ein Sportflugzeug eines, wie sich später herausstellte, geistig Verwirrten über Frankfurt kreiste und der Betreffende drohte, einen Absturz in das Gebäude der Europäischen Zentralbank zu inszenieren. Der zweite Fall waren die Anschläge des 11. Septembers. Die waren schrecklich, aber sie waren nicht geeignet, das Staatsgefüge der USA zu gefährden. Wir müssen nun aufpassen, dass wir in der Reaktion auf solche möglichen Unglücksfälle, wie der Gesetzgeber ge- sagt hat, dass wir nicht dadurch Reaktionen auslösen, die selbst die Grund- lagen der Demokratie und Freiheitlichkeit unterminieren. Also wir befinden uns hier auch in einer schwierigen Spannungslage und dürfen nicht nur das eine Ziel sehen, sondern müssen, meine ich, sehr behutsam abwägend auch mit solchen Risiken umgehen. Müller-Schmid: Sie hören weiter "Forschung und Gesellschaft" im Deutsch- landradio Kultur. Wir sprechen mit dem ehemaligen Verfassungsrichter Wolf- gang Hoffmann-Riem über die Herausforderungen an den Rechtsstaat nach dem 11. September 2001. Professor Hoffmann-Riem, ich will trotzdem noch mal bei den Thesen von Otto Depenheuer und der Selbstbehauptung des Rechtsstaats einhaken. Depenheuer sagte im Deutschlandradio Kultur vor nicht langer Zeit, dass sich "große Teile unserer schreibenden Intelligenz", offensichtlich sind damit Sie gemeint, die anderen Juristen, aber auch die Journalisten, "sich die Wirklichkeit der terroristischen Bedrohung schönreden, dass sie die Komplexität der Sicherheitslage auf ein moralisches Bekenntnis zur Freiheit reduzieren und im Ergebnis Feigheit für rechtsstaatliche Tugend ausgeben." Mit anderen Worten: Ein Staat, der sich unter allen Umständen der Menschenwürde verpflichtet, ist laut Depenheuer angesichts der terroris- tischen Kaltblütigkeit handlungsunfähig. Hoffmann-Riem: Das ist Polemik, die diskreditiert, statt zu argumentieren. Ich meine, sie richtet sich selbst. Der Staat ist im Übrigen nicht handlungsun- fähig, er hat viele Möglichkeiten, sich gegen Gefahren zu wehren. Aber er muss dies unter Beachtung rechtsstaatlicher Grundsätze und wie gesagt auch des Zielwerts der Menschenwürde tun, die der Gesetzgeber nicht ohne Absicht ganz an den Anfang unserer Verfassung gestellt hat als Schutzauf- gabe für den Staat. Müller-Schmid: Trotzdem: Kann man da noch von wehrhafter Demokratie sprechen? Macht das Sinn, auch wenn man Depenheuers Prämissen nicht teilt? Hoffmann-Riem: Der Staat hat viele Instrumente der Gefahrenvorsorge, der Gefahrenabwehr und, wenn dies nicht reicht, auch der Abschreckung durch Strafverfolgung. Ich denke, dass gerade in den letzten Jahren - übrigens schon vor dem 11. September etwa infolge der RAF-Risiken und -Gefahren - der Staat sich eine Fülle neuer Instrumente geschaffen hat, die ausreichen, um mit den vorhersehbaren und kalkulierbaren Risiken umzugehen. Dass es noch Risiken gibt, die möglicherweise nicht kalkulierbar sind, das ist nie aus- zuschließen. Müller-Schmid: Lassen Sie uns dann auch noch über Situationen sprechen, wo es nicht direkt um Menschenleben geht wie im Falle des Luftsicherheits- gesetzes. Zum Beispiel beim Großen Lauschangriff und bei der Rasterfahn- dung, da hat Karlsruhe in den Jahren nach 2001 die Hürden immer höher gelegt für staatliches Eingreifen und auch für die freie Handhabe der Ermitt- ler. Warum? Hoffmann-Riem: Das Gericht hat nicht die Hürden immer höher gelegt, son- dern es hat eine neue Maßnahme daraufhin geprüft, ob sie dem Grundge- setz entspricht. Beim Großen Lauschangriff geht es um den Schutz des Wohnungsgrundrechts, das im Grundgesetz mit ganz scharfen Grenzen ver- sehen worden ist. Also wenn der Staat - was er darf - in das Wohnungs- grundrecht eingreift und damit in den Intimbereich etwa der dort lebenden Personen, dann muss er besonders harte Bedingungen erfüllen. Das steht im Grundgesetz. Und wir haben geprüft, ob diese Bedingungen erfüllt sind, und haben festgestellt, dass sie in dem damaligen Gesetz nicht erfüllt waren. Wir haben nicht den Großen Lauschangriff als solchen für unmöglich erklärt. Zwischenzeitlich hat der Gesetzgeber eine Neuregelung vorgesehen und eine Kammer des zweiten Senats hat diese Neuregelung für verfassungs- gemäß gehalten. Also es gibt dieses Instrument, aber nur unter rechtsstaatli- chen Bedingungen. Bei der Rastefahndung ging es darum, dass es noch gar nicht klar war, ob es irgendwo eine Gefahr gibt, sondern es sollte gewisser- maßen im Vorfeld einer Gefahr schon eine Fülle von Informationen gesam- melt werden, die eventuell dazu beitragen könnten, einen Verdacht zu ge- winnen für den Fall, dass es sogenannte Schläfer gibt. Dazu wurden Hun- derttausende Daten erfasst von vielen Personen. Die Frage ist: Unter wel- chen Bedingungen darf der Staat auch sensible persönliche Daten in großer Zahl abfragen? Auch dazu haben wir nicht gesagt, dass er es auf keinen Fall darf, sondern wir haben vorausgesetzt, dass eine konkrete Gefahrensituation gegeben ist, also nicht jederzeit, sondern nur aus einem diese Maßnahme rechtfertigenden Anlass. Müller-Schmid: Trotzdem gab es damals ein Sondervotum der Richterin Haas, die durchaus der Meinung war, dass eine breit angelegte Rasterfahn- dung etwas sei, was man von den Bürgerinnen und Bürgern voraussetzen könne, dass sie also damit einverstanden seien um Willen des höheren Gu- tes der allgemeinen Sicherheit. Hat sich da seit 2001 grundsätzlich etwas verschoben, so dass wir einfach sagen können, in der Bevölkerung ist die Bereitschaft sehr gewachsen, auf Freiheitsrechte zu verzichten zugunsten eines höheren Sicherheitsempfindens? Hoffmann-Riem: Das mag sein. Die Bürger sind jedenfalls nicht gefragt wor- den, ob sie bereit sind, ihre Daten zur Verfügung zu stellen, sondern der Staat hat ihnen dies abverlangt, egal ob sie wollen oder nicht. Wenn in einem Senat, der aus acht Personen besteht, sieben sich für die Grenzen der Ras- tefahndung aussprechen, wie ich sie eben benannt habe, und ein Mitglied anderer Meinung ist, dann ist das etwas ganz Gewöhnliches. Das kommt häufiger vor. Im Grunde ist eher überraschend, dass bei dieser Entscheidung sieben sich für die Verfassungswidrigkeit der konkreten Maßnahme - es ging um die Anwendung eines Landesgesetzes - ausgesprochen haben. Im Übri- gen ist bemerkenswert, dass in den meisten Entscheidungen, über die wir bisher gesprochen haben, es keine Gegenstimmen gegeben hat. Das zeigt doch, dass in einem Senat, in dem sehr unterschiedliche Positionen vertreten sind, hart gerungen wird und dann doch ein Konsens hergestellt wird, der sich letztlich dadurch herstellen lässt, weil alle von den gleichen rechtsstaat- lichen freiheitlichen Grundsätzen ausgehen. Müller-Schmid: Seit 1. Januar dieses Jahres ist das Gesetz zur Vorratsda- tenspeicherung in Kraft. Damit können Sicherheitsbehörden auf Daten zu- rückgreifen, die Telekommunikationsunternehmen gespeichert haben. Dabei ist auch interessant, dass dieses Thema schon Mitte der 90er-Jahre disku- tiert wurde. Es gab schon damals Vorstöße in Richtung einer präventiven Speicherung von Telefonverbindungsdaten. In der Zeit vor 9/11 ging es noch um organisierte Kriminalität, die verhindert werde sollte. Die Vorratsdaten- speicherung wurde damals noch von der Regierung abgelehnt. Das Verfas- sungsgericht warnte in diesem Zusammenhang schon auch vor einer Erosion des Vertrauens in die Nutzung moderner Kommunikationsmittel. Nun wissen wir, dass zum Beispiel die Terroristen 2004 bei den Anschlägen in Madrid die Bomben in den Zügen per Handy ausgelöst haben. Scheint, wenn man das bedenkt, nicht jedes Mittel angebracht, zumindest der digitalen Prävention, wenn man solche Anschläge in Zukunft verhindern will? Auch wenn man in Kauf nehmen muss, nolens volens, dass hier und da ganz normale Telefon- gespräche gespeichert werden, die überhaupt nichts mit Terrorismus zu tun haben? Hoffmann-Riem: Bei der Vorratsdatenspeicherung und der entsprechenden Ermächtigung geht es darum, dass die Telekommunikationsunternehmen verpflichtet werden sollen, für ein halbes Jahr Daten zu speichern, damit man zur Gefahrenabwehr oder zur Strafverfolgung auf sie zugreifen kann. Schon bisher gab es die Möglichkeit, dass der Staat auf solche Daten zugriff, die die Unternehmen freiwillig bei sich speicherten, etwa zu Abrechnungszwecken. Die Frage, ob diese Vorratsdatenspeicherung verfassungsmäßig ist oder nicht, hat das Bundesverfassungsgericht noch nicht entschieden. Es hat aber im Rahmen einstweiligen Rechtsschutzes zunächst vorgesehen, dass auf diese Daten, die weiter bevorratet werden, nicht zugegriffen werden darf, außer zur Bekämpfung besonders schwerer Straftaten. Wenn ich mir nun das Beispiel des Zündens einer Bombe per Handy ansehe, dann frage ich mich, ob sich das Auslösen einer Zündung per Handy durch Zugriff auf Ver- kehrs- oder Bestandsdaten verhindern lässt. Die beiden Dinge haben, meine ich, nichts miteinander zu tun. Man müsste die Handynutzung verbieten, wenn man eine solche technische Möglichkeit ausschließen wollte. Ich denke aber, dass die Bürger damit nicht einverstanden wären. Es gibt in einem Staat unter den gegenwärtigen Bedingungen bestimmte Risiken, die wir in Kauf nehmen müssen, wenn wir andere Vorteile, wie zum Beispiel die der mobilen Telefonie, nutzen wollen. Müller-Schmid: Der Staat nimmt nach den Attentaten offenbar in Anspruch, in immer größerem Maße Sicherheitsgarantien liefern zu wollen, aber dafür auch von den Bürgerinnen und Bürgern Offenheit und Transparenz zu for- dern. Kritiker wie der Göttinger Soziologe Wolfgang Sofsky sprechen ganz generell von einer Erosion des Privatlebens, die da droht. Würden Sie das unterschreiben? Hoffmann-Riem: Das hängt davon ab, ob diese Erosion wirklich zugelassen wird oder nicht. Eines der Ziele, die hinter der Rechtssprechung des Bundes- verfassungsgerichts stehen, ist sicherlich das, den Schutz der Privatheit, den die Verfassung ja vorgesehen hat, auch real werden zu lassen, also nicht alles, was in die Privatheit eindringt, zuzulassen, sondern nur dann, wenn durch ein höherrangiges Rechtsgut, wie etwa zur Abwehr schwerer Gefah- ren, dies auch gerechtfertigt ist. Die Aushöhlung von Privatheit ist ein Teil der Entgrenzung, die wir überall erleben, die ja auch von den Bürgern selber ausgeht, Sie haben das schon erwähnt. Die Bürger sind relativ leichtfertig im Offenlegen ihrer Daten. Denken Sie nur an so eine Einrichtung wie StudiVZ oder die Payback-Karten, wo man einfach seine persönlichen Nutzungsdaten für Unternehmen frei zugänglich macht. Hier besteht eine gewisse Leichtfer- tigkeit im Umgang, die natürlich auch Privatheit gefährdet. Aber die Frage ist, ob diejenigen, die ihre Privatheit geschützt sehen wollen und sich darin auch durch das Grundgesetz gerechtfertigt sehen, ob die diesen Schutz erhalten. Und ich denke, daran müssen wir weiter festhalten. Müller-Schmid: Was sagen Sie zu dem Satz "Wer nichts zu verbergen hat, der hat nichts zu befürchten"? Hoffmann-Riem: Der Satz ist grundsätzlich richtig. Aber er sagt natürlich nichts dazu, ob der Staat auch alles wissen darf. Oder: Auch wenn ich nichts zu verbergen habe, möchte ich vielleicht doch nicht, dass der Nachbar alles über mich weiß. Im Übrigen: Auch, wer sich rechtmäßig verhält, also in dem Sinne nichts zu verbergen hat, kann Risiken unterliegen, wenn es keinen Geheimnisschutz gibt. Denken Sie nur an den kürzlichen Skandal mit dem Klau von Daten, die dazu genutzt wurden, dass bei Bürgern Konten aufge- macht und Gelder abgehoben wurden. Hier wäre ein Schutz der Daten, also Schutz der Geheimhaltung dieser Daten, auch ein Schutz vor Taten. Im Üb- rigen müssen wir auch dann, wenn der Staat alles wissen möchte - und er möchte natürlich viel wissen -, das Risiko einkalkulieren, dass dieses Wissen missbraucht wird, dass dieses Wissen fehlinterpretiert wird, dass dieses Wis- sen dazu führt, dass unbescholtene Bürger möglicherweise in einen Kontext gerückt würden, der ihnen etwas anlastet, was gar nicht zu ihren Lasten geht. Also Risiken des Missbrauchs sind ebenso in einem Rechtsstaat zu bekämpfen wie natürlich Gefahren für Leib und Leben oder andere Rechts- güter. Müller-Schmid: Ein viel diskutiertes Gesetz, mit dem Sie sich zum Ende Ih- rer Amtszeit in Karlsruhe beschäftigt haben, ist das vom Innenminister Schäuble auf den Weg gebrachte Gesetz zur Online-Durchsuchung. Hier geht es um die Frage, ob Ermittlungsbehörden Computer von Verdächtigen über das Internet ausspähen dürfen, vom Bundestrojaner war die Rede. Hier hat das Verfassungsgericht mit einem neuen Grundrecht reagiert, das lapidar gesagt die Festplatte, oder genauer: informationstechnische Systeme vor staatlichem Zugriff schützen soll. Was war die Idee hinter dem Gesetz? Hoffmann-Riem: Das Bundesverfassungsgericht hatte sich noch nicht mit dem Gesetz, das der Bundesinnenminister auf den Weg gebracht hat, näm- lich eine Veränderung des BKA-Gesetzes, also des Gesetzes über das Bun- deskriminalamt, zu befassen, sondern mit einem Landesgesetz in Nordrhein- Westfalen. Aber die Entscheidung hat natürlich auch Auswirkung auf die Be- urteilung der Bundesgesetzgebung. Die Frage ist, ob der Staat Trojaner in die Computer infiltrieren darf, dass er möglicherweise die Computer gezielt manipulieren darf, um an Informationen heranzukommen, die er für seine Aufgabenerfüllung benötigt oder jedenfalls meint zu benötigen, und ob er dies heimlich tun darf. Computer sagen sehr viel über den Nutzer, über seine Persönlichkeit, sein Sozialprofil, seine psychische Befindlichkeit. Also jeden- falls sind möglicherweise Daten auf der Festplatte, die all dies aussagen. Es wird etwas über das Verhalten gesagt. Herr Hassemer, den Sie vorhin zitiert haben, hat einmal davon gesprochen, dass der Zugang zum Computer wie ein Zugang zum ausgelagerten Gehirn wirke, zur ausgelagerten Psyche. Al- so wir müssen auch sehen, dass es ein berechtigtes Interesse der Bürger geben kann an Vertrauensschutz und dass dieser Vertrauensschutz sich auch über den Schutz des Computers abbildet. Und in diesem Sinne hat das Bundesverfassungsgericht das allgemeine Persönlichkeitsgrundrecht weiter ausdifferenziert, konkretisiert und gesagt, es müsse auch einen Schutz der Vertraulichkeit und der Integrität eigener informationstechnischer Systeme geben, der im Übrigen auch dazu dient, dass etwa die vom Staat infiltrierten Trojaner nicht durch Dritte missbraucht werden. Also wir haben nicht gesagt, dass eine Online-Durchsuchung unter keinen Bedingungen zulässig sein kann, sondern wir haben wieder rechtsstaatliche Sicherungen gefordert und damit zum Ausdruck gebracht, dass ein so intensiver Eingriff in den Persön- lichkeitsbereich, gegebenenfalls den Intimbereich einer Person, nur unter strikten rechtsstaatlichen Kriterien zulässig sein kann. Müller-Schmid: Nun ist das ja ganz interessant, dass Sie hier im Namen der Bürgerinnen und Bürger einen Schutzanspruch formuliert haben, der sich auf den Schutz gegenüber staatlichen Eingriffen bezieht. Es scheinen aber doch viele User im Internet überhaupt gar keine Bedenken zu haben, intimste Da- ten preiszugeben. Sie haben StudiVZ genannt, dieser Tage ist ein neuer Browser der Internetfirma Google auf den Markt gekommen, der genau spei- chert, wo ich mich im Internet bewege, und das dann in die Firmenzentrale nach Silicon Valley übermittelt. Da gibt es überhaupt gar keinen Aufruhr, gar keinen Protest. Ist denn ein solches Grundrecht dann überhaupt etwas wert, wenn man diese Entwicklung der technischen Kommunikation insgesamt betrachtet? Hoffmann-Riem: Sie sprechen ein großes Problem an, und ich persönlich glaube, dass ein Unternehmen wie Google über Daten verfügt und diese ge- und gegebenenfalls missbrauchen kann, auf die der Staat bisher noch über- haupt keinen Zugriff hat und auch keinen Zugriff erhalten wird. Wir haben uns angewöhnt, den Staat als Bedroher des Persönlichkeitsrechts der einzelnen Bürger anzusehen. Wir müssen umdenken, und wir müssen sehen, dass hier private Unternehmen mindestens so gefährlich sind. Wenn Orwell heute sei- nen Roman "1984" schreiben würde, wäre er anachronistisch, wenn er den Staat als den großen Bruder alleine sehen würde. Er müsste das Risiko, das von privaten Unternehmen ausgeht, genauso umschreiben. Und hier kommt jetzt eine besondere Zielrichtung auch von Grundrechten. In Situationen, in denen Private Rechte der Bürger gefährden, Grundrechte gefährden, gibt es eine staatliche Schutzpflicht, vielleicht sogar einen Schutzanspruch der Bür- ger. Der Staat muss mithelfen, die Bürger zu befähigen, sich zu wehren. Er muss mithelfen im Rahmen seiner Möglichkeiten, Strukturen einzurichten, die Missbrauch durch private Unternehmen verhindern. Ich weiß, dass das sehr schwer ist, insbesondere - Sie haben es erwähnt - bei international agieren- den Unternehmen, die ihren Hauptsitz gar nicht in Deutschland haben. Aber die Europäische Union hat durchaus Möglichkeiten, auch solchen Unterneh- men Grenzen zu setzen. Und die Grundrechte haben nicht nur eine so ge- nannte abwehrende Funktion, dass sie den Staat hindern, in den Bereich der Bürger einzuwirken, ohne dass dies gerechtfertigt ist, sondern sie haben auch eine gewährleistende Funktion, also so etwas wie eine Schutzfunktion zugunsten der Bürger. Und gleichzeitig enthalten sie auch einen Auftrag an den Staat, dafür zu sorgen, dass auch im gesellschaftlichen Bereich Freiheit- lichkeit das bestimmende Prinzip bleibt. Müller-Schmid: Zusammenfassend: Wo sehen Sie die Schwierigkeiten, die Bruchstellen womöglich im Spannungsfeld von Freiheit und Sicherheit, die in den nächsten Jahren auf uns zukommen? Hoffmann-Riem: Also ich hoffe, dass es keine wirklichen Bruchstellen gibt. Jedenfalls muss es darum gehen, Bruchstellen zu verhindern oder die Brü- che zu verhindern. Das ist Aufgabe der Politik. Und wenn sie dabei versagt, ist das Bundesverfassungsgericht gefordert. Bisher hat es diese Herausfor- derung angenommen, und ich bin optimistisch, dass dies auch zukünftig funktioniert. Das setzt aber voraus, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner Funktion auch in der Öffentlichkeit Unterstützung findet. Ende Forschung und Gesellschaft, 11.09.08 - Hoffmann-Riem 1