COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. "Eine Art schönes Irresein" David Albaharis Schreiben zwischen Calgary und Belgrad Eine Sendung von Ursula Escherig Deutschlandradio Kultur: 27.04.2010 Redaktion Literatur: Barbara Wahlster MUSIK 1: Goran Bregovic: "Tales and Songs from Weddings and Funerals" Take 5 (1'57) darüber ZITATOR: Aber welcher der Wege, fragte ich, ist der meine? Im Talmud steht geschrieben, sagte Jasa, wenn du nicht weißt, wohin du gehst, wird jeder Weg dich dorthin führen. Und was, fragte ich, wenn man weiß, wohin man geht? Dann ist der Weg unwichtig, beendete Jasa das Gespräch. (David Albahari: Die Ohrfeige, aus dem Serbischen von Mirja- na und Klaus Wittmann, Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2007) MUSIK 1: wieder hochziehen darüber ZITATOR: Merkwürdig ist die Neigung der Menschen, allem eine be- sondere Bedeutung zuzuschreiben, als geschehe nichts um seiner selbst willen, als sei alles das Fundament oder der Spiegel eines Geheimnisses oder gar das Geheimnis selbst, was auch immer dieses Geheimnis sein mag. Das größte Geheim- nis, sagte Marko einmal, ist, dass es keine Geheimnisse gibt. (David Albahari: "Die Ohrfeige", Eichborn Verlag Aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann) MUSIK 1: wieder hochziehen und ausblenden O-TON 1: David Albahari serbisch darüber SPRECHER: Für mich ist Zemun eigentlich ein Zentrum meines Lebens. Und sogar wenn ich in Calgary bin, schreibe ich immer über Zemun und das Gefühl, dort noch zu sein. Ich glaube für jeden Menschen, besonders wenn er sich mit Schreiben befasst, hat die Heimat, hat der Heimatort eine mythische Bedeutung. Das ist eine Art Paradies, das wir später im Leben wieder zurück haben wollen. Aber leider, wenn wir einmal aus dem Paradies vertrieben worden sind, lässt man uns nicht so leicht wieder hinein. Deswegen muss ich in meinem Schreiben versuchen, das zu wiederholen und zu erneuern, was ich verloren habe. ERZÄHLERIN: Zemun - das verlorene Paradies: in diesem Belgrader Stadtbezirk ist David Albahari aufgewachsen. Seine Familie stammt eigentlich aus dem jugoslawischen Pec; Ende der vierziger Jahre wurde sein Vater, ein Arzt und gläubiger Jude, nach Belgrad versetzt. Hier wurde Albahari 1948 ge- boren. Das Stadtviertel liegt am rechten Ufer der Donau und am linken Ufer der Save: Von Wasser umgeben, war die aus dem 9. Jahrhundert stammende Festung einst ein Bollwerk gegen die Türken. Zemun war auch später ein Grenzort zwischen zwei Welten: der österreichisch-ungarischen Monarchie und dem osmanischen Reich. Erst 1918 wurde es an Belgrad und damit an Serbien angegliedert. Abschied von Zemun: Im Jahre 1994 wanderte Albahari ins kanadische Calgary aus - er wollte dem von Nationalismus und zunehmendem Antisemitismus geprägten politischen Klima seiner Heimat entkommen. Während des Bosnienkrieges hatte er als Vorsitzender des Verbandes der Jüdischen Gemeinden Jugo- slawiens die Evakuierung der Juden aus dem belagerten Sara- jevo organisiert. Die Ferne des Exils veränderte seinen Blick, so schätzt es der Schriftsteller heute ein: O-TON 2: David Albahari serbisch darüber SPRECHER: Es gibt einem etwas Sicherheit, wenn man entfernt ist von dem Schauplatz der Romanhandlung. Dann hat man nicht so viel Angst, nicht so viel Sorge wie in der Nähe. Es klingt vielleicht paradox, aber aus der Ferne sieht man manche Sachen richtiger. Wäre ich nicht so weit weg ge- gangen, nach Kanada, hätte ich wahrscheinlich nicht solche Bücher geschrieben wie "Tagelanger Schneefall", "Mutterland" oder die Kurzgeschichten. Für meinen letzten Roman "Ludwig" allerdings wäre immer noch Zeit gewesen. Denn da geht es um eine Art Schmarotzer, dem kann man nicht entkommen, egal, wo man sich befindet. AUTORIN: Aus der Distanz des Exils entstanden zuerst Bücher über die Spuren des Hasses und des Krieges auf dem Balkan - grundiert von der eigenen Familiengeschichte, der Verfolgung der Juden im ehemaligen Jugoslawien und der heutigen politischen Situation in Serbien: jenem Gemisch aus Schuld und Schweigen, das auch noch 15 Jahre nach dem Ende des Bosnien-Krieges schwer auf der serbischen Gesellschaft lastet. Doch Albaharis Romane und Erzählungen handeln auch von den großen Themen der Literatur: von Liebe und Verrat, von Gut und Böse, von Freundschaft und Enttäuschung. Der Schriftsteller liebt das Spiel mit täuschenden Perspektiven, das den Leser in einen faszinierenden Strudel aus fiktionaler Wahrheit und Lüge stürzt - es ist ein Erzählen, das sich selbst ständig in Frage stellt: ZITATOR: Manchmal bin ich mir selbst nicht sicher, dass ich dies alles schreibe; vielleicht spreche ich es nur; vielleicht meine ich lediglich, dass ich es spreche, und schreibe; vielleicht ist es nicht einmal das, sondern etwas völlig anderes, etwas zwischen Bildern und Klängen, eine Sprache, die niemandem gehört, am allerwenigsten mir. (David Albahari: Die Ohrfeige, aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann, Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2007) O-TON 3: David Albahari serbisch darüber SPRECHER: Bei mir sind die Erzähler immer unsichere Erzähler. Wenn ich anfange, ihre Worte aufzuschreiben, weiß ich nie, wohin sie führen werden. Wenn ich solche Bücher schreibe, die nur aus einem ein- zigen Absatz bestehen, sind immer zwei Sachen für mich wichtig. Es gibt eine Art Refrain - einen Satz, Worte, die immer wiederholt werden. Von einem Refrain zum anderen bringe ich kleine Änderungen hinein, kleine Abweichungen, um dadurch die Handlung weiter zu führen. Ich möchte damit eine bestimmte Wirkung hervorrufen: in einem starren Text soll es zu einer Bewegung von kleinen Details kommen. Das bedeutet nämlich für mich Handlung: wenn es auf feinstem Niveau Veränderungen der dargestellten Wirk- lichkeit gibt. AUTORIN: Doch was ist Wirklichkeit? Um diese Frage kreist auch Albaharis Roman "Die Ohrfeige". Er spielt vorwiegend im Stadtviertel Zemun, das topographisch sehr genau beschrieben wird. Wenn man will, kann man den Wegen des Protagonisten auf dem im Buch enthaltenen Stadtplan von Zemun genau folgen - seinen endlosen, fast schon manischen Spaziergängen zwischen dem Ufer der Donau und dem Marktplatz. Doch die vermeintlich genaue Topographie des Ortes ist eine gezielte Täuschung: alles, aber auch alles in diesem Roman könnte nur das Trugbild oder der Wachtraum eines ge- störten Menschen sein. Der Wahn beginnt mit einer Szene, die der Ich-Erzähler und Kolumnenschreiber einer Wochenzeitung, während eines Spazierganges an der Donau beobachtet. Ein junger Mann ver- setzt einem Mädchen ganz plötzlich eine Ohrfeige: ZITATOR: Der Schlag war vielleicht gar nicht so heftig; von meinem Platz schien es, als habe der junge Mann nur leicht aus- geholt, mehr aus dem Ellbogen als aus der Schulter heraus, aber das konnte auch an meinem Blickwinkel liegen; das Mädchen geriet dennoch ins Taumeln, kippte nach rechts und trat - als habe sich die Wucht des Schlags mit dem Versuch, ihm auszuweichen, vereint - mit dem rechten Fuß ins Wasser. Man sah deutlich, wie der Fluss ihre Fessel umspülte, wie sich der Strumpf mit Wasser vollsaugte, wie ihr Fuß im Schlamm versank. Der junge Mann hob die Hand, als wolle er noch einmal zum Schlag ausholen, ließ sie dann sinken, drehte sich um und lief zum Ufer zurück. Ich schaute mich um, niemand sonst schien etwas gemerkt zu haben. (David Albahari: Die Ohrfeige, aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann, Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2007) AUTORIN: Für den Ich-Erzähler wird diese Szene zum Beginn einer Obsession: das alles ist, so seine Vermutung, ein eigens für ihn inszeniertes Schauspiel - und zugleich ein Rätsel, das er nun lösen muss. Er folgt dem Mädchen, verliert aber ihre Spur. Am nächsten Tag geht er wieder zu der Stelle, wo die Ohrfeige erteilt wurde. Dort findet er einen Knopf, darunter befindet sich ein mit Filzstift gezeichneter Kreis mit einem Dreieck. Das ist ein Zeichen, nur für ihn bestimmt, so glaubt der Ich-Erzähler. Für ihn verwandelt sich das Stadtvierteil Zemun in den nächsten Monaten zu einer Welt voller verschlungener Hinweise: MUSIK 2: Goran Bregovic: "Tales and Songs from Weddings and Funerals" Take 9 (2'52) darüber ZITATOR: Ich möchte nur begreifen, sagte ich, was geschieht (...): die Szene am Donauufer, die Wirklichkeit oder die Unwirk- lichkeit dieser Ohrfeige, die Bedeutung des Kreises um das Dreieck, das Lied, das ich im Hof in der Zmaj-Jovina-Straße gehört habe. Nichts existiert für sich allein, sagte ich, alles ist miteinander verbunden, alles ist Teil eines großen oder kleinen Netzes, das seinerseits Teil eines noch größeren ist, und so weiter, bis zu dem die ganze Welt umfassenden Netz. Nur wer das letzte Netz knüpft, kennt die Struktur aller anderen, diejenigen jedoch, die die kleineren Netze machen, wissen nichts von den anderen und verstricken sich unweigerlich darin, sie begreifen nicht, was die Netze be- deuten oder was sie ihnen antun. (David Albahari: Die Ohrfeige, aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann, Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2007) darüber O-TON 4: David Albahari serbisch darüber SPRECHER: "Die Ohrfeige" könnte die Geschichte einer geheimen Ver- schwörung sein. Und die Verschwörung braucht immer solche Symbole und Zeichen, die niemand entziffern kann, denn sie ähnelt auch einer Paranoia. Und ich kann selber nicht fest- stellen, ob mein Ich-Erzähler, mein Held sich auf die Ver- nunft hin bewegt oder hin auf die Verrücktheit. Während ich das Buch schrieb, dachte ich immer an diese Worte, dass alles miteinander in Verbindung steht, was ja typisch ist für die Paranoia. Aber dann dachte ich, es ist noch schlimmer, sich vorzustellen, dass nichts miteinander in Verbindung steht. Denn das würde zu einem totalen Zerfall des Systems führen. Und der Ich-Erzähler versucht die ganze Zeit, dagegen anzukämpfen, zu verhindern, dass es zu diesem Zerfall kommt. Alle meine Helden werden am Ende auf eine gewisse Weise verrückt, obwohl ich bei keinem diese Absicht verfolgt habe. In dem Buch "Die Ohrfeige" ist die Flucht in die Verrückt- heit wohl die einzige Möglichkeit, das Ganze zu ertragen. ZITATOR: Vielleicht verspürte ich deshalb den Wunsch, alles, was ge- schehen war, zu erzählen, oder, noch besser, aufzuschreiben, denn einen, der sich selber Geschichten erzählt, hält man für verrückt, während man jemanden, der dasselbe auf- schreibt, achtet und von ihm sagt, er sei schöpferisch tätig, als sei das gesprochene Wort keine Schöpfung, als sei die Welt durch einen Text und nicht durch eine Stimme er- schaffen worden. Soweit mir bekannt ist, sprach Gott, während er die Welt schuf, und verlas nicht ein im Voraus verfasstes Referat. Der Klang der Worte ist der Klang der Welt, ihr wahres Gesicht. (David Albahari: Die Ohrfeige, aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann, Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2007) MUSIK 2: wieder hochziehen und ausblenden AUTORIN: Mit dem Klang der Worte spielen - nichts anderes kam für David Albahari als Beruf in Frage. Er hat englische Literatur und Sprache an der Universität von Belgrad studiert. Schon während dieser Zeit entstanden seine ersten Erzählungen, zugleich arbeitete er als Übersetzer englischer und amerikanischer Autoren. Später hat er Werke von Vladimir Nabokov, Thomas Pynchon, V.S. Naipaul, John Updike, Sam Shepard oder Saul Bellow ins Serbische übertragen: O-TON 5: David Albahari serbisch darüber SPRECHER: Ich habe früh angefangen zu schreiben und zu übersetzen, obwohl ich nicht wusste, dass ich das werde, was ich jetzt geworden bin. Gleich nach dem Studium, im Jahre 1973, ist mein erster Band mit Erzählungen unter dem Titel "Familien- zeit" erschienen. Mein Lektor war damals der serbische Schriftsteller Aleksandar Tisma. Aber schon Ende der sechziger Jahre habe ich erste Erzäh- lungen und Übersetzungen veröffentlicht. Und ich habe Beat- Poesie aus dem Englischen übersetzt, was mein Schreiben sehr stark beeinflusst hat. Ich wollte allerdings nie ein Beatnik werden, sondern eher ein Hippie, das war der wesentliche Un- terschied zwischen den fünfziger und sechziger Jahren. AUTORIN: Als das ehemalige Jugoslawien auseinanderbrach, war David Albahari in seiner Heimat schon lange ein bekannter Autor - ausgezeichnet mit den wichtigsten Literaturpreisen des Landes, gerühmt als legitimer Nachfolger von Danilo Kis. Mittlerweile ist ein umfangreiches Werk aus 20 Romanen und Erzählungen entstanden; die Hälfte davon nach 1994, das heißt also nach seiner Emigration nach Kanada. Seine Bücher wurden in zahlreiche europäische Sprachen übersetzt. In Deutschland lernte man Albahari erst in den neunziger Jahren kennen - und schnell schätzen: Seine letzten drei Bücher sind fast gleichzeitig auch in deutscher Sprache erschienen. Viele seiner Romane und Erzählungen kreisen um die Themen Identität, Heimat und Heimatverlust. Belgrad, die Geschichte seines Landes und der Krieg auf dem Balkan lassen ihn nicht los. Rund ein Drittel des Jahres verbringt der Schriftsteller inzwischen wieder in Belgrad. Er besitzt eine Wohnung im Stadtviertel Zemun, wo auch sein vor kurzem in die Heimat zurück gekehrter Sohn lebt. Nach über 16 Jahren des Exils ist bei Albahari aber ein starkes Gefühl der Entfremdung entstanden. Das Schreiben, so scheint es, gehört nun ganz nach Calgary: O-TON 6: David Albahari serbisch darüber SPRECHER: Bei meinen letzten Besuchen in Belgrad entdeckte ich, dass ich an das literarische Leben dieser Stadt nicht mehr gewöhnt bin. Und so erscheint mir jetzt das Leben in Kanada wie eine Flucht vor dieser Welt; wie eine Möglichkeit, Frei- zeit zu haben und zu schreiben, was ich schreiben möchte. So fühle ich mich immer mehr wie ein "Steppenwolf", den Hermann Hesse schon 1927 als zerrissene Figur beschrieben hat. Vor allem, weil am Anfang dieses Buches das Motto steht: "Nur für Verrückte!" Denn das Schreiben ist eine Art schönes Irresein. Denn dabei muss man gleichzeitig mehrere Personen verkörpern. Das passiert ja allen Schriftstellern, dass sie in einem Moment nicht wissen, wer sie sind. Aber ich glaube, ich weiß schon, wann ich in Kanada bin und wann in Serbien. AUTORIN: In vier oder fünf Jahren wird er vielleicht nach Zemun zu- rückkehren, sagt Albahari: O-TON 7: David Albahari serbisch darüber SPRECHER: Dann hoffe ich, dass man mich als einen älteren Schrift- steller in Ruhe arbeiten lässt und ich nicht vom stürmischen literarischen Leben erfasst werde. Der Kontakt zu meinen Lesern ist allerdings nie ab- gebrochen: mein Belgrader Verleger legt alle meinen alten Bücher wieder auf. Bei meinen Lesungen in Belgrad oder in anderen Städten Serbiens kommen immer sehr viele Leute. Ich kann mir eigentlich gar nicht vorstellen, dass ich als Schriftstellern zu etwas anderem gehöre als zu der serbischen Literatur und zu der serbischen Sprache. Ich bin aber ein Mensch, der seinen eigenen Weg geht. Dennoch gehöre ich zu denjenigen, die - auch wenn sie nach vorne blicken - aus den Augenwinkeln genau beobachten, was rechts und links passiert. Die größte Gefahr lauert natür- lich hinter dem Rücken, dort, wo man nicht hinschauen kann. MUSIK 3: Goran Bregovic: "Tales and Songs from Weddings and Funerals" Take 13 (4'46) darüber ZITATOR: Aber wenigstens war das Absurde zu etwas Gewöhnlichem, Alltäglichem geworden, zu etwas, an das wir uns in den letzten zehn Jahren gewöhnt hatten, denn wir lebten in einem Staat, der kein richtiger Staat war, nahmen an einem Krieg teil, der kein richtiger Krieg war, unterwarfen uns einer Obrigkeit, die sich selbst ans Ruder gebracht hatte, und unser Land hatte sich in eine Insel verwandelt, die von der übrigen Welt getrennt im Wasser trieb wie eine Aussätzigenkolonie, mit der niemand mehr etwas zu tun haben wollte. (...) Das Schlimme ist, dass man die Identität nicht wie eine Schlangenhaut abstreifen kann, dabei gibt es keinen schreck- licheren Kerker als eine Identität, an der man selbst zweifelt, oder die als schlecht und böse angesehen wird. (David Albahari: Die Ohrfeige, aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann, Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2007) MUSIK 3: hochziehen und ausblenden AUTORIN: So lässt David Albahari seinen Ich-Erzähler im Roman "Die Ohrfeige" über die Lage in seiner Heimat sprechen. Das Buch beginnt mit einem sehr konkreten Datum, dem 8. März 1998. In Belgrad herrscht eine dumpfe Atmosphäre aus wirtschaftlicher und politischer Bedrückung von innen und außen; die Be- völkerung befürchtet jederzeit die Bombardierung der Stadt durch NATO-Luftangriffe. Vor dem Hintergrund der rätselhaften Ohrfeige am Donauufer geht es Albahari um die Offenbarung der Strukturen und Mechanismen eines zerfallenden autoritären Regimes. Jahr- zehntelange Unterdrückung verformt den Menschen: der Ich- Erzähler des Romans ist ein Gegner des Milosevic-Regimes, schon länger hat er sich in die innere Emigration ge- flüchtet. Frei äußern kann er sich nur gegenüber seinem besten Freund Marko, haschischrauchend führen beide lange philosophische und politische Gespräche. Die Ohrfeige aber bringt die Dinge ins Rollen: der Ich- Erzähler wacht plötzlich auf, zeigt zunehmend Zivilcourage und schreibt in seiner wöchentlichen Zeitungskolumne über den zunehmenden Antisemitismus in Serbien nach dem Balkan- krieg - dafür wird er bedroht und schließlich auch ver- prügelt, regelmäßig landen vor seiner Wohnungstür Kot und Dreck. ZITATOR: Der Hass auf Angehörige anderer Völker, so fing ich an, ist eigentlich der Hass auf einen selbst. Wir haben nicht Angst vor anderen, sondern vor uns selbst oder genauer ge- sagt, wir fürchten die Veränderungen, zu denen uns die An- wesenheit anderer verleiten könnte. Wenn ich sage, ich mag keine Juden oder Roma oder Kroaten - diese Liste ließe sich endlos fortführen - drücke ich die Befürchtung aus, dass ich unter deren Einfluss oder unter dem Einfluss dessen, was sie symbolisch oder tatsächlich darstellen, gezwungen werde, von liebgewordenen Überzeugungen abzurücken. Der Verlust meiner Überzeugungen, so irrational sie auch sein mögen, käme dem Verlust meiner Persönlichkeit gleich. Und damit ich mich nicht verändern muss, schrieb ich, müssen sie eben gebrand- markt, ausgesondert, vertrieben und wenn nötig sogar ver- nichtet werden. Indes, wer die Angehörigen anderer Völker nicht mag, betonte ich, mag auch sein eigenes Volk nicht, und spreche ich mich gegen Ausländer aus, räume ich damit ein, dass ich in einem luftleeren Raum lebe, ohne jegliche Liebe. (David Albahari: Die Ohrfeige, aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann, Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2007) AUTORIN: Der Protagonist des Romans wird mit seinen klaren Worten über die politischen Zustände zu einer Art Ankläger: Für den Selbstreinigungs- und Erkenntnisprozess, dem sich das serbi- sche Volk nach den blutigen Kriegen gegen die Nachbarvölker eigentlich unterziehen müsste. Doch dieser Prozess der Auf- arbeitung, des Nachdenkens über Schuld hat offenbar noch gar nicht begonnen. Es gibt wenig Hoffnung in dem Buch: Der Ich-Erzähler be- zeichnet die Misere seines Landes als "unser Unvermögen, das Entsetzliche der Geschichte, in der wir leben, zu be- greifen". David Albahari verpackt diese Ohnmacht Serbiens in ein großes Rätsel um eine Ohrfeige, deren Sinn am Ende des Buches genauso wenig gelöst wird. MUSIK 4: Goran Bregovic: "Tales and Songs from Weddings and Funerals" Take 15 (2'24) ca. 40 Sekunden stehen lassen und ausblenden O-TON 8: David Albahari serbisch darüber SPRECHER: In letzter Zeit stelle ich fest, dass ich die Erzählungen wie Romane schreibe, dass ich versuche, in den Erzählungen das ganze Leben einer Gestalt zu erfassen. Und die kürzeren Romane schreibe ich wie Erzählungen. Wenn ich mit einem Roman anfange, habe ich keine klare Vorstellung, wie er weitergehen wird. Als ich mit dem Schreiben meines Romans "Ludwig" begann, wusste ich auch nicht, wie das enden würde. Das öffnete sich dann einfach in die Richtung, in die das Buch schließlich lief. Ich fühle mich, und das soll nicht mystisch klingen, wie jemand, durch den jemand anders eine Geschichte erzählt. Und ich werfe nur ab und zu eine Anmerkung dazu ein. Bei "Ludwig" habe ich mich zum Beispiel gefragt, was Thomas Bernhard davon halten würde. Ich will dieses Buch nicht mit seiner Literatur vergleichen, aber ich weiß, dass er Wien nicht mochte. AUTORIN: "Ludwig", der im Herbst 2009 erschienene Roman Albaharis, erzählt von der langjährigen Freundschaft und dem Hass zweier Schriftsteller, ihren Diskussionen und Reflektionen über das ideale Buch. Auch das ist die Geschichte einer Obsession: der Ich-Erzähler sieht sich als Opfer eines Plagiats. Ludwig hat den Roman geschrieben und veröffent- licht, von dem der Ich-Erzähler in seinen Gesprächen mit ihm nur träumen konnte. Das Buch ist ein endloser innerer Monolog der Verachtung: über den perfiden Ludwig, über die Belgrader Literatur- und Kulturszene. Die ganze Atmosphäre der Stadt Belgrad ist ihm verhasst: ZITATOR: Es geht mir jedoch nicht in den Kopf, wie eine Stadt voller Zugereister wie Belgrad eine derartige Feindseligkeit gegenüber neuen Zugereisten hegen kann, sich alle möglichen herabsetzenden Bezeichnungen für sie ausdenkt und nicht ein- mal versucht, ihre ablehnende Haltung ihnen gegenüber zu verhehlen. Rassistische Schimpfwörter sind in Belgrad so üb- lich wie Grußformeln, davon konnte ich mich oft überzeugen. (...) Am traurigsten ist die Überzeugung der angeblich echten Belgrader, sie lebten in einer Großstadt - sie glauben näm- lich, eine Stadt werde allein dadurch zur Großstadt, dass sie zwei Millionen Einwohner zählt, und sehen nicht, dass Belgrad eigentlich ein Provinznest, eine Kleinstadt ist, die zwar ihre Grenzen gesprengt hat, aber im Grunde geblieben ist, was sie immer war. (David Albahari: Ludwig, aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann, Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2009) AUTORIN: Die Gesprächen zwischen beiden Schriftstellern, Ludwig und dem Ich-Erzähler, kreisen unablässig um das Handwerk des Schreibens: um das Schreiben des idealen Buches, das den Gipfel der Weltliteratur markieren soll. ZITATOR: Ich erinnere mich, dass ich Ludwig gerade wegen der Idee von dem Buch der Bücher empfohlen hatte, Bruno Schulz zu lesen, den er bis dahin so wenig kannte wie Nabokov, Calvino, Cortázar, all die Meister der labyrinthischen Prosa, und er machte sich fleißig, erstaunlich fleißig daran, deren Erzählungen und Romane zu lesen. (...) Ich ahnte nicht, dass er sich die ganze Zeit verstellte und eifrig an dem Manuskript arbeitete, das einige Jahre später zum Buch der Bücher werden sollte, zum Buch, das wie Ludwig betonte, unsere Literatur auf die literarische Welt- karte zurückführen und uns über Nacht zu einer literarischen Großmacht in Europa machen sollte. Kurzum, während ich so tat, als schriebe ich, und es nicht tat, tat er so, als schreibe er nicht, und tat es. (David Albahari: Ludwig, Aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann, Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2009) AUTORIN: Der narzisstisch zutiefst gekränkte Ich-Erzähler stammt übrigens, wie sein Erfinder Albahari, aus dem Belgrader Stadtviertel Zemun - auch das ist ein Teil des Spiels. Mit seinen obsessiven Monologen will er den Leser auf seine Seite ziehen, indem er ganz allein seine Version des Ideen- diebstahls erzählt. Zugleich misstraut das Buch seinem Helden zutiefst und verwickelt ihn in Widersprüche: die Geschichte wird immer wieder neu und variiert dargestellt, mit den kaum wahrnehmbaren Abweichungen in der Handlung, die Albahari zur großen Kunstform seines Schreibens ent- wickelt hat. Das Erzählen hält eine schwebende Balance zwischen Tat- sachen und Zweifeln, zwischen konkreten Details und vagen Vermutungen - und spiegelt so die Unsicherheit des Individuums, der sich auch ein Schriftsteller nicht ent- ziehen kann. David Albahari spielt mit dem Stoff des Plagiats und zu- gleich mit der absoluten Freiheit des Autors: Er lässt den Roman auf die Pointe zulaufen, dass es sich dabei möglicher- weise sogar um das vielbeschworene "Buch der Bücher" handeln könnte. In den vielen Meta-Ebenen dieses Literaturspiels erscheint es nur konsequent, wenn der Schöpfer von "Ludwig" schließ- lich sogar die Existenz des eigenes Werkes bezweifelt: O-TON 9: David Albahari serbisch darüber SPRECHER: Man könnte sagen, dass die ganze Geschichte eine Eifer- suchtsprojektion der Realität ist. Denn es passiert vieles, von dem wir nicht wissen, ob es stimmt, ob es sich wirklich so ereignet hat wie der Ich-Erzähler das berichtet. Ich sehe alle meine Bücher als Bücher, die es nicht gibt. Das heißt, dieses Buch, das Ludwig angeblich dem Ich- Erzähler gestohlen hat, muss erst noch geschrieben werden. MUSIK 5: Goran Bregovic: "Tales and Songs from Weddings and Funerals" Take 5 (1'57) 1