COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Deutschlandrundfahrt 4. 8. 2012, 15.05 Uhr Das Friesische Flair im Wandel Nordseeinsel Föhr in Schleswig Holstein Von Mandy Schielke Ton: Bernd Friebel Regie: Roswitha Graf Redaktion: Margarete Wohlan Produktion: Deutschlandradio Kultur 2012 Atmo: Nordseewind, Wellenrauschen Autorin: 1844 will der Märchenzähler Hans Christian Andersen von Flensburg aus auf die Nordseeinsel Föhr reisen. Um die Fähre in Dagebüll zu erreichen, muss er Flensburg mitten in der Nacht verlassen. Sprecher: Der fortwährende Regen hatte Wiesen und Kornfelder zu großen Seen verwandelt, Die Dämme auf denen man fuhr, waren wie Moorgrund, die Pferde sanken tief hinein...Mehrere Stunden gingen über jede Meile hin - endlich lag die Nordsee mit ihren Inseln vor mir. Ich traf zur Flutzeit ein, der Wind war günstig. Und in kaum einer Stunde gelangte ich nach Föhr hinüber, welches mir nach der beschwerlichen Reise wie ein Feenland erschien. Kennmelodie Sprecher 2: Das Friesische Flair im Wandel. Nordseeinsel Föhr in Schleswig Holstein. Eine Deutschlandrundfahrt von Mandy Schielke. I. DAS ERSTE NORDFRIESISCHE SEEBAD Atmo: Wellen Autorin: Die Überfahrt von Dagebüll nach Föhr hat immer noch etwas Magisches. Die Dreiviertelstunde auf dem Meer löst einen von den Gedanken des Alltags - mehr als es die Stunden zuvor im Zug oder im Auto vermögen. Fast jede Stunde landet im Sommer eine Fähre im Hafen des Seebades Wyk auf Föhr - jeweils mit mehreren Hundert Gästen und bis zu 70 Autos. Atmo: Ankunft Fähre, Kreuzblende Stimmen am Strand 1. O-Ton Heinz Lorenzen: 21 1.00 Mein Name ist Heinz Lorenzen. Ich bin der Bürgermeister der Stadt Wyk auf Föhr. Wir sind hier gerade an der Hauptflaniermeile der Stadt Wyk, gucken auf das Strandtreiben. Haben hier die Mittelbrücke direkt vor uns und im Hintergrund sehen wir die Fähren, die heute an einem der großen Wechseltage, die Gäste von der Insel bringen und vor allem auf die Insel bringen. Autorin: Der 66-Jährige sitzt an einem blauen Samstagnachmittag auf einer Bank auf der Promenade und beobachtet das Treiben am Strand: Beine, die aus Strandkörben rausgucken, Kinder im Sand, Badende in den Wellen des Meeres. Wyk ist die einzige Kleinstadt auf der 82 Quadratkilometer großen Insel. Knapp 4500 Einwohner. Auf der ganzen Insel leben 9000 Menschen. In den Sommermonaten vervierfacht sich die Bevölkerung auf Föhr. Und trotzdem gebe es für alle ausreichend Platz. 2. O-Ton Heinz Lorenzen: 21 8.4 Der Platz ist geschaffen worden. Es wird ja immer noch reichlich gebaut, wobei wir auch versuchen, die Bautätigkeit einzuschränken, um die Insel nicht voll zu bauen. Wenn Sie an einem Tag wie heute - sonnig, warm, Badewetter - einmal den ganzen Strand von Wyk nach Utersum laufen würden, würden Sie immer Stellen finden, wo sie denken, ja hier bin ich ganz allein. Autorin: Bald wird am Südstrand ein modernes Luxushotel entstehen - in einer Lichtung, wo jetzt noch ein großer Schuttberg liegt. Vier Sterne Plus, so beschreibt der Bürgermeister den geplanten Hotelzuwachs in bester Lage für seine Stadt. Atmo: am Strand ohne Stimmen Autorin: Anfang des 19. Jahrhunderts setzt sich der Landvogt von Colditz in den Kopf, in Wyk ein Bad an der offenen See zu errichten. Wyk ist ein Geschenk der Natur, findet er, und gewinnt 20 Unternehmer, die dort 1819 das erste nordfriesische Seebad errichten. Der dänische König unterstützt das Ganze. Nach seiner Tochter wird es "Wilhelminen Seebad auf Föhr" genannt. Der Badebetrieb nimmt Fahrt auf. Bald kommen die Gäste auch deshalb, weil der Aufenthalt auf der Nordseeinsel gesellschaftliches Leben abseits vom Alltag verspricht. Die ersten Kurgäste sind Dänen. Sie kommen aus einem Staat, der damals von Kopenhagen bis Altona reicht. Die Promenade am Sandwall wird angelegt. Hans Christian Andersen, der als Gast des dänischen Königs nach Wyk reist, notiert in sein Tagebuch: Sprecher: Auf dem Sandwall zwischen Hafen und Strand sind ein Tanzplatz mit Fahnen errichtet worden. Böhmische Musikanten spielten, die Wellen wälzten sich an den Strand, die Halligen lagen wie Archen des Noah auf dem Wasser. Am Abend war es herrlich sternenklar, die roten Flaggen wehten in der Luft, schlechte Beleuchtung, Bauernmädchen und Bürgertöchter tanzten mit Seeleuten und Bauern. Atmo: Kurmusik Autorin: Auch jetzt wird aufgespielt. Kurmusik nennt der Bürgermeister das, was da aus dem Pavillon am Sandwall schmettert. Vor der Bühne sind halbkreisförmig Bänke aufgestellt. Mittendrin eine ältere Dame im Glück. Sie singt mit, immer wieder schließt sie genüsslich die Augen und dreht ihren Kopf im Takt. Auch eine Stunde später wird sie noch auf demselben Platz sitzen und das Gleiche tun. Die Sonne scheint und alle Sorgen scheinen weg zu sein. Dabei ist es am Sandwall an einem Sonnabend in der Saison ziemlich voll. Mit dem Fahrrad ist kein Durchkommen mehr. Die Stühle vor den Cafès sind bis zum letzten Platz besetzt. Niemanden scheint hier die laute Musik der Band beim Entspannen zu stören. Atmo: Kurmusik 3. O-Ton Heinz Lorenzen: 21 13.35 Die größte Herausforderung besteht wohl darin, den richtigen Weg zu beschreiten - einmal das Ruhige, Beschauliche der Insel zu bewahren und auf der anderen Seite doch mit der Zeit gehen und die touristische Infrastruktur so gestalten, dass der Tourismus hier auch zukunftsfähig wird. Autorin: Denn die Ansprüche vieler Feriengäste, die auf die Nordseeinsel Föhr reisen, sind gewachsen. Außerdem kommen immer mehr zahlungskräftige Touristen auf die Insel, die sich nicht so gut zwischen Menschenmassen und Kurmusik erholen können. 4. O-Ton Heinz Lorenzen: 21 15.41 Wir haben seit zig Jahren immer versucht, ein höherwertiges Hotel hier anzubieten, weil wir sehen, dass viele Gäste hier auf die Insel kommen möchten, die aber ein entsprechendes, ansprechendes Quartier vermissen. Der Vermietungssektor ist hier ja so gewachsen, dass es in erster Linie Privatvermieter sind, die ihre Zimmer zur Verfügung stellen, dann wurden sehr viele Ferienwohnungen gebaut - auch von hoher Qualität, die gut angenommen werden. Aber es fehlt ein höherwertiges Hotelangebot. MUSIK 1 Titel: Summer Wind Interpret: Frank Sinatra Komponist, Text: Henry Mayer, Johnny Mercer Label: Reprise Records, LC-Nr. 00322 II. SEEFAHRERGESCHICHTEN AUS STEIN Atmo Friedhof Autorin: Etwa sechs Kilometer von Wyk entfernt steht ein Mann mit Schirmmütze auf dem Friedhof vor einer riesigen romanischen Kirche. Seine Augen sind hellblau und klar. Nikels Olufs ist 74 Jahre alt, geborener Föhrer, und führt jeden Donnerstag Feriengäste über den leicht hügeligen Friedhof von Nieblum, eines der sechzehn Friesendörfer auf der Insel. Die alten, matten Grabsteine zwischen hohem Gras und Wiesenblumen sind bis zu 400 Jahre alt und erzählen seiner Meinung nach jede Menge über das Leben auf der Insel. 5. O-Ton Nickels Olufs: 6 6.46 Können Sie alle einigermaßen sehen. Autorin: Im 17. und 18. Jahrhundert fuhren Föhrer Seeleute auf niederländischen und englischen Schiffen nach Grönland zum Walfang. In dieser Zeit kam der Reichtum auf die Insel. Auf den Grabsteinen sind so immer wieder prächtige Schiffe zu sehen, darunter Schrift mit schnörkeligen Buchstaben. Sätze, die kaum zu entziffern sind. Sie erzählen von den Heldentaten Föhrer Kapitäne, von Abenteuern im Eismeer, Liebesgeschichten und bösen Schicksalsschlägen. 1777 gingen zehn Schiffe im Eismeer unter. 44 Mann pro Schiff. An Bord viele Seeleute der Insel. Atmo: Schritte Friedhof 6 5.54 plus 13.00 plus 14.00 6. O-Ton Nickels Olufs: 6 7.00 plus 8.25 Hier haben wir auch den Grabstein eines Kapitäns. Rört Knuten. Das ist ein Schiff mit vollen Segeln. Das war sein fünftes Schiff. Er hatte als erfolgreicher Kapitän von seinem holländischen Reeder ein ganz neues, größeres Schiff bekommen, das war auch eine Auszeichnung, geriet aber in einen Sturm, die Eisschollen drängten sich zusammen und zerdrückten das Schiff und das Schiff ging verloren. Das hat ihn so beeindruckt, dass er das auf dem Grabstein dargestellt hat. Das Schiff ging verloren, aber die gesamte Besatzung wurde gerettet. Autorin: Jahrhunderte lang war das Leben der Föhrer von den Gewalten der Natur bestimmt. Sie rangen mit Sturmfluten und trotzten dem unfruchtbaren Boden der Insel ab, was sie konnten. 7. O-Ton Nickels Olufs: 6 0.53 Die Seeleute, die auf Walfang fuhren, fuhren im Februar weg und kamen Ende September, Anfang Oktober wieder zurück. In der Zwischenzeit war es den Damen überlassen, die Kinder zu erziehen, den Acker zu bearbeiten, die Kuh zu melken. Wie es damals eben so üblich war. Und wenn der Mann nicht wiederkam oder keine Beute hatte, dann bekam die Frau kein Geld. Autorin: Die Geschichten seiner Vorfahren liegen ihm am Herzen. Sie erzählen von robusten Menschen, die auch miteinander nicht zimperlich waren. Denen das Inselleben manchmal zu eng wurde und die sich schon mal für tot erklären ließen, wenn sie ihrer Ehefrau entkommen wollten. Nikels Olufs ist ein guter Geschichtenerzähler. Gespannt folgen ihm die Kurgäste durch das hohe Gras zwischen den Grabsteinen, bis er wieder zum Grab eines Föhrer Seemanns gelangt. Er legt seinen Arm über die obere Kante. 8. O-Ton Nickels Olufs: 6 2.08 plus Er war das erste Mal verheiratet mit einer Frau die starb mit 24 Jahren im Kindbett, dann hat er die Schwester seiner Frau geheiratet, die starb mit 48, dann hat er eine Kapitänswitwe geheiratet, die starb mit 50, dann hat er noch einmal eine Kapitänswitwe geheiratet, die hat ihn dann allerdings überlebt. Die wurde 93. Und mit allen vier Frauen gab es Kinder. Jetzt kommen wir zu dem Stein selbst. Der Anker ist das Symbol. Hier oben steht es. Der Friedenshafen ist erreicht. Ich habe meinen letzten Anker geworfen. Dann haben wir auf den Spitzen des Ankers zwei Vögel. Der Vogel war das Symbol für die Seele. Autorin: Die mit den Vögeln in den Himmel fliegen sollte. Die Föhrer waren besonders beliebte Steuermänner, sagt Nikels Olufs. Das war das intellektuelle Kapital der Inselbewohner. Im Winter gab es auf Föhr private Nautikschulen, die sicher stellten, dass das auch so blieb. Als die Insel nach dem Preußisch-Dänischen Krieg 1864 vollständig an Preußen geht, werden diese privaten Schulen nicht mehr gestattet. Und so endet dann auch diese goldene Zeit für die Föhrer. 9. O-Ton Nickels Olufs: 7 0.51 In Föhr sagen wir immer, wir haben drei goldene Zeitalter gehabt. Das erste war die Salzsiederei, da hat man sich zwar selbst das Wasser abgegraben, dann kam der Walfang und die dritte Periode ist der Tourismus. Autorin: Und mit dem Tourismus besinnt man sich auf der Insel auch wieder stärker auf die Geschichte, lässt die alten Steine aus der Vergangenheit restaurieren oder erst einmal bergen. In Scheunen, Ställen und Gärten. Die Seefahrt spielt für die Föhrer heute kaum noch eine Rolle. Atmo: Wellen/Meer Sprecher: Auf dem hohen Küstensande Wandre ich im Sonnenstrahl; Über die beglänzten Lande Bald zum Meere, bald zum Strande Irrt mein Auge tausendmal. Aber die Gedanken tragen Durch des Himmels ewig Blau Weiter, als die Wellen schlagen, Als der kühnsten Augen Wagen, Mich zur heißgeliebten Frau. Und an ihre Türe klink ich, Und es ruft so süß: Herein! Und in ihre Arme sink ich. Und von ihren Lippen trink ich, Und aufs neue ist sie mein. Atmo: Wellen/Meer Sprecherin: Auf dem hohen Küstensande von Theodor Strom...der Dichter war einmal mit einer Föhrerin verlobt. MUSIK 2 Titel: The snow before us Interpret: Charles Atlas Komponist: M.Greenberg/Ch.Wyatt/S.Galvagna Label: Rhino, LC-Nr. 02982 III. FRIESISCHE WOHNKULTUR - UNTERWEGS IN NIEBLUM Autorin: Boldixum, Oevenum oder Borgsum - die Namen der Inseldörfer erinnern an Ortschaften aus Asterix-Comics. Im Friesendorf Nieblum - zehn Minuten vom Strand entfernt - glaubt man, in die Kulisse einer Astrid Lindgren Geschichte geraten zu sein. Weißgestrichene Backsteinhäuser, vor denen üppige Rosenstöcke wachsen, Fensterläden, buckliges Kopfsteinpflaster und überall Linden, die Schatten spenden. 10. O-Ton Bodo Vogel: 16 5.54 Wenn wir hier im Ort herum gehen, sehen Sie, dass zwischen 1700 und 1770 die meisten Häuser gebaut sind. Autorin: Die Jahreszahlen sind an die Häuser geschlagen und stammen aus der Zeit, als die Seeleute von der Insel Wale jagten und damit gut verdienten. Bodo Vogel ist Restaurator für historische Bausubstanz. Seit vier Jahren arbeitet er auf Föhr und konserviert dort die Vergangenheit. Nieblum ist denkmalgeschützt. Die Fassaden dürfen nicht verändert werden. Vor einem frisch renovierten Reetdachhaus in der Strandstraße bleibt er stehen, und dann erläutert er das Prinzip Friesenhaus. 11. O-Ton Bodo Vogel: 16 33.12 Das ist ein relativ kleines Haus. Aber die Struktur ist immer dieselbe. Relativ in der Mitte die Tür. Und dann darüber der Frontspieß. Autorin: Der Giebel über der niedrigen Eingangstür, der aus dem dichten Reetdach rauslugt. 12. O-Ton Bodo Vogel: 16 10.50 Dieses Zwerghaus gibt es deshalb, nicht weil da oben noch ein belichteter Raum sein soll, sondern damit man beim Brand noch aus dem Haus flüchten kann. Weil sonst fällt das Reet brennend vom Dach und bildet um das Haus einen Kreis, den man nicht mehr durchschreiten kann. Atmo: 16 37.03 Vogel schließt das Haus auf... Autorin: Der Restaurator schließt in der Strandstraße eine Haustür auf, und dann steht er schon mitten im Flur. Niedrige Decken. Links eine Stube, rechts eine Stube, jeweils knapp 20 Quadratmeter. 13. O-Ton Bodo Vogel: 38.06 Die Wände sind relativ dünn. Größtenteils sind sie aus Holz. Das heißt wir hatten gar nicht die Möglichkeit, die Leitungen unter dem Holz verschwinden zu lassen. Und deswegen haben wir uns entschieden, es so zu machen wie es auch gemacht wurde, als die Elektrik neu auf die Insel kam. Autorin: Und deswegen sind die Leitungen über den altmodischen Drehschaltern auch zu sehen. Über zwei Jahre war Bodo Vogel in diesem Haus aus dem 18. Jahrhundert mit seinem Team beschäftigt. Das Haus gehört einer Familie aus Frankfurt. Bodo Vogel sagt, dass er sich in das Haus eingefühlt hat. Bevor irgendein Werkzeug ins Spiel kam, hat er Stunden allein in dieser alten Behausung verbracht. Hinter Verkleidungen fand er Spuren aus der Vergangenheit. Alte Kacheln und sogar einen Alkoven, einen Wandschrank, besser gesagt ein Wandbett, in dem die Menschen vor 250 Jahren nachts schliefen. 14. O-Ton Bodo Vogel: 45.55 plus 48.25 Das ist etwa ein Meter siebzig lang. Die haben im Sitzen geschlafen. In diesem Teil haben zwei Leute geschlafen. Der eine mit dem Kopf da, der andere mit dem Kopf hier. So haben sie alle gewohnt. Autorin: Die Schätze waren hinter eingezogenen Wänden und Brettern verborgen. Das Haus war immer bewohnt, doch alles Altmodische hatte man zugeklebt und vernagelt. Auf dem Dachboden des Hauses fand der Restaurator beispielsweise die verzierten Holztüren, die das Wandbett in der Stube einst verschlossen haben. All das hat er aufgearbeitet. Die alten Kachelwände sehen aus wie neu. Auch die Balken, die das Dach tragen, hat er akribisch repariert. 15. O-Ton Bodo Vogel: 48.05 Ganz kleinteilig haben wir die schadhaften Stellen raus genommen und neues Holz eingefügt. Atmo 56.28 Türdrücker... Autorin: Alles, was irgendwie zu retten ging, hat er mit seinen Leuten gerettet. Die Tür zum Stall, wo sich jetzt ein ziemlich luxuriöses Bad befindet, alte Türdrücker und Profile, schmiedeeiserne Beschläge. Begeistert wie ein Junge erzählt der große, kräftige Mann, der, bevor er auf die Insel kam, in Schlössern und Kirchen alte Bausubstanz rettete, von seiner Puzzelarbeit. Trotz der vielen historischen Details ist dieses Friesenhaus aus dem 18. Jahrhundert natürlich kein Museum, sondern ein Wohnhaus. Ein temporäres Wohnhaus. Ein Ferienhaus. Die helle Holzküche sieht zwar irgendwie altmodisch aus, ist aber mit jeder Menge Hightech gefüllt. Moderne Ansprüche und geschichtliche Authentizität. Atmo: Auf der Straße Autorin: Dann tritt Bodo Vogel wieder nach draußen und biegt in die nächste Straße ein. Er hält an einem der unzähligen Reetdachhäuser an und blickt durchs Fenster. Äußerlich wirkt es so traditionell wie die anderen Häuser. Innen jedoch wurde es vollständig entkernt. Neben der Eingangstür stechen vier kleine Metallstifte aus dem Mauerwerk. 16. O-Ton Bodo Vogel: 16 7.40 plus 29.19 plus 29.30 Es hing hier eine Tafel, dass sich der ursprüngliche Eigentümer besonders für den Erhalt des Dorfes eingesetzt hat. Und dieses Haus ist jetzt in andere Hände gekommen. Man hat das Ganze Innere herausgenommen. Es ist nichts mehr drin - keine einzige Innenwand obwohl es barocke Türgewände gab. Es gab einiges Interieur, das relativ alt war. Hier saniert man jetzt nach - sagen wir mal - modernen Gesichtspunkten. Außen sieht es aus wie ein Friesenhaus und innen ist es so toskanischer Lifestyle. Man merkt, es kommen Ideen von irgendwo her und der Bauherr realisiert jetzt seine Ideen ohne Rücksicht auf das, was da ist. Atmo: Im Dorf... Autorin: Auf der Insel wird in letzter Zeit jede Menge renoviert, sagt Bodo Vogel. Und deswegen sei es auch schwer, gute Handwerker zu bekommen. Alle sind gut beschäftigt. Überhaupt waren die Föhrer handwerklich immer sehr begabt, sagt Bodo Vogel, davon zeugen die feinen Tischlerarbeiten, die er jetzt gelegentlich wieder aufmöbeln darf. Die Straßen im Dorf heißen Bi de Süd, Barbendörpstieg oder Poststrat. Auch das klingt nach Vergangenheit. MUSIK 3 Titel: The Summerhouse Interpret: The Divine Comedy Komponist: Neil Hannon Label: Movement, LC-Nr. 02171 IV. ABGESCHIEDENE WELTOFFENHEIT - EIN EWIGES HIN UND HER 17. O-Ton Birgit Wildemann: 15 0.26 Ich habe den Eindruck, es gibt ungefähr drei große Gruppen von Föhrern. Das eine ist die Gruppe der Urfriesen, die hier schon seit Jahrhunderten leben, die Insel mit aufgebaut haben und immer wieder vor den Fluten gerettet haben. Das andere sind die Zugezogenen, die vielleicht auch schon seit 50, 60 Jahren hier wohnen, aber auch nie richtig einheimisch werden können, dazu muss man wirklich hier geboren sein, und das dritte sind die Gäste, die Touristen. Und zwischen den drei Gruppen ein harmonisches Miteinander zu erreichen, das ist gar nicht so einfach. Autorin: Birgit Wildemann ist 47 Jahre alt, in Westfalen aufgewachsen und gehört zur Gruppe der Zugezogenen. Ursprünglich wollte sie nur mal drei Monate überwintern. Das ist jetzt zwanzig Jahre her. Auf Föhr hat sie eine Familie gegründet und arbeitet seit einigen Jahren in der St. Johanis Kirche in Nieblum als Organistin. 18. O-Ton Birgit Wildemann: 15 4.09 Mich fasziniert an dieser Kirche nicht nur die Größe, sondern auch die Schlichtheit, den der romanische Stil ja auch so mit sich bringt. Und es ist auch nicht viel verändert worden seit der Erbauung. Und so sind diese wuchtigen Rundbögen und die kahlen Steinmauern und auch die kleinen Fenster sehr beeindruckend und bieten sehr viel Raum auch um Musik zu machen. Und dann kommt hinzu, dass diese große Kirche auf einem sehr schönen, idyllischen Stück Natur steht. Man ist umgeben von Meer und von Vögeln, Feldern und von Ebbe und Flut, und doch ist hier so ein großer Kirchenraum... Atmo: ab 15.00 Stufen hinauf zur Orgel Autorin: Dann steigt die große, schlanke Frau in Jeans die engen Stufen zur Orgel hinauf, zieht die Stiefel aus und setzt sich an ihr Instrument. 19. O-Ton Birgit Wildemann: 19.16 "Meine Vertretung hat das ganz anders eingestellt... Atmo/Musik: ab 20.50 Orgelmusik ruhiger... Autorin: Die St. Johanis Kirche ist die älteste und größte Kirche der Insel. Das romanische Gotteshaus stammt aus dem 12. Jahrhundert und wurde erbaut, als Föhr noch gar keine Insel war, sondern zum Festland gehörte. Sturmfluten haben sie zu dem gemacht, was sie jetzt ist. Eine Insel, auf der immerhin die größte Dorfkirche Schleswig-Holsteins steht. Friesendom sagen manche. Aber das hören die Einheimischen nicht so gern. Denn mit dem Katholizismus hat man hier nichts zu tun. Birgit Wildemann hat in Köln und Amsterdam studiert. Jetzt organisiert sie Sommerkonzerte in der Kirche, lädt Musiker aus ganz Deutschland auf die Insel ein, und manchmal kämpft sie gegen die Einsamkeit. 21. O-Ton Birgit Wildemann: 5.10 plus 6.25 Die Natur und die Abgeschiedenheit, der weite Horizont, aber genau diese Punkte sind auch oft eine große Schwierigkeit. Die Abgeschiedenheit, dass man sehr weit fahren muss, um andere Städte oder seine Freunde und Verwandten zu besuchen. Die Abhängigkeit von der Fähre, die dann auch nicht fährt, wenn die Witterung es nicht erlaubt. Auch der nicht immer so weite Horizont der Menschen, mit denen man hier zu tun hat. In den ersten zehn Jahren hätte ich mir auch gar nicht vorstellen können, die Insel zu verlassen, weil es einfach so viel Schönes bietet. Das Auge muss sich nicht verstecken wie in den Großstädten, man muss sich nicht schützen vor den ganzen anderen Einflüssen. Und dann hat sich das auch geändert, mir fehlte auch viel Austausch, Impulse, Freunde, andere Musiker, mit denen ich etwas zusammen unternehmen kann. Autorin: Sie wohnt mit ihren Kindern in Wrixum, in einem Friesenhaus. Als sie kürzlich von einem Aufenthalt vom Festland zurückkam, fand sie einen Brief ihres Vermieters im Postkasten. Ihr Haus ist verkauft worden. Ob sie als Dauermieterin bleiben darf, ist ungewiss. Atmo/Musik: ab 20.50 Orgelmusik ruhiger... (eventuelle Blende in Sebastian Bachs Preludium H-Moll) Autorin: Inseln haben immer etwas Abgeschiedenes. Aber es gibt auch ein ständiges Hin und Her. Nicht nur durch Feriengäste. Auf Föhr jedenfalls scheint es immer eine gewisse Sehnsucht nach der weiten Welt hinter dem Watt gegeben zu haben. Wenn es auf der Insel keine Arbeit gab, sind die Menschen schon früher nicht einfach nach Dagebüll gezogen, in den nächsten Ort auf dem Festland, sondern es ging immer weit weg. Nach Amerika beispielsweise. Nikels Olufs, der Geschichtenerzähler vom Friedhof in Nieblum, arbeitete in San Francisco. Auch sein Vater lebte dort eine zeitlang als Delikatessenhändler. Olufs habe mehr Vettern und Cousinen in Amerika als auf Föhr. Auch so eine Eigenart dieser Insel. Atmo: Möwenkreischen 22. O-Ton Marga Wrobel 24 9.20 Ich hatte immer ein Fernweh. Schon als ich klein war und von den Kurgästen hörte, die vom Festland kommen. Da war ich immer neugierig aufs Festland, und wenn die Leute gesagt haben, Dich nehmen wir mit, dann habe ich das ernst genommen. Dann habe ich meinen kleinen, roten Kinderkoffer gepackt und hab gedacht: so, jetzt fahr ich aufs Festland. Meine Mutter musste mich einsperren, wenn die wegfuhren. Ich wollte so gerne weg. Immer weg. Autorin: Marga Wrobel sitzt vor ihrem Wohnhaus auf einer Bank aus gestrichenem Holz. Sie will ins Watt. Der Wind bläst durch die Linden und sie erzählt von ihrer Kinderzeit auf Föhr, von Kurgästen in den 60er Jahren, die schon Bubikopffrisuren trugen, als sie noch zwei lange Zöpfe hatte, von Mädchen, deren Beine in roten Lederhosen steckten. All dieses andere, was von Außen kam, so sagt sie selbst, habe sie immer sehr gereizt. 23. O-Ton Marga Wrobel 24 2.10 Die Sommer waren immer schon von Kurgästen bestimmt. Sechs Wochen wurde vermietet und das war für mich eigentlich eine ganz tolle Zeit - die Kinderzeit mit Kurgästen. Fünf, sechs Familien, die immer wieder kamen, alle hatten Kinder, jeder hatte seine festen Freundschaften, jedes Jahr wieder. Autorin: Irgendwann in den 50er Jahren beginnen mehr und mehr Leute auf der Insel, im Sommer ihre Schlaf - und Kinderzimmer an Feriengäste zu vermieten. Sie rücken derweil näher zusammen oder ziehen auf den Dachboden. Küche und Bad teilt man sich. So wird auch Marga groß. Föhr ist nach dem Krieg eine bitterarme Insel, sagt sie. Nur den Bauern geht es gut. Die anderen - wie auch ihr Vater - ziehen weg. Die Frauen bleiben mit den Kindern auf Föhr. 24. O-Ton Marga Wrobel 24 3.05 Mein Vater ist nach Amerika ausgewandert, 1955. Ich glaub das ging vielen Familien so, die hatten einfach keine existenzielle Grundlage. Mein Vater war Brückenbauer, er war Tischler und somit als Brückenbauer dort beschäftigt und hat ganz schön viel Geld verdient, und damit hat er dann später Dusche und Toilette so etwas gebaut. Bis dahin hatten wir wirklich ein Plumpsklo draußen. Autorin: Mit fünfzehn verlässt auch Marga Wrobel die Insel, zieht nach Hamburg und macht dort eine Ausbildung zur Technischen Zeichnerin. Anfang der Siebziger zieht sie nach West-Berlin. 25. O-Ton Marga Wrobel 24 11.30 Die Siebziger Jahre haben mich auch unheimlich geprägt. Die haben mich auch selbstständig gemacht. Frauenbewegung in Berlin. Das war so neu und so toll und hat mich auch zu dem gemacht, was ich jetzt bin. Dass ich selbstständig denken kann. Das war eine gute Zeit. Autorin: Sie lebt zu einer Zeit in der Großstadt, als diese eine Exklave in der DDR ist, als David Bowie dort wohnt und Alben aufnimmt, dem Westberlin der Siebziger und Achtziger Jahre, nach dessen Spuren Hipster aus der ganzen Welt jetzt auf geführten Stadttouren suchen. Als Marga Wrobel mit ihrem Ehemann eine Familie gründet, will sie - vor allem der Kinder wegen - zurück nach Föhr. Nach siebzehn Jahren. 26. O-Ton Marga Wrobel 12.21 Ich wollte nicht, dass die da zwischen Abgasen und Umweltproblemen, dass die da in Berlin aufwachsen. Das war zwar für mich super, aber für meine Kinder da wollte ich das nicht. Ich wollte, dass die einen Garten haben, frei sind. Autorin: Und auch das ist mittlerweile wieder zwanzig Jahre her. Marga Wrobel ist inzwischen Ende fünfzig und lebt mit ihrem Ehemann immer noch auf der Insel. Ihre beiden Söhne sind auf dem Festland. Das Hin und Her geht weiter. Atmo: Wellen/Meer Sprecher: Ans Haff nun fliegt die Möwe, und Dämmerung bricht herein Über die feuchten Watten Spiegelt der Abendschein Graues Geflügel huschet Neben dem Wasser her Wie Träume liegen die Inseln Im Nebel auf dem Meer Ich höre des gärenden Schlammes Geheimnisvollen Ton, Einsames Vogelrufen - So war es immer schon Noch einmal schauert leise Und schweiget dann der Wind; Vernehmlich werden die Stimmen, die über der Tiefe sind. Autorin: "Meeresstrand" von Theodor Storm MUSIK 4 Titel: Stone on the water Interpret: Badly drawn boy Komponist: Damon Gough Label: XL Recordings, LC-Nr. 05667 V. INSEL DER SYLTFLÜCHTLINGE? Autorin: Gezeitenströme überfluten das Wattenmeer zweimal täglich. Die nordfriesische Insel Föhr liegt im Wattenmeer geschützt hinter ihren Schwestern Amrum und Sylt. Platt wie ein Kuchenblech. Sylt wurde übrigens von Föhr aus als Badeort entdeckt. Und doch war Sylt immer die bekanntere Insel. Föhr hat ein milderes Klima als Sylt und ist deshalb ideal für Kinder. Immer noch reisen jede Menge Familien nach Wyk und Umgebung. Und auch Fahrradfahrern kommt die flache Beschaffenheit der Insel sehr entgegen. Inzwischen - so sagen viele - treibt es auch immer mehr Syltflüchtlinge auf die Insel. Der 74-Jährige Nikels Olufs, der immer donnerstags Führungen auf dem Friedhof in Nieblum anbietet und in Witsum wohnt, weiß wovon die Rede ist. 27. O-Ton Nikels Olufs: 14 13.14 Ich hab einen Syltflüchtling bei mir auf der Seite wohnen und der sagt, die stehen in den Gärten an den Fenstern und gucken rein und, und, und. Dann hab ich ihn gefragt, ob ein Haus für 1,3 Millionen für einen Ferienaufenthalt nicht ein bisschen viel wäre, und da hat er mir zurück gesagt, das wäre ein Schnäppchen. Ich sage, wieso ist das ein Schnäppchen. Ja, er hätte sein Ferienhaus für 3,4 verkauft. Dann ist es ein Schnäppchen. Autorin: Auf Föhr boomt der Immobilienmarkt. Auch im Feenland gibt es Gentrifizierung. Immer mehr wohlhabende Menschen vom Festland erwerben alte Friesenhäuser, verwandeln sie in luxuriöse Ferienhäuser und verdrängen die Einheimischen aus den Dorfkernen. 28. O-Ton Bodo Vogel: 32.22 Die Konjunktur hat hier derart angezogen in den letzten zwei Jahren seit der Krise. Alle Leute, die Geld haben, investieren eben auch in Immobilien und das macht sich hier bemerkbar. Also der Markt ist ziemlich leer gefegt, wenn Sie in die Schaukästen der Immobilienmakler hier gucken. Das heißt das Angebot ist klein, die Nachfrage ist groß. Das heißt die Preise steigen. Ich würde mal sagen 20 bis 25 Prozent in den vergangenen zweieinhalb Jahren. Autorin: Entwicklungen, die derzeit in deutschen Großstädten zu beobachten sind, machen sich auch auf der Nordseeinsel bemerkbar. Dabei ist es grundsätzlich gar nichts Neues, das sich Menschen vom Festland alte Häuser auf der Insel kaufen. Das gab es auch schon vor zwanzig Jahren. Einer der Aldi-Brüder beispielsweise besaß lange ein Ferienhaus auf der Insel. Doch das Phänomen hat sich verstärkt, findet der Restaurator Bodo Vogel. Im Ortskern von Nieblum steht er auf dem Kapitän Paulsen Weg und dreht sich um die eigene Achse. 29. O-Ton Bodo Vogel: 19.10 Das ist ein Ferienhaus, das ist ein Ferienhaus...dort ist ein Ferienhaus, dort ist noch ein Laden und dann gibt es noch zwei Häuser dazwischen. Da sind zwei alte Leute und wenn die sterben, dann werden das Ferienhäuser. Atmo: Möwe 30. O-Ton Bodo Vogel: 16 31.28 Die Alteigentümer, die es sich in der Regel nicht leisten können, das so zu sanieren, dass man es dann auch noch teuer vermieten kann, die sind einfach gezwungen, die Häuser zu verkaufen. Davon gibt es eine ganze Reihe. Insbesondere in der Generationenfolge. Die jungen Leute, die was werden wollen, müssen einfach aufs Festland, sehr häufig kommen sie nicht zurück. Und die Besitzer der Häuser haben dann mehrere Kinder und keiner kann es sich leisten, den anderen auszuzahlen, geschweige denn die Sanierungskosten dann noch zu tragen. Und dann wird das Haus verkauft. Autorin: Und so stehen vor den niedrigen Häusern inzwischen immer mehr glänzende Geländewagen, die vor den altmodischen Häusern wie riesige Fremdkörper wirken. Und doch hat das Ferienleben auf Föhr wenig mit dem Promi und Pseudo-Promi Jet- Set-Lebensgefühl, für das Sylt bekannt ist, zu tun, sagt Bodo Vogel. Die Geschichte von der Syltisierung der Insel ist seiner Meinung nach ein Gerücht, das eine Immobilienfirma gestreut hat, um Föhr für potente Kunden noch interessanter zu machen. 31. O-Ton Bodo Vogel: 17 12.00 Wenn man von Versylterung spricht, dann muss man erst einmal zwei Dinge auseinander halten. Sylt hat einen bestimmten Life-Style und das gibt es bei den Föhr-Besuchern nicht und das wird es auf absehbare Zukunft nicht geben. Es gibt keine Sansibar, man kann nicht in solche hochwertigen Etablissements gehen - egal ob Bar oder Restaurant. Es gibt hier auf der Insel vielleicht zwei, drei Restaurants, die ein bisschen höher angesiedelt sind. Und da kann jeder hingehen und fühlt sich nicht wie eine Weihnachtsgans. Die Preise sind zivil und dass man sich hier zeigt, hier bin ich, zeigt, was man hat, das gibt es hier nicht. Autorin: Bars mit Liegesofas, auf denen Feriengäste im Sonnenuntergang Cocktails trinken, lassen sich auf Föhr trotz akribischer Suche nicht finden. Die Nächte sind so still wie vor fünfzig Jahren. Und gleichzeitig freuen sich viele Einheimische über die zahlungskräftigen Kunden auf der Insel. Marga Wrobel beispielsweise. In drei kleinen Räumen ihres Wohnhauses aus rotem Backstein, das 1845 gebaut wurde, betreibt sie ein Geschäft für Inneneinrichtung. Atmo: 24 20.00 innen 32. O-Ton Marga Wrobel 24 21.00 Bettwäsche aus Bayern, aus Süddeutschland, die wird auch dort genäht, Servietten aus Schweden, die weben sie schon seit fast 100 Jahren, Leinentücher. Dann habe ich immer wieder ein Faible für blau-weiß Porzellan. Geschirr, Lampenschirme. Alte Knöpfe für die Kommoden. Garderoben aus altem Holz. Autorin: In ihrem Geschäft gibt es Altes und Neues. Vintage würde man in Köln oder Hamburg sagen. Auch dieser Ort wirkt verträumt, wie ein Ort aus einem alten Roman. Bemalte Hocker, elegante kleine Möbel aus England, Teppiche aus Skandinavien. Stoffe aus Mailand, Handgewebtes aus Afrika. Einmal im Jahr fährt Marga Wrobel nach Paris, kauft dort auf einer Messe Produkte aus der ganzen Welt und bringt so auf gewisse Weise ihr Fernweh auf die Nordseeinsel Föhr. Einigen der temporären Inselbewohner hat sie beim Einrichten ihrer Friesenhäuser geholfen. In ihrem Geschäft steht sie jetzt vor einem Regal mit alten Kacheln, die ein Föhrer bei ihr in Kommission gegeben hat. 33. O-Ton Marga Wrobel 22.10 Blau berührt mich richtig, ist einfach etwas, das hier in die Häuser gehört. Die Kapitäne haben die blau-weißen Dinge hier her gebracht. Wie diese alten Kacheln hier an der Wand. Das sind Delfter Kacheln, die die Kapitäne mitbrachten. Und je wohlhabender sie waren, umso mehr blau weiße Kacheln gab es in den Häusern. Das ist etwas sehr charakteristisches für Föhr. Autorin: Auch ihr Vater betrieb nach seiner Rückkehr aus den USA auf der Insel Ende der fünfziger Jahre ein Geschäft - einen Laden, in dem er Kuhdecken, Spielsachen und Spalttabletten verkaufte. Damals gab es kein Interesse für alte Sachen. Auch Bodo Vogel, der Restaurator, profitiert von denen, die auf Föhr Immobilien erwerben. Im Grunde genommen, hat er erst durch sie überhaupt dort Aufträge an Land gezogen. 34. O-Ton Bodo Vogel: 4.45 Das sind alles Leute, die die Insel lieben gelernt haben. Und deswegen, aus emotionalen Gründen, sich hier ein Haus kaufen und es entsprechend herrichten. Die neuste Entwicklung ist eine andere. Inzwischen kann man nicht nur aus Liebe zur Insel hier her kommen, sondern man kann hier auch mit Häusern Geld verdienen. Und das ist eine Entwicklung, die vor ein, zwei Jahren begonnen hat. Ich würde mal vermuten, dass diese Entwicklung weiter geht. Autorin: Für die Mehrzahl der Einheimischen ist ein altes Haus mitten in den Inseldörfern inzwischen unerschwinglich geworden. Deshalb schaffen die Gemeinden jetzt neues Bauland, kaufen den Landwirten auf der Insel Flächen ab und verkaufen sie den "echten" Föhrern. Um dort dann bauen zu dürfen, muss man wirklich dauerhaft auf der Insel wohnen, und verkaufen darf man erst einmal auch nicht. Bodo Vogel wohnt im Winter in einer Ferienwohnung. Im Sommer ist es kaum möglich, eine Mietwohnung auf der Insel zu finden. Schließlich vervierfacht sich dann die Anzahl der Menschen dort. Auch viele Restaurantbetreiber suchen dann verzweifelt nach einer Bleibe für ihr Personal, das oft zum Arbeiten vom Festland kommt. 35. O-Ton Bodo Vogel: 17 9.32 Ich wohne jetzt in einem Laden, der leer steht, da gibt es aber keine Dusche und keine Küche. Das ist sehr provisorisch. Man kann nicht sagen, dass ich hier eine feste Adresse habe. Auf Dauer geht das schon an den Nerv. Aber ich mach das ja schon seit 25 Jahren so. Autorin: Die Insel ist dem Restaurator ans Herz gewachsen. Aber er ist auch kritisch mit seiner eigenen Rolle auf Föhr. Schließlich hilft er mit bei ihrer der Verwandlung. Und er bekommt auch mit, wie einsam und verlassen das Inselleben im Winter ist, wenn die meisten Ferienwohnungen und Ferienhäuser unbewohnt sind. 36. O-Ton Bodo Vogel: 17 18.50 plus 20.14 plus 17 20.54 Da ich ja das ganze Jahr hier bin, sehe ich, was ich hier anrichte. Ich bin ja Helfershelfer dieser Verödung. Im Sommer ist zwar der Teufel los, aber im Winter ist es wirklich öde. Und ich trage dazu bei. Ich bin nicht der Motor. Ich bin mir dieses Dilemmas sehr bewusst. Es gibt zwei Entschuldigungen, möchte ich sagen. Das eine ist: Das ist eine Entwicklung, die zwar hier besonders deutlich ist, aber überall stattfindet. Dass die ganze Republik umgestülpt wird. Das kann der einzelne für sich nicht aufhalten. Und das zweite ist, und das ist vielleicht der einzige rettende Gesichtspunkt: Wenn man diese Insel sich selber überließe, den Tourismus ganz klein, wie er vor 50 Jahren war, hielte, dann würden diese Häuser alle verschwinden. MUSIK 5 Titel: Neue Idee Interpret, Komponist: Peter Licht Label: Motor Music, LC-Nr. 13867 VI. GEGENBEWEGUNGEN ODER EMIGRATION IN DIE FRIESISCHE TRACHT 37. O-Ton Gundula Haack: 18 1.20 Was bei mir hier gewünscht wird, ist Schmuck, individuelle Einzelanfertigungen. Mit Schwerpunkt Filigran. Das Filigran ist hier auf Föhr seit 1650 nachgewiesen. Die Tradition war hier schon abgerissen und ich bin vor fünfzehn Jahren hier her zurück gekommen, in meine alte Heimat, habe mein Atelier hier gegründet. Autorin: Gundula Haak ist eine kleine, zierliche Dame mit weiß-grauem Haarknoten im Nacken. Sie trägt ein langes Gewand, das aus dem Orient stammt, und schleicht durch ihr Atelier, das in einem Flachbau unweit des Wyker Südstrandes untergebracht ist. Nebenan wohnt die über siebzig Jahre alte Frau mit ihren Katzen. Ihre Werkbank ist mit einem alten Teppich bedeckt, der Katzen wegen, sagt sie entschuldigend. Darunter: Zangen, Schächtelchen, eine Diamantsäge. Zeichenutensilien. 38. O-Ton Gundula Haack: 5.27 Hier ist die Schachtel mit Goldfiligran-Elementen, hier habe ich legiertes Grüngold und Rotgold... Autorin: Die Goldschmiedin fertigt aufwändige Ringe, Ohrschmuck, Ketten und Armspangen und hält sich dabei an die Regeln der Insel. 39. O-Ton Gundula Haack: 18 8.58 Wir in Föhr hier haben an sich sehr strenge Formen, bestimmte Stil-Gesetze gibt es da. Autorin: Viele Muster verlaufen strahlenförmig von einem Mittelpunkt aus. Die Mehrzahl ihrer Stücke ist Silber. In einem alten Medizinschrank mit Glastür neben der Werkbank liegen alte, angelaufene Knöpfe und Broschen, Schmuck, den Gundula Haacks Vorfahren getragen haben. 40. O-Ton Gundula Haack: 9.38 plus 11.12 Ganz besonders typisch diese Hakenkette, die dort liegt. Das ist eine Brustkette, die von meiner Urgroßmutter stammt, die sie dort hinten auf einem Foto sehen. Autorin: Auf der alten, unscharfen Schwarzweißfotografie ist eine alte Frau mit faltigem Gesicht zu sehen. Sie trägt eine dunkle Tracht und über der Brust eine üppige, vielgliedrige Kette. An mehreren Haken neben dem Vitrinenschrank hängen schwere Kleidungsstücke. Röcke mit seidener oder wollender Borte. Ein dunkles Umschlagtuch, das vor der Brust gekreuzt und am Rücken gebunden werden muss, ein besticktes Kopftuch mit geknüpften Fransen. Gundula Haack ist dabei sich diese Tracht passend zu machen. Und dann will sie die Föhrer Tracht auch im Alltag tragen. 41. O-Ton Gundula Haack: 18 14.33 Die Föhrerinnen haben sich also aus der Tracht hinaus emanzipiert und ich werde in die Tracht hineinemigrieren. Weil meine Heimat hier durch die Bauwut ziemlich zerstört wird. Und das macht mich sehr traurig und zum Teil auch sehr zornig. Man enteignet die Föhrer ja nicht, sondern sie verkaufen Grund und Boden, und das Schlimmste, finde ich, passiert hier am Südstrand, dass ein altes Gebäude nach dem anderen abgerissen wird und durch schnöde Neubauten ersetzt wird. Natürlich ist das der Lauf der Zeit, aber es sind doch die Menschen, die das machen. Atmo: Im Garten Autorin: Dann tritt sie hinaus in den Garten, ein Dschungel aus riesigen Rosenbüschen, durch den die zierliche Dame taucht. Nach Wyk ist sie zurückgekommen, weil sie ein Grundstück samt Wohnhaus geerbt hat. Den Ort, den sie jetzt bewohnt. Als sie aufwuchs, befand sich dort noch ein Feld, auf dem sie mit ihren Geschwistern spielte. Damals war ihr Horizont noch nicht verbaut, sagt die Frau, die sich selbst als Außenseiterin bezeichnet. Sie lebt in der Vergangenheit, mit dem Föhr der Gegenwart will sie nichts zu tun haben. Auch zum Strand geht sie nur noch selten. Obwohl fast alle ihre Kindheitserinnerungen dort spielen. 42. O-Ton Gundula Haack: 18 33.12 Ich erinnere mich an meine erste Apfelsine. Die habe ich, glaube ich, 1947 gewesen, am Strand gefunden. Da war ein Apfelsinen-Schiff untergegangen. Ich habe also diese Apfelsine erbeutet. Ich habe mich mit ihr ins Dreieckswäldchen an der Parkstraße zurückgezogen. Und habe da reingebissen und das war ja nicht so gut. Und dann habe ich angefangen, sie auszupellen mit den Fingernägeln, und dieser Geschmack zusammen mit dem Nordseewasser, den werde ich nie vergessen. Autorin: Sie serviert Tee in hauchdünnen Porzellantassen und dann verschwindet sie wieder in ihrem Rosen-Garten. Atmo: 18 46.00 Gartentor Kreuzblende Wellen Autorin: Gundula Haack wirkt wie aus der Zeit gefallen. Und auch das ist wieder irgendwie sympathisch. Sie hat sich bewusst gegen den Zeitgeist entschieden. Und in der Welt, in der sie auf der Insel lebt, geht auch das ganz gut. Die Welt, die der Märchenerzähler Hans Christian Anderson so gut beschrieb, als er 1844 auf die Nordseeinsel Föhr reiste. Sprecher: Der fortwährende Regen hatte Wiesen und Kornfelder zu großen Seen verwandelt, Die Dämme auf denen man fuhr, waren wie Moorgrund, die Pferde sanken tief hinein...Mehrere Stunden gingen über jede Meile hin - endlich lag die Nordsee mit ihren Inseln vor mir. Ich traf zur Flutzeit ein, der Wind war günstig und in kaum einer Stunde gelangte ich nach Föhr hinüber, welches mir nach der beschwerlichen Reise wie ein Feenland erschien. Kennmelodie Sprecher 2: Das Friesische Flair im Wandel. Nordseeinsel Föhr in Schleswig Holstein. Sie hörten eine Deutschlandrundfahrt von Mandy Schielke. Sprecherin: Nina West Ton: Bernd Friebel Regie: Roswitha Graf Redaktion: Margarete Wohlan Eine Produktion von Deutschlandradio Kultur 2012 Manuskript und Online-Version der Sendung finden Sie im Internet unter dradio.de 1 1