KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : Literatur Kostenträger : P 62 110 Titel der Sendung : "Die schönste Tugend ist die Freude" - Die französische Schriftstellerin An Anna Gavalda AutorIn: : Rebecca Partouche Redakteurin : Carsten Hueck Sendetermin : 21.12.2010 Regie : Beatrix Ackers Besetzung : Sprecherin 1 (Autorentext): : Sprecherin 2 (Overvoice Anna Gavalda) : Zitator und Sprecher 1 : Zitatorin Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 1. Musik: Amélie - La Valse D'Amélie Zitatorin (aus: "Ich wünsche mir...") Sie sind so bescheuert, diese Frauen, die ein Kind wollen. So bescheuert. Kaum haben sie erfahren, dass sie schwanger sind, machen sie die Schleusentore auf: Liebe, Liebe, Liebe. Danach machen sie sie nie wieder zu. Bescheuert. 1. Musik: Amélie - La Valse D'Amélie Zitatorin (aus: "Ich wünsche mir...") Sehen Sie sich eine schwangere Frau an: Sie glauben, dass sie die Straße überquert oder arbeitet oder sogar mit Ihnen spricht. Weit gefehlt. Sie denkt an ihr Kind. Sie wird es nicht zugeben, aber es vergeht keine einzige Minute in den neun Monaten, in denen sie nicht an ihr Kind denkt. Okay, sie hört Ihnen vielleicht zu, aber sie hört nicht richtig hin. Sie nickt mit dem Kopf, aber in Wahrheit ist ihr alles scheißegal. 1. O-Ton Dominique Gaultier, Verleger ( Sprecher 1) Was mich an Gavalda erstaunt hat war, dass sie sehr, sehr düstere Erzählungen geschrieben hat... - und damit durchkommt! So etwas bekomme ich als Verleger fast nie auf den Tisch. Anna Gavalda kann einfach beides: Leichtigkeit und Tiefe. Ihre Geschichten sind unglaublich kontrastreich, sie bespielt die ganze Bandbreite der Emotionen. Und dadurch - ist für jeden etwas dabei. Ganz einfach. Zitatorin (aus: "Ich wünsche mir...") Am Donnerstag, dem 20. August, muss sie zur Sechs-Monats-Untersuchung. Jetzt fragt sie der Gynäkologe, ob sie das Kind spürt, ob es sich bewegt, sie fängt an zu erzählen, dass früher ja, in letzter Zeit immer weniger, aber sie führt ihren Satz nicht zu Ende, weil sie merkt, dass er nicht zuhört. Er hat natürlich längst begriffen. Er drückt auf alle Knöpfe an seinem Gerät, um Haltung zu bewahren, aber er hat es längst begriffen. Er stellt das Gerät anders hin, aber seine Bewegungen sind so abrupt, und sein Gesicht ist wie gealtert. Sie richtet sich halb auf, und auch sie hat es begriffen, aber sie fragt: "Was ist los?" Und er antwortet: "Es gibt ein Problem..." Atmo 1: LKW Geräusche, langsam hochziehen. Sprecherin 1 Melun. Ein kleine Stadt. Dreissig Minuten südlich von Paris. Eine stark befahrene Landstrasse. Lkw-Verkehr. Ein tristes Industriegebiet. Der unspektakulärste Ort in ganz Frankreich. Das einzig auffällige Gebäude ist ein heruntergekommenes Staatsgefängnis am Fluss. Für Touristen keine Attraktion. Nach Melun kommt nur, wer dort einen Gefangenen besuchen will... Atmo 2: Eine schwere Gefängnistür fällt ins Schloss. Sprecherin 1 ... oder Anna Gavalda - eine der ganz wenigen großen französischen Autoren, die nicht in Paris leben. Sie ist bewußt an diesen unbedeutenden Ort gezogen, fern vom Kulturbetrieb der Hauptstadt. Anna Gavalda meidet das Fernsehen, gibt kaum Interviews und versucht ihren literarischen Erfolg - so gut es eben geht - zu ignorieren. Das ist nicht ganz einfach, wenn man die meistgelesene französische Autorin ist - sowohl in Frankreich wie auch in Deutschland und sogar weltweit. Allein in ihrer Heimat hat Anna Gavalda, die im Dezember 2010 ihren vierzigsten Geburtstag feiert, mehr als fünf Millionen Bücher verkauft...aber sie fährt weiterhin ihren alten Golf und ihr kleines Haus am Stadtrand unterscheidet sich äußerlich nicht besonders von den anderen Häusern. Atmo 3: Eine leichte Haustür öffnet sich. Schritte. Anna Gavalda: "Bonjour" [unter den nachfolgenden Text legen] Sprecherin 1 Als sich ihre Haustür öffnet, verschwindet schlagartig die ganze Tristesse im Hintergrund. Ich betrete eine Puppenstube, ganz in rosa: rosa Möbel, rosa Geschirr, selbst der kleine Terrier Pepita trägt ein rosa Hemdchen. Hier ist alles freundlich. Und es riecht - wie bei meiner Großmutter - nach Kakao und Kuchen. Anna Gavalda kommt aus ihrem Gemüsegarten, sie hat gerade Möhren ausgebuddelt, und freut sich, ihren Gast zu begrüssen. 1. Musik : Amélie - La Valse D'Amélie - unter Text legen Zitatorin (aus "Zusammen ist man weniger allein") Ihr eigenes Haus. Ein richtiges Haus mit einem Kupferkessel zum Marmeladeeinkochen und Buttergebäck in Weißblechdosen. Ein langer Bauerntisch, schön schwer, und Vorhänge aus Cretonnestoff. Sie lächelte. Sie hatte keine Ahnung was Cretonnestoff eigentlich war, noch, ob er ihr überhaupt gefallen würde, aber sie mochte die Wörter: Vorhänge aus Cretonnestoff. Sie hätte Gästezimmer für Freunde und wer weiß? Vielleicht auch Freunde? Einen gepflegten Garten, Hühner, die ihr gute Frühstückseier lieferten, Katzen, die Waldmäuse jagten, und Hunde, die Katzen jagten. Ein kleines Häuschen, wie Kinder es zeichnen, mit einer Tür und zwei Fenstern auf jeder Seite. 2. O-Ton Anna Gavalda (Sprecherin 2) Worauf ich wirklich stolz bin, das ist die Wärme in meinem Haus. Ich habe ein sehr warmes Haus, in dem die Menschen sich wohl fühlen. Natürlich braucht man sehr viel Energie, um eine gute Gastgeberin zu sein. Man muss viel einkaufen, damit die Schränke immer voll sind. Der Kaffee immer warm. Und der Kuchen im Ofen. Und es ist gerade immer so unordentlich, dass sich niemand von der Ordnung belästigt fühlt. Ja, ich glaube, mein ganz großes Werk ist die Atmosphäre in meinem Haus. Und die vielen Kinder, die immer bei mir sind. Nicht nur meine eigenen. Auch die Kinder aus der Nachbarschaft. Sprecherin 1 Hier gibt es wenig Möbel, dafür aber viel Platz für Menschen. Im Erdgeschoß laufen Tiere herum, zwei Katzen und Pepita, der Terrier. Oben wohnen die Kinder, Anna Gavaldas fünfzehnjähriger Sohn und die elfjährige Tochter. Und dort hat sie auch ihr Arbeitszimmer versteckt. Am Schreibtisch steht ein großer Spiegel, in dem sie die Gesten ihrer Figuren überprüft. Und auf der Treppe, die das private Leben von den Besuchern trennt, hängt eine Originalzeichnung von "Sempé", ein Geschenk ihres Verlegers Dominique Gaultier: 3. O-Ton Anna Gavalda (Sprecherin 2) Dominique hat diese Zeichnung gekauft, um mir eine Freude zu machen. Und ich glaube, es ist das Wertvollste, was ich in meinem Haus habe, weil ich absolut nichts besitze. Und Gott sei Dank, wenn eines Tages Räuber kommen, werden sie nicht wissen, dass diese Zeichnung wertvoll ist. Ich sehe sie jedes Mal, wenn ich die Treppe hochgehe, das heißt 22.000 mal am Tag und jedes Mal, wenn ich sie sehe, muss ich lächeln. Sprecherin 1 "22.000 mal" - das klingt nach viel Bewegung. Ist aber möglicherweise realistisch. Denn Anna Gavalda ist ständig unterwegs, hält immer etwas in den Händen und sei es - ein Stickrahmen. Sie liebt Handarbeiten jeglicher Art. Darüber hinaus ist sie ihr eigener Elektriker und Tischler, Schneider und Gärtner. 4. O-Ton Anna Gavalda (Sprecherin 2) Ich bin relativ handwerklich begabt. Und viele Schriftsteller, die ich mag, haben gerne gebastelt. Ich denke an Colette, an Georges Sand... - zusätzlich zu ihrem Werk hatten sie große Häuser, sie machten Gartenarbeit, Gestaltungsarbeit... Ich bin auch immer beschäftigt, muss immer etwas herstellen. Selbst wenn ich meinen Kindern Yoghurt gebe, muss ich mit Sirup etwas hineinzeichnen... Von morgens bis abends muss ich etwas schaffen, Dinge zusammenbasteln. Wenn ich Leute zum Essen da habe, gehöre ich zu den Frauen, die nach dem Essen immer etwas zu sticken haben. Wie eine Oma - ich sticke. "Erschaffen" - das ist aus dem Nichts etwas machen. Es ist wunderbar! Sprecherin 1 "Schaffen" - das heißt für sie: das, was man macht, ins Leben zu tragen. Anna Gavalda ist spät zur Literatur gekommen. Sie hat vieles ausprobiert, erst als Tierarzthelferin gearbeitet, später als Lehrerin. Ihre große Liebe zu Kindern und Tieren ist geblieben. Den Schuldienst hat sie nicht wegen der Schüler verlassen, sondern: der Lehrer wegen. Die waren ihr zu ernst, zu verkopft und irgendwie: zu erwachsen. 5. O-Ton Anna Gavalda (Sprecherin 2) Ich war sieben Jahre lang Lehrerin in der 6. Klasse. Ich hatte nicht einen einzigen Kollegen, den ich bewundern konnte. Es ist schlimm, dass Erziehung in den Händen von Menschen liegt, die so wenig neugierig sind, so wenig offen der Welt gegenüber, die so wenig zweifeln an ihrer Funktion und ihrem Wissen. Ich war eine gut gelaunte Lehrerin, und ich glaube, das war der Unterschied zu den anderen. Lehrer sind so oft deprimiert, man hat das Gefühl, sie tragen die Last der Welt auf ihren Schultern. Sprecherin 1 Anna Gavalda störte, dass es an der Schule überhaupt keinen Raum für "Spiel" gab. Und schon gar nicht in ihrem Fach: französische Grammatik. Irgendwann hatte sie die Nase voll davon, ihren Schülern vornehmes Französisch beizubringen. Und fing an, ihnen aus dem Klassiker der französischen Kinderliteratur, dem Kleinen Nick vorzulesen - um ihnen "falsches", poetisches, verspieltes Französisch zu vermitteln. 6. O-Ton Anna Gavalda (Sprecherin 2) Das war das größte Geschenk, das ich ihnen machen konnte. Es kommt ja nicht drauf an, ob die Kommas richtig sitzen, sondern darauf: dass es gut klingt und Spaß macht. Wie oft kamen verzweifelte Eltern zu mir: "Oh, mein Kind liest nicht richtig. Es liest nur Comics." Ich sagte: "Aber freuen Sie sich doch. Es ist doch die beste Art, sich am Imaginären zu schulen. Und später die Literatur anzugehen. Sie brauchen keine Angst vor Comics zu haben!" Sprecherin 1 Nach dem verflixten siebten Jahr hängte Anna Gavalda ihren Beruf an den Nagel. Da war sie schon eine bekannte Schriftstellerin. Und schrieb als nächstes: ein Jugendbuch: "35 Kilo Hoffnung". Es handelt von einem Jungen, der an der Schule verzweifelt, weil er die falschen Begabungen hat: Zitator (aus: "35 Kilo Hoffnung") Ich hasse die Schule. Ich hasse sie. Nichts ist schlimmer auf der Welt. Sie macht mir das Leben zur Hölle. Alles was in der Schule vor sich geht, kommt mir chinesisch vor. Es einen Ohr geht es rein und zum anderen raus. Sie haben mich zu Tausenden Ärzten geschleppt, für die Augen, für die Ohren und sogar fürs Gehirn. Und das Ergebnis dieser ganzen verlorenen Zeit: Ich habe ein Konzentrationsproblem. Du glaubst es nicht! Ich weiß ganz genau, was mit mir los ist. Es würde genügen, mich einfach zu fragen. Ich habe kein Problem. Kein einziges. Es interessiert mich nur einfach alles nicht. Punkt. Aus. Schluss. 7. O-Ton Anna Gavalda (Sprecherin 2) Ich wollte das Schulsystem mit seinen eigenen Widersprüchen konfrontieren. Die Kinder werden nicht gefördert. Und ein Junge, der gut zeichnet und eine tolle Fantasie hat, kann sehr unglücklich sein, weil die Schule ihm nicht die Mittel gibt, sich auszudrücken. 1.Musik : Amélie - La Valse D'Amélie Sprecherin 1 In diesem schmalen, gerade einmal siebzig Seiten umfassenden Jugendbuch, in großen Kinderbuchstaben, gestaltete Anna Gavalda schon gleich zu Beginn ihres Schriftstellerlebens ihr ganz großes Thema: Die Überforderung des Einzelnen durch riesige Erwartungen einer Leistungsgesellschaft. In ihren folgenden Romanen taucht dieses Motiv immer wieder auf. Wie der dreizehnjährige Grégoire in "35 Kilo Hoffnung" seine Schule verlassen muss, um ein neues Glück an einer Berufsschule zu finden, so lässt der sechsundvierzigjährige Architekt Charles Balanda im Roman "Alles Glück kommt nie" sein Pariser Leben hinter sich, und findet das Glück auf dem Land, bei einer Riesenschar von Kindern. Zitator & Zitatorin (aus "Alles Glück kommt nie") "Und diese ganze Umwälzung für eine Frau, die du kaum kennst, die fünfhundert Kilometer von hier entfernt wohnt, fünf angeschlagene Kids hat und Socken aus Ziegenfell trägt, stimmt's?" "Treffender könnte man es nicht sagen." Es folgte eine wesentlich längere Stille. Und während er ihm die Tür aufhielt: "Sag mal, du riechst nicht vielleicht schon ein bisschen nach Kuhstall?" Sprecherin 1 Immer wieder müssen Anna Gavalda Romanhelden ihr strenges Korsett aus Gewohnheit und Fremdbestimmung abwerfen, und sich allein auf neues, unbekanntes Terrain wagen. Das ist zwar hart - noch härter aber ist es in Frankreich den Sozial-und Prestigedruck auszuhalten. Diesen ungeheuren Druck, der in der Kindheit beginnt und bis zur Pensionierung auf jedem Mitglied der Gesellschaft lastet. Anna Gavalda sagt nicht, dass es da einfach ist, einen eigenen Weg zu gehen. Aber sich darum zu bemühen - das ist für sie eben der Preis des Glücks. 8. O-Ton Anna Gavalda (Sprecherin 2) Am Ende sind ja all diese Geschichten von mir ein Vorwand, um über das Leben im Allgemeinen, vor allem: über den Preis des Glückes zu schreiben. In meinem Buch "Ich habe sie geliebt", zum Beispiel, geht es nicht nur um einen Mann und eine Frau, die sich ihren Liebeskummer erzählen. Es ist viel mehr als das: es ist auch ein Ratgeber - wie man leben soll. Zitator (aus :"35 Kilo Hoffnung") Ich mag Leute, die ihr Leben in die Hand nehmen. Ich mag keine Feiglinge, die sich beklagen. Ich will dir was sagen, mein Freund: Es ist viel leichter unglücklich zu sein, als glücklich, und ich, hörst du, ich mag die Leute nicht, die den Weg des geringsten Widerstands gehen, ich mag keine Jammerlappen! Verdammt, sei glücklich! Tu, was, streng dich an um glücklich zu sein." Sprecherin 1 "Passivität" - das ist das Schlimmste für Anna Gavalda. Die Hausfrau, Mutter, Schriftstellerin und Journalistin mag keine Menschen, die sich einfach ihrem Schicksal überlassen und dann noch beklagen. Sie ist sich sicher: um das Glück muss man kämpfen, Freude muss man sich erarbeiten, Tag für Tag. 9. O-Ton Anna Gavalda (Sprecherin 2) Ich glaube, die Freude ist die größte Tugend. Und zugleich: die schwerste. Wir sind ständig schlecht drauf, obwohl doch bei uns eigentlich alles ganz gut läuft... Die Menschen, die ich am meisten bewundere, sind positive, fröhliche, lustige Menschen, die sich nicht deprimieren lassen, obwohl sie genauso viel Grund hätten wie du und ich: sich zu beklagen. Sprecherin 1: "Das Glück" ist bei Anna Gavalda eine Frage der Anstrengung. Es ist nicht selbstverständlich. Denn hinter ihren Idyllen lauert immer "das Andere". Gavaldas Geschichten mögen leicht und charmant daherkommen, aber - genau wie in den Zeichnungen Sempés, mit dem sie ständig verglichen wird - ist der Abgrund immer präsent. Sempé erzählt zwar von zarten, bezaubernden Menschen, aber hinter ihnen türmt sich ein Moloch von Stadt auf - und so bleibt den Helden nichts anderes übrig als: den einzigen kleinen Fleck Sonnenschein zu feiern. Genauso erzählt Gavalda: von verlorenen Menschen, ohne Familie, Waisenkindern fast, die - oft nach schweren Schicksalschlägen - versuchen, wieder auf die Beine zu kommen. Einige finden ihr Glück in einer neuen Gemeinschaft. Doch muss man bei Anna Gavalda nur ein einziges Mal falsch abbiegen, und schon schlägt das Schicksal zu - mit ganzer Brutalität. 2. Musik. Tageschau. Zitatorin (aus: "Meldung des Tages") "Leichtsinniges Verhalten eines Autofahrers könnten Auslöser eines Dramas sein, das gestern morgen zu dem unbeschreiblichen Trümmerhaufen geführt hat, aus dem auf der A13 neun Menschen tot geborgen wurden. Der Polizei liegt eine Zeugenaussage vor, wonach ein Autofahrer rückwärts gefahren sein soll, um die Ausfahrt Bourg-Achard zu nehmen. Im Bestreben diesem Auto auszuweichen .. Zitator (aus: "Meldung des Tages") Und als wäre dies noch nicht genug: Zitatorin (aus: "Meldung des Tages") "Im Bemühen... die Autobahn zu überqueren, um den Verletzten zu Hilfe zu eilen, wurden weitere zwei Personen von einem Wagen erfasst und getötet. Innerhalb von nur zwei Minuten waren hundert Autos, drei Lastwagen... Zitator (aus: "Meldung des Tages") Und ich hielt ihr die aufgeschlagene Zeitung hin, wo ein weinender Junge auf der A13 zu sehen war. Ein kleiner Junge, der sich von einem zur Unkenntlichkeit zertrümmerten Auto entfernt. Ein Zeitungsphoto. In der Rubrik "Meldung des Tages". Sprecherin 1 Solchen Schicksalsschlägen setzt Gavalda Menschen entgegen, die tapfer sein müssen. Dafür allerdings - können ihre Helden auch reichlich belohnt werden. Denn "das Glück" ist bei Anna Gavalda eine Realität. Genauso wahrscheinlich oder unwahrscheinlich wie "das Scheitern" oder "der Untergang". Und es ist eine ihrer großen Stärken als Schriftstellerin dieses Glück in all seinen Schattierungen feiern zu können. Allein dafür haben die Kritiker sie gehasst: 10. O-Ton Dominique Gaultier (Sprecher 1 ) Das Buch "Zusammen ist man weniger allein" - ist sehr kritisiert worden: "Was ist das für ein Schmöker voll triefender guter Gefühle!" Man ist ihr mit großer Härte begegnet. Manche Leute haben gesagt: "Das ist weniger kompliziert als ein Kinder- Malbuch." (er lacht) Naja, es gab da ein paar sehr brutale Sachen. (lacht wieder) Ich glaube, dass sie da sehr getroffen wurde. 11. O-Ton Anna Gavalda (Sprecherin 2) Ja, ich hab schlechte Kritiken gehabt, in denen stand, dass meine Bücher sich lesen wie Artikel in einer Frauenzeitschrift, wie das Geplapper von Mädchen. Aber mein Glück ist: genau für diese Leute habe ich nicht geschrieben. Sondern für die anderen. Für die, die verstanden haben. Und das ist das, was zählt. Sprecherin 1 Bei Anna Gavalda ist das Glück überdies Frauensache. Die Männer sind ohne sie völlig aufgeschmissen. Sie können eigentlich nur durch eine Frau in den Genuß des Glücks kommen. Zu schwer lasten auf ihnen Karrieredruck und die Ansprüche der Gesellschaft. Die Männer bei Anna Gavalda sind alle vernünftig - gefangen und unglücklich. Sie sind der Inbegriff des "Erwachsenseins". 3.Musik: Trude Herr - "Ein Mann ist ein komisches Gewächs." (langsam unter Text hochziehen, kurz stehen lassen) Zitator (aus: "Ich habe sie geliebt") "Ich war zweiundvierzig und fühlte mich bereits alt. Ich habe mich im Grunde schon immer alt gefühlt. Mit zehn Jahren hatte ich schon das gleiche Gesicht wie heute. Den gleichen Haarschnitt, die gleiche Brille. Bestimmt habe ich schon mit zehn für den Käse einen neuen Teller genommen. Zweiundvierzig - was für Erwartungen hat man mit zweiundvierzig an das Leben? Ich, keine." Sprecherin 1 Frauen, davon ist die Autorin überzeugt, fällt das Glücklichsein leichter. Sie sind verspielter, freier und lustiger. Sie sind näher an der Welt der Kinder. Und sie sind, zumindest für Anna Gavalda, selber Kinder. Ausgestattet mit lustigen Accessoires, kichern sie mit Freundinnen und schminken sich - so wie Kinder sich verkleiden. In der privaten und literarischen Welt Anna Gavaldas gibt es keine "oberflächliche Freuden", es gibt einfach nur: Freude. 4. Musik: Trude Herr - "Ich will keine Schokolade, ich will lieber einen Mann" (langsam unter Text hochziehen, kurz stehen lassen) Ich will keine Schokolade , ich will lieber einen Mann, ich will einen, die mich küssen und um den Finger wickeln kann! Sprecherin 1 Anna Gavalda ist streng mit den Männern. Nicht nur in ihren Büchern. Auch in ihrem Leben scheint sie keinen Platz für sie zu haben. Und selbst als Journalist hat man es bei ihr leichter, wenn man eine Frau ist. Doch die Männer mögen sie. Auch wenn es nicht gleich auf den ersten Blick offensichtlich ist. 12. O-Ton Dominique Gaultier ( Sprecher 1 ) Man könnte vielleicht sagen, dass es mehr die Frauen sind, die Gavalda lesen, aber das ist allgemein so bei Romanen. Und ich bin nicht sicher, ob ihre Klientel wirklich so weiblich ist, wie man ihr nachsagt. Ich glaube, dass auch sehr viele Männer ihre Bücher lesen. Ein Roman wie "Ich habe sie geliebt" hat sehr viele Männer erreicht. Eben wegen des Themas. Sprecherin 1: In Frankreich 2002, ein Jahr darauf in Deutschland erschienen, erzählt der Roman die Geschichte eines alten Mannes, der die Liebes seine Lebens verpasst hat. Aufgrund von Konventionen und aus Feigheit hat er sich nicht scheiden lassen - und seine Geliebte verpasst und das Kind seiner Geliebten. In Frankreich, dem Land der diskreten Affären, schlug das Buch wie eine Bombe ein. Nach der Lektüre des Buches schmissen überall in Frankreich Männer ihre Ehe hin und bekannten sich zu ihren Affären. 13. O-Ton Anna Gavalda ( Sprecherin 2 ) Als ich letzte Woche auf einer Lesung in Aurillac war, in der tiefsten Auvergne, kam ein Mann auf mich zu mit einem kleinen Mädchen namens Mathilde, und er hat mir gesagt: "Ich habe meine Frau verlassen, nachdem ich "Ich habe sie geliebt" gelesen habe, um mit der Mama dieser Kleinen zusammenzukommen. Und wir haben sie Mathilde genannt. Wie in ihrem Buch." [...] Mein Buch "Ich hab sie geliebt" hat sehr viele Ehen in Trümmer gelegt. Und der erste Leserbrief, den ich nach Erscheinen des Buches bekommen habe, war: "Ich hab gerade ihr Buch zu Ende gelesen. Morgen werde ich mein Leben verändern. Merci." Sprecherin 1 "Merci" ist auch das Wort, das die Autorin am häufigsten zu hören, beziehungsweise zu lesen bekommt. Ihr Briefkasten ist immer voll mit Leserpost. Es sind nicht Bitten um Autogramme, die sie da bekommt, sondern Fragen zu den großen Dingen des Lebens. Von alten Menschen, kranken Menschen, Männern in Not und einsamen Frauen. Und Anna Gavalda - kleiner, tapferer Soldat - beantwortet j e d e n e i n z e l n e n der Briefe persönlich und handschriftlich. 14. O-Ton Anna Gavalda ( Sprecherin 2 ) Das ist das Drama: Ich hab nicht nur die Kinder zuhause, ich hab auch die Leserbriefe. In meinem Haus habe ich eine Reisetasche, die sieben Kilo achthundertfünfzig Gramm wiegt, voller Leserbriefe, die ich noch beantworten muss. Sieben Kilo achthundertfünfzig Gramm - das ist schon ein großes Baby. Und die Sache wächst weiter - weil ich die Briefe beantworte, antworten die Leute wieder, weil sie sich so über die Reaktion freuen. Ich schreibe natürlich meine Adresse darauf und meine Leser schreiben mir dann natürlich zurück. Alles andere wäre ja unhöflich. Und so nimmt es keine Ende. Sprecherin 1 Anna Gavalda hat ein absolut familiäres Verhältnis zu ihren Lesern. Und wenn es - in ihrer Welt - eine Tür gibt zum Glück, dann steht da mit Sicherheit drauf, in großen rosa Buchstaben: "Familie" - wie auch immer sich diese Familie zusammensetzt. Das "Familiengefühl" ist auch der Grund, warum sie ihrem ersten Verlag so treu bleibt. "Le Dilletante" ist nur eine ganz kleine Verlagsbuchhandlung, in der die Leser aber höchstpersönlich aufkreuzen können - und nicht als abstrakte Verkaufszahlen in den Ordnern verschwinden. 1. Musik "Amélie - La Valse D'Amélie Sprecherin 1 Das Millionenangebot vom führenden französischen Verlag Gallimard, hat Anna Gavalda schon vor vielen Jahren abgelehnt. Sie wollte keine Bücher auf Bestellung und unter Termindruck schreiben, sondern Bücher, die ihr selbst sagen, wie sie leben soll. Denn für Gavalda ist der Zweck von Literatur nicht "Literatur", sondern: ins Leben zurückzuwirken. Das Leben erscheint ihr größer als die Kunst. Und schöner sowieso. Dabei hat sie in gut zehn Jahren etliche Erzählungen geschrieben sowie sechs Romane, von den zwei verfilmt wurden. Ob sie auch in Zukunft soviel schafft, weiß sie nicht. 15. O-Ton Anna Gavalda ( Sprecherin 2 ) Ich führe zuhause eine kleine Kantine für ein halbes Dutzend Kinder, die kein Geld für's Schulessen haben. Und nach der Schule helfe ich noch bei den Hausaufgaben. Denn wenn es schwer ist mit dem Geld, ist es schwer in jeder Hinsicht. Später werden sich die Kinder an diese Zeit erinnern: "Bei Anna war es immer schön. Aber eins durften wir nicht: Schimpfworte benutzen." Natürlich hab ich kaum Zeit zu arbeiten. Aber das hier ist mein echter Beruf. Das weiß nur niemand. In Wahrheit bin ich Mary Poppins... 5. Musik: Mary Poppins (langsam hochziehen) 16. O-Ton Anna Gavalda ( Sprecherin 2) Dadurch bleibt mir zu wenig Zeit zum Schreiben. Ich arbeite zur Zeit sehr wenig, weil Kinder, je älter sie werden, umso mehr Aufmerksamkeit brauchen. Jugendliche sind sehr geschwätzig, und man muss da sein. Mein Sohn ist fünfzehn Jahre alt. In drei Jahren ist er weg. Drei Jahre sind keine lange Zeit. Ob ich in diesen drei Jahren schreibe oder nicht, für mich ist es nicht so wichtig. Aber für ihn schon. 5. Musik: Mary Poppins (Moment stehen lassen) 1