COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Forschung und Gesellschaft am 3. September 2009 Redaktion: Peter Kirsten Kinder ohne Herkunft Die Folgen der anonymen Geburt Von Susanne Nessler Zitator: "Mit den leiblichen Eltern oder einem leiblichen Elternteil aufzuwachsen, ist in unserer Kultur selbstverständlich. Kinder sind Teil ihrer Verwandtschaft, das letzte Glied von vielen Generationen." Sprecher: Gerald Hüther, Hirnforscher und Neurobiologe. Musik: Kinderlied - kurz frei stehend, dann unter... Zitatorin: Wenn die viereinhalbjährige Maria etwa ganz besonders Schönes erlebt, wird sie urplötzlich traurig und sagt: Schade, dass meine richtige Mama nicht bei uns ist. Der siebenjährige Magro weint fast jeden Tag und sagt: Wenn ich nur herausfinden könnte, warum ich weggelegt wurde. Ich vermisse meinen ersten Papa und meine erste Mama. Die dreijährige Anna fragt jeden Erwachsenen und jedes Kind, dem sie begegnet: Wo bist du geboren? Musik: Kinderlied - wieder hoch... Sprecher: In Deutschland kommen pro Jahr circa 100 Kinder anonym zur Welt. Das sind Kinder, die ohne Angaben über ihre Mutter, ihren Vater und ihre Familien in Kliniken zurückgelassen, anonym geboren oder in Babyklappen gelegt werden. Warum diese Kinder abgeben wurden, bleibt ebenso unbekannt wie ihre Herkunft. Für die Kinder bedeutet das ein lebenslanges Trauma. Wer seine Wurzeln nicht kennt, bleibt oft haltlos und hat geringes Vertrauen in seine Mitmenschen. O-Ton: (Wiemann) 8 Es fängt im Grunde an bei ganz kleinen Kindern von drei, vier Jahren an, die sagen, ich will aber meine erste Mama mal sehen. [..] Und wenn ihnen dann erklärt wird, wir haben keine Daten, du bist auf andere Weise fort gegeben worden, als andere Kinder - und es muss Kindern gesagt werden - dann fängt es an die Kinder noch mal ganz intensiv zu beschäftigen. Warum wurde ich weg gelegt? Sie fühlen sich selbst als Versager, als diejenigen die Schuld haben, dass sie fort gegeben wurden. Ich kenne ganz kleine Kinder von vier, die dann sagen, was war denn an mir nicht richtig, dass die mich weg gegeben haben. Dieses anonym weg gegeben, "weg gelegt" sagen viele Kinder dafür, [.] das ist ein ungeheuerlicher Schmerz, der da in den Kindern lebt und der nicht wirklich zu stillen ist. Sprecher: Ursula Wiemann ist Psychologin, seit vielen Jahren betreut sie Adoptivkinder und ihre Eltern. Darunter sind auch immer häufiger anonym zur Welt gekommene Kinder aus Babyklappen oder Kliniken. Vor einem Jahr wurde Ursula Wiemann und zahlreiche weitere Experten zum Thema anonyme Kindsabgabe zu einer Anhörung beim Ethikrat eingeladen. Der Grund: Die anonyme Kindsabgabe wird seit 10 Jahren in Deutschland praktiziert, es gibt etwa 80 Babyklappen bundesweit und circa 130 Krankenhäuser, die eine anonyme Geburt anbieten. Die Angebote werden geduldet, sind aber rechtswidrig. Sowohl die Anbieter, als auch die Eltern, die ihr Kind ohne Angaben der Herkunft abgeben, machen sich nach deutschem Recht strafbar, betont der Rechtswissenschaftler Thorsten Kingreen von der Universität Regensburg. O-Ton: (Kingreen) 3:02 Da kollidieren, wenn man so will mal prinzipiell zwei Grundrechte. Sprecher: Jedes Kind in Deutschland hat das Recht seine Eltern zu kennen. Die anonyme Geburt steht im Widerspruch zum Recht des Kindes auf Kenntnis seiner Abstammung. O-Ton: (Kingreen) 3:02 Man muss allerdings das Gewicht der Interessen, die da kollidieren verfassungsrechtlich bewerten, und hier gilt, dass die Eltern, die ein Kind zur Welt bringen, Verantwortung für dieses Kind übernehmen müssen und grundsätzlich keinen Anspruch darauf haben gegenüber ihren Kindern anonym zu bleiben. Sprecher: Einige Jugendämter schalten in jedem Fall die Polizeibehörden ein, andere nicht. In Köln oder Berlin wird zum Beispiel ermittelt, man versucht die Kindseltern zu finden. In Bayern duldet man die Praxis ohne polizeiliche und strafrechtliche Maßnahmen. Je nach Bundesland wird die Suche nach den leiblichen Eltern also sehr unterschiedlich gehandhabt. Maximal ein Drittel der Fälle wird aufgeklärt. Manche Behörden haben direkt mit der Einführung der ersten Babyklappe reagiert und die Anbieter verpflichtet, die Kinder sofort zu melden, um Vormundschaft und Adoption über die öffentliche Jugendhilfe zu regeln. Andere Jugendämter waren nicht so schnell und haben privaten Organisationen die Aufnahme und Weitervermittlung der anonym abgegeben Kinder überlassen. Die Organisation Sternipark in Hamburg gehört zu den umstrittenen privaten Anbietern. Ihr ist in den vergangenen Jahren immer wieder vorgeworfen worden nicht genug Informationen über die anonym abgegeben Kinder zu veröffentlichen. Aber auch andere Einrichtungen, wie Donum Vitae aus Bayern tun sich mit der Weitergabe konkreter Daten schwer. Und so weiß heute niemand genau, wie viele Kinder in Deutschland jedes Jahr anonym abgegeben werden. O-Ton: (Kingreen)7:13 Das ist einfach nicht geregelt, weil das gesamte System nicht rechtlich geregelt und erlaubt ist, sondern es ist, dass muss man vielleicht doch noch mal betonen, es ist verboten. Es ist rechtswidrig was da passiert. Von daher hat man Dokumentationspflichten über einen rechtswidrigen Zustand noch nicht eingeführt. Es gibt aber Einrichtungen, das habe ich im Ethikrat erfahren, die die Hintergründe versuchen zu dokumentieren, aber eben auf freiwilliger Basis. Sprecher: Kritisiert wird, dass im Adoptionswesen ein Graumarkt entstanden ist. Denn private Anbieter betreiben sowohl Babyklappen als auch die Adoptionsvermittlung. In Schnitt kommt in Deutschland auf 10 adoptionswillige Paare ein Kind. Der Bedarf ist also groß. Doch zu oft werden weder die genaue Anzahl der Kinder, noch die Daten der annehmenden Eltern den öffentlichen Stellen von den privaten Vereinen vollständig mitgeteilt. Mit Ausnahme Berlins hat bislang kein einziges Bundesland eine Statistik über die Zahl der anonym abgegeben Kinder geführt. Ein Skandal findet die Adoptionsexpertin Christine Swienteck. Die emeritierte Professorin für Erziehungswissenschaften an der Universität Hannover hat sich über 40 Jahre mit dem Thema Adoption befasst. O-Ton: (Swienteck) 21 Wir leben in einem Land in dem jedes Kilo Käse, dass aus Holland kommt, in die Statistik aufgenommen wird und jedes Hühnerei gezählt wird. Es gibt nichts was nicht statistisch erfasst ist, aber die Bundesregierung, das Familienministerium wer auch immer, hat es bis heute nicht geschafft, verpflichtend zu machen - die Initiatoren zu verdonnern, zu sagen, was tut ihr eigentlich. Wie viel Kinder liegen bei euch in den Klappen, wo verbleiben die, wie viele werden wieder zurückgeholt, wie viele sind zur Adoption gekommen, wie viele waren behindert, wie viele waren krank, wo sind die geblieben? Wie viele waren es überhaupt? Wie viele sind anonym geboren und warum? Die Frauen habt ihr da gehabt. Das ist ja wie Bangladesh und das bei einem der reichsten Länder der Welt. Sprecher: Christine Swienteck war von Anfang an gegen die Möglichkeit der anonymen Kindsabgabe. Zu gut kannte die Adoptionsforscherin die Probleme aus ihrer jahrzehntelangen Arbeit. Swienteck gehört zu den wenigen Wissenschaftlerinnen in Deutschland, die Studien zu den Folgen anonymer Abgabe durchgeführt hat. Sie hat Interviews mit fast 100 Frauen geführt, die in den 50er, 60er und 70er Jahren ihre Kinder gezwungenermaßen anonym abgeben mussten. Frauen, die fast alle versucht haben, später ihre Kinder wieder zu finden. O-Ton: (Swienteck) 8 Das ist etwas, was wir in den 50er, 60er, 70er in der ganz normalen Adoptionsvermittlung hatten, dass den jungen Müttern gesagt wurde, du schafft es sowieso nicht und du bist ja noch so jung. Mach erstmal deine Ausbildung fertig, du kannst immer noch Kinder kriegen. Und auf diese Art und Weise hat man sie um ihre Kinder gebracht. Und ich sehe heute nach 30, 40 Jahren das Ganze noch mal ablaufen. Sprecher: Damals erfuhren die Kinder sehr oft nicht, wer ihre leiblichen Eltern waren. Vielen wurde erst gar nicht gesagt, dass sie adoptiert waren. Ein Fehler wie sich später zeigte, denn wenn irgendwann herauskam, was tatsächlich geschehen war, war die Verletzung groß. Viele Jahre später, als die Adoptierten versuchten ihre Unterlagen aufzufinden, um etwas über ihre Herkunft zu erfahren, fanden viele nur spärliche Hinweise auf ihre Mutter. Meist waren es junge Frauen, die nicht verheiratet waren und ein Kind erwarteten. Vor 50 Jahren war das noch in vielen Regionen Deutschlands ein Skandal. O-Ton: (Swienteck) 11 Es waren oft Frauen, die untergebracht wurden, während der Schwangerschaft als man es sah, so vom 3., 4. Monat an irgendwo weit außerhalb, in irgendwelchen Kliniken oder Entbindungsheimen, wo sie als so genannte Hausschwangere gearbeitet haben, kostenlos, ausgebeutet und wo sie dann dort vor Ort ihr Kind zur Welt gebracht haben und es dort hinterlassen haben. Und diese Kliniken haben dann auch gleich das Kind zur Adoption weitervermittelt. Und diese jungen Frauen kamen nach einem halben Jahr sozusagen wieder jungfräulich zuhause an, während die Eltern erzählt haben unsere Tochter ist als O-pair Mädchen in England oder sonst wo. Musik: Kinderlied - kurz freistehend Sprecher: : Berlin, 50 Jahre später, wir schreiben das Jahr 2005 - ein behindertes Kind, sechs Monate alt, liegt in der Babyklappe eines Berliner Krankenhauses. Die Eltern werden ermittelt. Sie fühlen sich überfordert. Das Kind kommt in eine Pflegestelle. 2007 wird wieder ein behindertes Kind in eine Babyklappe gelegt. Es handelt sich um ein zwei Monate altes Baby mit Downsyndrom. Es wird in Adoptionspflege vermittelt. Berlin hat alle Fälle von anonymer Kindsabgabe dokumentiert. Seit 2001 als in der Hauptstadt die erste Babyklappe installiert wurde, untersucht das Jugendamt jeden Einzelfall, erklärt Amtsleiterin Ulrike Herpich-Behrens. Aussetzungen und von ihren Müttern in Kliniken hinterlassene Kinder gab es schon immer. Als es noch keine Babyklappe und anonyme Geburt gab, setzten Frauen ihre Kinder an sicheren Orten aus oder nannten bei der Entbindung im Krankenhaus einfach einen falschen Namen. Doch seit es Babyklappen und die Möglichkeit einer anonymen Geburt gibt, hat sich die Zahl der Kinder ohne Herkunft verdreifacht. O-Ton: Herpich-Behrens 19 Aber wir haben in dem Zeitraum 2001 bis 2008 33 Kinder, die in die Babyklappe gelegt wurden, und wir haben fünf in dem Zeitraum, die anonym abgeben wurden und wir haben 13 anonyme Geburten und wir haben 9, die anonym im Krankenhaus zurückgelassen wurden. Also das heißt die anonym abgegebenen und die im Krankenhaus zurückgelassenen dann hätte man 14. Und wenn man jetzt anonyme Geburt und Babyklappe zusammen zählt hat man 46.. Sprecher: Ulrike Herpich-Behrens sieht diese Entwicklung mit Beunruhigung. Zumal unter Berliner Teenagern der Satz kursiert: Wenn ich schwanger werde, dann leg ich´s halt in die Klappe. Fakt ist, in allen Fällen, die aufgeklärt wurden, waren soziale und wirtschaftliche Notlagen die Gründe für die anonyme Abgabe. Eine schnelle Lösung sollte herhalten, um ein Problem zu lösen, für das es zahlreiche gute öffentliche Hilfsmaßnahmen gibt. Unklar bleibt allerdings wie viele Illegale das Angebot nutzen. Die ethnische Herkunft der Kinder entspricht in Berlin dem Bevölkerungsdurchschnitt. Ebenso das Verhältnis zwischen Jungen und Mädchen, hier sind keine auffälligen Unterschiede festzustellen. Doch auch Missbrauch durch Dritte ist nicht immer auszuschließen. So wurde in einem weiteren Fall ein Neugeborenes in eine Babyklappe gelegt, das nicht professionell abgenabelt war. Einige Tage zuvor - das ergaben die Ermittlungen - hatte sich ein Mann telefonisch nach den Kosten für eine Entbindung erkundigt. Unmittelbar bevor das Kind abgelegt wurde fragte ,der Mann dann telefonisch nach dem genauen Standort der Babyklappe. O-Ton: Herpich-Behrens 26 Aber sie wissen auch nicht, ob die Männer vielleicht ihre Vaterschaft angenommen hätten. Sie wissen auch, ob sich eine Frau in einer komplizierten Partnerschaft entscheidet, dass sie dieses Kind nicht möchte und der Kindsvater nicht darüber informiert ist, dass er a) Vater ist und b) dass das Kind in eine Babyklappe gelegt wurde oder anonym zur Welt gebracht wurde. Sprecher: Eine weitere Auffälligkeit: Etwa ein Drittel aller Frauen, die zu einer anonyme Geburt erscheinen, kommen in Begleitung. Sind sie minderjährig kommen die Eltern mit. In anderen Fällen sind sogar 3 bis 4 Personen anwesend. Oft sind Männer mit dabei, bei denen nicht klar ist, ob sie Ehemänner, Freunde oder Zuhälter sind, berichtet Joachim Neuerburg, Leiter der Gynäkologie im St. Anna Hospital in Herne. Die Klinik bietet seit mehreren Jahren die anonyme Geburt an. Ein Beschluss des Verwaltungsrats, nicht der Ärzte. O-Ton: (Neuerburg) 15 Bis auf ganz wenige massive Bedrohungen von zum Teil ausländischen Müttern, habe ich keine so existentiellen Bedrohungen der Mütter gesehen, dass man sein Kind anonym abgeben muss. In allen Fällen wäre meiner Ansicht nach der legale Weg der Adoption absolut möglich gewesen. Ich hatte in der Mehrzahl der Fälle den Eindruck, dass Mütter irgendetwas ungeschehen machen wollen. Also sie wollen dieses Kind aus ihrer Erinnerung aus ihrem Leben beseitigen, ohne es jetzt direkt körperlich zu schädigen. Und vernachlässigen dabei die psychischen Wirkungen für sie selbst aber auch für das Kind. (Neuerburg 8) Also es ist mit Ausnahme von zwei, drei Fällen so gewesen, dass sich die Mütter vorher erkundigt haben und vorher über die Folgen in langen Gesprächen aufgeklärt worden sind, also auch Kontakt mit Sozialarbeiterinnen hatten. Sprecher: Ein Drittel plant, zwei Drittel der Frauen werden aber zum letztmöglichen Zeitpunkt in die Klinik gebracht. Sie haben bereits starke Wehen, das Kind kommt auf die Welt und nach ein bis zwei Stunden ausruhen, werden die Frauen von ihren Begleitern wieder mitgenommen. O-Ton: Swienteck (47 + 44) Also, die Fälle die ich recherchiert habe, da kann ich sagen, etwa ein Drittel aller sogenannten anonymen Entbindungen geschehen mit mehreren Personen. Sprecher: Berichtet auch Christine Swienteck O-Ton: Swienteck (47 + 44) D.h. die Frauen kommen unter Begeleitung. Ich habe das von einer ganzen Reihe Kliniken bestätigt bekommen. [...] Sprecher: Doch wie anonym ist eine Anonyme Geburt, wenn andere Menschen aus dem engeren Kreis der Frau bescheid wissen, fragt sich die Wissenschaftlerin. O-Ton: Swienteck (47 + 44) Wieso eigentlich anonym, wem gegenüber? Alle wissen es dann, nur der Staat nicht und das Kind nicht, bzw. die Adoptiveltern und das sind die wichtigsten. Ob die Verwandten es wissen oder nicht ist ja eigentlich nicht so wichtig! Aber was mich umtreibt, nach dem ich so viele Jahre mit dieser Klientel zusammen gearbeitet habe. Wir freiwillig ist das eigentlich? Sprecher: Eine Frage, die niemand beantworten kann! Musik: Kinderlied - kurz freistehend Sprecher: Allein dem Jugendamt in Berlin liegen 250 Anfragen von Betroffenen vor, die Informationen über ihre Herkunft wünschen. Gleichzeitig hoffen Adoptionswillige, ein Kind ohne Herkunft ist ein unbeschriebenes Blatt. Alles ist einfacher. Das Gegenteil ist der Fall. O-Ton: Herpich-Behrens 11 + 12 Und deshalb müssen Paare, die ein Kind adoptieren, dass aus einem anonymisierten Kontext kommt, denen muss klar sein, dass sie da noch eine besondere Herausforderung haben. [...] Und deshalb muss man über dieses Thema in dieser Vorbereitungs- und Auswahlphase sehr intensiv sprechen. Und deshalb ist noch mal eine besondere Anforderung die wir an Eltern stellen, das muss denen auch sehr bewusst sein, die müssen sich damit auseinandersetzen. Sprecher: Die psychischen Folgen für die betroffenen Kinder sind immens. Es geht um ihre Identität. Um das Gefühl, dass uns in den Augen anderer Menschen und in den eigenen Augen eine Gleichheit gibt. Ein Kind von anderthalb Jahren weiß bereits, wer es ist und dass es nicht einfach austauschbar ist. Adoptierte haben deshalb immense Probleme, sich selbst zu definieren und sich selbst zu finden. Zitatorin: Der 14jährige Christian, der als Findelkind aufgewachsen ist, erklärt: Die Eltern, die meinen Geburtstag mit mir feiern, waren bei meiner Geburt gar nicht dabei. Was für ein Betrug. Eine 35 jährige Adoptierte hat lebenslang Angst davor, wieder verlassen zu werden. Wenn ihr Mann nur 15 Minuten später nach Hause kommt, bekommt sie eine Panikattacke. Sprecher: Die "Identitätsfindung" ist seitens der Forschung in den letzten Jahren mit immer mehr Aufmerksamkeit bedacht worden. Zahlreiche Arbeiten entstanden zum Thema "Biografiearbeit" - eine Methode aus der Sozialarbeit, die die Frage nach dem wie und warum individueller Lebensläufe zu beantworten sucht, um Menschen in schwierigen Lebenssituationen helfen zu können. Verschiedenen Studien über den Erfolg der Integration von Kindern in Adoptivfamilien zeigen, dass es für die Kinder ein lebenslanges Thema bleibt, den Kummer und die Scham zu tragen, von der eigenen Mutter verlassen oder verstoßen worden zu sein. Hinzu kommt das fehlende Wissen um charakterliche Bausteine oder genetische Faktoren. O-Ton: Wiemann 30 Eine Adoptierte hat es mal so ausgedrückt: Ich weiß überhaupt nicht wer ich bin. Ich bin jetzt die geworden, zu der mich meine Adoptiveltern gemacht haben. Ich fühle mich wie ein Chamäleon, das sich äußerlich gerichtet und angepasst hat. Aber wer ich innen drin wirklich bin, dass weiß ich ja gar nicht. Das könnte ich nur wissen, wenn ich meine Eltern finden könnte und das werde ich nie wissen und ich werde lebenslang einsam sein. Sprecher: "Ich bin ein Leben lang auf der Suche nach mir selbst. Ich weiß nicht wer ich bin." Sind Sätze, die Kinder immer wieder aussprechen, die nichts über ihre leiblichen Eltern wissen. Häufig vermuten diese Kinder, dass ihre leiblichen Eltern schlechte Menschen sind. Vielleicht war ihre Mutter, die sie in die Babyklappe gelegt hat, ja eine Prostituierte. Eine Fantasie von Adoptierten, die immer wieder vorkommt. Bei ihnen gibt es eine große Palette des Schrecklichen. Wenn heranwachsende Adoptivkinder nicht genug über ihre Herkunft wissen, fragen sie sich: Haben meine leiblichen Eltern einen Mord begangen? Sind sie Verbrecher? Sitzen sie im Gefängnis? Sind sie drogenabhängig? Ist mein Vater ein dunkles Kapitel in meinem Leben? Und dann stellen sie sich die Frage: Bin ich auch so? O-Ton: (Wiemann) 9 Es gibt bei vielen Kindern, das ist nicht nur bei den Anonym geborenen, bei denen allerdings besonders stark, gibt es so was wie eine Urangst wieder fortgegeben zu werden. Und eine Form von Misstrauen gegenüber den emotionalen Eltern, also gegenüber den annehmenden Eltern. Das bedeutet, sie müssen unbewusst prüfen, wenn ich mich jetzt schwierig verhalte oder wenn ich mich jetzt ganz anders verhalte, als die sich das wünschen, kann das sein, dass die mich wieder hergeben? Sprecher: Immer wieder kommt es zu Brüchen. Häufig zu einer Reinszenierung dieser Brüche. Aus Studien ist bekannt, dass adoptierte Mädchen sehr früh schwanger werden und oft in die Fußstapfen ihrer Mütter treten. Ein relativ hoher Anteil Adoptierter trennt sich auch wieder von seinen Kindern. Auch die liebevollsten Adoptiveltern können den Schmerz darüber, am Anfang des Lebens verlassen worden zu sein, nicht wieder gutmachen. Aus der Säuglingsforschung ist bekannt, das Neugeborene ihre Mütter von anderen Müttern unterscheiden. Sie erkennen ihre Mutter am Geruch, an der Stimme, am Herzschlag. Schließlich hatten sie monatelang einen gemeinsamen physiologischen und psychologischen Kreislauf. Und Erkenntnisse aus der modernen Hirnforschung zeigen, dass nur die Trennung von der Mutter einen Sturm an unspezifischen Erregungen im Gehirn eines Kleinkindes verursacht. Somit wird Trennung ganz tief im menschlichen Gehirn gespeichert und hat zahlreiche Folgen für die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit. O-Ton: Wiemann 12 Ich hab mit einem 36 jährigen Adoptierten gesprochen, der Zugang hatte zu den Daten seiner Eltern, dessen Mutter aber schon gestorben war als er anfing zu suchen. Und der sagt: Ich kann keine kontinuierlich Bindung aufrechterhalten, meine Partnerschaften muss ich immer wieder lösen und ich kann nicht kontinuierlich in einem Beruf bleiben. Das sind immer wieder Folgen, die wir bei Menschen haben, wenn ihnen der Boden so radikal weggezogen wurde. Sprecher: Das große Nein am Anfang des Lebens. Es führt zu Ohnmachtsgefühlen, Selbstzweifeln, Autoaggression, Wut, Scham und Depression. Im Rahmen einer großen schwedischen Studie wurden junge Adoptierte aus dem Ausland, die in Schweden in Ersatzfamilien aufwachsen, untersucht. Ergebnis: Eine erstaunliche Häufung von Suiziden wurde festgestellt. Die häufigste Todesursache bei diesen jungen Erwachsenen war der Selbstmord. Außerdem waren Drogenabhängigkeit und Psychiatrieaufenthalte bei diesen jungen Menschen vermehrt zu beobachten. O-Ton: Swienteck (33) Also ich glaube kein verantwortungsvoller Adoptionsvermittler mit sehr viel Praxis würde eine Babyklappe eröffnen oder anonyme Geburt befürworten. Das sind Pastoren, das sind Pfarrer, das sind Bischöfinnen, das sind irgendwelche Krankenhausdirektoren, die meinen sie haben damit den Ausweis von besonderer Frauenfreundlichkeit. Und die Fachleute Adoptionsvermittler, Kinder und Jugendpsychiater, Beratungsstellen, die wissen alle was damit angerichtet wird. Sprecher: Auch die Bundesarbeitsgemeinschaft Adoptierte tritt deutlich gegen die Anonymisierung ein. Adoptierte und Adoptiveltern wissen aus eigener Erfahrung, was diesen Kindern bevorsteht. Auch die Folgen für die Mütter werden unterschätzt. Sowohl rechtlich als auch psychisch ist ihre Lage schwierig. Was die Väter betrifft, ist das Meiste unbekannt. Oft wissen sie nichts von ihren Kindern, ihr Schicksal bleibt in der Regel vollkommen im Dunklen. O-Ton: Swienteck 15 Abgebende Mütter, das ist bis heute so - und das wird durch die Anonymisierung nicht besser - abgebende Mütter haben kein Recht zu suchen. Das Recht haben die Adoptivkinder. [...] Kinder müssen mit 16 bis 18 Jahren ihre Unterlagen bekommen, zumindest ihre Fragen beantwortet kriegen. Und die können dann entscheiden, will ich meine Eltern suchen oder nicht. Sprecher: Christine Swienteck hat viele Mütter bei ihrer Suche unterstützt. Denn die meisten verkraften die Weggabe ihrer Kinder nicht, viele wollen Jahre später dann plötzlich doch wissen, was aus den Kleinen geworden ist. Doch das gelingt nicht allen. Musik: Kinderlied - kurz freistehend O-Ton: (Herpich Behrens) 33 Aber da ist auch noch eine Seite drin, die finde ich sehr wichtig, die nämlich auch eine ethische Grundfrage betrifft. Wenn ich in großer Not bin oder in einer schwierigen familiären oder sozialen Situation, kann ich dann mein Kind weggeben einfach so? Also wie hoch ist die Schwelle oder wie hoch muss die Schwelle sein, zu dieser Art von schnellen Lösung zu greifen? Und das finde ich eine wichtige ethisch moralische Frage, die sich eine Gesellschaft eben auch stellen muss. Sprecher: Mit der Absicht Gutes zu tun, wird unbewusst zusätzliches Leid geschaffen. Diese Praxis wird geduldet, obwohl sie rechtswidrig ist. Seit nunmehr 10 Jahren. O-Ton: Swienteck (23) Der Staat drückt sich in sämtlichen Instanzen, jetzt mal einen Punkt zu setzen und sagen so, jetzt wollen wir von jedem der so einem Unfug macht eine exakte Statistik. [...] Nichts! Nichts! Man drückt sich. Das Familienministerium zieht alles in die Länge. Die Forschung, die vor 4 Jahren im Koalitionsvertrag vereinbart war, nämlich zu gucken, was passiert da eigentlich, da ist bei heute nichts passiert. Das ist vier Jahre her, das ist schriftlich fixiert. Nichts, gar nichts! Sprecher: Nachdem 2004 ein Entwurf zu einem Beratungsgesetz für anonyme Geburten auf großen Widerstand stieß und zurückgestellt wurde, schob man das Thema auf die nächste Legislaturperiode. Doch nach vier Jahren Koalitionsregierung gibt es immer noch keine verbindliche Regelung. Auch die Anhörung vor dem Ethikrat vor einem Jahr brachte keinen Fortschritt, obwohl sich alle Experten negativ über die Folgen einer anonymen Kindsabgabe geäußert haben. Mit Ausnahme der Anbieter und der Kirchen sind sie gegen eine Legalisierung von Babyklappen und anonymer Geburt. Die konsequente Anwendung geltenden Rechts - und eben kein neues Gesetz wird von den meisten Psychologen, Adoptionsberatern, Juristen und Ärzten und gefordert. Trotzdem konnte sich der Ethikrat nicht zu einer Empfehlung entschließen. O-Ton Kingreen: 17.36 Es hat vor allen Dingen unter den Mitgliedern des Ethikrates, die im Bereich der Theologie waren, abweichende Meinung gegeben. (19.20) Mein Eindruck war wirklich, das die große Mehrheit das sehr skeptisch sieht, insbesondere die Juristen, weil wir vielleicht etwas mehr auf Vernunft als auf Glaube setzen. Sprecher: Eingerichtet, um Kinder zu retten, schaffen Babyklappe und anonyme Geburt heute jedes Jahr zusätzliche Findelkinder. Die Zahl der Kindstötungen ist durch diese Angebote nicht zurückgegangen. Man weiß heute aus Untersuchungen, dass Tötungen kurz nach der Geburt im Affekt geschehen. Selbst eine Babyklappe direkt neben der Wohnung würde sie nicht verhindern. O-Ton: Kingreen 14:54 Und so eine Situation haben wir letztendlich hier. Hier soll ja ein Mensch auf die Kenntnis seiner Abstammung verzichten, weil andere Eltern ihre Kinder töten. D.h. er wird in eine für ihn vollkommen zufällige Mithaftung genommen, ohne dass man belegen könnte, dass durch die Angebote anonymer Geburt auch nur ein einziges Leben gerettet würde. Das halte ich für grob unverhältnismäßig und damit auch verfassungswidrig. Sprecher: Babyklappen werden damit zum Sammelbecken, das überforderte Eltern ohne über die Folgen nachzudenken, als schnelle Lösung nutzen. So werden in einem Wohlfahrtsstaat jedes Jahr etliche Kinder zu Waisen. Im doppelten Sinne: Verlassen und ohne Herkunft. Zitatorin: Ich möchte meine Eltern einfach mal kennen lernen. Schließlich stamme ich von ihnen ab, und ich habe doch auch viel Erbteil von ihnen in mir. Ich möchte gerne wissen, wie ich geworden bin und wie es kam, dass meine Mutter mich nicht behalten konnte. Ich will es aus ihrem eigenen Mund hören. Ich bin ganz sicher sie hatte triftige Gründe dafür. Ich möchte mit ihr über all diese Fragen sprechen. ENDE 1 1