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O-Ton 2 Montag Jede aufgeregte Stimme, die glaubt sozusagen schwimmen zu können auf so einer populistischen Welle der Empörung über Einzelfälle, wird gegeißelt als das, was es ist: als Populismus zulasten einer rationalen Kriminalitätspolitik. Sprecher Jerzy Montag. Fachanwalt für Strafrecht. Rechtspolitischer Sprecher der Fraktion Bündnis 90/Grüne. Spr. v. Dienst Der Kampf gegen das Böse - Kriminalpolitik und Populismus Eine Sendung von Heiner Dahl Sprecher Kriminalpolitik ist ein Teilbereich der Rechtspolitik. Sie umschließt alle Maßnahmen, mit denen Staat und Gesellschaft auf Erscheinungen von Kriminalität einwirken wol- len. Was soll als Kriminalität gekennzeichnet und bestraft werden? Wie soll sie ver- hütet, bekämpft und reguliert werden? Es geht vor allem um Strafgesetze, Kriminal- prävention und Strafvollzug, aber auch darum, bei staatlichen Maßnahmen die Grundrechte zu schützen und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Alles Themen, mit denen Politiker bei den Wählern punkten können, wie der Bochu- mer Strafrechtsprofessor Thomas Feltes meint: O-Ton 3 Feltes Die Politiker haben im Bereich der Kriminalpolitik den großen Vorteil, dass das, was sie fordern, nie auf ihre Ergebnisse überprüft werden kann, im Vergleich z.B. zur Wirtschaftspolitik oder auch zur Sozialpolitik, wo dann doch durchaus mal mit ent- sprechenden Zahlen ihnen entgegen gehalten werden kann. O-Ton 4 Bosbach "Wehret den Anfängen!" und eine wertegebundene Erziehung. Das Phänomen der steigenden Jugendgewalt ist seit Jahren bekannt. O-Ton 5 Leutheusser-Schnarrenberger Damit meint man, gut auf Wählerfang gehen zu können. Ich bin der Auffassung, ge- rade dieser sensible Bereich eignet sich überhaupt nicht für Populismus und für Po- lemik. Sprecher Wolfgang Bosbach und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Juristin. Ehemalige Bundesjustizministerin. O-Ton 6 Stünker Das sind fast Reflexe, die in bestimmten Bereichen der Politik dann sofort kommen. Die kommen meistens aus den konservativen Ecken, wo man immer noch glaubt, höhere Strafen würden auch Straftaten dann verhindern helfen. Sprecher Joachim Stünker. Langjähriger Richter. Rechtspolitischer Sprecher der SPD. Musiktrenner Sprecher Deutschland vor zwei Jahren. Die Bundesregierung legt den "Zweiten periodischen Sicherheitsbericht" vor. Die Quintessenz der fast 900-seitigen Analyse ist eindeutig: Die Kriminalitätsbelastung ist relativ moderat, sie geht durchschnittlich zurück. Es gehört wohl zur politischen Prozesslogik. Noch nie haben eindeutige Befunde Po- litiker daran gehindert, diese ganz unterschiedlich zu bewerten. Schon gar nicht im Bereich der Kriminalität. Von Wolfgang Bosbach über Jerzy Montag und Joachim Stünker bis zu Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: O-Ton 7 Bosbach Wir haben etwa 6,4 Millionen registrierte Straftaten pro Jahr. Es gibt darunter be- sorgniserregende Entwicklungen, wir haben ein sehr, sehr hohes Dunkelfeld. Wir stagnieren auf hohem Niveau. O-Ton 8 Montag Deutschland ist eines der sichersten Länder der Welt. Die Kriminalitätsentwicklung und die Kriminalitätsbelastung ist durchgängig rückläufig. O-Ton 9 Stünker Wir haben steigende Zahlen, wo es um den Bereich der Organisierten Kriminalität geht, insbesondere im Bereich der Wirtschaftskriminalität. Aber was Einbruchsdelikte angeht, was Diebstahlsdelikte angeht, was Raub, Betrug usw. angeht, haben wir rückläufige Zahlen in Deutschland. O-Ton 10 Leutheusser-Schnarrenberger Wir haben innerhalb dieses Rückganges der Kriminalitätsbelastung insgesamt eine nicht so gute Entwicklung, was Gewaltanwendungen von Jugendlichen angeht. Aber wir sollten deshalb nicht pauschal den Bürgerinnen und Bürgern Angst machen, dass hier die Kriminalitätsbelastung so steigen würde. Polizei und Justiz arbeiten gut und brauchen nicht unbedingt neue Instrumente, sondern man muss sie einfach nur ar- beiten lassen. Musiktrenner Sprecher Kriminalität ist wie kaum ein anderer gesellschaftlicher Bereich buchstäblich populär. Bei Politikern steht sie weit oben im Repertoire ihres Wirkens. Mit dem Thema Krimi- nalität bestreiten Politiker wesentliche Teile ihrer Wahlkämpfe. Passieren besonders spektakuläre oder besonders grausame Einzelfälle wie der Münchener U-Bahnüberfall auf einen Rentner, dann verknüpfen Politiker diese schnell mit ihren düsteren Ist-Beschreibungen. Volksnahe Vorschläge und Appelle folgen dann wie von selbst. Eine rationale Kriminalpolitik scheint eingedenk dessen fast ein Widerspruch in sich selbst zu sein. Wissenschaftliche Forschungen bestätigen das seit Jahren. Der Gies- sener Kriminologe Arthur Kreuzer sieht eine wichtige Ursache dafür in einer moder- nen Mesalliance zwischen Medien und Politikern. O-Ton 11 Kreuzer Es gibt einen Mechanismus: Einzelfälle, die oft ja schrecklich sind, werden heute noch dramatisiert, skandalisiert über Massenmedien. Der Eindruck in der Öffentlich- keit entsteht, das ist dramatisch wachsend, dann wächst der Druck auf die Politik, dies zu benutzen, vor allem in Wahlkampfzeiten, sich zu profilieren, etwas für mehr Sicherheit zu tun, und dann gibt es eine Aufschaukelung und die endet in verschärf- ter Strafgesetzgebung, die oft auch schlampig gemacht ist und in keiner Weise im Ergebnis mehr Sicherheit bringt, eher sogar weniger. Sprecher Professor Kreuzer hat verschiedene Bundesregierungen und Rechtsausschüsse des Bundestages als Sachverständiger beraten. Seine langjährige Erfahrung mit Rechts- politikern ist für diese wenig schmeichelhaft. Wissenschaftliche Befunde würden oft zurückgedrängt und übergangen mit Verhaltensweisen, die den der berühmten Pawlow'schen Hunden ähneln. O-Ton 12 Kreuzer Dieser reflexartige Vorgang, dass man sich in den großen Parteien wechselseitig zu überbieten sucht an Sicherheit, führt teilweise zu völligem Unsinn, zu nicht mehr ziel- orientierten Gesetzen. Ich will ein Beispiel geben: Man hat die Sicherungsverwah- rung ausgeweitet mit dem Argument, wenn schon zeitige Strafen Sicherungsverwah- rung nach sich ziehen können, dann erst recht die lebenslange Strafe. Neben der lebenslangen Strafe kann Sicherungsverwahrung, die jetzt im Gesetz eingeführt ist, überhaupt nicht existieren, denn wenn je ein Lebenslänglicher rauskommt, dann muss die Prognose außerordentlich günstig sein, sonst kommt er nicht raus. Wenn die Prognose aber günstig ist, dann kann er gar nicht in die Sicherungsverwahrung kommen. Also ein völlig nutzloses, wir sagen symbolisches Gesetz. Sprecher Starke Sprüche, Rufe nach harten Gesetzen kommen nirgendwo besser an als im Bereich Kriminalität. Dass Politiker und Medien diese - zumal in Wahlkampfzeiten - intensiver und eher als bedrohlich thematisieren, hat gute Gründe. Bereits in beider Funktion und Arbeitsweise ist ein struktureller Populismus angelegt. Das heißt, viele Politiker und Medienmacher wollen nicht zuerst gut durchdachte Ideen unters Volk bringen, sondern effektvolle Strategien verfolgen. Beide sind auf Massenattraktivität aus und darauf auch angewiesen. Medien in Form von Auflagen und Einschaltquo- ten, Politiker in Form von Wählerstimmen. Beide können dies am besten dadurch herzustellen, dass sie durch "seichte Gewässer fahren." Medien mit monsterhaften Krimiopern, Politiker mit bedrohlichen Gesellschaftsbeschreibungen. Die Unterhal- tung mit Horrorszenarien und eine Politik der Angst vor Kriminalität sind so der glei- chen Aufmerksamkeitsprämie geschuldet. Dem Kitzel des populären Aufregers. Für Medienanbieter ist das günstig, für Politikgestaltung eher nicht. Besonders im sensib- len Bereich der Inneren Sicherheit. O-Ton 13 Kreuzer Im gesamten Bereich der Sicherungsgesetze, erleben wir solche gesetzlichen Schnitzer. Das liegt daran, dass die Gesetze nicht nur zu schnell gemacht werden, hektisch reagierend auf gefühlte Kriminalitätslagen, sondern auch, dass man eben just for show etwas für Sicherheit tun will, sich aber nicht Rechenschaft gibt, ob das wirklich mehr Sicherheit schafft. Sprecher Kriminologen kritisieren, dass Politiker in einem Zeitraum von zehn Jahren rund hun- dert Strafschärfungen in die einschlägigen Gesetze hineingeschrieben haben. Im Gegenzug aber keine Entschärfungen oder gar Rücknahmen von Straftatbeständen. Für Arthur Kreuzer ist das Hauptproblem dabei nicht die schiere Zahl. Er macht an einem Beispiel deutlich, dass das bei Politikern vorherrschende Strafbewusstsein unser Gesetzessystem aus seiner inneren Balance bringt. O-Ton 14 Kreuzer Man hat ein Verschärfungsgesetz gebracht, in dem die Strafen angehoben werden sollten bei Verletzungen persönlicher Güter, also Leben, Freiheit. Das hat man ge- macht, bei Körperverletzungen und anderen Delikten wurden die Strafen angehoben. Jetzt hätte konsequenter Weise eine Umschichtung stattfinden müssen, man hätte die Strafrahmen herabsetzen müssen etwa bei Verstößen gegen Vermögen, gegen Eigentum, gegen andere Güter, die nicht so eingreifend in das Leben sind. Das hat man nicht gemacht. Ich habe mich erkundigt, warum eigentlich nicht. Keiner traute sich von den großen Parteien zu sagen, hier und dort, etwa bei Diebstahl, wollen wir die Strafen herabsetzen, dann wäre er als Weichei verschrien worden, vor allem in Wahlkämpfen. Also blieb es dabei, d.h. insgesamt mehr Strafe. Musiktrenner Sprecher In immer mehr Bereichen der Gesellschaft wird Evaluation heute groß geschrieben. In vielen - etwa in der Wirtschaft - ist das Messen und Bewerten des Handelns am Maßstab von Erfolg und Misserfolg sogar ein absolutes Muss. Der Bochumer Straf- rechtsprofessor Thomas Feltes fordert das auch für den gesellschaftlich so wichtigen Bereich der Kriminalstrafen. Er sieht Politiker in der Pflicht. Die wird bisher verletzt. O-Ton 15 Feltes Wenn ein Politiker heute für ne Strafverschärfung eintritt, fragt in drei, vier Jahren niemand danach, ob die Strafverschärfung eben wirklich funktioniert hat. Umgekehrt hat bisher noch nie jemand gefordert, die Strafen zu vermindern, obwohl empirisch nachgewiesen, dass in vielen Fällen das genauso den gleichen Effekt bringen würde. Sprecher Professor Feltes ordnet den gegenwärtigen Zustand in ein generelles Dilemma ein. Kriminalpolitiker halten immer wieder den Transmissionsriemen an, der wissenschaft- liche Befunde in politische Entscheidungsprozesse befördern könnte. Und handeln nach der Devise: "Wir tun, was uns gefällt." Analysen wie der periodische Sicher- heitsbericht haben kaum eine Wirkung: O-Ton 16 Feltes Man muss ja diesen Sicherheitsbericht einordnen. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass je umfassender er ist, um so weniger er geeignet ist, politisch umge- setzt zu werden. Das heißt, die Politik gibt den Wissenschaftlern hier quasi eine Spielwiese, wo sie sich austoben können, und je mehr Seiten das werden, umso we- niger fühlt man sich genötigt, dann irgendwelche Ergebnisse auch umzusetzen. Man nimmt, das ist so ein Prinzip der selektiven Wahrnehmung, das wahr aus den wis- senschaftlichen Ergebnissen und aus den Berichten, was in die eigene Politik hinein- passt. Sprecher Bei nahezu allen Gesetzgebungsverfahren mangelt es an fundierten Untersuchun- gen, mit denen man evaluiert und dann in Ruhe entscheidet. Was hat die bisherige Gesetzeslage gebracht, wo gibt es vielleicht auch ein Zuviel an Gesetzesparagra- phen, wo kann man das zurückführen und wo gibt es möglicherweise auch Geset- zeslücken, die geschlossen werden müssen? Das "operative Geschäft" der Kriminal- politik hat dafür wenig Sinn. Jedes neue Gesetzgebungsverfahren wird immer nur von einer gleich klingenden Verstärker-Rhetorik begleitet. Wir brauchen mehr vom Gleichen. Das sei dringend notwendig im Interesse der Sicherheit. Die umstrittene Reform zur Neustrukturierung des Bundeskriminalamtes mit ihren vielen neuen Ein- griffsbefugnissen liefert dafür aktuelle Belege. Worauf handelnde Regierungspolitiker eigentlich selber kommen müssten, hört man nur aus Teilen der Opposition. O-Ton 17 Leutheusser-Schnarrenberger Ich fordere, dass endlich einmal ein fundierter Bericht vorgelegt wird, was haben denn die ganzen Verschärfungen und die ganzen verdeckten Ermittlungsmöglichkei- ten für Sicherheitsbehörden und für die Polizei an mehr Sicherheit gebracht. Was ist damit verhindert worden, wie viel Straftaten hat man damit mehr aufklären können? Wieweit ist die Erkenntnisgewinnung über terroristische Gefahren verbessert wor- den? Diese fundierte rechtstatsächliche Untersuchung und Aufbereitung liegt uns nicht vor. O-Ton 18 Montag Kriminalitätspolitik ist die Gestaltung durch Strafrecht. Strafrecht ist das schärfste Mittel, das ein demokratischer Rechtsstaat kennt, und für mich gilt der Grundsatz: wenn es nicht unabweisbar notwendig ist, neue Gesetze zu machen, ist es unab- weisbar notwendig, keine neuen Gesetze zu machen. Deswegen ist eine rationale Kriminalpolitik eine Politik, die die Fakten zur Kenntnis nimmt, die die Fakten einzu- ordnen weiß und die sich jeglichen Schnellschusses enthält. Sprecher Was Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und Jerzy Montag anmahnen, wird weit- gehend übergangen. Die Zeichen der Zeit in der Kriminalpolitik weisen in eine andere Richtung. Am Reizthema Jugendkriminalität wird einiges davon deutlich. Der im Ju- gendstrafrecht als Leitprinzip festgeschriebene Erziehungsgedanke wird von konser- vativen Politikern zunehmend in Frage gestellt. Auch von Wolfgang Bosbach. O-Ton 19 Bosbach Bei 18-Jährigen unterstellen wir zunächst einmal, dass sie Erwachsene sind, da mag es Reifeverzögerungen in Ausnahmefällen geben, die kann man dann nach Jugend- strafrecht aburteilen. Die Gerichte wiederum drehen den Gesetzestext um und sa- gen, in aller Regel haben wir es mit Reifeverzögerungen oder jugendtypischen Ver- fehlungen zu tun. Schon komisch: Mit 18 Jahren kann man ein Flugzeug kaufen oder eine Aktiengesellschaft gründen, aber wenn es um die Frage geht, darf man einem anderen den Schädel einschlagen, da ist man sehr unsicher, ob das denn der Junge tatsächlich überblicken kann, dass er das nicht darf. Sprecher Mit der Jahreszahl 18 per Gesetz festzulegen, jemand sei rechtsgeschäftlich erwach- sen, ist sinnvoll. Ihn aufgrund dieser Jahreszahl 18 auch zwingend wie einen Er- wachsenen zu bestrafen, ist für Arthur Kreuzer reiner Populismus. Der ignoriert nicht nur die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu unterschiedlichen Entwicklungen Jugend- licher auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Der missachtet auch die Gründe des Gesetzgebers für die derzeitige Regelung. O-Ton 20 Kreuzer Im Jugendstrafrecht gibt es eine unsinnige neue Bewegung, Verschärfung unter dem Motto, das Jugendstrafrecht sei milde, das Erwachsenenstrafrecht sei echtes Straf- recht, und das müsse zumindest auch für die Heranwachsenden, aber auch für viele Jugendliche gelten. Eine völlige Verkennung des Jugendstrafrechts. Das Jugend- strafrecht ist nicht milder, sondern anders, nämlich altersgemäßer. Es hat viele Sank- tionen, die auch ohne Freiheitsentzug gehen, die aber mehr Stabilität in das Leben junger Menschen bringen und dort eingreifen, wo die Ursachen der Kriminalität lie- gen. Und wenn wir da jetzt Erwachsenenstrafrechtsdenken hineinbringen, dann ver- schütten wir diese Entwicklungsmöglichkeiten des Jugendlichen. Sprecher Das Jugendstrafrecht ist sehr präzise. Es gibt Richtern ein sehr differenzierteres Spektrum an Sanktionsmöglichkeiten, mit dem sie gezielt auf einzelne Täter einwir- ken können. Mit gemeinnütziger Arbeit, mit Ausbildungsvorgaben, mit sozialen Trai- ningskursen, mit pädagogischer Einzelbetreuung und ähnlichem mehr. Zusammen mit ergänzenden Weisungen und Auflagen haben sich alle diese erzieherischen In- strumente in der Praxis gut bewährt. Jugendrichter und Fachwissenschaft sind sich deshalb einig: die feinästeligen Sanktionsmöglichkeiten des Jugendstrafrechts sind viel effektiver als die groben Mittel des Erwachsenenstrafrechts. Das Jugendstraf- recht hat grundsätzlich viele Elemente, die auch für das Erwachsenenstrafrecht Vor- bild sein könnten. Doch dort dominiert der Grundsatz "hart, aber gerecht." Seit dem 11. September 2001 verliert der zweite Teil dieser Devise zunehmend an Bedeutung. O-Ton 21 Kreuzer Wir können uns leider einem transatlantischen Zug der Kriminalpolitik nicht entzie- hen. Es gibt von Amerika kommend über Großbritannien nach Europa hin, diese get tough policy, mehr von demselben, mehr strafen, härter strafen, länger inhaftieren. Wir haben uns Gott sei Dank noch etwas dieser Entwicklung entziehen können, wir liegen im europäischen Schnitt im oberen Mittelfeld. Die Engländer haben teilweise auch Dinge aus Amerika übernommen, etwa das Lebenslang ohne Begnadigungs- möglichkeit, ohne Restaussetzungsmöglichkeit, das haben wir Gott sei Dank noch nicht getan, aber wir müssen uns hüten, da alles zu übernehmen, man muss immer etwas gegensteuern, vor allem rational gegensteuern. Musiktrenner Sprecher Eine unaufgeregte, rationale Kriminalpolitik müsste sich wieder mehr den gesell- schaftlichen Ursachen von Kriminalität zuwenden. Erst wenn für diese "Basisarbeit" wieder mehr politische Energie aufgebracht wird, kann Kriminalität nachhaltiger ein- gedämmt werden. Professor Kreuzer: O-Ton 22 Kreuzer An sich ist allgemein anerkannt, dass Prävention besser als Repression ist. Es wird auch einiges getan, aber es wird dort nicht genug getan. Es scheint der Öffentlichkeit plausibler, wenn man härter straft. Aber wenn in der Präventionsarbeit etwas getan wird, die fängt ja ganz früh an, im Kindergarten, in der Familie, in der Integration von Migrantenkindern, dann sieht man die Erfolge nicht sofort. Das macht sich bezahlt, aber es macht sich erst langfristig bezahlt. Das heißt, was wir dort investieren, ist langfristig wesentlich erfolgreicher als eine verhärtete Strafpolitik. Sprecher Mehr Geist und Geld in die Kriminalprävention investieren, gilt in Fachkreisen als bester Schutz vor Kriminalität. Auch bei Politkern. Nur die verstehen ganz Unter- schiedliches darunter. Wolfgang Bosbach und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: O-Ton 23 Bosbach Ich kann nicht feststellen, dass wir die Prävention zugunsten der Repression ver- nachlässigen. Wir haben ja auch in Folge des 11. September eine ganze Fülle von Anstrengungen unternommen, übrigens nicht nur gesetzgeberischer Art. Was völlig übersehen wird, dass wir jedenfalls auch auf Bundesebene das Personal deutlich aufgestockt haben, das gilt nicht nur für das Bundeskriminalamt, das gilt auch für den Verfassungsschutz. O-Ton 24 Leutheusser-Schnarrenberger Wir brauchen eine wirklich gute Präventionspolitik im klassischen Sinne. Heute wird Präventionspolitik nur als Vorverlagerung der Eingriffsbefugnisse für Polizei verstan- den. Ohne konkreten Tatverdacht auch in die Rechte der Bürgerinnen und Bürger eingreifen zu können, das wird als die richtige Prävention verstanden. Sprecher Die Interpretation der Prävention in diesem Sinne geht in zwei Richtungen. Zum Vor- verlagern und Ausweiten der Eingriffsbefugnisse des Staates kommt auf Seiten der Bürger etwas hinzu. Diese Kriminalpolitik bestraft nicht mehr nur konkretes Verhal- ten, sondern will schon eine allgemein angenommene Gefährlichkeit bestrafen. O-Ton 25 Leutheusser-Schnarrenberger Dass allein die Mitgliedschaft in einer Gruppe von zwei Leuten, bei denen einer viel- leicht kriminelle Dinge im Kopf hat, dann schon als eine kriminelle Vereinigung be- wertet werden kann und jemand, der nur jemand kennt, damit sich auch gleich straf- bar macht, ist ja nicht bestimmbar und nicht vorhersehbar für den Einzelnen, und das geht zu weit. Sprecher Der Kriminologe Arthur Kreuzer meint, man sei nahe dran, auf einen Tatverdacht ganz zu verzichten, wenn jemand inhaftiert werden solle: O-Ton 26 Kreuzer Der gefährliche Mensch als solcher, der wird jetzt festgemacht und es fehlt nicht viel, dass wir dann sagen, gefährliche Menschen müssen wir auch inhaftieren können noch ehe sie konkret bewiesen haben, dass sie gefährlich sind, so dass sie auch den Verdacht, in dem sie stehen, gar nicht widerlegen können. Diese Tendenz hatten wir im Luftsicherheitsgesetz, etwa mit der Möglichkeit, ein Flugzeug abschießen zu dür- fen, nur gestützt auf die Wahrscheinlichkeit, dass darin Terroristen sitzen und die Wahrscheinlichkeit, dass die Entführten sich selbst nicht wehren können. Musiktrenner Sprecher An der kriminalpolitischen Schraube weiter zu drehen, ist gefährlich. Wenn vermutete Vorstellungen und Denkrichtungen dazu führen können, dass Menschen strafrecht- lich belangt werden, ist auch das individualisierte Böse irgendwann ausgemacht. Sa- bine Leutheusser-Schnarrenberger sieht dafür erste Anzeichen. O-Ton 27 Leutheusser-Schnarrenberger Es ist schon die Gefahr da, dass Menschen, die der islamischen Religion angehören, pauschaler in den Verdacht geraten, eher terroristisch auch verdächtig und auffällig zu sein, dass es zu einer gewissen Stigmatisierung von Personengruppen kommen kann, die sich einfach vielleicht anders verhalten. Hier glaube ich müssen wir weg- kommen von Prangern, von Stigmatisierung, weil das der Problematik nicht gerecht wird, aber auch zu ganz gefährlichen Emotionen führen kann, dann wird nämlich wieder so ein Freund-Feind-Denken entstehen, und ich glaube, gerade dieses Klima, das dürfen wir nicht schüren und das wäre gefährlich. Sprecher Unsere Kriminalpolitik müsste sich klar distanzieren vom langen Arm einer Politik, die von den Vereinigten Staaten unter Bush ausgehend, die Welt in Gut und Böse unter- teilt. Das Grundanliegen von Kriminalpolitik muss es sein, ein Norm- und Wertbewusst- sein zu schaffen und zu festigen. Strafrecht dient immer auch dazu, gut und böse besser sichtbar zu machen. O-Ton 28 Kreuzer Wir müssen sehen, dass das Gute und das Böse durchaus verteilt sind auf alle, dass es vielleicht Schwerpunkte gibt, in denen man einschreiten muss, aber wir dürfen die Menschen nicht in Schubladen, und auch nicht Gesellschaftsteile in Schubladen ste- cken, sondern wir müssen integrierend wirken. Die Gesellschaft ist mit verantwortlich auch für die Straftäter, auch für die Opfer, es ist eine Gesamtverantwortung, und da kann man nicht unterscheiden, die einen, die sind die Bösen und die andern sind die Guten. Sprecher Wenn Kriminalpolitiker diese Mitverantwortung aller für alle ernst nehmen, können sie auch leichter zugeben, dass auch in unserer Gesellschaft viele Menschen, die hinter einer Fassade von Anständigkeit und Gesetzestreue leben, wie Straftäter handeln, aber als solche nicht auffallen. Der Großteil der Gewaltdelikte findet zum Beispiel im familiären Umfeld statt, aber nach wie vor kümmert das die staatliche Kriminalpolitik herzlich wenig. Wenn sie stattdessen Unangepasste, Fremde, Arme, Desintegrierte und sozial Entwurzelte zu leichtfertig ausgrenzt und wegsperrt, läuft sie Gefahr, das gerechte Maß zu verlieren und die richtigen Mittel zu verfehlen. Immer noch fristen Mediationsprogramme und der Täter-Opfer-Ausgleich ein Schat- tendasein. Immer noch gibt es keine intelligente Regelstrafe "Fahrverbot", immer noch übernimmt man bewährte soziale Hilfsprogramme aus dem Jugendstrafrecht nicht ins Erwachsenenstrafrecht. In hunderttausenden von Fällen sperrt man Straftä- ter wegen einfacher Vergehen ein, statt sie mit ambulanten Wiedergutmachungspro- grammen zu belangen. Und immer noch sperrt man Menschen, die ihre Geldstrafen nicht bezahlen können, zu Tausenden ein, statt ihnen etwa durch Arbeit zu ermögli- chen, ihre finanzielle Schuld zu begleichen. Für Jerzy Montag ist das ein geradezu grotesker Luxus. O-Ton 29 Montag Jeder Haftplatz in Deutschland kostet mehr pro Tag als ein ausgezeichnetes Mittel- klassehotelzimmer. Und wir haben den Höchststand an Inhaftierten mit über 65.000 bei Gleichstand der Bevölkerung und bei einem Rückgang der Kriminalität. Dass da ein Fehler ist, ist doch evident. Sprecher Die jährlichen Strafvollzugskosten in Deutschland sind im Vergleich zu 1990 um über 400 Millionen Euro gestiegen. Diese immensen Kosten sind nicht nur zu hoch, sie sind zudem auch falsch angelegt. O-Ton 30 Montag Eine Gesellschaft, die in Sozialpolitik investiert, die in Städtebaupolitik investiert, in Jugendpolitik, in Bildung, in Ausbildung investiert, erspart sich die Kosten zukünftiger Kriminalität. Natürlich nicht zu 100 Prozent. Aber ein großer Teil der vorhandenen Kriminalität ist durch die Lebensumstände bedingt. Wenn man die verbessert, dann ist das die beste Vorsorge gegenüber weiten Teilen der Kriminalität von morgen. Sprecher Der berühmte Strafrechtslehrer Franz von Liszt schrieb vor rund einhundert Jahren: Zitator Die Strafe ist stets ein "Griff ins Dunkel." Sprecher Auch heute kann niemand genau voraussagen, welche Strafe wirklich hilft, um Straf- täter auf den Pfad der Tugend zurückzuführen. Nur so viel wissen wir: Die Gefäng- nisstrafe ist nicht nur ein "Griff ins Dunkel", sondern allzu oft sogar ein Fehlgriff. Und zwar unabhängig davon, ob sie mehr zum Schutz der Gesellschaft, zur Sühne der Tat oder zur Besserung des Täters verhängt wird. Sicherheit vor Kriminalität kann man nicht mit Gefängnisstrafen herstellen. Diese Art von Anstaltssicherheit schirmt zeitlich begrenzt nach außen hin perfekt ab, aber sie erreicht innerlich die Menschen nicht. Bei vielen Inhaftierten bewirkt sie das Gegenteil von dem, was Kriminalpolitiker damit erreichen wollen. Sie werden buchstäblich verschlossen, hasserfüllt, verängs- tigt, aber verändern sich kaum zum Guten hin. Inwieweit Kriminalpolitiker das bedenken, muss man aus ihren Suchbewegungen heraushören. Auch aus Gedankensplittern. Regie: Musik vom Anfang unter O-Töne 31 bis 34 unterlegen O-Ton 31 Bosbach Eine Strafe muss immer tat- und schuldangemessen sein. Punkt. O-Ton 32 Leutheusser-Schnarrenberger Diejenigen, die hier differenzieren, sind nicht so in der Öffentlichkeit wahrzunehmen wie die, die immer dann nur nach mehr Gesetzen und dem wirklich scharfen Staat rufen. O-Ton 33 Stünker Wir müssen den Strafvollzug in die Lage versetzen, dass viele Menschen, die Straf- taten begangen haben, ihnen hier die Möglichkeiten zu geben, zur Resozialisierung - das verlangt auch unsere Verfassung. O-Ton 34 Montag Ohne eine rationale Bewertung der Fakten werden wir zu keiner vernünftigen Politik gelangen. Sprecher Der große Rechtslehrer Gustav Radbruch hat bereits in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts den Deutschen die beste Antwort auf Kriminalität ins politische Gewis- sen geschrieben: Zitator Am Ende brauchen wir kein besseres Strafrecht, sondern etwas, was besser ist als Strafrecht. Spr. vom Dienst Der Kampf gegen das Böse - Kriminalpolitik und Populismus Von Heiner Dahl Es sprach: Joachim Schönfeld Ton: Ralf Perz Regie: Rita Höhne Redaktion: Stephan Pape Produktion: Deutschlandradio Kultur 2008 17