COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur, Nachspiel Der Körper als Spielverderber Spitzensportler am Ende der Karriere Sendung: 17. November 2013 Dribbeln eines Basketballs Johannes Herber: ... klar, als ich die vielen Verletzungen hatte, war mein Körper schon ein Feind. Ich habe mit ihm gerungen. Wir haben Signale ausgetauscht, und es hat nicht übereingestimmt. Ich wollte weitermachen, mein Körper schrie nach Ruhe. Johannes Herber, 30 Jahre, ehemaliger Basketballprofi. Atmo Millerntorstadion Fabian Boll: Mit 34 geht man hin und sagt: Trainer, Du, ich glaub, heute ist mein Körper nicht so für Leistungssport gemacht und vielleicht gehe ich nur eine Runde laufen oder so was. Fabian Boll, 34, aktiver Berufsfußballer. Tickende Uhr Arne Friedrich: Wenn man dann wirklich fünf Wochen liegt, kann sich überhaupt nicht bewegen, hat nur Schmerzen, muss jeden Tag Schmerztabletten nehmen und man weiß nicht, wann es besser wird… Arne Friedrich, 34 Jahre, ehemaliger Fußballprofi. Tickende Uhr Markus de Marées: Leistungssport ist bestenfalls gesundheitsneutral. Markus de Marées, Sportmediziner. Musik, AC/DC, Hells Bells Es ist eine Crux: Auf nichts ist ein professioneller Sportler so angewiesen wie auf seinen Körper. Dieser Körper muss funktionieren wie eine gut geölte Maschine, Tag für Tag für Tag. Und so ist es zugleich der Leistungssport selbst, der diesen Körper durch permanente Höchstbelastung abnutzt, wenn nicht durch Überbelastung ruiniert. Markus de Marées von der Deutschen Sporthochschule in Köln: de Marées: Für diese Hochleistungssituation ist der Körper halt nicht auf Dauer ausgelegt. Obwohl es jetzt natürlich, was die Wissenschaft angeht, ausgefeilte Trainingssysteme gibt. Es gibt ein Komplettpaket für den Leistungssportler, so dass von den äußeren Umständen der Sportler super umsorgt wird. Wenn der Körper schlapp macht, lässt sich das durch nichts kompensieren. Kein Spielverständnis macht einen Kreuzbandriss wett, keine Cleverness hilft bei einem Bandscheibenvorfall. Bei einem Kolbenfresser hilft es ja auch nicht, das Auto zu betanken oder sein Chassis zu putzen, um es wieder fahrtüchtig zu machen. Ins Stottern geratener Motor Jeder Mensch erlebt, wie die Leistungsfähigkeit seines Körpers im Laufe der Jahre nachlässt. Der Unterschied für einen Spitzensportler liegt in der Fallhöhe. Der Körper ist sein Arbeitsgerät. Das kaputte Arbeitsgerät bedeutet das Ende der Karriere. Man kann sich ein neues Auto kaufen mit neuem Motor und wieder losbrausen. Einen neuen Körper kann man sich nicht kaufen. Atmo Millerntorstadion Wenn ein Sportler jung ist und in der Blüte seiner Leistungsfähigkeit steht, ist der Körper sein Freund. In der Regel würdigen junge Sportler das nicht besonders. Oder auch... Friedrich: ...gar nicht. Wenn man keine Probleme hat, denkt man nicht über den Körper nach. Man denkt erst dann darüber nach, wenn man auch was hat... Arne Friedrich spielte für Hertha BSC Berlin und den VfL Wolfsburg in der Bundesliga und 82mal für die deutsche Nationalmannschaft. Im Sommer 2013 erklärte Friedrich, der zu dieser Zeit in der amerikanischen Major Soccer League in Chicago engagiert war, seine Karriere für beendet. Die Auswirkungen eines hartnäckigen Bandscheibenvorfalls ließen ihm keine Wahl. Man sieht Friedrich seine Schmerzen nicht an, wenn er den Kurfürstendamm entlang spaziert oder in einem Restaurant Platz nimmt, um seine Geschichte zu erzählen. Doch er kämpft mit dieser Bandscheibe, die ihm den reibungslosen Dienst versagt. Friedrich: Das ist das Allerschlimmste, was passieren kann, dass man Angst hat, gerade was körperliche Schmerzen angeht. Ich habe sehr viel gelesen, versucht mir selbst Mut zuzusprechen. Der Tag ist lang, wenn man nichts machen kann über fünf Wochen, da muss man die Zeit erst mal rumkriegen. In diesen Wochen im vergangenen Frühjahr las Arne Friedrich alles über Bandscheibenvorfälle, was er in die Hände bekam. Wenn er müsste, könnte er Vorträgen halten über das Leiden am... Friedrich: ...Lendenwirbel L5S1... ... die Vor- und Nachteilen von Operationen hier und konservativen Behandlungsoptionen dort erklären. Solange man keine Schmerzen hat, nichts von Verschleiß und wenig von Verletzungen weiß, hält man einen gesunden Körper für selbstverständlich. Auch als kraftstrotzender Jungspund. Herber: Als junger Spieler belächelt man ja immer die alten, die früher in die Halle kommen und sich aufs Fahrrad setzen vorher, irgendwelche Rückenübungen machen für den Beckenbogen. Und damit habe ich dann aber auch irgendwann angefangen, weil ich gemerkt habe, ich brauch das. Der Basketballer Johannes Herber spielte unter anderem für die Bundesligisten Alba Berlin und die Skyliners Frankfurt, zudem 74mal für die deutsche Nationalmannschaft. Im Sommer 2012 beendete er nach diversen Verletzungen und unter chronischen Schmerzen leidend seine Karriere. Jetzt steht er am Anfang einer neuen Laufbahn: Herber schreibt an einem Buch über sein Leben als Profisportler, das er vor der geplanten Zeit hinter sich lassen musste. Aber langfristige Pläne zu machen, ist für Sportler ohnehin ein gewagtes Unterfangen. Boll: Genau, ich lass das alles auf mich zukommen. Es ist natürlich nicht ausgeschlossen, dass es meine letzte Saison wird. Aber warum soll ich mir jetzt schon irgendwie einen Plan zurechtlegen. Gerade Sport und Fußball ist so ein schnelllebiges Geschäft. Fabian Boll ist Mannschaftskapitän des FC St. Pauli, für den er in elf Jahren fast 300 Pflichtspiele absolviert hat. Nach für ihn ungewohnt hartnäckigen Blessuren und längeren Pausen in der Vorsaison ist er zu Beginn der Spielzeit 2013/2014 fit und gesund. Was nicht bedeutet, dass er seine alten Knochen nicht spüren würde, wie er in einem Umkleide-Container auf dem Trainingsgelände des Hamburger Zweitligisten erzählt. Boll: In jungen Jahren kann man natürlich nach einem Spiel nach Hause fahren und sich auf die Couch legen, das reicht schon. Mit zunehmendem Alter ist es so, dass man sich von Physiotherapeuten behandeln lassen muss oder in die Sauna geht. Wie kurz bemessen ihre Zeit in diesem Geschäft des Spitzensports ist, mögen junge Sportler ahnen, wirklich erfassen können sie die Vergänglichkeit erst, wenn sie sie am eigenen Leibe zu spüren bekommen. Boll: Mit dem Wissensstand von heute würde man vielleicht einiges anders machen, aber auch: Ich glaube, da würde man sich einfach viel zu viel wegnehmen. Ich glaube, dass gerade das ja auch ein Zeichen ist von jungen Spielern, dass sie dieses Unbekümmerte haben, auch einfach mal Sachen machen, wo man als Älterer mit dem Kopf schüttelt. Es reicht auch nicht unbedingt, wenn ein Sportler selbst zur Vernunft neigt. Jeder Athlet, gerade im Mannschaftssport, ist eine kleine Figur in einem großen Spiel. Weniger als kluge Weitsicht wird von einem Sportler Leistungsbereitschaft im Hier und Jetzt verlangt. Es gibt immer Konkurrenz, es geht immer um Geld. Ein Sportler, der zu gewissenhaft mit seinem Körper umgeht, ihm immer die Pausen gibt, die er braucht, wird den Anforderungen des Systems Hochleistungssport nicht gerecht. Die mögen zwar absolut unvernünftig sein... Friedrich: ...aber als Profisportler ist man schon gezwungen, natürlich schnellstmöglich wieder fit zu werden, man erwartet das von sich selber, aber auch der Verein natürlich. Herber: Klar gibt es die Leute, die einen warnen, aber gleichzeitig gibt es auch die Leute, die einen pushen. Und es entstehen ja auch Dynamiken in der Gruppe, wo man sieht, dass andere eben mit diesen Gewichten arbeiten. Und es ist nicht besonders clever, sich danach zu richten, aber das passiert halt schon mal. Johannes Herber, der ehemalige Basketballprofi, kennt das Dilemma, zwischen Bedürfnissen des angeschlagenen Körpers und Ansprüchen des professionellen Sports zu stehen. Zwei Kreuzbandrisse bedeuteten zwei monatelange Rehabilitationen. Herber: Ich glaube, bei mir war eher das Problem, dass ich dann zu viel wollte, also ich dachte, das ist ein Schmerz, den kann ich ignorieren, das ist ein Anpassungsschmerz. Wenn es dann darum geht, raus aus der Reha-Mühle und wieder zurück ins Spiel zu kommen, vielleicht sogar zum letzten Mal, überträgt ein Sportler den Stress im Kopf mitunter auf den Körper. Wenn es sein muss, missversteht er diesen Körper einfach. Ein Alarmsignal wird dann interpretiert als Anpassungsschmerz, wenn man so will: als Muskelkater, der sich am besten überwinden lässt, wenn man – Augen zu und durch – einfach weitermacht. Aber... de Marées: ...wenn ich mich dem Druck beuge und den Körper falsch belaste, kann es eben zu Defektheilungen kommen, dass ich das einzelne Niveau nicht wieder erreichen kann. Defektheilung klingt wie ein Widerspruch in sich. Und ist auch nichts anderes, nämlich ein Heilungsprozess, der nicht zur Heilung führt. Das verletzte Gewebe wird nicht wieder gesund, es bleibt ein Schaden zurück. Markus de Marées weiß: Wer auf seinen Körper hört und Verletzungen richtig auskuriert, profitiert davon im Idealfall bis ins hohe Alter. Nur interessiert das eben im Spitzensport nicht. de Marées: Leider ist der Druck halt immens, ich möchte meine Leistung bringen, ich habe meinen Marktwert, ich habe meinen Leistungspeak in jungen Jahren, den möchte ich ausschöpfen, da möchte ich natürlich möglichst viel verdienen. Musik, Nirvana, Smells like Teen Spirit Der Körper eines Hochleistungssportlers wird im Laufe der Jahre durch den Sport verschlissen. Bei jungen Athleten ist der Prozess noch umgekehrt: Der Körper wird gerade durch den Sport immer leistungsfähiger. de Marées: Wenn man sich als Grundlage den Trainingsprozess an sich vorstellt, ist das Prinzip so, dass ich mit jedem Training ein bisschen Biomasse kaputt mache. Soll heißen: Kleine Schäden in der Muskulatur, kleine Schäden wo auch immer. Und dann kommen die Stammzellen auf den Plan und es gibt einen Reparaturmechanismus. Der ist in jungen Jahren eines Menschen enorm effektiv: Der Körper wird durch das ständige Wechselspiel von leichten Verletzungen und sofortigen Reparaturarbeiten der Stammzellen immer besser dafür gerüstet, das zu leisten, was man von ihm erwartet. de Marées: Also ich werde stärker, der Knorpel wird größer, der Knochen wird stärker, der Muskel wird stärker. Dieses Optimierungsverfahren des Organismus ist ein kleines Wunderwerk. Der Haken an der Sache: Das Wunderwerk funktioniert nur ein paar Jahre lang. de Marées: Wenn man das jetzt im Leistungssport sieht, ist das Prinzip immer noch das Gleiche – natürlich ist das System dann aufs Äußerste ausgereizt. Und leider ist es so, dass mit dem Alter die Anzahl der Stammzellen, um es vereinfacht zu sagen, nicht mehr ganz so groß ist wie beim Jugendlichen. In den meisten Sportarten erreichen die Athleten den Höhepunkt ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit zwischen dem 20. und 25. Lebensjahr. Auch im Fußball ist das so. Ein gesunder Spieler kann sich dann noch gut zehn Jahre auf hohem professionellem Niveau halten. Doch gerade im zurückliegenden Jahrzehnt ist der Sport viel schneller und anspruchsvoller geworden. Arne Friedrich: Friedrich: Wenn man sich Fußballspiele mal anschaut, und mal genauer drauf achtet, dann sieht man schon, was das für eine Belastung ist, dieses ständige Antreten, Abstoppen, das Checken, das man im Sprung gestoßen wird und man kommt falsch auf. Das ist klar, dass der Körper dann irgendwann sagt: So, jetzt ist Feierabend. Auch Markus de Marées diagnostiziert erhöhte physische Belastungen – gestiegenes Verletzungsrisiko inklusive: de Marées: Dann gibt es natürlich Leute, die schon mit 25 aufhören, verletzungsbedingt, mehrfache Knieprobleme, Pech bei dem chirurgischen Eingriff, eine Infektion eingefangen, das ist das eine. Das andere sind Leute wie Ryan Giggs. Atmo Stadion Old Trafford Ryan Giggs spielt seit 23 Jahren beim englischen Spitzenclub Manchester United. Vielleicht hat Giggs, der Ende November 40 Jahre alt wird, einfach gute Gene. Vielleicht hatte der Yoga-Fan auch bloß Glück, von gravierenden Verletzungen verschont geblieben zu sein. Sicher ist: Ryan Giggs kann seinem Körper jeden Sommer Ruhepausen gönnen, denn er ist Waliser, und die walisische Auswahlmannschaft qualifiziert sich nie für Welt- oder Europameisterschaften. In den 16 Jahren, die Giggs für Wales aktiv war, kam er im Schnitt auf vier Länderspiele pro Jahr. Zum Vergleich: Bastian Schweinsteiger ist in neun Jahren bereits 100mal in der Nationalmannschaft aufgelaufen, im Schnitt macht das elf Einsätze pro Jahr. Für seinen Verein, den FC Bayern München, hat Schweinsteiger zudem seit 2002 mehr als 400 Pflichtspiele bestritten. Und es wären noch weit mehr – wäre der Mittelfeldspieler nicht immer wieder verletzt oder krank. Sein Körper sträubt sich gegen die Belastungen seines Berufs. Ständig scheint dieser Körper zu schreien: Ich will nicht mehr! Lass mich in Ruhe! Lass mich wenigstens mal ausruhen! Sprunggelenksstauchung, Schlüsselbeinbruch, Meniskusseinriss, Zehenbruch und so weiter und so fort. Schweinsteigers Verletzungsliste ist lang. Seit Jahren sagt der Bayern-Profi die Teilnahme an Freundschaftsspielen der Nationalmannschaft ab. Das wird ihm oft übel genommen, von Fans und Beobachtern, die sein Verhalten als arrogant auslegen. Schweinsteigers Körper hingegen dürfte sehr dankbar sein. Radiokommentar WM-Spiel Argentinien - Deutschland, Tor Friedrich zum 0:3 Die Weltmeisterschaft 2010 war der Höhepunkt in Arne Friedrichs Fußballerkarriere. Zuvor war er immer nur irgendwie dabei gewesen in der Nationalmannschaft, solide, wenig glamourös. Nun räumte Friedrich als Innenverteidiger elegant ab, egal welche Superstars ihm entgegen stürmten. Und im Viertelfinalspiel gegen Argentinien schoss er sogar dieses eine Tor. Nach der WM wechselte Friedrich vom Bundesligaabsteiger Hertha BSC zum VfL Wolfsburg, der war ein Jahr zuvor Deutscher Meister geworden. Friedrich hoffte, auch im Vereinsfußball noch einmal auf internationaler Bühne spielen zu können. Doch die Saison hatte noch gar nicht so richtig begonnen... Friedrich: ...das war, glaube ich, das dritte oder vierte Training überhaupt in Wolfsburg, da hab ich natürlich erst einmal keine Ahnung gehabt, was es ist, denn mit dieser Geschichte hatte ich keinerlei Erfahrung, ich hatte einfach nur unglaubliche Schmerzen. Die Diagnose lautete: Bandscheibenvorfall. Friedrich: Der wurde operiert, dann ist es wieder in Ordnung gewesen, dann hab ich noch mal angefangen zu spielen, dann ist die gleiche Stelle noch mal aufgegangen. Das zerrt natürlich schon an den Nerven, im wahrsten Sinne des Wortes, die Schmerzen sind wirklich schon ziemlich schwerwiegend. Lang und oft schmerzhaft war auch für Johannes Herber der Abschied. Seinen ersten Kreuzbandriss interpretierte der Basketballer im Stillen noch als Chance für ein glorreiches Comeback. Als aber das Kreuzband zum zweiten Mal riss, funktionierte dieser Trick zur Eigenmotivation nicht mehr. Es ist eine Herausforderung, Vertrauen in seinen Körper zu behalten, der immer maximal leistungsbereit war, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt – und auf einmal versagt dieser Körper die bedingungslose Gefolgschaft. Herber: Das waren wahrscheinlich Situationen im Kraftraum zum Beispiel, wo ich gemerkt habe, das ist eine Bewegung, da habe ich Schmerzen. Der Körper sagt mir, die ist nicht gut für ihn. Aber ich denke, ich muss diese Übung machen, weil ich mein Bein stärken will. Und da muss ich die Schmerzen im Rücken dafür ignorieren. Das ist natürlich total blöd gewesen. Johannes Herber musste lernen – wie jeder Sportler in der Reha – die Balance zwischen Fordern und Fördern zu halten, geduldig zu sein, nichts mit Gewalt erzwingen zu wollen und doch fokussiert zu bleiben. Selten gelingt das ohne Rückschläge. Besonders, wenn es darum geht, endlich wieder ins Spiel zu kommen. Dribbeln eines Basketballs Herber: Ich glaube, das ist mit die schwierigste Phase in der Reha, wenn man nämlich aus der Reha kommt, und der Arzt gibt einem grünes Licht, und man darf aufs Feld, aber man fühlt sich unsicher. Man weiß nicht, ist es der Körper, der einem signalisiert, ich bin noch nicht bereit. Oder ist es eine Schwelle, die man im Kopf überwinden muss. Das sagen die Leute ja auch: Das ist alles im Kopf, du musst die Bewegung machen, damit du sie wieder erlernst, damit du dich wieder traust. Und das ist ein ganz schmaler Grad. Musik, AC/DC, Hells Bells Für Mannschafssportler wie Herber, Friedrich und Boll bedeutet eine Verletzung nicht nur aus dem Spiel genommen zu werden, sie bedeutet: nicht mehr Teil der Gruppe zu sein. Die Gruppe, das sind die, die gesund und leistungsfähig sind. Nun sind es: die anderen. Sicher gehen die weiter freundlich und aufmunternd mit dem angeschlagenen Kollegen um. Aber wenn es ernst wird, wenn das Spiel beginnt, gehen die Gesunden gemeinsam auf den Platz. Der verletzte Spieler bleibt zurück, degradiert zum Tribünengast. Er kämpft sich durch die Reha, steht vielleicht vor der Entscheidung, seine Laufbahn zu beenden. Auf jeden Fall aber steht er: allein. Herber: Am Ende meiner Karriere hatte ich eine chronische Entzündung an der Ferse, und das war sehr schmerzhaft. Da bin ich die erste halbe Stunde, Stunde morgens gehumpelt, bis irgendwann die Durchblutung besser wurde und dann der Schmerz weniger. Das war schon zermürbend. Und also zog Herber die Konsequenz und trat zurück. Wenn er früher darüber nachgedacht hatte, war er sicher gewesen, dass ihm der Abschied von seinem Sport gut gelingen würde. Doch so einfach fiel ihm der Wechsel ins normale Leben dann doch nicht. Ein Sportler, der seine aktive Laufbahn beendet, wird aus seiner kleinen Welt mit all ihren vertrauten Ritualen ausgestoßen. Er verliert die Sicherheit seines Mikrokosmos. Herbers Rücktritt liegt nun ein Jahr zurück. Er sagt, er könne inzwischen ganz gut leben ohne den Basketball. Herber: Aber es hat mich einfach geschreckt zu wissen, dass ich ja aus einer Welt austrete, in der ich seit meinem 15, 16. Lebensjahr gelebt habe. Da habe ich begonnen in der Zweiten Liga. Und bin diesem Rhythmus gefolgt, jeden Tag ins Training, habe am Wochenende Spiele gehabt. All das zu verlieren, war doch eine beängstigende Vorstellung. Sein halbes Leben hatte Johannes Herber in Sporthallen verbracht, er kannte sich aus in dieser Welt, und er wusste genau, wie er in dieser Welt zu funktionieren hatte. Herber: Das gibt einem viel Sicherheit und Ruhe. Man muss sich selbst nicht so viele Gedanken machen, alles ist vorgegeben, der Tagesablauf ist vorgegeben. Es erzieht nicht unbedingt zur Mündigkeit, aber klar: Man weiß, solange man diesen Vorgaben folgt, diesen Mantras folgt, hart arbeiten, jeden Tag sein Bestes geben, dann kann man eigentlich gar nicht so viel falsch machen mehr, wenn man auf einem gewissen Level angekommen ist. Auch Arne Friedrich hat diese Verluste erlebt. Friedrich: Das fehlt schon gewaltig, also, gerade das Gemeinschaftsgefühl, ein strukturierter Tagesablauf. Das sind ja Dinge, die man sich selber neu erarbeiten muss, das ist ein Lernprozess. Ein Sportler, der zum Ex-Sportler wird, muss sich selbst darum kümmern, was von Montag bis Sonntag, von morgens bis abends passiert. Er muss selbst definieren, was seine Ziele sind, kurzfristig und langfristig. Alles seine Entscheidung. Und all die Zeit, die er auf einmal hat. Und all die Zeit, die ihm auf einmal davonläuft... Boll: Ich glaube, man kriegt schon mit, wenn es genug ist. Sei es, weil man auf dem Platz nicht mehr mithalten kann, sei es, dass man sich einfach nicht mehr motivieren kann, dass man einfach keine Lust mehr hat auf die Schinderei Woche für Woche. Anfang der Saison hat Fabian Boll, der Mannschaftskapitän des FC St. Pauli, noch Lust, sich zu schinden. Es läuft in der Liga für ihn und seinen Verein nicht überragend, doch leidlich gut. Bolls Welt ist gerade in Ordnung. Aber er sagt auch... Boll: Man kann gerade im Fußball nichts über mehrere Monate planen, es entwickeln sich so viele Dinge, die nicht vorhersehbar sind. Wenige Wochen später erweist sich diese Einsicht als prophetisch. Bei einem Auswärtsspiel in Ingolstadt verletzt sich Boll in der ersten Minute bei einem Zweikampf. Diagnose: Innenbandriss. Die Hinrunde ist gelaufen. Und vielleicht nicht nur sie. Fabian Boll erzählt in der ersten Zeit danach auf seiner Facebook-Seite, was er als verletzter Spieler in der Reha erlebt, postet Fotos seines lädierten Knies. Doch bald schon wird er schweigsamer. Das Spiel geht ohne ihn weiter, diejenigen, die auf dem Platz seine Position einnehmen, machen ihre Sache gut. Fabian Boll ist nicht mehr der Captain auf dem Platz, sondern nur noch einer unter vielen, die zusehen, wenn die Mannschaft des FC St. Pauli bei Heimspielen zu „Hells Bells“ von AC/DC einläuft. Atmo Millerntorstadion Der Körper leidet unter Verschleiß und unter Verletzungen. Aber der Kopf leidet auch. Oft noch viel mehr, wenn er erst mal begreift, wie machtlos der Mensch den Macken und Mängeln seines Körpers gegenübersteht. Rar sind unter Spitzensportlern solche wie die Biathletin Magdalena Neuner, die mit 25 Jahren in der Blüte ihrer Leistungsfähigkeit, verletzungsfrei und absolute Weltspitze, entschied: Danke, das war’s. Tickende Uhr Die meisten Spitzensportler beenden ihre Karrieren erst, wenn der Körper ihnen keine Wahl mehr lässt. Wenn er zu große Schmerzen verursacht, wenn seine Leistungen einfach nicht mehr ausreichen. Johannes Herber wollte eigentlich zunächst auf Distanz zu seinem Sport gehen. Aber das funktioniert wegen seines Buchprojektes natürlich nicht. Vielmehr hat Herber in diesem ersten Jahr seines Profi-Ruhestandes gründlich darüber nachgedacht, was es bedeutet, ein Basketballprofi zu sein. Und darüber, was es bedeutet, keiner mehr zu sein. Herber: Ich hatte immer das Gefühl, dass, wenn man sich für Basketball entscheidet in Deutschland, dann liefert einem das so ein Paket auch mit. Es gibt die Begeisterung für Hip-Hop, die Begeisterung für die NBA. Und jetzt? Herber: Also diesen Kick, den ich bei Spielen hatte, oder bei Spielen, in denen ich gut gespielt habe, dieses Gefühl danach, das hab ich bisher noch nicht wieder erlebt. Da gehört auch schon dieses Gemeinschaftsding dazu, mit anderen zusammen was zu erreichen, mit anderen zusammen hart zu arbeiten. Das ist schon toll. Jeder Athlet versucht auf seine Weise, sein neues Leben jenseits des Sports zu begreifen, anzunehmen und neu zu gestalten. Boll: Man muss es mit Würde ertragen. Meint Fabian Boll. Das ist natürlich leichter gesagt als getan. Boris Becker und Stefanie Graf, zwei der erfolgreichsten und berühmtesten Sportler Deutschlands, zeigen das Spektrum auf: Becker, der einst everybody’s darling war, demontiert sich mit Banalitäten auf Twitter und Peinlichkeiten wie der Autobiografie „Das Leben ist kein Spiel“ selbst. Stefanie Graf hingegen genießt Bewunderung, Wertschätzung, Respekt. Dass sie kein öffentliches Leben als Party-Promi für die Klatschpresse führt, trägt sicher zu diesem blitzblanken Image bei. Stefanie Graf ist erwachsen geworden. Boris Becker erweckt den Eindruck, es wäre besser für ihn gewesen, das Leben wäre ein Spiel geblieben. Boll: Fußball ist alles andere als das richtige Leben. Dieser ganze Profizirkus hat mit dem wahren Leben auch nicht ansatzweise was zu tun, und im wahren Leben ist man gerade am Anfang der Karriere und hat die besten Jahre noch vor sich, und im Fußball geht es langsam auf die Zielgerade zu. Wie schwer es Fabian Boll vom FC St. Pauli fallen wird, wenn es dann wirklich zu Ende geht mit dem Leben in der Blase Profifußball, wird sich noch zeigen. Sicher ist, dass er ein Problem nicht haben wird: Nämlich nach der Fußballer-Karriere einen Job zu finden, der ihn ausfüllt und ein Leben zu führen, das mehr ist als der Hinweis darauf, früher ein erfolgreicher Sportler gewesen zu sein. Boll: Da habe ich den großen Bonus, dass Familie und Freunde hier in Hamburg sind, und ich einen Job in Hamburg habe. Insofern, wenn alle Stricke reißen: Ich falle weich. Denn Fabian Boll ist Berufsfußballer und er ist Kriminaloberkommissar. Selbst als der FC St. Pauli zwischendurch eine Saison in der Ersten Liga spielte, ging Boll halbtags seiner Arbeit als Polizist nach. So wie er es schon getan hatte, als St. Paulis erste Mannschaft drittklassig war, so wie er es jetzt tut, wo sie, wie meistens, zweitklassig spielt. Nur Fußballer zu sein, war und ist Boll zu wenig, selbst wenn es einiges an Organisation und Disziplin verlangt, zwei Jobs wie die seinen miteinander zu vereinbaren. Johannes Herber kann sich vorstellen, dass seine Zukunft im Schreiben liegt. Auch wenn er gerade durchlebt, dass es anstrengend ist, an einem Projekt wie seinem Buch zu arbeiten. Herber: Es ist einsamer, und es ist halt viel schwieriger, sich jetzt jeden Tag hinzusetzen und sich vor die Seite zu klemmen, statt ins Training zu gehen und zu wissen, ich muss einfach nur eigentlich mit meinem Körper alles geben. Also das fiel mir jetzt leichter, man kann sich durch so eine Seite auch irgendwie durchkämpfen, aber man kann nicht immer wissen, dass dann das Resultat auch stimmt. Herber hofft, dass er wieder so etwas wie den Kick beim Spiel erleben wird, wenn das Buch eines Tages fertig vor ihm liegt. Doch klar ist auch: Nur selten sind Ex-Sportler in einem neuen Metier noch einmal so erfolgreich wie als Athleten. Als er unlängst zum Spaß Basketball spielte, stellte Herber fest, dass sich der Spaß in Grenzen hielt: Diese Art zu spielen, genügte nicht seinen Ansprüchen. Arne Friedrich hingegen wäre froh, eines Tages wenigstens wieder im Park kicken zu können. Und beruflich? Auch da möchte Friedrich dem Fußball treu bleiben. Aber spruchreif ist noch nichts. Fabian Boll könnte sich jetzt mit seinem lädierten Knie und in der Reha-Maschinerie ausmalen, welch spannende Laufbahn als Polizist ihn erwartet, wie auch immer es mit dem Fußball weitergeht. Aber es überkommt sogar einen so geerdeten Mann wie ihn die Sehnsucht, diese Fußballwelt, die er ja selbst für eine Traumwelt hält, nicht verlassen zu müssen. Boll: Vielleicht ist es aber auch die Option zu sagen, keine Ahnung, ich werde hier bestbezahlter Präsident der Vereinsgeschichte, dann kann ich mir auch vorstellen, bei der Polizei aufzuhören. Wird es je wieder etwas geben, das Fabian Boll, Arne Friedrich, Johannes Herber so packt, wie ihr Sport es getan hat und noch tut? Und weil sich diese Frage für viele Sportler stellt: Wäre es nicht ein Traum, wenn die Leistungsfähigkeit des Körpers nicht endlich wäre, sondern man diesen Körper immer wieder reparieren könnte? Der Sportmediziner Markus de Marées: de Marées: Wenn ich lese, dass jetzt wieder ein Versuch gemacht wurde, menschliche Stammzellen zu klonen – irgendwann wird das halt der Fall sein. Irgendwann werde ich da quasi mein eigenes Ersatzteillager mir selber ranzüchten können. Keine Ahnung, wann das sein wird, ob das in 50 oder 100 Jahren sein wird. Gleichmäßiger Herzschlag de Marées: Vielleicht ist dann Sport nicht mehr vom gleichen Stellenwert wie heutzutage. Gleichmäßiger Herzschlag Womöglich, so orakelt der Mediziner, ist Sport irgendwann in der Zukunft purer Luxus. Womöglich aber hören wir auch einfach auf, uns zu bewegen. Herzfrequenz-Monitors bis zum Dauerton der Nulllinie Musik, Nirvana, Smells like Teen Spirit MUSIK NIRVANA, SMELLS LIKE TEEN SPIRIT (Album: Never Mind) Komponist: Kurt Cobain, Krist Novoselic, Dave Grohl LC 7266 AC/DC, HELLS BELLS (Album: Back in Black) Komponist: Angus Young, Malcolm Young, Brian Johnson LC 0121 1