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(3)O-Ton(Fatah dito): Andere, ich weiß, denen geht es anders. Denen fällt es sehr schwer. In meinem Fall kommt das in zehn Jahren. Dann muss man sich allerdings wirklich überlegen, wie es weitergeht und was man noch vorhat und so. (20’’) (4)O-Ton(Gröschner 0:55): Also bis jetzt bin ich 49. Und ich könnte mir ja jetzt noch überlegen, ob ich weiterhin 49 sein will. Also meine Mutter war auch zehn Jahre 29. (10’’) (5)O-Ton(Lentz 1:20): 50 hat nicht mehr diesen Anschein der Würde. Oder die besondere Prägnanz des Alters. ... (6)O-Ton(Schrott 14:25): Also die Markierung 50 – da ich an keine Zahlensymbolik glaube – die hat relativ wenig Bedeutung. Mehr von Bedeutung ist eine zweite Lebenshälfte, in der man rückwärts zählt, um zu hoffen, dass man wieder bei Null ankommt. (20’’) (7)O-Ton(Lentz 5:50): Andererseits: klar! Man fängt dann auch an zu rechnen. In zehn sechzig. In 20 siebzig. Aber ich habe auch Freunde, die sechzig und siebzig sind. Deswegen glaubt man immer, man kann das noch raufschieben. Es ist so eine Grenzverschiebung. Aber die Grenzverschiebung die hat dann irgendwann mal ein Ende (30’’) (8)O-Ton(Brussig 36:55): Ich freue mich nicht besonders auf meinen 50. – gerade weil da eine Feier fällig ist und weil die Art des Feierns auch ein Statement ist, wie man zu seinem Leben steht. Gerade deshalb bin ich nicht froh darüber, weil ich keine richtige Antwort darauf habe. (40’’/2,15’) Regie: Songs hoch und unterlegen. Sprecherin: Bei allen Unterschieden, die man in den Werken der Schriftsteller Sherko Fatah, Thomas Brussig, Annett Gröschner, Michael Lentz und Raoul Schrott ausmachen kann – sie eint zumindest eine Gemeinsamkeit: Sie werden in 2014 50 Jahre alt. Damit gehören sie alle derselben Generation an. Einer Ausnahmegeneration. Einer Generation der Superlative. Sie sind Jahrgang 64. Das bedeutet, sie gehören zu jenem für frühere ebenso wie für spätere Generationen uneinnehmbaren Gipfel der Bevölkerungspyramide. Sprecherin: 1964 brachten die Deutschen – Ost wie West – so viele Kinder auf die Welt wie niemals zuvor und danach. Sprecher: Nach dem Wirtschaftswunder nun ein Babywunder. Zitator: Nehmen wir Monaco, nehmen wir Liechtenstein und Luxemburg noch dazu, alle Einwohner von Malta und Andorra auch noch. Das sind schon ganz schön viele Leute. Aber sie alle zusammen sind immer noch weniger als all die Kinder, die 1964 auf die Welt kamen. Regie: Babyboomer-Song unterlegen. Sprecherin: So versucht Jochen Arntz, Ressortleiter der Seite drei von der Süddeutschen Zeitung, in seinem Buch „1964“ das Rekordergebnis deutscher Fruchtbarkeit sinnfällig zu machen. Sprecher: Ebenso gut könnte man eine deutsche Stadt als Vergleichsgröße nehmen. Den 64ern würde es ohne Probleme gelingen, die Einwohner von München zu ersetzen. Sprecherin: Eine Million, dreihundertsiebenundfünfzigtausend und dreihundertvier Kinder geleiteten die Hebammen zur Welt. Sprecher: Dauereinsatz. Hochbetrieb. Spitzenleistungen in deutschen Kreißsälen. (09)O-Ton(13:35): Das ist eine enorme Zahl. Dann sind wir viele! Sprecherin: Sherko Fatah wurde 1964 in Ost-Berlin als Sohn eines irakischen Kurden und einer Deutschen geboren. 2001 debütierte er mit dem Roman „Im Grenzland“, der sogleich den „aspekte“-Literaturpreis bekam. (10)O-Ton(12:35 Fatah): Das war mir erstmal nicht bekannt, dass es der geburtenstärkste Jahrgang aller Zeiten ist, aber andererseits: Ich war nie in einem anderen. Also habe ich es nicht bemerkt. Hatte ich mehr Konkurrenten als andere? ... Gabs mehr Gedränge? Ich weiß es nicht. Die Uni war voll. ... Das wäre das einzige. Diese unglaublichen Vorlesungen an der FU, wo man im Treppenhaus draußen sitzen musste und einer hielt die Tür auf, damit man den Prof hört. Ob das ein Zeichen ist? (30’’/4,45’) (11)O-Ton(Brussig 2:30): Sehr durchschnittlich! Sprecherin: Thomas Brussig, berühmt geworden durch seinen Wenderoman „Helden wie wir“ gehört – trotz anders lautender Verlagsangaben – auch dem Jahrgang 1964 an. (12)O-Ton(dito): Also wenn der Durchschnittsdeutsche kreiert würde, dann ... wäre er weiblich, Jahrgang 64 und würde dann – naja auch nicht Thomas heißen. (15’’) Regie: Namenslieder Sprecher: Die häufigsten Mädchennamen des Jahres 1964 waren: Sprecherin: Platz 5: Zitator: Petra. Sprecherin: Platz 4: Zitator: Andrea Sprecherin: Platz 3: Zitator: Martina Sprecherin: Platz 2: Zitator: Susanne Sprecherin: Und mit einigem Abstand auf Platz 1: Zitator: Sabine. Sprecher: Die männlichen Neugeborenen bekamen am zweithäufigsten den Namen Michael: (13)O-Ton(Lentz 15:30): 64er Jahrgang – ich finde, mit zwei Dingen habe ich mich immer sehr anfreunden können. Das ist mein Vorname. Sprecherin: Michael Lentz. Bachmann-Preisträger und Professor am Leipziger Literaturinstitut. (14)O-Ton(dito): Ja. Ich sage das deswegen: Es gibt unglückliche Vornamen in den 62er, 63er und 64er Jahrgängen. Sprecher: Zum Beispiel? (15)O-Ton(dito): Ich will jetzt keinen verunglimpfen, aber es gibt ein paar Namen, die dann zum Glück langsam nicht mehr in Verwendung gekommen sind. Das und, ich fand die 64er Generation, die zeigt dann doch – für meinen Teil, der ich mich nicht zu den Untergehern rechne, aber mit dem Gefahrenpotenzial wiederum eine gewisse Tuchfühlung hatte. Das fand ich einen sehr energetischen Jahrgang. Einen sehr energiegeladenen. Sprecher: Vor Michael auf den ersten Platz schaffte es 1964 der Name: Zitator: Thomas. (16)O-Ton(Fatah 13:45): Ja, das ist mir schonmal aufgefallen. Es gibt wirklich sehr viele Thomasse. (17)O-Ton(Lentz dito): Ja, die Namen sind gut. Aber es gäbe noch viele, viele andere, die ein bisschen unglücklich oder zwielichtig sind. (1’/7’) Regie: Namenslieder hoch und aus. (18)O-Ton(Brussig 5:25): Ich glaube aber, dass das Jahr 1964 eigentlich ein ereignisarmes Jahr war. Also Kennedy ist eben 1963 ermordet worden. Das war eine große Geschichtszahl. Die Kubakrise war 62. Da war das Jahr 1964 ziemlich ereignisarm. Ich könnte mir ja mal eine Chronik vornehmen, aber da ist sozusagen die Tagesordnung drangewesen. ... (1’/8’) Regie: Song: „Je t’aime“ (19)O-Ton(dito): Generation Tagesordnung. Sprecherin: Die Tagesordnung hieß: Sprecher: Kinder machen. Die „Zeit“ titelte, als der Umfang des Babybooms abzusehen war: Zitator: Wie die Karnikel. Sprecherin: Der damalige niedersächsische Ministerpräsident Georg Diederichs gab den Befürchtungen der Politik eine Stimme, als er sagte: Zitator: Das kann zur Last werden, wie zum Beispiel in Indien. Sprecher: Den Deutschen ging es gut. Richtig gut. Endlich wieder. Das Wirtschaftswunder spülte Geld in die Haushaltskassen. Verschwindend geringe 0,8% der Deutschen waren arbeitslos. Eine Million Ausländer wurden ins Land geholt, um die einfacheren Tätigkeiten zu verrichten. Sprecherin: Das Benzin kostete gerade einmal 57 Pfennig pro Liter. Und die Maß Bier ließ man sich auf dem Münchner Oktoberfest für 2 Mark 20 zapfen. Sprecher: Die Ölkrise war noch nicht in Sicht – ebenso wenig der Pillenknick. Regie: Je t’aime noch einmal hoch. Sprecher: Allerdings wurde ausgerechnet in der Literatur die Tagesordnung im Jahr 1964 empfindlich gestört. Und zwar auf internationaler, globaler Ebene: Sprecherin: Das Nobelpreiskomitee hatte Jean-Paul Sartre für die weltweit höchste Ehrung auf literarischem Gebiet auserkoren. Der Romancier, Philosoph, Dramatiker, Existenzialist, die Gallionsfigur der französischen und westeuropäischen Intellektuellen, der Autor der „Fliegen“, des „Ekels“ und von „Das Sein und das Nichts“ – lehnte ab. Sprecher: Eine Ungeheuerlichkeit, die an Schärfe noch gewinnt, wenn man weiß, dass so etwas nie wieder vorkam. Sicher lässt sich darüber diskutieren, ob Sartre mit dieser Handlung der soeben entstehenden Generation der 64er damit die Renitenz ins Stammbuch schrieb? (20)O-Ton(Fatah 10:25): Das bedeutete sicherlich was. Für Generationen bedeutete das was. Das ist noch einer der letzten, die wirklich das Denken und das Philosophieren mit ins Leben genommen hat. Wo sich das überhaupt nicht trennen lässt – Schreiben und Leben. Deshalb ist es auch so konsequent für ihn, der nie Preise angenommen hat, den größten abzulehnen. Ob er es später nicht doch noch bereut hat, weiß ich nicht. (20’’) (21)O-Ton(Schrott 22:15): Der Schnösel! Ich mochte ihn nie. Sprecherin: Der Österreicher Raoul Schrott ist zugleich Dichter, Romancier, Übersetzer und Essayist. (22)O-Ton(Schrott 23:00): Also das habe ich immer bei Sartre gemerkt. Das ist ein eitles, selbstüberhobenes Denken. Für mich zumindest. Aber die Temperamente sind verschieden. (15’’) (23)O-Ton(Gröschner 8:20): Abgelehnt. Finde ich gut! Sprecherin: Annett Gröschner machte mit Romanen wie „Moskauer Eis“ oder „Walpurgistag“ auf sich aufmerksam und erhielt zahlreiche Preise wie den Anna-Seghers- und den Erwin-Strittmatter-Preis. (24)O-Ton(dito): Heute könnte man sich ja vom Nobelpreis noch nicht einmal eine Wohnung im Prenzlauer Berg kaufen. Von daher sieht man auch, dass der Nobelpreis auch an Bedeutung verloren hat. (15’’) (25)O-Ton(Lentz2 1:10): Auf der einen Seite hat er immer dafür plädiert, dass man an die Revolutionsfront, auf die Straße geht. Wurde dort aber selbst nie gesichtet. Und dann lehnt er den Nobelpreis ab. Hab ich damals, als ich das gelesen hab, dass er den Nobelpreis abgelehnt hat 64, habe ich das affig gefunden. Mir kam das so vor wie eine zwanghafte Attitüde. (20’’/11,15’) (26)O-Ton(Gröschner 9:06): Ich glaube nicht, dass wir so ein rebellischer Jahrgang sind. Das war, glaube ich, eher der Jahrgang 42, die dann 68 viel bewegt haben. Wir sind auch so ein Zwischenjahrgang. Wir haben zwar viel mitgemacht – also weil ich aus dem Osten bin, habe ich auch die Wende aktiv mitgemacht, aber es gab immer noch ältere. Wir waren damals die jüngsten so mit 25. ... Man sieht das ja auch. Angela Merkel ist zehn Jahre älter. Und die nächste Generation wird dann auch ein siebziger Jahrgang sein, die die Macht übernehmen. Deswegen glaube ich, dass wir nicht so eine große Macht sind politisch. (50’’/12’) Sprecher: Für eine tiefgreifende Politisierung kamen die Vertreter des Jahrgangs 1964 zu spät. Sprecherin: Im Westen Deutschlands hatten die 68er ihren Kommunen, Sit-Ins und Marxismus-Zirkeln bereits den Rücken gekehrt und den Gang durch die Institutionen begonnen. Sprecher: Angekommen sind sie nicht nur über Umwege in der Politik - wie die Grünen- , sondern flächendeckend in den Schulen. (27)O-Ton(Fatah 15:15): Das waren direkt die, die uns unterrichtet haben im Westen. Die waren noch kurz vorher unterwegs, gingen dann in den Lehrerberuf. ... Aber der Geist der frühen Siebziger ... der war noch da. Sprecherin: Sherko Fatah erlebte beide deutsche Staaten, da seine Eltern 1975 von Ost nach West gingen. (28)O-Ton(Fatah 16:25): In den Achtzigern – während der Hausbesetzer-Zeiten gab es schon noch Politisches. Es war schon so, dass man sich da auch sammelte unter diesem Banner der Weltverbesserung, was man auch damals noch organisiert hat. Aber klar, die großen Ideologien haben in unserer Generation schon ihre Kraft verloren. (1’/13,30’) (29)O-Ton(Lentz 22:15): Ich würd sagen, wenn es so eine Formel gäbe, die wir aber nicht hatten und nach der wir auch eigentlich nicht so richtig lebten, wären es zwei Dinge: So der Versuch, linker Bohemien zu sein, aber der Untergrund war doch eine gewisse Orientierungslosigkeit. Sprecher: Den theoretischen Adel fand diese Orientierungslosigkeit in der sogenannten Postmoderne, in der in Verwendung des Apercus von Paul Feyerabend „alles möglich“ war und ist. Die Welterfahrung der 64er passte gut zum Konzept vom Ende der großen Erzählungen, von der Dekonstruktion aller Wahrheits- und Moralansprüche sowie von der Relativierung des Wertekorsetts. (30)O-Ton(dito): Ich glaube, dass die 64er plus minus zwei Jahre, die haben in der Rezeption dann letztlich den Boden bereitet. Das waren die Studierenden – ich auch – wo das breiter Diskussionsstoff war. Sieht man an den Abschlussarbeiten. Kaum eine Arbeit, die nicht irgendwas damit zu schaffen hatte: Strukturalismus, Poststrukturalismus, Postmoderne, Roland Barthes, Derida, Jakobson, das war alles an Bord. Das war aber eine Befreiung ... gegenüber der Verpflichtung auf einen methodischen Rigorismus hin zu Grenzerweiterungen auch ästhetischer oder sinnlicher Wahrnehmung und hin zu der Herausforderung, nicht einen einheitlichen Jargon pflegen zu müssen, obwohl auch das – wie wir alle wissen – was man Postmoderne nennt nachher zu einem Jargon verfestigte. (1,20’/15,15’) Sprecher: Während man im Westen Deutschlands die Theorie der Postmoderne einübte, wurde sie in der DDR im Jahrgang 1964 bereits praktiziert. Diese Generation hatte den Glauben an die großen Erzählungen der Ideologen rasch verloren – nicht zuletzt durch die entscheidenden politischen Zäsuren, die zum Vertrauensverlust in die Regierung des realsozialistischen Landes führten und die sie als Kinder im Fernsehen verfolgt hatten: Regie: Biermann: „Trotz alledem“ mit Bahro-Strophe. Sprecherin: 1976 bürgerte die DDR-Regierung den Bänkelsänger Wolf Biermann aus und zeigte so offen ihr Unvermögen, mit ein paar mehr oder minder drastischen, zur Gitarre vorgetragenen Liedern umzugehen. 1977 kapitulierte die Regierung des Landes vor dem Buch „Die Alternative“, in dem der abgefallene Parteisoldat Rudolf Bahro die gesellschaftspolitische Umsetzung der Ideen von Marx in die Praxis hart kritisierte. Auch hier wurde nicht geredet, nicht diskutiert, sondern verhaftet. Sprecher: Die 64er spürten nichts mehr von der Anfangseuphorie des sozialistischen Projekts. Nur noch lächerliche Machtposen alter Herren im Politbüro und eine geradezu neurotisch übersteigerte Aktivität der Staatssicherheit ließen einer ganzen Generation gründlich die Lust vergehen, am weiteren Aufbau des Funktionärssozialismus mitzuwirken. (31)O-Ton(Brussig 7:30): Das ist eben unabhängig davon, ob es sich um den geburtenstärksten Jahrgang handelt oder nicht – dass da schon spürbar war, dass in der DDR so eine gewisse Erschöpfung eintrat, so ein Unglauben in die Zukunftsvisionen, so sie überhaupt noch geglaubt und ernst genommen wurden von denen, die sie verkündeten. Dass da einfach eine Generation heranwuchs, der klar war, also so richtig gibt es hier keinen Platz mehr. ... Oder der Preis dafür ist so lächerlich, dass man sich noch mit diesem System verbandelt, das eigentlich nur noch leere Versprechungen machen konnte. (1,15’/18’) Regie: Ein paar Gitarrenschläge von Biermann. (32)O-Ton(Gröschner 25:00): 1989 habe ich gedacht, okay, ich fang an, einen Roman zu schreiben. Und dann kam halt die Wende dazwischen. Und dann fand ich es erstmal viel, viel spannender, als Journalistin zu arbeiten, weil plötzlich in jedem Zaun ein Loch war. Das hat meine Abenteuerlust befriedigt. Ich musste erstmal gucken, was sie so hinter den Zäunen versteckt haben. ... (26:35): Ich glaube das war dann so ein Punkt, wo ich Anfang der neunziger meine Themen gefunden habe und die Art zu schreiben, die ich dann über die nächsten zwanzig Jahre weiterentwickelt habe und wo immer noch genug Themen da sind, um daran weiter zu arbeiten. (35’’/18,45’) Sprecher: Annett Gröschner arbeitet immer wieder mit dokumentarischen Elementen. Thematisch drehen sich die Interviews, Reportagen, Essays und Romane immer wieder um die DDR im Allgemeinen, die Mauer im Besonderen und Berlin und die Subkultur im Speziellen. Allein die Titel sind beredt: Zitator: „Aus anderer Sicht: Die frühe Berliner Mauer“, „Heimatkunde Berlin“, „Durchgangszimmer Prenzlauer Berg – eine Berliner Künstlersozialgeschichte in Selbstauskünften“ oder „Grenzgänger. Wunderheiler. Pflastersteine. Die Geschichte der Gleimstraße in Berlin“. Sprecherin: In ihrem Roman „Walpurgistag“ webt die Erzählerin Gröschner ein feines Netz aus Geschichten von Menschen, die am Tag vor der Walpurgisnacht in Berlin unterwegs sind. Gasableser. Taxifahrer. Schüler. Aktionskünstler. Stadtstreicher. Ein vielstimmiges Gewusel, das die Stadt zum Sprechen bringt: Zitator: Von hier oben kann Katrin alles erkennen, die als Hexen verkleideten Mütter mit ihren halbwüchsigen Kindern, Bettler und Menschen, die schaukeln oder ein Marihuanapfeifchen kreisen lassen, zwei Männer beim Schach, ein Mann, der lautstark selbstgeschriebene Gedichte deklamiert, Biertrinker, Minnesänger, Pubertierende, und hinten im Birkenwäldchen auch drei vögelnde Paare, eins davon zwei Frauen. (/20’) Regie: Nationalhymne gesungen von Brandt, Kohl, Wohlrabe am 10.11.89 Sprecher: Auch für Thomas Brussig war die Wende das entscheidende Datum. Am 9. November 1989 brachte er sein erstes Manuskript zum Aufbau-Verlag – und schon wenige Stunden später fiel die Mauer. Sprecherin: Ja, so war das! Sprecher: Kleiner Scherz! Warum der von den DDR-Funktionären so genannte Antifaschistische Schutzwall tatsächlich zusammenbrach, erzählt Brussig in „Helden wie wir“: Zitator: Ich sage Ihnen, wie es wirklich war, in der Nacht an jenem 9. November: Ein Mann ging hinaus in die Nacht, ein Mann mit seinem Schwanz. (Ich rede von mir, wie Sie sich denken können.) Ich hatte ein Glied, das diese Bezeichnung verdiente. Nix mehr mit Kleiner Trompete. Da standen Tausende ein paar Dutzend Grenzsoldaten gegenüber und trauten sich nicht. Ich öffnete langsam meinen Mantel, dann den Gürtel und schließlich die Hosen und sah den Grenzern fest in die Augen. Mit einem Grinsen zog ich meine Unterhose herunter. So was hatten sie noch nie gesehen! So was hätten sie nie für möglich gehalten. Ich ließ mir Zeit, viel Zeit, und schließlich entriegelte einer von ihnen wie hypnotisiert das Tor. Ehe sie es sich wieder anders überlegten, hatte ich die Gitterstäbe gepackt und das Tor aufgestoßen. „So!“, schrie ich, laut genug, dass mich das hinter mir versammelte Volk hören konnte, „loslaufen müsst ihr selber!“ Regie: Soundtrack von „Helden wie wir“ (33)O-Ton(Brussig 34:00): Helden wie wir – also auch wenn ich das nicht geschrieben hätte, würde ich sagen: Da ist ja wirklich einiges zusammengekommen. Also, dass ich mich ganz dezidiert von dieser schwierigen und bemühten DDR-Literatur ... – also davon wollte ich mich absetzen. Ich wollte eine voll schwanzgesteuerte drastische, komische, völlig überzogene zotige und komische Geschichte zusammenbrauen mit DDR-Ingredenzien. (36:08): So habe ich dann ein Buch geschrieben, das die DDR-Literatur sowohl thematisch als auch formal hinter sich gelassen hat. Deshalb war dieser literarische Muttimord ausgesuchter Sorte an Christa Wolf, der war da einfach auch nötig an dieser Stelle. (1’/22,15’) Regie: Soundtrack von „Helden wie wir“ Sprecher: Für die 64er, die in der DDR keinen Fuß mehr fassen konnten und wollten, kam die Wende gerade zur rechten Zeit. Sie waren alt genug, um den historischen Moment als solchen zu erfassen, aber zugleich noch jung genug, um einen Neustart hinzulegen. Wenn sie 2014 ihr Jubiläum feiern, wird nach folgender Formel gerechnet: Sprecherin: 50 Jahre sind gleich 25 Jahre DDR + 25 Jahre vereintes Deutschland. Sprecher: Bei Sherko Fatah kommt diese Rechnung nicht ganz hin, da seine Eltern nicht bis zum fröhlichen Ende der DDR ausgeharrt haben. Obwohl seine Themen nur wenig mit dem untergegangenen Land zu tun haben, entzündet sich auch seine literarische Phantasie an Diktaturerfahrungen. Sprecherin: In seinem Roman „Im Grenzland“ gerät der Protagonist, ein Schmuggler im verminten Grenzgebiet zwischen Iran, Irak und der Türkei, ins Fadenkreuz des Geheimdienstes. Ihm, der sich immer als frei und unabhängig sah, wird rasch klar, dass auch er eine Achillesferse hat, die ihn erpressbar macht: Seinen verlorenen Sohn. Zitator: „Du bist ein geduldeter Kleinkrimineller“, hob er erneut an. „Geh jetzt, wir werden sehen.“ Er erhob sich, schaltete die Lampe aus und ging betont langsam zur Tür. Der Schmuggler wusste, dass dies die letzten Sekunden waren, die er hatte. „Bitte!“ sagte er, „wann darf ich wiederkommen? Bitte – eine Zeit.“ Der dicke Mann nickte wieder und ließ ihn an die bereits geöffnete Tür kommen, bevor er flüsterte: „Du wirst morgen abgeholt.“ Sie kamen in aller Früh, zwei unauffällig bekleidete Bewaffnete in einem dunkelgrünen Landrover... (34)O-Ton(Fatah 22:25): In sehr zugespitzter Form stellt sich das Problem Einzelner und Gesellschaft eben in Diktaturen. ... Das sozusagen da nackt formuliert wird. ... Beispielsweise bei „Im Grenzland“ den Versuch des Schmugglers seine Freiräume auf bizarre Art zu realisieren. ... Das ist eine Art von Auflehnung in der zugespitzten Form hier nicht existiert, die man aber durchaus auch hier finden kann in abgemilderter Weise. (25:25): Dass mich das beschäftigt, ist klar. Und ich vermute, das hat wieder mit meinem Jahrgang zu tun. ...Wenn man in den Sechzigern geboren wurde, dann ist man wirklich noch Kind des Jahrhunderts. Dann steckt man da noch drin. Die Einflüsse kann man gar nicht vermeiden. ... Das wird man nicht los. Es wäre etwas anderes, wenn ich zwanzig Jahre später geboren worden wäre. Da könnte man schon Abschied nehmen. ... Da kommen wir auch wieder zu einer Anfangsfrage zurück: Wie ist es fünfzig zu sein? Man historisiert sich ja langsam auch ein bisschen. Das heißt, was einem auch bewusst wird, ist, dass diese Prägung da ist. ... Dass ich mich als Kind des zwanzigsten Jahrhunderts fühle, hätte ich vor zwanzig Jahren niemals gesagt. ... In lichten Momenten kann ich meine eigene Bildungsgeschichte so erkennen. Aber formuliert hätte ich das früher nie. (1,45’/25,45’) (35)O-Ton(Lentz 27:35): Das hat mit mir unbedingt auch zu tun. ... Das Unüberwindliche ist letztlich – das klingt jetzt sehr pathetisch, aber ich kann es nicht anders ausdrücken – ist der zweite Weltkrieg. Ich glaube, das teile ich auch mit einem guten Kollegen wie Marcel Beyer. Damit sind wir noch nicht fertig. (20’’) Regie: Schönberg Sprecher: In „Pazifik Exil“ versucht Michael Lentz, den zweiten Weltkrieg am Beispiel bedeutender deutscher Exilanten zu beleuchten. Lentz bezeichnet dieses Buch mit gutem Recht als Roman. Denn hier mischen sich Fakten und Fiktionen. Sprecherin: Etwa wenn sich Feuchtwanger mit Thomas Mann im Geiste über Pelikane streitet oder wenn Arnold Schönberg einem verliehenen Sessel nachtrauert, obwohl er ihn längst zurück erhalten hat. Zitator: Brecht ist nun ein feindlicher Ausländer. Am zweiten Februar 1942 lässt sich Brecht also als feindlicher Ausländer registrieren, und der Einzigartige, das Genie, erhält die Nummer 7.624.464. Ein wenig hochgegriffen. Die Zahl aber macht Brecht stolz. Wenn schon nicht die Nummer eins, dann was ganz Hohes. Im März 1942 erlassen die Amerikaner ein Ausgehverbot für feindliche Ausländer. Auch das stört ihn wenig. Es kommt auf die größeren Zusammenhänge an, ein Ausgehverbot geht vorüber, es bedeutet aufs Ganze gesehen nichts. Regie: Schönberg hoch Sprecher: Noch steht der bevölkerungsstärkste Jahrgang in der Blüte seiner Existenz. Der amerikanische Psychologe Arthure Stone will sogar herausgefunden haben, dass von Anfang dreißig bis Mitte 40 die Grundstimmung des modernen Menschen eher sinkt. Dann aber, wie durch ein soziobiologisches Wunder, fühlt man sich besser. Immer besser. Sprecherin: Schon um 1900 ist das in der Darstellung der sogenannten Lebenstreppe verdeutlicht: Vier aufsteigende Stufen von der Geburt an, dazu vier absteigende Stufen bis zum Tod. Und auf dem Podest in der Mitte steht in voller Pracht der Fünfzigjährige. Sprecher: Er steht da in gewinnender, selbstbewusster Pose. Stolz über seinen Aufstieg. Visionär in die Ferne schauend. Aber hat er auch begriffen, dass es von nun an Stufe für Stufe bergab geht? ((Sprecherin: Hälfte des Lebens Zitator: Mit gelben Birnen hänget Und voll mit wilden Rosen Das Land in den See, Ihr holden Schwäne, Und trunken von Küssen Tunkt ihr das Haupt Ins heilignüchterne Wasser. Weh mir, wo nehm’ ich, wenn Es Winter ist, die Blumen, und wo Den Sonnenschein, Und Schatten der Erde? Die Mauern stehn Sprachlos und kalt, im Winde Klirren die Fahnen. Sprecher: Hölderlin sah die Hälfte des Lebens eher bei Mitte dreißig. Dank der gestiegenen Lebenserwartung kann man da heute optimistischer sein. Sicher nicht so optimistisch, das Alter von fünfzig Jahren zur Hälfte des biologischen Lebens zu erklären, aber vielleicht zur Hälfte des schöpferischen Lebens?)) Sprecherin: Wie verändert die 50 das Schreiben eines Raoul Schrott, der Dichtung einmal als konzentrierte Art des Denkens bezeichnete? (36)O-Ton(Schrott 14:50): Dann ist natürlich die Meno-Pause der Männer. ... Insofern – all diese Dinge wie midlife-crisis, die haben mich nie so gestreift, aber das ist das, was der romantische Dichter ... Wordswoth „intimation of mortalitiy“ genannt hat. Und dieses intimation – Ahnungen und Einschüchterungen – das ist auf deutsch diese Intimationen. Das kommt einem dann so nahe – der Tod, das Sterben, die zweite Hälfte des Lebens. Das ist jetzt etwas, was jetzt sehr in den Vordergrund rückt. Die Sprache verändert, das Denken verändert, viele Dinge anders konturiert. ... Als junger Dichter interessiert einen die Vielfalt der Welt, die es zu reißen gibt. Dann hat sie etwas Barockes, dann will man ihr nahekommen. Jetzt interessiert mich eher Klarheit, eher Elementares. Jetzt ist eher eine Art existentieller Ehrlichkeit da. (1’/30’) Regie: Musikakzent. Sprecher: Jahrgang 1964. Die Früchte der Babyboomer. Ein gewaltiger Haufen von Individualisten. Sie haben einen Staat und ein ganzes Weltreich zugrunde gehen sehen, obwohl – oder gerade weil – sie nicht mehr politisiert waren. Sie sind angekommen. Sie buhlen mittlerweile nicht mehr um Literaturpreise, sondern vergeben sie. Und sie verstopfen die Institutionen. Verdammen die Jüngeren zur Generation Praktikum. Sie verdienen die Rente der Eltern. Sprecherin: Sie müssen als erster Jahrgang bis 67 arbeiten. Und werden selbst kaum noch so etwas wie eine Rente bekommen. Sprecher: Auch das ein Fluch der Masse. – Jahrgang 64: Strahlender Zenit, düsterer Horizont? (37)O-Ton(Gröschner 39:00): Es gibt Pläne, die reichen noch für zwei Leben ... Die Frage ist für mich gar nicht, wie alt bin ich, sondern: Kann ich noch arbeiten? Oder habe ich mich mit Altersarmut rumzuschlagen. Ich glaube nicht, dass es sehr rosig aussieht. Gerade für den Jahrgang 64. Wir sind viele, und wir haben keine durchgehenden Erwerbsbiografien mehr. Also als Schriftstellerin sowieso nicht. ... Ich glaube, dass das noch ein Problem wird. ... Ich glaube, wir werden das machen, was wir richtig gut gelernt haben. Ob wir jetzt Ost oder West waren. Wir haben gelernt, wie man Häuser besetzt, wie man Wohnungen besetzt, wie man sich Freiräume schafft. Ich glaube, das werden wir im Alter wieder machen müssen. Nicht weil wir es wollen, sondern weil wir es müssen. (45’’) (38)O-Ton(Fatah 34:50): Will man das eigentlich noch bis ganz zum Ende? Manchmal stelle ich mir auch vor, dass vielleicht mal ein Punkt entsteht, an dem man sagt: Gut, das war es! Ich hab eigentlich alles erzählt. Beim Erzählen ist es ja so, man erfindet immer neue Geschichten. Vielleicht hat man sie ja mal alle erzählt. Darauf wäre ich gespannt. Ob dieser Moment kommt. (20’’/32’) Regie: Musik hoch und aus. 1