Copyright Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) Deutschlandradio Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 25. Februar 2013, 19 Uhr 30 Solidarität! Ein nimmermüder Kampfbegriff und die Wirklichkeit Von Michael Meyer Musikakzent O-Ton 1 Gauck In der Sprache der Politik heißt das Solidarität. In der Sprache des Glaubens Nächstenliebe. In den Gefühlen der Menschen: Liebe. Ja, wir wollen ein solidarisches Land. Sprecher vom Dienst: Solidarität! Ein nimmermüder Kampfbegriff und die Wirklichkeit Eine Sendung von Michael Meyer Sprecher "Solidarität ist eine knappe Ressource, die sich ständig verbraucht", so Jürgen Habermas, und wie es scheint, hat der Philosoph recht. Gern wird in Sonntagsreden Solidarität beschworen und eingefordert. Kein Partei- und Kirchentag, kein Gewerkschaftskongress vergeht ohne Bekenntnis zum solidarischen Miteinander. O-Töne 1a: Politiker Solidarität und Gerechtigkeit sind Zwillingsschwestern der Freiheit. Verdi, das ist eine Kraft, im Betrieb und in der Gesellschaft, eine Kraft der Solidarität. Ich weiß auch dass ich durch die Rückgabe eines Handys an der Sache nichts verändere, aber die Arbeitnehmer sollen wissen, dass man mit ihnen solidarisch ist. Sprecher Wo früher Solidarität mit den bedrängten Völkern Nicaraguas, Südafrikas oder Chiles bekundet wurde, wird heute Solidarität mit den Menschen in Syrien, in Tunesien oder im Iran beschworen. Und natürlich geht es auch um Probleme in Deutschland. Unsolidarisch sein - das ist gleichbedeutend mit Ignoranz, Hochnäsigkeit und mit sozialer Kälte. O-Ton 2 Kundgebung Gewerkschaften Weshalb ich da bin, ist klar: Ich solidarisiere mich voll mit den Lehrern natürlich. Trommel. Die Geschäftsleitung hat schon immer versucht, uns gegeneinander auszuspielen, damit sie der Gewinner sind. Hoch die internationale Solidarität, Hoch die internationale Solidarität. Sprecher Doch das Wort ist längst nicht nur eines, das in der außerparlamentarischen Opposition benutzt wird, Politiker gebrauchen es oft und gern, und bis heute taucht es in unserem Steuerbescheid auf: Der "Solidaritätszuschlag" muss auch 23 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung von jedem Bürger und jeder Bürgerin gezahlt werden. Selbst Unternehmen fordern gelegentlich Solidarität ein: Die gebeutelte "Frankfurter Rundschau" etwa rief in den letzten Monaten ihre Leser zur Unterstützung auf, und verkaufte einige Tausend "Soli-Abos". Musik-Akzent Sprecher Woher das Wort "Solidarität" genau stammt, wann er erstmals verwendet wurde, ist nicht mehr genau auszumachen, aber man kann seine erstmalige Verwendung ungefähr eingrenzen, sagt der Soziologe und Politologe Ulrich von Alemann: O-Ton 3 Alemann: Nach meinen Recherchen ist er ein ganz traditioneller Begriff der Arbeiterbewegung, der Solidaritätsbegriff, der eben auf den dritten Begriff, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit der französischen Revolution zurückgeht. Er ist also eigentlich eine Übersetzung, brüderlich, seid brüderlich, seid solidarisch. Und insofern hat er in den sozialistischen Bewegungen und in den kommunistischen Bewegungen eine ganz herausragende Rolle gespielt und es ist ganz erstaunlich, dass dann auch die Union, also eine christlich-konservative Partei, in Deutschland, diesen Begriff so intensiv übernommen hat. Sprecher Allein in einem CDU-Programm aus den neunziger Jahren tauchte das Wort 43 Mal auf, und im SPD-Grundsatzprogramm immerhin auch noch 34 Mal. Das hat sich in den Jahren kaum verändert. Allenfalls die FDP geht von jeher sparsamer mit dem Begriff um. Von Alemann ist nicht gegen das Prinzip der Solidarität, sondern gegen die sinnentleerte und oft inflationäre Verwendung des Wortes: O-Ton 3 Er wird besonders in zwei Bedeutungen verwendet: Einmal nach innen, in eine Organisation, als Appell, seid solidarisch! Kritisiert nicht so viel, zankt Euch nicht, also er wird häufig appellativ in einer Organisation an die Mitglieder gewendet, und er wird andererseits nach außen gewendet: Seid solidarisch mit anderen, mit den ärmeren Bevölkerungsschichten, mit der Dritten Welt, und diese Widersprüche, dass dieser Begriff einmal nach innen, eigentlich etwas anderes bedeutet, nämlich häufig auch bedeutet: Diskutiert nicht so viel, zieht an einem Strang, wir sitzen doch alle in einem Boot, und dass er andererseits ein Altruismus, eine Mitmenschlichkeit nach außen bedeutet, das schien mir besonders kritisierenswert an diesem inflationären Gebrauch des Begriffs, so wusste man häufig nicht: Ja wie meint derjenige, der diesen Begriff jetzt sagt oder schreibt, wie meint er ihn nun gerade, meint er ihn nach innen gewendet oder nach außen gewendet. Sprecher Solidarität ist also durchaus zu einem politischen Kampfbegriff geworden, der auch zweckgerichtet eingesetzt wird, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Der Soziologe Ulrich von Alemann betont: O-Ton 3a: Solidarität ist ein linker Begriff, er entstammt der Arbeiterbewegung und da ist er eigentlich zu Hause gewesen. Musikakzent Sprecher Geht es um Solidarität, geht es auch um den Gegensatz zwischen dem Individuum und der Gesellschaft, der Gemeinschaft, in dem der Mensch lebt. Die Solidarsysteme - Krankenversicherung, Rentenversicherung - sie werden zunehmend infrage gestellt und der Nutzen für den Einzelnen wird diskutiert. Die Debatte ist noch längst nicht zu Ende. Zu wie viel Solidarität der Mensch fähig und imstande ist - darüber wird seit Jahrhunderten gestritten. Auf der einen Seite steht die sehr positive Sichtweise eines Jean-Jacques Rousseau, der meinte, dass der Mensch "von Natur aus gut" sei, zumindest so lange, bis er in schlechte Gesellschaft gerät. Auf der anderen Seite die negative Sicht des Philosophen Thomas Hobbes, der die Menschheit für verroht und gewalttätig hielt, und der vom "Krieg aller gegen alle" sprach. Die Verrohung, das mangelnde Mitgefühl, sei nur durch Gesetze und Normen zu bändigen und einzugrenzen, so der Philosoph. Sprecher Der SPIEGEL-Autor Jörg Schindler hat es im letzten Jahr etwas populärer formuliert, und auf den heutigen Stand gebracht: Danach leben wir in einer "Rüpel-Republik", so der Titel seines Buches. Schindlers These: Wir leben in einer hochindividualisierten Gesellschaft, in der sich das Recht des Stärkeren durchsetzt - auf Kosten anderer: O-Ton 5 Also mein Gefühl, dass Begriffe wie Solidarität ebenso wie Begriffe wie "Gutmensch" im Prinzip einfach eine völlig andere Bedeutung erfahren. Man macht sich eher lustig drüber, als dass man in irgendeiner Form es ernst nehmen würde leider. Mein Eindruck ist schon der, dass eine Entsolidarisierung ganz stark vorangeschritten ist in der Gesellschaft, dass auch Werte wie Rücksichtnahme, Hilfsbereitschaft, auch so was wie Brüderlichkeit, dass die eben alle unfassbar viel Staub angelegt haben, und dass die in irgendeiner Form in einer konservativen Ecke stehen, wo sie eigentlich nicht hingehören, sondern sie gehören in die Mitte der Gesellschaft, und da stehen sie einfach nicht mehr und das ist ein großes Problem aus meiner Sicht. Sprecher Auch Tony Judt, der 2010 verstorbene amerikanische Soziologe, machte darauf aufmerksam, dass es mit der Desolidarisierung so nicht weitergehen könne. Die seit 30 Jahren zu beobachtende Auslieferung der Politik an Einzelinteressen vertretende Lobbygruppen habe zu einem weitgehenden Vertrauensverlust der Bürger geführt. Ein neues Verständnis von öffentlichem Dialog über die Zukunft unserer Gesellschaft, der auch über das Ökonomische hinausgehen müsse, sei nötig. Der amerikanische Soziologe Richard Sennett hat in seinem neuen Buch "Zusammenarbeit" einen ähnlichen Ansatz. Zwar konstatiert auch Sennett eine zunehmende Vereinzelung und Individualisierung, betont jedoch, dass das gesellschaftliche Weiterkommen kaum möglich wäre ohne ein Mindestmaß an Solidarität, Mitgefühl, Verantwortung. Vereinfacht gesagt: Weder die Erfindung des Rades noch des Autos wäre möglich gewesen, hätten ihre Erfinder sich nicht auch um das Wohlergehen ihrer Mitmenschen gesorgt. Er kommt zu dem Schluss: Wir brauchen heutzutage Kooperation, Zusammenarbeit, Solidarität mehr denn je, und die Menschen würden das auch wieder erkennen. Sennett unterscheidet dabei verschiedene Formen der Zusammenarbeit, er beschreibt allerdings auch das negative Modell: der Mensch ganz im Hobbesschen Sinne, neigt dazu, das Prinzip des "Der Gewinner erhält alles", anzuwenden. Kooperation und Solidarität werden außer Acht gelassen, Unternehmen streben nach einem Monopol, der Verlierer wird gänzlich ausgelöscht. Und das gelte oft auch für Individuen. Atmo Sprecher Um genau diese Horrorwelt zu verhindern, haben sich schon in den 60er und 70er Jahren verstärkt Menschen zu Solidaraktionen zusammengefunden. "Hoch die internationale Solidarität!" war zum Schlagwort geworden, eines, das mal mehr, mal weniger mit Leben erfüllt wurde. Wie ritualisiert so manche Solidaritätsaktionen waren, gerade im linken studentischen Milieu, daran erinnert sich der Soziologie-Professor Hauke Brunkhorst. O-Ton 7 In Frankfurt da traten die pseudo-kommunistischen Kaderorganisationen immer so zu geordneten Demonstrationen unter Spruchbändern und roten Fahnen an, ... und in der Zeit, Ende der 70er Jahre, da entwickelten sich Gegenbewegungen unter den Studenten, die sich Spontis nannten, die mehr die Spontaneität betonten, mehr so auf die älteren Emanzipationsbegriffe zurückgegriffen haben, und die haben dann im Stile der Studentenbewegung das verulkt und einmal hat der KBW , auf Deutsch hieß das "Kommunistischer Bund Westdeutschlands", die haben eine große Demonstration gemacht, für irgendeine afrikanische Befreiungsbewegung, und die haben eine Gegendemonstration gemacht, dann sind die auf die Straße gegangen: "Hoch die internationale Kinderschokolade", und damit war der Spuk eigentlich vorbei. Sprecher Im Gegenteil: Bis weit in die achtziger Jahre wurden Soli-Aktionen, Soli-Konzerte, Demos und vieles mehr veranstaltet, auch in der DDR. Hier war internationale Solidarität oft ein verordneter Begriff, der im Alltag wenig Bedeutung hatte, zumindest in der Deutung der Staatsführung. Solidarität war Teil der Außenpolitik. Unterstützung erhielten nur sozialistische Staaten oder befreundete Klassenkämpfer. Und wenn ein Volk zu leiden hatte, etwa in Chile oder Nicaragua, dann sollten möglichst viele öffentlich Solidarität bekunden: Töne 8: Dem Frieden die Freiheit - Solidaritätsaktion des Rundfunks und Fernsehens der DDR. Mit diesem gemeinsamen Solidaritätskonzert des Senders Stimme der DDR und des Maxim-Gorki-Theaters wollen wir das von der faschistischen Junta unterdrückte Volk Chiles unterstützen. Lied: Vorwärts und nie vergessen, worin unsere Stärke besteht, beim Hungern und beim Essen, Vorwärts und nicht vergessen die Solidarität... Sprecher Wenn die DDR Solidarität übte in Form von Sachleistungen, Spenden, aber auch Hilfe leistete bei der Ausbildung, dann war das nicht nur uneigennützig, meint die Journalistin Heike Schneider. Sie war in den siebziger Jahren Fernseh-Korrespondentin im südlichen Afrika und hat von fast allen Brennpunkten berichtet - Angola, Mosambik, Tansania, Äthiopien. O-Ton 9: Es war einem als DDR-Bürger schon klar, dass die DDR nur ihre Gelder und kanalisiert in Länder oder Bewegungen oder Parteien, wo man auf einen genehmen politischen Kurs hoffte. Also man war dabei nicht uneigennützig, aber trotzdem würde ich sagen, dass diese Solidaritätsleistungen und Zielstellungen für mich alles andere waren als eine rundum sinistere Sache. Sprecher Solidarität konnte durchaus Gutes bewirken, so die Journalistin. Sie nennt das Beispiel eines Jungen, der im Bürgerkrieg in Angola grausam verstümmelt worden war: O-Ton 10: Ich erinnere mich noch an eine Szene auf dem Luanda-Airport, als ein schwerverletzter, beidseitig amputierter Angolaner, 17/18 Jahre alt von seiner Mutter auf dem Rücken die Gangway hochgeschleppt wurde, in eine Soli-Maschine der Interflug geschleppt wurde zur Weiterbehandlung in Berlin-Buch. Das fand ich ungeheuer tragisch, wie die Mutter dann alles Gute zuruft, und sechs Monate später haben wir erlebt und auch gefilmt, wie dieser junge Mann mit zwei neuen Prothesen, die die Prothetiker in Berlin-Buch sensibler Weise auch noch braun gefärbt hatten, selbstständig die Gangway runterhumpelte, die Mutter stand wieder da, und diesmal hat er mit seinen beiden Prothesen einen Freudentanz auf der Piste aufgeführt, und das hat einen tief bewegt, und da hat man gedacht, Mensch also hier hat Solidarität was mit christlicher Nächstenliebe zu tun und da war man stolz einfach und tief bewegt. Sprecher Schneider hat auch selbst zu ihrer Zeit als Korrespondentin konkrete Solidarität geübt. Sie adoptierte ein angolanisches Kind - zu DDR-Zeiten war das ungewöhnlich und auch mit Komplikationen verbunden. Die SED sah es nicht gern - auch wenn das offiziell nie so gesagt wurde. Heike Schneider erinnert sich an ihre erste Begegnung mit dem zukünftigen Adoptivkind, die Umstände waren grausam: 1978 gab es in Südangola ein Massaker mit über 800 Toten: O-Ton 11: Und wir flogen da runter um eine Reportage zu drehen, und da gab es ein paar überlebende Kinder im Maisfeld, ich war da total erschüttert von diesen Leichenbergen, es waren nur Alte, Frauen und Kinder, und dann diese verstörten überlebenden Kinder, und ein Kind davon, der war damals so schätzungsweise drei, der uns beobachtete, wie wir da fotografiert haben und erst ganz traurige Augen hatte und als ich ihn anlächelte, lächelte, da habe ich in einer Sekunden-Entscheidung meine größte und schönste Familienentscheidung des Lebens getroffen und habe gedacht: Den holst Du hier raus. Bin also zu dem ersten SWAPO-Präsidenten gegangen Nujoma und habe gefragt: Können wir dem helfen? Und da hatte er uns einen Schrieb gegeben, weil wir den kannten von Interviews und so weiter. Sprecher Jahre später versuchte Bildungsministerin Margot Honecker, das Adoptivkind aus der Familie zu nehmen und in ein Internat für ausländische Kinder zu geben, manches erinnerte dort an militärischen Drill - doch Heike Schneider protestierte. Erfolgreich. Im Rückblick sagt sie: O-Ton 12 Sobald Solidarität auf private Ebene runtergebrochen wurde, konnte das kompliziert werden. Musikakzent Sprecher Wie kompliziert es mit der Solidarität innerhalb der eigenen Gesellschaft sein kann, zeigte sich in den achtziger Jahren. Da kamen in der Bundesrepublik die ersten Wellen der Desolidarisierung an, sagt der Soziologe Hauke Brunkhorst. Konservative Regierungen stellten bis dahin sicher geglaubte solidarische Errungenschaften infrage: O-Töne 13 Also man muss schon sagen, das fing schon an mit der Reagan-Thatcher-Revolution und der Postmoderne. In dem großen Individualisierungs- und Ästhetisierungstrend der Postmoderne, der sich gerade gegen solche Begriffe auch gewandt hat. Und auch gegen den Begriff der Emanzipation. Sprecher Es waren vor allem mit den USA und Großbritannien jene zwei Länder, die den Kampf gegen die Gewerkschaften und gegen den Sozialstaat aufnahmen, konstatiert Brunkhorst. Das blieb nicht ohne Folgen für den Solidaritätsgedanken: O-Ton 14: Das war wirklich ein Krieg der Gewerkschaften, der geführt wurde und die Gewerkschaften sind zurückgedrängt worden, das ist in gewisser Hinsicht die eine große Basis der Solidaritätsleistungen des Sozialstaats gewesen. Damit sind Säulen dieser Solidarität zerfallen, die berühmte Formel von Maggie Thatcher, "ich kenne keine Gesellschaft mehr, ich kenne nur noch Individuen", das war ja gewissermaßen gegen die Solidarität gerichtet. Die kompetitiven Individuen bleiben übrig als Einzelne, aber die solidarischen Verbindungen zwischen ihnen werden systematisch gekappt. Das ist eigentlich der Grundgedanke dieses Wirtschaftsmodells und das hat sich über 30 Jahre etabliert. Sprecher Diese Entwicklung muss man mitdenken, wenn man über den sich verändernden Begriff der Solidarität spricht: Damals gab es "State-embedded markets", also Märkte, die in Staaten eingebettet waren, heute ist es umgekehrt: Die meisten Staaten sind in die Märkte eingebettet. Das veränderte die Politik für die Finanzmärkte, den Arbeitsmarkt und hat Folgen für die Gesellschaften - bis heute. O-Ton Schröder Wir werden, meine sehr verehrten Damen und Herren, die Leistungen des Sozialstaates kürzen, Eigenverantwortung fordern und mehr Eigenleistung von jedem Einzelnen abfordern müssen. Sprecher In Deutschland haben die rot-grünen Reformen, die vor zehn Jahren beschlossen wurden, bleibende Veränderungen für das Solidarsystem bewirkt. Gewerkschafter würden noch deutlicher formulieren: bleibende Schäden für den Solidargedanken innerhalb der Arbeitnehmerschaft. Wolfgang Uellenberg-van Dawen ist Referatsleiter Politik und Planung bei Ver.di. Er meint, die Reform des Arbeitsmarktes mit Zusammenlegung von Arbeits- und Sozialhilfe, Niedriglöhnen, Minijobs usw. habe eine Spaltung der Gesellschaft bewirkt: O-Ton 15: Und das Schlimme dabei war die Argumentation auch: Ein Facharbeiter, der morgens früh aufsteht, dem kann es nicht zugemutet werden, dass der Arbeitslose liegen bleibt. Das ist eine mentale Aufrüstung und eine Spaltung der Gesellschaft, auch der Arbeitnehmerschaft, die aus einer zutiefst reaktionären Sicht von Leistungsgerechtigkeit ruht, die auch von den Arbeitnehmern so überhaupt nicht gesehen wird, zumindest in weiten Teilen nicht. Sprecher Und dennoch hat diese Sichtweise sich in breiteren Gesellschaftsschichten durchgesetzt. Geld kassieren, ohne zu arbeiten - das stellt den Solidargedanken auf eine harte Probe. Ebenso fragwürdig erscheint es, wenn einzelne Gruppen, die in gesellschaftlichen Schlüsselpositionen arbeiten, in Lohnverhandlungen das meiste herausholen. Die Gewerkschaften haben es jedenfalls heute schwerer, wenn es darum geht, Arbeitnehmer für ihre Rechte zu sensibilisieren, zu organisieren. Uellenberg-van Dawen kennt das aus eigener Erfahrung: Minijobber und Leiharbeiter seien nur bedingt zu erreichen. O-Ton 16 In der direkten Interessensvertretung in den Betrieben ist es natürlich kompliziert, die Betroffenen, die nur ein paar Stunden im Betrieb sind, zu organisieren, aber der Druck, der gesellschaftliche Druck nach sicherer Arbeit, der wächst, der wächst inzwischen wieder stärker, also: Es hat Entsolidarisierung gegeben, ja, das ist auch nicht verwunderlich in einer Konkurrenzgesellschaft, aber es findet stärkere Solidarität im Sinne von aufgeklärtem Interesse, das man sagt: Wir als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen gemeinsam auftreten, um gemeinsam für gute Arbeit zu sorgen, weil wir sonst alle die Verliererinnen und Verlierer sind. Sprecher Innerhalb der Betriebe mag manche Solidarisierungsaktion schwierig sein - in der Gesellschaft ist in den letzten Jahren wieder ein gewisser Trend, eine Wiederkehr zur gesellschaftlichen Solidarität zu verzeichnen, meint Hauke Brunkhorst. Es gebe mehrere Trends gleichzeitig, die sich auch mal widersprechen. Bürger engagieren sich, der viel zitierte, verächtlich genannte "Wutbürger" geht auf die Straße. Einmal dahingestellt, inwieweit derlei Aktivitäten manchmal auch selbstbezogen und egoistisch sind - festzuhalten bleibt: Bewegungen wie "Occupy" lassen hoffen, dass Solidarität auch heute kein Fremdwort geworden ist. Und für Netzaktivisten ist das Netz eine ganz wunderbare Möglichkeit, Solidarität zu organisieren, Aufmerksamkeit für Probleme und Notlagen herzustellen. Eine der größten und erfolgreichsten Plattformen für derlei Soli-Aktionen ist die Organisation Campact mit in Deutschland 800.000 Followern im Netz, und immerhin zirka 13.000 aktiven Unterstützern, die auch Geld spenden. Campact organisiert die verschiedensten Proteste für oder gegen eine Sache: Für den raschen Atomausstieg, gegen die Gratis-BILD-Zeitung im Sommer letzten Jahres, gegen die Spekulation mit Nahrungsmitteln. Und immer wieder schaffen es die Campact - Macher, Menschen zur Demo auf die Straße zu bringen, wie etwa Ende Januar, wo es um eine tierfreundliche und gesunde Landwirtschaft ging. Auch eine Art Solidaritätsaktion - in diesem Fall für Kleinbauern und Imker. O-Ton 18 Demo (Teilnehmer) Mir ist es wirklich ein echtes Anliegen, gegen die Massentierhaltung einzutreten.Wir haben's wirklich satt, ne, es schmeckt einfach nicht mehr, wenn man nachdenkt, was man isst, wie es dazu gekommen ist, und welche Tiere sich da quälen mussten und sind auch schlecht gestorben, also ne, das wollen wir eigentlich nicht mehr... (Musik abblenden. Sprecher: Christoph Bauz ist einer der Geschäftsführer von Campact: Er erklärt, dass wann immer man eine Online-Kampagne plant, zuvor die Nutzer gefragt werden: O-Ton 19 Würdet ihr unterzeichnen, würdet ihrs weiterleiten, an welchen Stellen würdet ihr noch eine Veränderung vornehmen? Und dann schauen wir, wie ist die Response, wie viele Leute antworten und dann schauen wir, dass wir eine Kampagne so gedreht kriegen, dass viele Leute mitmachen und dann damit loslegen. Sprecher Die Frage ist: Wie viel Solidarität zeigen Menschen, wenn es nicht unmittelbar um ihre eigenen Belange geht? Klicken viele nicht einfach nur ein "Gefällt mir" an und engagieren sich nicht darüber hinaus? Zeigen Menschen dann auch Solidarität? Christoph Bauz meint, durchaus: O-Ton 20 Ich habe schon den Eindruck, dass mittlerweile immer mehr Menschen auf die Straße gehen auch zu Themen, wo sie sich solidarisieren, wo sie sagen: Es braucht wieder eine stärkere Besteuerung großer Vermögen, eine Gesellschaft fällt auseinander, wenn die Schere zwischen Arm und Reich zu groß wird, und dann gehen eben die Benachteiligten auf die Straße aber eben auch viele, die bereit sind, was abzugeben, da entstehen dann Bündnisse, große Demonstrationen, da schließen sich Menschen unseren Appellen an, machen Druck auf Politik, und das ist gelebte Solidarität in der Gesellschaft. Sprecher Die Frage jedoch bleibt: Wie viel gelebte Solidarität gibt es wirklich in unserer Gesellschaft, gerade wenn es um jene geht, die man als "Randgruppe" bezeichnet? Diese Frage ist bedeutend für Hilfsorganisationen wie beispielsweise die Deutsche AIDS-Hilfe. 1983 gegründet, mit 120 regionalen Büros arbeiten dort Mitarbeiter teils ehrenamtlich für mehr Prävention, Akzeptanz von HIV-Positiven und besserer Betreuung von AIDS-Kranken. Das Thema hat sich in der öffentlichen Wahrnehmung enorm verändert. Waren in den achtziger Jahren Bilder von sterbenden AIDS-Kranken und prominenten HIV-Infizierten allgegenwärtig, ist es heute eher ein Randthema. Eine damals noch tödliche Krankheit nimmt inzwischen, dank neu entwickelter Medikamente, einen bedeutend weniger dramatischen Verlauf. Zynisch formuliert könnte man sagen: Das liefert für Medien und Öffentlichkeit keine quotenstarken Geschichten mehr. Holger Wicht, Pressereferent der Deutschen AIDS-Hilfe sagt, dass die Situation bis Mitte der neunziger Jahre, als neue Medikamente auf den Markt kamen, gezeichnet war durch wenig Solidarität - zumindest in der Mehrheitsgesellschaft: O-Ton 21 HIV und AIDS waren damals eine ganz immense unmittelbare Bedrohung, einmal für Leib und Leben für viele Menschen, aber gleichzeitig auch eine enorme Gefahr für Stigmatisierung vorhanden war, es waren ja vor allem Gruppen betroffen, die ohnehin schon ausgegrenzt waren, und jetzt kam diese Infektionskrankheit, die große Panik auslöste, dazu, und es drohte alles so zu kippen, dass diese Gruppen noch viel mehr an den Rand gedrängt hätten werden können und das ist der Kern der Solidarität damals gewesen, zu sagen: Nein, wir stellen uns in eine Reihe mit diesen Menschen, die es betrifft, ganz gleich, ob wir selbst zu dieser Gruppe gehören oder nicht, wir machen uns mit ihnen gemein, wir urteilen nicht über ihr Verhalten, sondern wir schützen ihre Rechte, so viel wie möglich zu erfahren, sich so gut wie möglich schützen zu können. Sprecher Politiker wie Peter Gauweiler forderten sogar die Internierung von AIDS-Kranken und HIV-Positiven. Eine Bemerkung, die derzeit wohl kein Politiker mehr ungestraft äußern könnte. Doch die bewegten Zeiten sind vorbei: Heute ist das Thema allenfalls einmal im Jahr auf der Agenda der Medien - am 1. Dezember zum AIDS-Welttag. Der neue Blick auf die Krankheit hat auch ganz praktische Folgen: So hat beispielsweise die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ihre Mittel für Prävention in diesem Jahr um eine Million Euro gekürzt. Da AIDS und HIV hohe Kosten für die Krankenkassen und damit die Solidargemeinschaft verursachen, ist das langfristig gesehen keine weise Entscheidung, meint Wicht. Und Heike Gronski, Referentin für Leben mit HIV bei der Deutschen AIDS-Hilfe ergänzt: O-Ton 24 Auch heute bedarf es, da Menschen mit HIV wieder mitten in der Gesellschaft leben, bedarf es auch einer Solidarität von viel mehr Menschen, die vielleicht vorher gar nicht so solidarisch waren, also wenn heute wieder Menschen im Arbeitsprozess sind, müssen sie einen solidarischen Arbeitgeber haben, müssen sie solidarische Kollegen haben. Das sind vielleicht alles Menschen, die sich vorher damit weniger auseinandergesetzt haben. Und das ist glaube ich die große Herausforderung, Solidarität in der Breite heute zu schaffen. Musik-Akzent Sprecher Doch wie lässt sich Solidarität im Alltag, in der Gemeinschaft konkurrierender Individuen heute leben? Muss man Widersprüche akzeptieren, wie die neue bürgerliche Mitte, die Werte einfordert und dann aber doch das Kind auf die Privatschule schickt, privat versichert ist und sich von so manch anderem Solidarsystem verabschiedet? Oder gibt es neue Zeichen von Solidarität, Menschen, die sich in Vereinen und Ehrenämtern engagieren, und damit eine Gegenbewegung auslösen? Der Soziologe Harald Welzer schrieb in einem Essay, dass die Protestierenden von "Occupy" und "Campact" bereits einflussreiche Bewegungen seien, ohne dass sie wüssten, dass sie es sind. Es gibt also Hoffnung auf eine Umkehr zur Solidarität. SPIEGEL-Autor Jörg Schindler meint, dass es in jedem Fall eine neue gesellschaftliche Debatte geben müsse: O-Ton 25 Man muss versuchen, die Sache vom Ende her zu denken: Was, wenn jeder plötzlich anfängt, zu gucken, dass es seinem Kind gut geht, aber alle anderen sind ihnen völlig egal. Was wenn alle nur noch hinter Mauern leben, sich abschotten. Das sind alles Punkte, wo ich sagen würde: Leute passt auf, wir verlieren ein ganz entscheidendes Schmiermittel, das eine Gesellschaft am Laufen hält. Sprecher vom Dienst: Solidarität! Ein nimmermüder Kampfbegriff und die Wirklichkeit Eine Sendung von Michael Meyer Es sprach: Thomas Schendel Ton: Bernd Friebel Regie: Giuseppe Maio Redaktion: Constanze Lehmann Produktion: Deutschlandradio Kultur 2013 1