KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : Literatur Kostenträger : P 62 300 Titel der Sendung : "Wem der Himmel auf den Kopf fällt." Neue Literatur über Menschen, die nicht sind wie andere AutorIn : Sigrid Brinkmann Redakteurin : Barbara Wahlster Sendetermin : 20.6.2010 Regie : Besetzung : Autorin, Sprecherin, Sprecher Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur Funkhaus Berlin Hans-Rosenthal-Platz 10825 Berlin Telefon (030) 8503-0 DLR Kultur: LITERATUR 20.6.2010 "Wem der Himmel auf dem Kopf fällt. Neue Literatur über Menschen, die nicht sind wie andere." Eine Sendung von Sigrid Brinkmann Redaktion: Barbara Wahlster Take 1 : Szene aus dem Film "Die Blechtrommel" Autorin: Zwei, drei Sekunden reichen, um den durchdringenden Schrei mit dem kleinen spitzen Gesicht des Oskar Matzerath aus Günter Grass' Roman "Die Blechtrommel" zu verbinden. Mit drei Jahren beschließt Oskar, nicht mehr zu wachsen. Als Sechsjähriger umklammert er die Schlegel seiner Trommel, er weitet die Augen, durch die "Fußsohlen hoch" dringt ihm etwas in den sich öffnenden Mund. Der markerschütternde Laut, den er ausstößt, pulverisiert Brillengläser und lässt Vasen und Kristalllüster zerspringen. Das Kind setzt seinen "glastötenden Schrei", seinen "scheibenvernichtenden Ferngesang" gezielt ein, um Erziehungsversuche und Bevormundungen jeder Art abzuwehren. Es kreist in seinem eigenen Kosmos und beschließt sein Leben mit dreißig Jahren in einer Heilanstalt. Oskar schätzt die zwischen den Metallstäben seines Bettes "geflochtene Stille". Er mokiert sich über Besucher, "denen es Spaß macht", ihn zu lieben, die sich in ihm "schätzen, achten und kennenlernen möchten" und verstummt schließlich doch vor dem sich aufdrängenden inneren Bild der Schwarzen Köchin - einer Schreckensgestalt aus Kindertagen. Der Blechtrommler wollte nie sein wie die anderen. In keinem Moment war er Opfer. Zu einem Getriebenen machten ihn allenfalls die kriegerischen Zeitläufte. Anders und dem einzigartigen Oskar in seinem Eigensinn und seiner abgeklärten Kaltschnäuzigkeit doch ähnlich, ist Itzik: das älteste Kind marokkanischer Juden in Sara Shilos Roman "Zwerge kommen hier keine". Die Familie lebt in einem Städtchen nahe der libanesischen Grenze. Itzik ist 13 Jahre alt. Er hat verkrüppelte Füße und Hände. Hebräisch spricht er genauso fehlerhaft wie seine Geschwister und Eltern. Die Familie fällt auf. Sprecherin: Wie ich klein war, hab ich viel auf dem Boden gelegen. Wie ein Teppich. Der Boden und ich, den halben Tag haben wir aneinandergeklebt. Jeden Morgen hab ich versucht, Sachen zu machen, wie alle andern Kinder im Kindergarten, aber nichts hab ich hingekriegt. Und wenn ich was nicht hingekriegt hab, hab ich mich still auf den Boden gelegt und die Augen zugemacht und hab mich gesehen, wie ich im Bauch von Mama liege und Gott hör, wie er jeden Tag zu einem andern Finger sagt, zu jedem einzeln: Du hörst jetzt auf mit Wachsen. (Sara Shilo: "Zwerge kommen hier keine". Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer. Dtv, München 2009) Take 2 (Shilo) : The first energy he felt with the doctors when he was ... Darauf Sprecherin: Die erste Schwingung, die er nach seiner Geburt wahrnahm, kam von Ärzten, die sich besorgt und angespannt über ihn beugten. Sie trennten ihn von seiner Mutter, um Untersuchungen zu machen. Er hatte immer das Gefühl, dass niemand zu ihm stand, und das war ausschlaggebend für sein Leben. Diese Grunderfahrung wiederholte sich immer wieder. Er ging schon vier Monate nicht mehr zur Schule, aber niemand erkundigte sich nach ihm. ... nobody asks for him. Autorin: Itziks Kopf, bemerkt sein jüngerer Bruder, arbeitet wie ein Betonmischer. Und jeder der schweren Gedanken, die der unvollkommene Bruder eines Tages aus seinem Kopf "rausfliegen" lässt, "wird was in der Welt". Take 3 (Shilo) : Itziks thoughts is the place where he feels ... . Darauf Sprecherin: In seinen Gedanken findet Itzik Halt und Vertrauen. Seine Vorstellungskraft erschafft eine Welt, in der er der Erste ist und nicht der Bodensatz der Gesellschaft. Er entwickelt Gedankengänge, die nahelegen, dass Gott ihn liebt. ... that God loves him. Sprecherin: Aber wo Gott mir viel Hirn in den Kopf reingetan hat, und wo ich über alles in der Welt nachdenk, da hab ich gedacht, Gott will vielleicht doch was an mir ausprobieren. ( ... ) Gott hat mich extra so gemacht, deshalb hat er mich schon im Bauch meiner Mutter auserwählt, mich, Itzik Dadon. Das wird das erste Kind auf der Welt von einer neuen Art von Menschen. ( ... ) Wenn ich morgens aufwach, will ich bloß eins: dass man mir einen Berg hinstellt, will ich. Dass neben meinem Bett ein großer Berg steht. Ein brauner Berg mit weißen Felsbrocken drin. Wie ich die Augen aufmach, wie ich meine Füße aus dem Bett auf den Boden tu, soll da ein Berg stehn, und ich, Itzik Dadon, scheißegal, ich steh auf und mach ihn fertig. Mit den bloßen Händen nehm ich ihn auseinander. Mit meinen Händen, wo Gott von beschlossen hat, sie solln auf die Welt kommen, Hände von der neuen Art. (....) Danach leg ich mich wieder schlafen. Ich bleib ein bisschen im Bett liegen, ruh aus, und wie ich ein bisschen ausgeruht hab, steh ich auf, wie es sich gehört, und bin so, wie die Leute mich am Morgen wollen. Die Leute, mit denen du unter einem Dach wohnst, die wollen, dass du aufstehst wie ein frisch geborenes, weiches Brot, das sie noch formen können, wie sie wollen. (Sara Shilo: "Zwerge kommen hier keine". Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer. Dtv, München 2009) Autorin: Der von der Natur Benachteiligte begreift sich als Erwählter. Er wird derjenige der formt, der seinen jüngeren Bruder als "Ersatzteil" benutzt, als "Reserve" für die wenig brauchbaren Hände. Sara Shilo hat innere Monologe geschrieben. Auch der fremd klingende, grammatikalisch falsche Sprechfluss zieht uns tief hinein in die Vorstellungswelt von Itzik und seinen Geschwistern. Niemand wagt Itzik zu widersprechen, als der beschließt, einen Falken in seinem kleinen Zimmer aufzuziehen und abzurichten, damit er die Familie vor terroristischen Eindringlingen aus dem nahen Libanon warne. Sara Shilos Roman handelt schließlich auch von dem ärmlichen Leben, das viele orientalische Juden im schwach besiedelten Grenzgebiet Israels führen. Den Roman "Zwerge kommen hier keine" hat sie während eines Raketenalarms begonnen. Ihr Mann lief mit den fünf Kindern zum Schutzbunker; sie aber blieb zu Hause. Der Roman beginnt mit dem Klagegesang einer marokkanischen Jüdin, die ganz allein auf einem Fußballfeld sitzt und hofft, dass ihr eine Katjuscha auf den Kopf fällt, damit den Kindern wenigstens eine Rente zukommt. Der gewaltsame Tod durch feindlichen Beschuss würde aus ihr eine Märtyrerin machen. Ihr Sohn Itzik kann sich nur langsam bewegen. Weil er stets als Letzter einen Schutzbunker erreicht, will er den Falken zum schützenden Angreifer erziehen. Der 13-jährige setzt ganz auf Selbstverteidigung. Take 4 (Shilo) : He gets his strength from isolation ... Darauf Sprecherin: Er zieht Kraft aus der Isolation. Er glaubt, dass, wenn er niemandes Liebe bedarf, er auch nicht enttäuscht und zurückgestoßen werden kann. Er zieht einen jungen Falken auf. Das ist ein Raubvogel und kein Haustier. Diesem wilden Tier offenbart er seine Gefühle. In der Isolation erschafft er eine eigene Welt, niemand kann ihn darin schlagen, niemand kann ihm etwas vorschreiben, und er braucht niemanden. ... tell him anything, he doesn't need anyone. Autorin: Das Auserwähltsein paart sich mit einer fixen Idee. Itzik glaubt, dass der abgerichtete Falke muslimische Terroristen erkenne und ihn warnen werde. Und er würde so zum Beschützer der Familie. Itzik verstrickt seinen jüngeren Bruder in seine Gedankenwelt und hält ihn an, Fleisch aus den Kühlschränken fremder Leute zu stehlen, um den Raubvogel zu füttern. Sprecherin: Ohne Itzik wäre ich nie drauf gekommen, in Wohnungen hochzuklettern. Wenn Itzik das nicht mit seinen Händen und Füßen hätte, dann tät er nämlich hochklettern, glaub ich. ( ... ) Hundertmal geh ich schon Häuser hoch, kletter Felsen und Zäune hoch - und ich mach es, wie Itzik es mir sagt. Aber wenn ich wo Neues hinkomm, keine Ahnung, wie einer da hochkommen soll. Das ist bloß weil - er kann die Wände lesen und ich nicht. (...) Er redet nicht. Ich fang an rumzulaufen, tret gegen Steine, bring meine Haare in Ordnung, geh um die Ecke pinkeln, komm zurück, da liegt er schon auf der Erde wie eine Küchenschabe auf dem Rücken. Er streckt seine kaputten Hände und Füße in die Luft und tut so, wie wenn er selber da hochklettert, aber er rührt sich nicht vom Fleck (...) und die ganze Zeit wandern seine Augen langsam an dem Haus hoch, und er setzt die Hände und die Füße genau an die richtigen Stellen, macht auf der Erde das, was ich gleich an der Wand machen soll. (...) Wie ich neun war, hat er mich das erste Mal hergenommen, dass ich ihm die Sachen besorg. Zuerst bin ich überall runtergeflogen, die ganze Welt hat sich mir im Kopf gedreht, schwarz geworden ist mir vor den Augen. Ich bin runtergefallen, hab' mich überall aufgeschlagen, hab mir fast mal den Arm gebrochen, aber Itzik - der zuckt nicht mal im Gesicht. Ich hab geheult und geschrien, so hat das weh getan, und der - bleibt total cool. (Sara Shilo: "Zwerge kommen hier keine". Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer. Dtv, München 2009) Autorin: Itzik ist der Kopf und sein Bruder das ausführende Organ. Der sich prophetisch gebende Itzik braucht jedoch den menschenfreundlichen Gehilfen, um den Kontakt zur Welt nicht gänzlich zu verlieren. Am deutlichsten wird das, als Itzik aus enttäuschter, irrationaler Liebe sein Liebstes, den wilden Vogel, umbringt. Sara Shilo gefällt die Analogie zum ungleichen Bruderpaar Moses und Aron. Take 5 (Shilo) : I think Moses and Aron complete each other in a ... Darauf Sprecherin: Ich glaube, dass Moses und Aron sich in ähnlicher Weise ergänzen, wie Dudi und Itzik es tun. Moses stottert, und er lebt viel abgeschiedener als Aron, der Kontakt zu den Leuten hält. Dudi hat Freunde in der Schule, er ist in eine junge Soldatin verliebt, die unterrichten muss, er spricht mit all den freiwilligen Helfern aus dem Ausland, die sich zeitweilig in seiner Gegend aufhalten. Moses ist gläubig. Er trägt die zehn Gebote, die er von Gott am Berg Sinai empfing. Itzik schreibt nach seiner Zwiesprache mit Gott zehn eigene Gebote und begründet darin unter anderem, warum es nötig ist, zu stehlen. Aron hat Anteil am Glaubensverlust der Juden. Er war dabei, als das goldene Kalb geschaffen wurde. Und wie Aron, so verliert auch Dudi den Glauben an viele Ziele, die Itzik gesetzt hat. ... that Itzik has set. Autorin: Die übersteigerte Wahrnehmung der Wirklichkeit und die Leugnung simpler Gegebenheiten isolieren Sara Shilos Figur Itzik schließlich. Der körperlich Behinderte sinkt zurück in jene Einsamkeit, die er von Anfang in sich selbst spürte - ausgelöst durch den Blick derer, die sind wie die meisten. Der französische Schriftsteller und Dokumentarfilmer Jean-Louis Fournier erkennt in der Erfahrung des entsetzten Blickes ein Grundproblem von Menschen, die mit einer erkennbaren Anomalie zur Welt gekommen sind. Take 6 (Fournier) : Il fallait penser aux enfants handicapés pas avec un ... Darauf Sprecher: An behinderte Kinder sollte man nicht mit einer tristen Miene denken, denn Traurigkeit war nie zu irgendetwas nützlich. Zu lachen, wenn ein behindertes Kind Unsinn macht, das ist das größte Kompliment. Das ist das größte Geschenk, das man ihm machen kann. Diese Kinder sehen nie Leute um sich herum lachen. Kaum sind sie auf die Welt gekommen, beugen sich Eltern mit einem Katastrophengesicht über ihr Bettchen. Die sagen dann nur: Ohlala! Wie schrecklich, auf die Welt zu kommen und das zu sehen. ... Olala! C'est terrible quand on arrive sur terre de voir ca. Autorin: Jean-Louis Fournier ist Vater von zwei Söhnen, die mit einer seltenen genetisch bedingten Krankheit geboren wurden. Er hatte ihnen den Himmel auf Erden gewünscht, stattdessen aber, sagt er, sei ihnen der Himmel auf den Kopf gefallen. In seinem Buch "Wo fahren wir hin, Papa?" schildert er das Leben mit Mathieu und Thomas in kurzen Episoden. Fournier ist 72 Jahre alt. Der erstgeborene Sohn starb mit fünfzehn. Der zweite ist über vierzig und lebt in einem Heim. Take 7 (Fournier) : Les enfants handicapés ce sont en général ... Darauf Sprecher: Behinderte Kinder werden im Allgemeinen versteckt, man zeigt sie nicht, spricht nicht von ihnen, weil man sich meistens für sie schämt. Oft leben sie nicht bei den Eltern, sondern auf dem Land, in einem Heim, wo sie im Dunkeln spazieren geführt werden, damit man sie nicht sieht. Ich habe das Gegenteil gemacht: Ich habe sie aufs Podest gestellt, ins volle Licht gerückt, damit man sie sieht. ... pour qu'on les voit. Autorin: Und Jean-Louis Fournier lacht. Darin unterscheidet er sich von den meisten Autoren, die Fiktionen oder Erfahrungsberichte über kranke Kinder und elterliche Krisen veröffentlichen. Larmoyanz ist ihm fremd und suspekt. Übertriebenes Mitleid mit den benachteiligten, oft wehrlosen Kreaturen ebenso. Die Märtyrerpose mancher Eltern - zudem, wenn sie sich öffentlich äußern - widert ihn an. Auch das stellt Fournier in schonungsloser Deutlichkeit klar: Er betrachtet ein behindertes Kind als Katastrophe, und nicht selten zerbricht das Leben der Eltern an einem solchen Schicksalsschlag. Take 8 (Fournier) : Je ne me plains pas, je dis que je n'ai pas de chance ... Darauf Sprecher: Ich beklage mich nicht. Ich sage nur, dass ich kein Glück habe. Normale Kinder zu haben, ist auch nicht gerade das Paradies. So oder so, das Leben ist hart. Unglücksfälle und Glücksmomente reihen sich aneinander - das ist doch packend. Das Leben ist ein erstaunliches Abenteuer. Wenn es einen richtig hart trifft wie mit behinderten Kindern, dann muss man dafür sorgen, dass die Dinge etwas von ihrer Schwere verlieren. Ich habe immer gedacht, dass der Humor eine gute Waffe ist, dass sich damit das Leiden wunderbar abwehren lässt, und wenn man erst einmal angefangen hat, über das Unglück zu lachen, dann hört man nicht mehr auf, denn Unglück gibt es genug und immerzu. Das Lachen ist über die Maßen wichtig. Jemand hat einmal gesagt, es ist die kürzeste Verbindung zwischen zwei Menschen. Gerade wenn es nichts zu lachen gibt, sollte man lachen. ... qu'il faut rire. Autorin: Jean-Louis Fournier empfindet die körperlich-geistig Behinderten als eine "andere Menschheit". Zutritt zu ihrer Welt erhält kaum jemand. Sprecher: Wenn ich mit meinen beiden Jungs spazieren gehe, ist mir, als hielte ich Marionetten oder Stoffpuppen an der Hand. Sie sind federleicht, ihre Knöchelchen zerbrechlich, sie wachsen nicht, nehmen nicht zu, mit vierzehn sehen sie aus wie sieben. Sie sprechen kein Französisch, sondern sprechen Koboldisch oder miauen, brüllen, bellen, piepsen, gackern, schnattern, quieken, kreischen. Ich verstehe sie nicht immer. Was steckt eigentlich im Kopf meiner kleinen Kobolde? Jedenfalls kein Grips. Außer Stroh dürfte nicht viel drinstecken, bestenfalls ein Spatzenhirn oder irgendein ausrangierter alter Krempel, so etwas wie Detektorenempfänger oder ein ausgedientes Radio, ein paar schlecht zusammengelötete Kabel, ein Transistor, eine kleine flackernde Glühbirne, sowie ein paar aufgezeichnete Wörter, die in Endlosschleife abgespielt werden. ( ... ) Vor kurzem hatte ich ein erschütterndes Erlebnis. Mathieu saß da: in ein Buch vertieft. Vorsichtig schlich ich mich an ihn heran, zutiefst ergriffen. Er hielt das Buch verkehrt herum. (Jean-Louis Fournier: "Wo fahren wir hin, Papa?". Aus dem Französischen von Nathalie Mälzer-Semlinger. Dtv, München 2009) Autorin: Dosiert gibt Jean-Louis Fournier zu erkennen, dass auch ein nüchtern blickender Vater wie er immer wieder in die Falle der unsinnigen Hoffnung tappt. Und er listet alle Strategien auf, mit denen es ihm gelingt, durchzuhalten. Dass er nichts von dem, was er selber liebt, mit den geistig zurückgebliebenen Kindern teilen kann, empfindet er als unstillbaren Schmerz. Take 9 (Fournier) : Moi, je suis l'envers d'un Saint ... Darauf Sprecher: Ich bin das Gegenteil eines Heiligen, eher ein Teufel. Es ist sehr schwer, ein guter Vater zu sein für Kinder, die wie andere sind und noch schwieriger für Kinder, die nicht sind wie die anderen. Als Vater von Kindern, die sind wie die anderen, erlebt man wenigstens kleine Freuden. Man hört zusammen Mozart oder geht ins Museum. Man kann nicht so tun, als verstünde man, was Kinder empfinden, die nicht wie die anderen sind. Man kann sich nicht in sie hineinversetzen. Sie führen ein ganz anderes Leben als wir, und vielleicht gibt es in ihrem Leben auch Glück. Nur kann man einfach nicht zusammen glücklich sein. Ihr Glück und meines passen nicht zusammen. Das ist das Drama. ... C'est le drame de cela. Autorin: Zu den Durchhaltestrategien, die Jean-Louis Fournier entwickelt hat, gehört der Spott. Sich zu mokieren, meint er, sei eines der wenigen Privilegien, die er als Vater besitzt. Auch den früher gelegentlich aufkeimenden Wunsch, sein Leben und das der Kinder mit einem Schlag auszulöschen, hat er ausgesprochen - und dafür Hunderte von Briefen erhalten. Eltern schwer behinderter Kinder bedanken sich bei Jean-Louis Fournier, weil er Fantasien aufgeschrieben hat, die sie in sich niederkämpfen und für die sie sich schuldig fühlen. Einmal malte Fournier sich aus, dass er seine heranwachsenden Söhne mit zwei großen Rasiermessern im Badezimmer einsperren würde. Sie sollten allein lernen, sich den Bart zu rasieren. Der Autor spricht es nicht aus, aber der Leser sieht, wie sich die ungelenken Kinder gegenseitig die Kehle durchschneiden. Jean-Louis Fourniers Buch "Wo fahren wir hin, Papa?" wurde in dreißig Sprachen übersetzt. Der amerikanische Verleger bat ihn, auf den Abdruck eben jener Fantasie zu verzichten. Take 10 (Fournier) : Alors évidemment, c'est terrible mais si vous voulez ... Darauf Sprecher: Natürlich ist das ein furchtbares Szenario, aber es gehört nun mal zu meinem Metier, Geschichten zu erfinden. Ich tue das nicht, um mich über sie lustig zu machen, sondern ich treibe eine Situation auf die Spitze. Amerika ist das einzige Land, das mein Buch zensiert hat. Es ist ein gewalttätiges Land, in dem jeden Tag viele Morde auf offener Straße geschehen. Aber Kinder, die sich allein rasieren, nein, das darf nicht sein. Ich habe natürlich eingewilligt, dieses kurze Kapitel zu streichen, denn man sollte die Amerikaner nicht vorsätzlich schockieren. Sie fahren mit Gewehren in ihren Autos herum, aber sie sind eben doch sehr empfindsam. ... mais ils sont très sensibles. Autorin: Als Vater von behinderten Kindern erlebt Jean-Louis Fournier immer wieder, dass er selbst wie ein Kuriosum behandelt wird und man seine Gabe, komische Situationen pointiert zum Besten zu geben, gezielt herauslockt. Eine nachweihnachtliche Episode zeigt, wie bewusst er den Unterhalter gibt und lieber Lachen provoziert als verlegene Fragen. Sprecher: Ich habe ihnen vom letzten Weihnachten in dem Heim erzählt, in dem meine Kinder untergebracht sind. Vom Weihnachtsbaum, den die Kinder umgeworfen haben, vom Chor, wo jeder ein anderes Lied gesungen hat, vom Weihnachtsbaum, der anschließend in Flammen aufgegangen ist, vom Vorführgerät, das während der Filmvorführung umgekippt ist, von der Sahnetorte, die wir umgeschmissen haben, und von den Eltern, die unter die Tische gekrochen sind, um vor den Boccia-Kugeln in Deckung zu gehen, die ein unvorsichtiger Vater seinem Sohn geschenkt hatte, und das alles musikalisch untermalt mit "Zu Bethlehem geboren ist uns ein Kindelein ... " Anfangs genierten sie sich noch ein wenig. Doch allmählich wagten sie zu lachen. Meine Geschichte hatte den gewünschten Erfolg. Der Herr des Hauses war zufrieden. Wahrscheinlich lädt er mich wieder ein. (Jean-Louis Fournier: "Wo fahren wir hin, Papa?". Aus dem Französischen von Nathalie Mälzer-Semlinger. Dtv, München 2009) Autorin: Am Ende seines Buches "Wo fahren wir hin, Papa?" schreibt Jean-Louis Fournier, er wisse nicht recht, wer er sei. Sein Leben kommt ihm wie eine Farce vor - unmöglich, es ernst zu nehmen. Kinder, die mit vierzig Jahren oder älter noch immer hingebungsvoll mit Bauklötzchen und Teddybären spielen, bleiben alterslos und zwingen ihre Eltern in gewisser Weise, jung zu bleiben. Gleichwohl, die Biologie fordert ihren Tribut, und Fournier formuliert auch diesen Umstand klar und ohne Pathos. Take 11 (Fournier) : (tandis que) quand vous avez des enfants handicapés, il n'y a pas d'horizon ... Darauf Sprecher: Wenn man behinderte Kinder hat, dann gibt es für einen selbst nichts am Horizont. Die Kinder schaffen nichts, sie werden selber weder Kinder haben noch sonst etwas. Man hat das Gefühl, dass das eigene Leben aufhört und in einer Sackgasse endet. Ein Weg ist das nicht. Auch nicht gerade ein angenehmer Gedanke. Das Leben der anderen verlängert sich, indem es sich von Generation zu Generation fortpflanzt. Solange die Kette existiert, stirbt man nicht. Wenn ich sterbe, dann verschwinde ich vollständig. Nun ja, es bleiben meine Bücher. Bon, il restera mes livres. Musik Mauricio Kagel: "Tactil" Sprecherin: Ich versuche, ihn aufrecht in den Kinderwagen zu setzen, zurre das Gurtwerk fest, aber der Oberkörper und die Schultern und der Nacken, der Kopf kippen zur Seite. Ich klemme seine Füße auf die Fußstützen über den Rädern. Er murrt ein bisschen. Es geht mir auf die Nerven, zu sehen, wie seine Augen in die Luft stieren, seine Augen, die immer hinter Wolken versteckt bleiben, aber heute ist es nicht bewölkt, also sieh mich an, Pierre, lass es doch zu, hör her, halt dich gerade, sieh mich an, sieh mich doch an. Ich zwinge mich, nicht zu schreien. (Emmanuelle Pagano: "Die Haarschublade". Aus dem Französischen von Nathalie Mälzer-Semlinger. Wagenbach Verlah, Berlin 2009) Autorin: Pierre ist fünf Jahre alt. Er hört und spricht nicht, er kann keine Körperspannung erzeugen. Er lächelt nie. Er ist das Gegenbild seines vergnügten jüngeren Bruders, der sich altersgemäß entwickelt. Die namenlose Mutter der Jungen ist etwa 20 Jahre alt. Sie gibt die Namen der Väter nicht preis. Der Jüngere ist vermutlich in den Weinbergen gezeugt worden, bei einer Gruppenvergewaltigung. So etwas, sagt Emmanuelle Pagano, geschieht unter Jugendlichen auf dem Lande immer wieder - nicht nur in unbeleuchteten Treppenhäusern großer Vorstadtwohntürme. Emmanuelle Pagano wohnt in der Ardèche, einer ländlichen Region im Süden Frankreichs. Sie arbeitet als Kunsterzieherin und schreibt Prosa. Für ihren fünften Roman "Die Haarschublade" ist sie 2009 mit dem Europäischen Literaturpreis ausgezeichnet worden. Die 41-jährige erzählt darin, wie eine völlig überforderte, vereinsamte, junge Frau beginnt, ihr behindertes Kind allmählich anzunehmen. In stummer Hingabe. Take 12 (Pagano) : L'idée de ce livre - c'était il y a six ans ... Darauf Sprecherin : Die Idee zu diesem Buch kam mir vor ungefähr sechs Jahren, als mein drittes Kind geboren wurde. Sein Gesicht und sein Verhalten erinnerten mich an jenes Kind, das heute etwa 25 Jahre alt sein dürfte und von dem ich nicht weiß, ob es noch lebt. Dass dieses Kind mein Nachbar war, wurde mir plötzlich bewusst. Ich habe es zum letzten Mal gesehen, als ich selber gerade mein erstes Kind zur Welt gebracht hatte. Meins hatte offiziell keinen Vater, und das war sehr schlecht angesehen. Um mir selber Mut zu machen, sagte ich mir: Kümmere dich nicht um das Gerede der Leute, also der Polizisten, der Familienväter, der Entscheidungsträger. Dein Kind ist schön, und das ist das Einzige, was zählt! Ich habe nicht gewusst, wie ich meine Nachbarin damals trösten sollte. Sie war jünger als ich, und ihr Kind hatte eine solch starke Behinderung. Ich habe mir gesagt: Ich muss ihr eine Stimme geben und etwas gut machen. ... une sorte de dommage. Autorin: Emmanuelle Pagano hat Filmwissenschaft studiert. Knapp sind die Szenen, die sie in ihren Fiktionen entwirft, und betont schlicht formuliert sie die Wahrnehmung ihrer Protagonistin, die zweimal ungewollt Mutter wurde. Nach der ersten Geburt überlässt sie ihr Kind den eigenen Eltern und verschwindet wochenlang mit einer Clique in einem Versteck hinter einer Winzergenossenschaft. Nach und nach streut Pagano die Erinnerungen ihrer Protagonistin ein. Sprecherin: Am Morgen nach einem gemeinsamen Besäufnis weckte ich alle um zehn. Ich musste mich übergeben und stolperte. Mir war, als hätte dies ein endloses Echo ausgelöst, als sei ich in der gesamten Kellerei hingefallen. Die Mädchen maulten, weil ich auf den Boden gekotzt hatte, die Jungs lachten. Vielleicht hatte ich zu viel getrunken, von wegen trinkt nie. Vielleicht war ich auch reif für eine neue Rotznase, he, an dem Tag, wo du das andere gemacht hast, warst du voll wie eine Bütte. Ich war schwanger mit Titouan. (Emmanuelle Pagano: "Die Haarschublade". Aus dem Französischen von Nathalie Mälzer-Semlinger. Wagenbach Verlah, Berlin 2009) Autorin: Emmanuelle Pagano vermeidet jede Reflexion. Ihre Protagonistin ist Schulabbrecherin und Tochter eines strengen Gendarmen. Sie verabscheut das Milieu, in dem ihre Eltern verkehren. Sie liebt es, mit den Haaren ihrer Kinder zu spielen. In einer Schublade verschließt sie eine Haarsträhne, die immer dann hervorgeholt wird, wenn die innere Not anschwillt. Allein das Vorhandensein des Fetischs beruhigt die haltlose junge Frau. Pagano beschränkt sich ganz auf die Beschreibung dessen, was ihre Figur sieht und hört. Die Zukunft klammert sie so aus. Take 13 (Pagano) : Ce n'est pas du tout inée d'être mere ... Darauf Sprecherin: Mutter zu sein, das ist ja nichts Angeborenes. Es muss erlernt werden. Man lernt es nur darüber, dass das Kind nach etwas verlangt und uns dazu bringt, es zu versorgen. Es ruft, es weint, es schreit. Indem man darauf wartet und sich dann kümmert, wird man Mutter oder Vater oder derjenige, der diese Rolle erfüllt. Wie aber wird man Mutter, wenn man ein Kind hat, das augenscheinlich nichts will; das nicht spricht, nicht weint, nicht lächelt. Es ist unmöglich. ... c'est impossible. Autorin: Und wie wehrt man sich gegen die Bevormundungen durch andere, die die Behinderung leugnen oder im Gegenzug verlangen, das behinderte Kind schnellstmöglich in ein Heim zu geben, um den verständnislosen Blicken und Kommentaren der Umwelt zu entgehen? Sprecherin: Meine Mutter ist eine Großmutter des Südens, von satter Zärtlichkeit. Sie widerte mich an. Mit ihren redseligen Händen strich sie über Pierres stummen Körper. Legte ihn in eine Wiege voller Rüschen, deckte ihn mit verlogenen Einfältigkeiten zu. Dabei wussten wir, dass etwas nicht stimmte, aber es war noch nicht so deutlich zu sehen. Meine Mutter tratschte mit meinem Baby auf dem Arm. Meinem blicklosen Baby, das ich von weitem anblickte. Ich fand es lächerlich in dieser Wiege. ( ... ) Mein verpfuschtes Baby mit dem abwesenden Gesicht, ich fragte mich, wie meine Mutter ihm ein Leben vorlügen konnte, nur weil es hübsch und so blond war. Mein zubetoniertes Baby, das nicht einmal zuckte, wenn ich die Tür knallte ( ... ) (Emmanuelle Pagano: "Die Haarschublade". Aus dem Französischen von Nathalie Mälzer-Semlinger. Wagenbach Verlah, Berlin 2009) Autorin: Emmanuelle Pagano beschreibt einen extremen Fall, und sie schlägt bisweilen einen durchaus aggressiven Ton an. Das "zubetonierte Baby" ist eine unter der Zierdecke versiegelte Hülle. Mehr Ding als Lebewesen. "Farblos und starr". Es empfängt nichts, es gibt nichts. Die sich erst langsam entwickelnde Zuneigung der Mutter zu ihrem Kind bleibt ohne jedes Echo. Pagano macht deutlich, wie sehr die fehlende Spiegelung die Haltlosigkeit der Mutterfigur verstärkt. Sprecherin: Ich schaue ihn nicht oft an, weil er nicht weiß, was anschauen ist. ( ... ) Seine Augen richten sich auf die Decke, also hat es keinen Zweck. Ich klemme ihn in den Schaumstoff , setze mich für alle Fälle auf den Wannenrand, und nehme mir eine Zeitschrift, blättere darin. Oder ich nutze die Gelegenheit, mir die Nägel zu schneiden, ein paar Haare von den Beinen zu entfernen. Oder suche nach Pickeln (meine Haut ist zu fettig, ich müsste mir im Salon eine Gesichtspflege machen lassen). Ab und an starre ich ihn an, nur so, man weiß ja nie, aber wenn ich seinen Augen begegne, senke ich meine, weil sein nackter Blick mich einsam macht. (Emmanuelle Pagano: "Die Haarschublade". Aus dem Französischen von Nathalie Mälzer-Semlinger. Wagenbach Verlah, Berlin 2009) Take 14 (Pagano) : Elle a dit que son regard nu l'a fait sentir seule ... Darauf Sprecherin: Sie sagte, dass sie sich durch seinen nackten, leeren Blick sehr allein fühlte. Und wenn man allein mit einem Kind lebt, ist man zweimal, dreimal, viermal mehr allein als andere. Ein Kind, das ist keine Gesellschaft. Es kann die äußerste Einsamkeit bedeuten. Mein Buch handelt auch von dieser Art des Eingesperrtseins. ... . C'est aussi un livre sur l'enfermement. Autorin: Emmanuelle Pagano versucht etwas, das unmöglich scheint. Sie will erkunden, wie es dazu kommt, dass ein Mensch eine Stimme vermissen kann, obwohl diese keinen individuellen Ausdruck besitzt, sondern nur kreischt, wimmert oder murrt. Ihre junge Heldin verteidigt ihr Kind am Ende gegen den Zugriff der Ämter. Take 15 (Pagano) : Moi, dans le livre, je suis dans la voisine ... Darauf Sprecherin: Mich findet man in dem Buch in der Figur der Nachbarin, die studiert. Sie ist diejenige, die interpretiert. Sie maßt sich die Rolle der Wissenden an, und das prangere ich an. Meine Protagonistin antwortet ihr: "Was weißt du denn schon von Pierres Träumen?" Das ist eine diskrete Art zu sagen: Wer gibt mir das Recht diese Geschichte zu schreiben, diesen Blick auf jemanden zu richten. Ich bin nur die Autorin und muss das alles nicht erleben. In fast all meinen Büchern findet man diese kleinen Selbstanschuldigungen. ... il y a un petit d'auto-dénonciation, si on peut dire. Autorin: Emmanuelle Paganos Buch endet mit einem rauschhaften Erlebnis. Ihre Protagonistin besucht mit ihren zwei Kindern den Spielplatz und legt sich mit ihnen auf eine Drehscheibe. Die Körper verrutschen, sie schließen die Augen, um das Schwindelgefühl abzuwehren, ihr Gelächter "verknäult sich". Das behinderte Kind hat zum ersten Mal Farbe im Gesicht. Es ist "knallrot". MUSIK Yuval Shaked "Marcia futurista" für drei raue Stimme (1982) V: Maria de Alvear; Chris Newman; Johannes Schmidt-Sistermanns Länge: 0'47 Sprecher: Am 5. Juli 1996 wurde meine Tochter verrückt. Sie war fünfzehn, und ihr Zusammenbruch markierte einen Wendepunkt in ihrem und auch in meinem Leben. "Ich habe das Gefühl zu reisen, aber ohne Möglichkeit zur Umkehr", sagte sie in einer plötzlichen Anwandlung geistiger Klarheit, während sie auf einen Ort zuraste ( ... ) von dem ich keine Vorstellung hatte." (Michael Greenberg: "Der Tag, an dem meine Tochter verrückt wurde". Aus dem Amerikanischen von Hans-Christian Oeser. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2009) Autorin: Der 5. Juli 1996 war ein heißer Sommertag in New York. Sally, die Shakespeare lesende und Gedichte schreibende Tochter des Publizisten und Filmemachers Michael Greenberg, hatte sich auf den Broadway gestellt und versucht, kraft ihrer Gedanken auf sie zurasende Autos anzuhalten. Sie glaubte, dass Menschen im Sunshine-Café darauf warteten, dass sie zurückkehre, um vom Genie der Kindheit zu künden und die Menge zu erleuchten. Sally irrte durch die Straßen, bis Polizisten das Mädchen aufgriffen und es nach Hause brachten. Dort kratzte Sally das Gesicht des Vaters blutig. In einer psychiatrischen Klinik wurden manisch-depressive Störungen diagnostiziert. Heute, schreibt Michael Greenberg, gelte es fast als Sakrileg, Psychosen anders denn als eine chemisch verursachte Hirnkrankheit aufzufassen. Sprecher: Indes gab es bei meiner Tochter Augenblicke, da ich die quälende Empfindung hatte, Zeuge einer seltenen Naturgewalt zu sein, wie ein heftiger Schneesturm oder eine mächtige Flut: verheerend, auf ihre Weise aber auch grandios. (Michael Greenberg: "Der Tag, an dem meine Tochter verrückt wurde". Aus dem Amerikanischen von Hans-Christian Oeser. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2009) Autorin: Michael Greenberg hat die haltende Funktion der Medizin schätzen gelernt. In den Warteräumen der Psychiatrie und zuhause hat er acht Jahre lang Notizen zusammengetragen. Als er 2004 das auf 400 Seiten angewachsene Kompendium las, beschloss er, ein Buch über den Kollaps aller Lebenszusammenhänge zu schreiben. "Berauscht und vergiftet" fühlte auch er sich von den Phasen des Wahnsinns, die die heranwachsende Tochter schüttelten. "Hurry down sunshine", auf Deutsch "Der Tag, an dem meine Tochter verrückt wurde", ist eine Erinnerungsschrift, die nirgends exhibitionistisch wirkt. Auch der poetische Referenzrahmen unterscheidet dieses Buch von anderen Zeugnissen, in denen Angehörige über unheilbare, bestenfalls kontrollierbare Krankheiten naher Menschen schreiben. Greenberg erinnert an Virginia Woolf und die Tochter von James Joyce. Lydia Joyce wurde mit 29 Jahren in eine Zwangsjacke gesteckt. Ihr Vater klagte sich an, sie durch die vielen Wohnortwechsel der Fähigkeit beraubt zu haben, sich räumlich und sprachlich zu verhaften. Sie war zutiefst bindungslos. Hemingway wiederum verstand es, Psychiater geschickt zu täuschen, und als man ihm "geistige Gesundheit" bescheinigte und er die Klinik verlassen konnte, griff er erneut zur Schrotflinte, um zu vollenden, was er sich fest vorgenommen hatte. Der nach Erklärungen für die Psychose seiner Tochter suchende Michael Greenberg entdeckte nach der Erkrankung seiner Tochter plötzlich ständig Notizen über echte und vorgebliche Wahnsinnige. Sprecher: Eric hat seine Zeitung vergessen. Der Titelseite entnehme ich, dass Vicente Gigante, der mächtigste Mafiaboss der Vereinigten Staaten, hohläugig und unrasiert in Bademantel und Pantoffeln durch Greenwich Village irrt und vorgibt, geistesgestört zu sein, um zu vermeiden, dass er sich wegen Mordes vor Gericht verantworten muss. "Ein unheimlicher Kerl", sagt ein Nachbar. "Der guckt durch dich durch, als gäb's dich gar nicht". Eine Parodie des Wahnsinns. Welche andere Krankheit lässt sich ausschließlich am Sozialverhalten ihres Opfers nachweisen? (Michael Greenberg: "Der Tag, an dem meine Tochter verrückt wurde". Aus dem Amerikanischen von Hans-Christian Oeser. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2009) Autorin: Michael Greenberg stellt sich mit seinem Buch bewusst in eine humanistische Tradition. Es ging ihm darum, Mitgefühl zu erwecken; Empathie mit denjenigen, die Psychosen durchleben und mit den Eltern, die lernen müssen, die sich in akuten Phasen immer wieder einstellende, trennende Fremdheit auszuhalten. Greenberg wählt die Worte äußerst behutsam, und nie gestattet er sich Sentimentalitäten. Er hat - anders als Jean-Louis Fournier, dessen Kinder im Heim leben müssen - keinen Grund zu anhaltender Verzweiflung, denn seine Tochter kehrte an die Schule zurück. Sie machte einen erstklassigen Abschluss. Sie heiratete, und sie trennte sich von ihrem Mann, nachdem die Psychose sich nach fünf Jahren mit "erneuerter Kraft" zurückgemeldet hatte. Inzwischen arbeitet Sally Greenberg in der Bäckerei ihrer Mutter im Bundesstaat Vermont. Sprecher: Außerdem hilft sie auf einer nahegelegenen Farm aus, wo sie Ahornstämme anzapft, um Sirup zu gewinnen, und die Ziegen und Kühe hütet. Wir telefonieren fast täglich. Sally ist selbst in Zeiten des Rückzugs und des Verlusts selbstironisch und mutig. Sie ist entschlossen, zu lernen, wie sie ihre schlimmsten Anfälle von Psychose rechtzeitig erkennt, und sie abzuwenden, bevor sie sie überwältigen. "Ich versuche herauszuspüren, wann sie bevorsteht", sagt sie, "damit ich ihr aus dem Weg gehen oder mich wenigstens auf den Boden werfen kann wie jemand, der ins Kreuzfeuer einer Schießerei gerät." Als ich ihr sagte, ich schriebe an einem Buch über den Sommer ihres ersten Zusammenbruchs, erwiderte sie: "Es gefällt mir, dass du so viel über mich nachdenkst." Und nachdem sie eine Weile überlegt hatte, fügte sie hinzu: "Ich möchte, dass du meinen richtigen Namen verwendest." (Michael Greenberg: "Der Tag, an dem meine Tochter verrückt wurde". Aus dem Amerikanischen von Hans-Christian Oeser. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2009) Musik Yuval Shaked: "Aver dodici" für Flöte und Gitarre (1996) Flöte: Marcello Ehrlich Gitarre: Ruben Serroussi Take 16: John Wray reads to commuters Darauf Autorin: Der Schriftsteller John Wray hat ein Megaphon vor dem Mund und liest in der New Yorker U-Bahn Teile seines Romans "Retter der Welt". William Heller, wegen seines Stimmungstiefs "Lowboy" genannt, ist der Held des Romans. Er ist 16 Jahre alt und wurde wegen paranoider Schizophrenie in einer Klinik behandelt. Lowboy hat seine Medikamente heimlich abgesetzt, er ist geflüchtet und in das unterirdische Tunnelnetz des Big Apple abgetaucht. Sprecher: Am 11. November rannte Lowboy, um den Zug noch zu erwischen. Leute standen im Weg, aber er achtete darauf, niemanden zu berühren. Er rannte die rostig gelbe Bahnsteigkante entlang, die Kabine des Zugbegleiters fest im Blick: Er zwang ihn zu warten. Die Türen waren schon geschlossen, aber sie öffneten sich, als er dagegentrat. Es kam ihm wie ein Zeichen vor. (John Wray: "Retter der Welt". Aus dem Amerikanischen von Peter Knecht. Rowohlt Verlag, Reinbek 2009) Take 17: New York Subway-sound-signal Sprecher: Töne erklangen, als sich die Türen hinter ihm schlossen. Cis, dann A. Wie ein spitzer Bleistift stachen sie ihn in die Ohren. ( ... ) Der Zug passte genau in den Tunnel. Er schlüpfte hinein wie eine Hand in die Hosentasche, schloss sich um Lowboys Körper und hielt ihn ruhig. (John Wray: "Retter der Welt". Aus dem Amerikanischen von Peter Knecht. Rowohlt Verlag, Reinbek 2009) Autorin: John Wray schildert einen Tag im Leben Lowboys, dessen abschwirrende Gedanken Schleifen ziehen und sich spiralartig winden - ganz so wie der Tunnel unter der Erde. Gerade die nüchtern-distanzierte Weise, in der Wray die vielen Begegnungen und Erscheinungen Lowboys während seiner Fahrt durch den Untergrund beschreibt, erzeugt einen großen Sog. Figuren erscheinen hinter der Scheibe. Rasend schnell können sich freundlich blickende Gesichter in Fratzen verwandeln, und das Lächeln wirkt nur noch wie mit Tapetenleim ins Gesicht geklebt. Einem New Yorker Radiosender erzählte der 39jährige Autor, dass es zu schwer gewesen sei, den Roman eines Jungen mit Erlösungsfantasien in der ersten Person zu schreiben. Take 18: (Wray on Lowboy) : Anyone who has a conversation with a schizophrenic who is in a delusion ... Darauf Sprecher: Jeder, der mit einem Schizophrenen zusammen kommt, begreift sofort, wie schwer es ist, mit Menschen zu reden, die Wahnvorstellungen haben. Auch ich musste einsehen, dass - wenn ich in der Ich-Perspektive geblieben wäre - niemand den Gedankenwindungen und -sprüngen meines Protagonisten hätte folgen können. Als ich das Buch mit dem 16-jährigen Helden begann, habe ich überhaupt nicht an mein früheres Leben gedacht, denn Romane speisen sich für mich nicht zwingend aus eigenen Lebenserfahrungen. Später hat ein naher Freund mir dann gesagt, dass meine Hauptfigur mir sehr ähnele, und das hat mir dann doch die Augen geöffnet für Kindheitserfahrungen, die unbewusst eingeflossen sind. ... my childhood experiences. Autorin: Für John Wrays Held Lowboy besteht die Welt aus lauter Zeichen und Codes. Der Autor nimmt den Leser mit auf eine Odyssee, die mehr und mehr Verständnis weckt für die Entzifferungsmanie des Jungen. Gleichzeitig hat sein Roman Thrillerqualität, denn über der Erde treibt Lowboys Mutter einen Privatdektektiv an, ihren flüchtigen Sohn zu finden. Sie engagiert den Mann, weil er poetische Wortspiele, Geheimschriften und verschlüsselte Botschaften aller Art liebt und deshalb geeignet scheint, Lowboys unterirdische Winkelzüge zu antizipieren. Seiner Mutter hatte der Sohn vor längerer Zeit den Spitznamen "Die Endlösung" gegeben. Lowboy ist überzeugt davon, die vom Klimawandel erhitzte Welt in sich zu tragen und er glaubt, dass er sie retten könne, indem er sich selbst abkühlt - durch Sex. Sex mit dem Mädchen, das er zwei Jahre zuvor nach einer Umarmung unvermittelt auf die Gleise der New Yorker U-Bahn gestoßen hatte und das er wiederfinden möchte. Oder durch Sex mit einer Prostituierten, die ahnt, dass sie für ihn die Erste ist. Sprecher: Sie war kleiner, als er für möglich gehalten hatte, und ihr Körper war vollkommen geruch- und gewichtslos. "So ist es gut", murmelte sie. "Gut so". Ihre Hand hielt ihn niedergedrückt; er lag da wie ein aufgespießter Schmetterling in einem Glaskasten. Er dachte an das MUSEUM OF NATURAL HISTORY und die Skelette, die zwischen den Fliesen eingefasst waren wie Edelsteine. Als er die Augen aufschlug, sah er, dass sie ihn lächelnd musterte. "Du bist ein lieber Junge", sagte sie. Er öffnete den Mund und klappte ihn wieder zu. ( ... ) Er konnte durch die Löcher in ihren Augen nach draußen sehen, mit ihrem Mund schmecken und fühlen, was sie fühlte. Er spürte, wie die Haut um ihn herum zerriss und zugleich die Stille. Er sickerte aus seinem Körper wie der Dotter aus einem Ei. Die Welt war jetzt außerhalb seines Körpers, und das bedeutete: Er war allein. Sein Körper befand sich auf der Außenseite der Welt. ( ... ) Er nahm einen Zipfel der Bettdecke und wischte damit langsam über seinen Bauch. Jetzt ist es passiert, dachte er. Jetzt ist das Ende der Welt aufgehalten. (John Wray: "Retter der Welt". Aus dem Amerikanischen von Peter Knecht. Rowohlt Verlag, Reinbek 2009) Autorin: Sexuelles Verlangen und existenzielle Sinnsuche bestimmen die Pubertätsjahre deutlicher als andere Lebensphasen. Die Welt erscheint Jugendlich schnell verkommen und prinzipiell gefährdet. Sie schreit nach Rettung. Sex befreit Lowboy vom Druck der Welt und von sich selbst. Er wächst aus sich heraus. Innen und Aussen sind auf einmal scharf getrennt. Bis die Geister wieder auftauchen vor seinem inneren Auge. John Wray schafft es, die bedrängte Innenwelt eines jungen Paranoikers plausibel zu machen, ohne das Geschilderte mit einer Botschaft zu verknüpfen. Beklommen lesen wir den letzten Satz des Romans, in dem der Autor Lowboy wiederholt fragen lässt, warum er auf der Welt sei. Und er lässt den Jungen, der einen Tag in Freiheit herumgeirrt war, eine Grimasse schneiden und einen Schritt rückwärts gehen. Dass die Welt am nächsten Tag in Flammen untergehen würde, diese verrückte Gewissheit hält Lowboy wieder im Klammergriff. Musik CD: "In nomine" Ensemble recherche Gerhard Kröll: "Versetto. Gloria tibi" Kairos Production 2004 0012442KAI Autorin: In den USA wird mehr als anderswo in der Welt darauf geachtet, Menschen mit körperlichem Makel und geistigen Beeinträchtigungen sprachlich nicht zu diskriminieren. Der Begriff "Menschen mit anderen Fähigkeiten" setzt sich durch. Wer die umständliche Sprachregelung außer Acht lässt, verspielt moralischen Kredit. Offenkundig soll und darf eine körperliche Behinderung unter keinen Umständen als Leiden verstanden werden. Rar sind denn auch fiktionale Werke, in denen körperlich Missgestaltete den Fluss des Geschehens bestimmen. In der amerikanischen Literatur wie in den Filmen gibt es mehr wahre und erdachte Geschichten über pathologisch Empfindsame, die sich wund scheuern an den vermeintlichen Geistesgrenzen der Anderen. Die Innenwelt, so verrückt sie erscheinen mag, ist ein weniger vermintes Terrain als das der sichtbaren Beeinträchtigungen, mit denen "Menschen mit anderen Fähigkeiten" leben müssen. Auf politische Korrektheit in der Wortwahl gibt die israelische Autorin Alona Kimhi gar nichts. Körperliche Unschönheiten oder Abnormitäten setzt sie in ihrem Roman "Lilly die Tigerin" drastisch ins Licht. Ekel wird nicht verbrämt. Die schöne übergewichtige Protagonistin Lilly mutiert zum Raubtier. Ihre Freundin Ninusch wurde von Familienangehörigen missbraucht, sie ging auf Trebe, landete auf dem Straßenstrich und schlief auf der Parkbank, bis der ebenfalls russischstämmige "Greifer" sie fand und ihr Zuhälter wurde. Ein seltener genetischer Defekt - der 1891 zum ersten Mal wissenschaftlich beschrieben wurde und als Ehlers-Danlos-Syndrom bekannt ist- macht ihre Haut fast transparent, hochelastisch und zugleich sehr verwundbar. Das eigenartigste Symptom jedoch ist die extreme Beweglichkeit der Gelenke. Ninusch sieht aus wie eine "Kreuzung aus Mensch und Trauerweide". Sie kann in jedem Moment ihre Gliedmaßen urplötzlich zu einem unauflöslichen Knoten um den Körper schlingen oder die Beine neben dem Kopf einen wilden ukrainischen Tanz vollführen lassen. Als Romanautorin denkt Alona Kimhi über andere Folgen einer solchen Krankheit nach. Sie bürdet ihrer Figur Ninusch auf, in einer nie endenden Gegenwart leben zu müssen. Sprecherin: Ihr Gedächtnis entbehrt der Nervenbahnen; sie kann Schmerz nicht von Wohlgefühl unterscheiden, weder Erkenntnisse noch Schlussfolgerungen abspeichern. ( ... ) Für sie ist die Vergangenheit eine Abfolge verblasster Erinnerungen in Schwarzweiß, während die Zukunft in ihren Gedanken überhaupt nicht existiert, und daher fehlt Ninusch jede Fähigkeit, Pläne zu schmieden, zu fühlen, zu hoffen, sich nach irgendetwas zu sehnen oder von etwas zu träumen. (Alona Kimhi: "Lilly die Tigerin". Aus dem Hebräischen von Ruth Melcer. Carl Hanser Verlag, München 2006) Musik Yuval Shaked: "Unabhängigkeitshoffnung" Klavier mit Sirenenklang Klavier: Anat Tavor-Pick Darauf Autorin: Die Szenerien in Alona Kimhis Roman wirken völlig fantastisch. Dennoch lässt sich aus den ungewöhnlichen Begebenheiten, die die Autorin erfindet, eine Botschaft herauslesen. Sie preist die weibliche Solidarität und klagt die moralische Verdorbenheit von Männern an, die sich anmaßen über Frauen und Kinder zu verfügen. Lilly verabschiedet sich sukzessive aus der menschlichen Welt, und Ninusch, die schließlich von ihrem krankhaft eifersüchtigen Liebhaber zu Tode geprügelt wird, hat den Prozess der Tierwerdung begleitet. "Du musst loslassen. Wie nackt im Regen stehen. Wie beten", rät sie der Freundin. Am Ende steht die Aussetzung der Tigerin Lilly in der Jordansenke, im menschenleeren "syrisch- afrikanischen Bruch", der Schnittstelle zweier Erdplatten, deren Riss sich rund um den Erdball zieht. Zwischen Granitfelsen und den Kuppen des östlichen Jordanufers gibt die Tier gewordene Frau die letzten Reste ihres Bewusstseins auf. Die Literatur zeigt, dass Menschen, die nicht sind wie andere, keinen Sinn haben für die Wettkämpfe, denen die meisten ausgesetzt sind, wenn sie bestimmen möchten über ihren Platz in der Gesellschaft. Sie schärft unseren Sinn für das scheinbar Nutzlose einer Existenz und die bizarren Träume derer, denen der Himmel auf den Kopf gefallen ist. Bilden Menschen mit schweren Behinderungen tatsächlich "eine andere Menschheit", wie Jean-Louis Fournier affirmativ meint? Natürlich hält auch er, der liebende Vater der zerbrechlichen "Strohköpfe", an der Unteilbarkeit der Menschheit fest. Und keiner der vorgestellten Autorinnen und Autoren käme auf die Idee, das beschädigte Leben rein äußerlich zu betrachten. Niemand maßt sich an, es zu erklären. Alona Kimhis wilder Fantasie korrespondiert Jean-Louis Fourniers Insistieren darauf, dass diejenigen, die anders sind als die anderen, uns gelegentlich schenken, was wir im Alltag oft vermissen: "ein wenig Poesie". 1