COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Länderreport 24.6.2011, 13.07 Uhr Schule des Lebens Alltag in einer Hamburger Förderschule NDR Info Lokaltermin, Redaktion Dörte Hansen ATMO 1 (Junge) Warte, warte, ich muss kurz ... Die Nuss heißt das. Die, äh das "u" wird kurz gesprochen ... (Überhang ...) SPRECHERIN Mittwoch, fünfte Stunde. Deutschunterricht in der Klasse 6a. ATMO 2 (Junge) Hätte das "u" groß, äh lang, hätte das Nuuus gehießen. - Gut. ... (Überhang ...) SPRECHERIN Zehn Tu-Wörter und zehn Namenwörter mit doppeltem Mitlaut sollen die Schüler aus dem Wörterbuch suchen und in ihre Hefte schreiben. Ich hab keinen Stift, sagt ein Junge. Ich will auf Zetteln schreiben, sagt ein anderer, Hefte sind doof. Nebojsa, 12 Jahre, stützt den Kopf in die Hand. O-TON 2 (Junge) Deutsch ist langweilig. Da musste nur schreiben, schreiben ... (Überhang ...) Atmoüberhang collagieren bis Atmo 3: SPRECHERIN Buchstaben, die kippen, und schiefe Zeilen - die Lehrerin, Cordula Dubbels, streicht die Seite durch. O-TON 3 (Junge/Dubbels) Wieso? - Hier fehlt das Datum, die Überschrift ... - Deswegen hasse ich Deutsch! (Überhang ...) O-TON 4 (Mädchen) Das sind ja Wörter, verschiedene Wörter - manche behaltet man nicht einfach im Kopf. Und dann schreibt man das irgendwie hin, wie man das denkt. SPRECHERIN Vanessa war an einer Sprachheilschule - sprechen kann sie inzwischen gut, das Schreiben fällt ihr schwer. Manchmal übt sie, mit ihrer Mutter; ihre Eltern haben sich getrennt. O-TON 5 (Mädchen) Bin ganz ehrlich: nicht so oft, weil ich sowieso schon immer weiß, dass ich das nicht schaffe. Irgendwie ist das bei mir das Problem: Ich kann nicht an mich glauben, deswegen ist das doof. O-TON 6 (Mädchen) Meine Mutter kann kein Deutsch! (lacht) Meine Schwester kann kein Deutsch, mein Vater ist nierenkrank und muss zur Dialyse, er kommt immer später nach Hause. Ich habe keinen zum helfen. SPRECHERIN Rosemarys Eltern kommen aus Ghana. Viele Menschen in Billstedt sind Migranten; fast die Hälfte der Schüler lebt in Einwandererfamilien aus Afrika oder Asien, aus Afghanistan und dem ehemaligen Jugoslawien. Die Arbeitslosenquote im Stadtteil liegt bei fast zehn Prozent, auch viele Deutsche leben an der Armutsgrenze, Jugendliche finden schwer eine Lehrstelle. O-TON 7 (Mädchen) Meine große Schwester Jenny, die hat 'nen Realabschluss. Sie packt Pakete bei H&M. Und ich möchte, wenn ich mal 'nen Job suche, große Sängerin werden. SPRECHERIN Nebojsa, der Tu-Wörter in sein Heft schreibt, will Tierarzt werden. Oder Arzt. Oder auch Polizist. Geht nicht, sagt Sait: Du hast ja schon mal 'ne Anzeige gekriegt. ATMO 3 (Schritte und Stimmen Flur ... Tür ... Lehrerzimmer ...) Steht frei, dann collagieren bis 0-Ton 11: SPRECHERIN Donnerstag, dritte Stunde, Konfliktgespräch im Lehrerzimmer: ein Lehrer, eine Sozialpädagogin, zwei Schülerinnen, ein Schüler. O-TON 9 (Schwarzbach/Junge) So, ihr Lieben, jetzt sitzen wir hier wegen einer Beschwerde. SPRECHERIN Nadja hat mich beleidigt, sagt Luan, und verfolgt, auf dem Nachhauseweg in der U-Bahn. Stimmt nicht, sagt Christina, die auch dabei war: Luan und seine Freunde haben uns den Mittelfinger gezeigt, darum haben wir Hurensohn gerufen. Stimmt nicht, sagt Luan. O-TON 10 (Junge) Vanessa hat gesagt, sie hat gaaar nichts gehört, dass ich beleidigt hab. Sie hat nur gehört, dass sie beleidigt hat. Ehrlich! (Überhang ...) SPRECHERIN Luan ist zwölf und sitzt, schmal und klein, kleiner als die beiden Mädchen, in seinem Stuhl. Sein Blick ist wach. Er scheint genau zu wissen, was er tun, was er sagen muss. In seiner Gang sei er Anführer, heißt es, und in der Siedlung, in der er wohnt, habe sein Clan einiges zu sagen; Luans Familie kommt aus dem Kosovo. Am Tag zuvor lümmelte er mit zwei anderen Jungen auf dem Sofa vor dem Klassenzimmer. O-TON 11 (Junge) Das ist so bei mir. Wenn einer mich aufregt, mach ich die Tür kaputt, Fenster. Oder hau jemanden, pack auf andere Jungen die Schuld, hau ihn einfach ... (Überhang ...) SPRECHERIN Und warum? Warum regiert er nicht friedlicher? O-TON 12 (Jungs) Das weiß ich nicht. (Pause ...) Also da bei unsere Gegend, zu Aggressilität. - Billstieg. Da sind zu viele Aggressive. - Ich hab Angst, da hinzugehen ... (Überhang ...) SPRECHERIN Sait wohnt in Horn, einem alten Arbeiterviertel mit roten Backsteinhäusern und Schrebergärten, das an Billstedt und die Billstieg-Siedlung angrenzt. O-TON 13 (Junge) Wenn ich da hingehe, hat er mir gesagt, dann hauen mich Leute. O-TON 14 (Klasohm/Schwarzbach) Man darf nicht vergessen, in welchem sozialen Umfeld diese Kinder aufwachsen. Es sind ja Kinder, die in Gewalt und Verwahrlosung teilweise leben und wo sich in den Familien selten jemand um die wesentlichen oder wichtigen Dinge kümmert. - Ich glaube, das ist auch ganz viel Hilflosigkeit von den Eltern. Was immer deutlich wird in Gesprächen mit Eltern: dass sie uns als Schule, als Lehrern, die Erziehungsfrage aufoktroyieren. Wir müssen das machen! Sie sind dafür nicht zuständig, sondern sie sind dafür zuständig, was zu Hause passiert. Und für die Öffentlichkeit ist die Polizei zuständig, ist die Schule zuständig - sie nicht. SPRECHERIN Manche kommen aus Kriegs- und Krisenregionen, manche haben Eltern, die trinken. Viele Kinder leben in Familien, in denen die Erwachsenen um einen halbwegs geordneten Alltag ringen. Kommen sie zur Schule, gelten plötzlich Regeln wie Pünktlichkeit, Freundlichkeit, Höflichkeit. Und, vor allem: keine Gewalt. O-TON 15 (Junge/Schwarzbach) Dann bin ich hinter sie gelaufen. Und dann hab ich gesagt: Ach, scheiß drauf, lass sie. Dann bin ich gegangen hoch, Treppen ... SPRECHERIN Die Sozialpädagogin, Wigdis Schwarzbach, sagt, es falle ihr schwer, ihm zu glauben - ob er wisse, warum? Nein, sagt der Junge, mit ernstem Gesicht. Nein, wirklich nicht. O-TON 16 (Schwarzbach) Das Anstrengende für mich an dem Schüler ist, dass er ein absoluter Charmeur sein kann. So freundlich, so hilfsbereit, so lieb auch oft, dass ich das ganz schwer damit zusammenbringe, dass er auf der anderen Seite - ich sag das mal: ein richtiger Fiesling sein kann. So gemein zu anderen, frech und ausfallend, auch zu den Lehrern. Er bedroht z. B. seine Mitschüler, schlägt auch mal zu und weiß es aber immer zu vertuschen, weil er tausend Zeugen hat, die eben hinter ihm stehen und sagen: Neee, gar nicht! Er war ja nicht mal in der Nähe! Er hat zu mir schon ein ziemlich fieses Schimpfwort gesagt, in seiner Muttersprache, sein Pech war, dass ich das verstanden habe: Er hat verfickte Hurentochter zu mir gesagt. Daraufhin habe ich bei ihm zu Hause angerufen. Er musste sofort nach Hause gehen, weil bei solchen Beleidigungen Lehrern gegenüber kann er nicht in der Schule verbleiben, das geht gar nicht. SPRECHERIN Die Schul-Regeln, die alle Kinder kennen: 1) Jeder hat das Recht, mit Respekt und würde behandelt zu werden. Niemand darf bedroht, beleidigt, angegriffen, verletzt werden. 2) Persönliches und öffentliches Eigentum wird sorgsam behandelt. 3) Alle verhalten sich so, dass jeder lernen kann. Seit Schüler, die andere beschimpfen, nach Hause geschickt werden, wird weniger beleidigt. ---- O-TON 17 (Klasohm) Wenn wir jetzt nicht hundertprozentig klären können, wer angefangen hat, können wir keinen bestrafen ... (Überhang ...) SPRECHERIN Klaus Klasohm, der Lehrer, zieht Bilanz und mahnt: Beleidigungen und Verfolgung - neudeutsch: stalken - sind Straftatbestände, auch wenn die Kinder erst elf oder zwölf sind. Sie sehen ihn an, sehen zu Boden, aus dem Fenster. Dann sagt er noch: Geht euch künftig nach der Schule ein bisschen aus dem Weg. ---- [ATMO 4 (Unterricht, Schülerin fragt Lehrerin ...) Collagieren - spürbar nicht unbedingt hörbar unterlegen - bis Sprecherinnentext nach O-Ton 23: SPRECHERIN Donnerstag, dritte Stunde, Klasse 9b. Zwei Lehrerinnen bereiten fünf Jungen und fünf Mädchen auf ihre Abschlussprüfung in Geometrie vor: Längen messen, Figuren vergrößern, Trapeze spiegeln. Naomi, 16, wechselte schon von der Grundschule an die Förderschule. O-TON 18 (Mädchen) Weil ich in meinem Verhalten sehr schlecht war. Und auch in Fächern, Mathe konnte ich nicht so gut. Ich hab mich nicht so richtig konzentriert und ich war frech. SPRECHERIN Naomi streicht ihre Zöpfe zurück. Sie wurde in Deutschland geboren, ihre Eltern kommen aus Ghana - meine Mama arbeitet als Zimmermädchen, sagt sie, nach der Arbeit lernt sie Deutsch an einer Sprachschule. Heute hat Naomi in Mathe eine Drei, in Deutsch eine Drei, in Englisch eine Zwei. O-TON 19 (Mädchen) Die Lehrer haben mir geholfen. Ich hab mich mit ihnen verstanden, das war gut. Ich hab gemerkt, dass ich ihnen vertrauen kann, und konnte auch mit ihnen reden, die haben mir immer zugehört. Die haben mir Kraft gegeben: Du kannst das, du schaffst das, ich glaub an dich. Und dieses Vertrauen hat mir geholfen und dann hab ich mich verändert und verändert ... Ich bin noch ein bisschen frech, aber es ist viiiiel besser jetzt. SPRECHERIN Nach den Sommerferien will sie ihren Hauptschulabschluss machen. Und Stewardess werden. Oder Kindergärtnerin. O-TON 20 (Mädchen) Doch, doch, das möchte ich schaffen. Und ich weiß genau: Ich glaub an mich und ich schaff das auch. Ich werde das auch schaffen. SPRECHERIN In ihrem Büro auf dem Flur beim Lehrerzimmer sitzt Susanna Tollgreef, die Rektorin. Grüne Jacke, lila T-Shirt, bunte Kette - unprätentiös wirkt sie, handfest, freundlich. Sagt Sätze wie: Unsere Kinder haben keine Lobby. Man belässt die Familien in Armut, das ist das Problem. Und: Wir beackern ein riesiges Feld. O-TON 24 (Tollgreef) Wir brauchen sehr viel Zeit für das soziale Lernen. Sie kommen nach dem Wochenende - entweder ist das Wochenende gut gelaufen oder es ist nicht gut gelaufen, nicht gut gelaufen heißt: Sie haben stundenlang vor dem Computer oder Fernseher gesessen, sie haben unter Umständen Konflikte in der Familie gehabt, es war langweilig, stinkend langweilig. Ferien können für unsere Schüler grässlich langweilig sein, weil sie nicht wie in den Mittelschichtsfamilien mit ihren Familien unterwegs sind oder ein tolles Programm haben, was sich die Eltern für die Kinder ausdenken. Sie haben keine tollen Hobbys - vielleicht mal Sportverein und Fußball, das ist dann schon was ganz Tolles. Und sie lassen dann erst mal ihren ganzen Frust hier raus: Ich hab hier den Mega-Frust und du willst, dass ich Mathe und Deutsch lerne - was soll das denn?! ----- ATMO 5 (Schlüssel ... Schritte ... Computerraum ...) Collagieren bis O-Ton 25: SPRECHERIN Freitag, dritte Stunde, Computerunterricht in der Klasse 5/6b. Die Schüler drängen an die PCs, Dustin fährt einen hoch - Heiko Gülzau schaltet ihn wieder aus und schickt den Jungen in den Vorraum, dort muss er warten. Benehmt euch, sagt der Lehrer, oder ihr bekommt eine Schreibaufgabe. Das will niemand. Alle wollen ins Internet, also reißen sich alle zusammen, sind leise, warten ab. Bis sie die PCs hochfahren dürfen. Bei Google, sagt der Lehrer, gebt ihr einen Suchbegriff ein: Rendsburg. Was ist Rendsburg?, fragt ein Junge. O-TON 25 (Gülzau) Marvin! Hab ich gesagt: Verlass deinen Platz und geh woanders hin!? Nico? ... (Überhang ...) Atmoüberhang collagieren bis Sprecherinnentext nach O-Ton 26: SPRECHERIN Gülzau wird selten laut, meist redet er leise, er ist freundlich und strikt. Sind Sie streng, Herr Gülzau? O-TON 26 (Gülzau) Die Schüler sagen: ja. Ich achte auf Einhaltung der Regeln. Je früher man die Grenzen zieht, desto leichter ist es, das nicht eskalieren zu lassen. Das ist einfach so: Wenn erst mal 'ne gewisse Unruhe da ist, dann kommt man auch mit Ruhe nicht unbedingt immer durch. SPRECHERIN Es braucht, sagt Susanna Tollgreef, die Rektorin, eine klare erzieherische Haltung. Jeden Tag. Immer. O-TON 27 (Tollgreef) Da müssen alle Kollegen wirklich an einem Strang ziehen. Den Kindern wird immer gezeigt, was sie gerade gut gemacht haben, es wird aber auch aufgezeigt und gespiegelt: Hallo? Hier ist die Grenze, du hast eine Grenze überschritten! Sie müssen lernen, wo Grenzen sind, um die Grenzüberschreitungen möglichst aufzugeben, irgendwann. SPRECHERIN Vormittags Höflichkeit und Disziplin, regelmäßiges und pünktliches Erscheinen und Reden statt Schlagen in der Schule. Nachmittags eine Welt, in der man sich behaupten muss, auf der Straße, in der Clique, zu Hause, im Clan. Gehorsam, Gruppenzwang, Gewalt - tritt der eine zu, tritt der andere auch zu. Manche Kinder müssen sich in sehr unterschiedlichen Welten zurechtfinden, vor allem Kinder, deren Eltern wenig integriert sind, und Kinder, deren Familien aus ehemals diktatorisch regierten Staaten kommen. [O-TON 28 (Tollgreef) Das sagen uns Eltern auch manchmal in Gesprächen. Wenn die Kinder das Regelsystem nicht akzeptieren, sagen sie: Bei uns zu Hause würde es das nicht geben, da würde man auch mal hinlangen. ] SPRECHERIN . ATMO 6 (Möbel rücken ... Mädchen reden ...) Collagieren: SPRECHERIN Mittwoch, kurz nach zehn. Die Mädchen räumen das Klassenzimmer auf, ein paar Jungs verdrücken sich auf den Flur. Sie wollen ein Interview geben. Ich bin aggressiv, sagt einer, grausam und bösartig. Ich bin auch aggressiv, sagt ein anderer; er sagt es ohne Angeberei. Und ohne Scham. O-TON 31 (Junge) In der Schule haben wir eine Vierer-Gang und sozusagen ... - sind wir hier die Boss. Der Boss. Oder so ... (Überhang ...) SPRECHERIN Eine Gang, die nach der Schule klauen geht, andere Kinder bedroht, bestiehlt, erpresst. Eine Gang von Zehn- bis Zwölfjährigen. Eine Gang, deretwegen bereits zwei Mal ein Runder Tisch einberufen wurde: Lehrer und Sozialpädagogen, Vertreter der Beratungsstelle Gewaltprävention, des Jugendamts und der Sozialen Dienste, der Jugendbeauftragte der Polizei und mehrere Familienhelfer - ein Gutes Dutzend Erwachsene, die versuchen, vier Kinder in den Griff zu bekommen. O-TON 32 (Tollgreef) Es gelingt manchmal, manchmal gelingt es nicht. In diesem Fall ist es ganz gut gelungen, d. h. dass sie momentan nicht mehr auffällig sind, dass keine Straftaten mehr begangen werden und dass wir sie im Moment ruhig haben. Wenn das so ist, sind wir schon einen gewaltigen Schritt voran. Sie werden engmaschig betreut und können auch nicht so durch diese Maschen schlüpfen, weil da immer jemand ist, der sagt: Hoppla, bis hier hin und nicht weiter. Das bedarf aber einer sehr, sehr engmaschigen Betreuung, die aber nicht immer möglich ist, weil das auch eine Frage der Finanzen ist. SPRECHERIN Im Flur, auf dem Weg zur Küche, ein Foto: ein korpulenter Mann - der Cop4U, ein Polizeibeamter, der mit der Schule kooperiert. Im Hauskoppelstieg hängen Foto und Telefonnummer am schwarzen Brett gleich am Eingang. Manchmal, sagt die Rektorin, lädt sie Cop und Schüler zum "Normen verdeutlichenden Gespräch". Trotz aller Kooperation, sagt Klasohm, stoßen wir an Grenzen. O-TON 35 (Klasohm) Wir sind auch dazu gekommen, dass irgendwo ein Punkt ist, wo man nicht weiter rankommt und man tatsächlich warten muss, bis sie strafmündig sind. Irgendwann sind sie vierzehn. Luan hat mir schon ins Gesicht gesagt: Wenn ich vierzehn bin, hör ich auf. Er hat auch bei der Kripo gesagt: Was ist denn? Ihr macht doch nichts! Und das stimmt ja auch. Die Straftaten werden zur Anzeige gebracht, dann werden Fingerabdrücke genommen, die sind schon erkennungsdienstlich erfasst, viele von diesen Jungs. [Und dann passiert erstmal nichts weiter. ATMO 7 (Gong ... Ey Timo!!!!!!! ... Fußball! ... alle laufen los ...) Steht frei, dann Kreuzblende unter Text mit Atmo 8: SPRECHERIN Donnerstag, zweite große Pause. Melanie Kissel läuft über den Schulhof im Hauskoppelstieg, Trillerpfeife um den Hals und ruft Fußball! Die Jungs rennen ihr sofort hinterher. Wenig später in der Sporthalle dampft die Luft vor Spannung, Kraft und Aggression, die Jungs brüllen, rempeln, sind rabiat und nicht zimperlich - und treten nach dem Ball. Fußballpause, kluge Idee. SPRECHERIN Melanie Kissel leitet, mit ihrem Kollegen Najib Norozian, einem Erzieher, auch das Projekt Cool in school, ein Coolnesstraining für gewaltauffällige Kinder zwischen 12 und 15. O-TON 36 (Kissel) Vieles ist Unwissenheit bei den Kindern. Es war ihnen gar nicht klar, was sie anders hätten machen können und welche Folgen es vielleicht haben könnte. Ich will nicht sagen, dass sie nicht wissen, ob es richtig oder falsch ist, was sie tun, aber dass in vielen Situationen, die die Kinder hier durchleben, ihnen keine Handlungsalternative einfällt. SPRECHERIN Ein Beispiel, sagt Norozian; er kommt aus Afghanistan, spricht Dari, Farsi, Hindi, Kissel ist halb deutsch, halb finnisch - ein gutes Team, sagen beide, wir decken vieles ab. O-TON 37 (Norozian) Da ist jemand gerade auf einer Party, er kommt raus und dann steht irgendwo eine Clique von fünf Jungs. Er kann einmal versuchen, den Weg entlangzulaufen, an den fünfen, und dann hat er auch vielleicht seinen Stress. Oder er entscheidet sich für die andere Straßenseite und geht einfach dem Stress aus dem Weg. SPRECHERIN Klingt bestechend einfach. Norozian lacht. O-TON 38 (Norozian) Erstmal ja (lacht) ... Aber das muss man auch erstmal lernen! [Und das muss man auch erstmal wahrnehmen. Weil die Kinder einiges ganz anders definieren - die würden das sofort als Schwäche ansehen.] Wir Erwachsenen möchten auch nicht zugeben, dass wir Schwachpunkte haben - und ihnen fällt es natürlich schwerer. O-TON 39 (Kissel) Wir merken, dass innerhalb dieser Sitzungen die anderen Kinder, die hier auch mit sitzen, Alternativen aufzeigen, und das ist das Entscheidende: Es ist was anderes, wenn es nicht immer nur die Erwachsenen sind, die da sitzen und sagen: Du solltest aber ... Die Jugendlichen, gerade wenn es sich nicht um ihre eigenen Taten handelt, können hervorragende Tipps geben. Sie haben Ideen und geben sie weiter und dann, vielleicht irgendwann, weil sie wöchentlich darüber reden, reden, reden - es kommt zunehmend, dass gesagt wird: Ich habe nicht! Es gab wieder eine Situation, und ich habe es geschafft, wegzugehen oder eine Alternative zu finden. SPRECHERIN Ein schwieriger und langwieriger Prozess, sagt Norozian, trotz erster Erfolge. Und, sagt Kissel, wir stoßen an Grenzen. O-TON 42 (Kissel) Unser Projekt setzt an den Kindern an, aber wo ist die Verpflichtung an die Eltern? [Wir erwarten eigentlich, dass die Kinder sich aus eigenen Stücken, weil sie an diesem Projekt teilnehmen, ändern.] Es wäre gut, wenn die Elternarbeit - wenn es da mehr Verpflichtungen geben würde. Weil viele unserer Kinder wirklich Überlebenskünstler sind, weil die zu Hause nicht auf eine Stabilität zurückgreifen können, auf ein offenes Ohr, auf jemanden, der für sie da ist, aber hier eben wirklich ... - ja, wir von denen erwarten: Du sollst das und das lernen. Sie es auch probieren, aber letztlich allein für sich dastehen - und wir reden von Kindern, die vielleicht, zwölf, dreizehn, vierzehn, fünfzehn sind. ATMO 9 (Aula ...) Collagieren, spürbar nicht unbedingt hörbar unterlegen bis Atmo 10: SPRECHERIN Donnerstag, kurz nach halb zwei. In der Aula toben Kinder nach dem Mittagessen. Wigdis Schwarzbach, die Sozialpädagogin, hält einen Jungen an, Olou: Er sollte längst beim Zahnarzt sein. Olou nickt und marschiert los. Vor zwei Jahren undenkbar: Selbst Kleinigkeiten machten ihn extrem wütend, er trat, schlug, spuckte. Wir mussten die Polizei rufen, sagt Klaus Klasohm. O-TON 43 (Klasohm) Die haben sich erstmal köstlich amüsiert und gesagt: Wie alt ist der, acht? Oder neun? Ahaaa! Dann kamen die - und hatten wirklich das Problem, den zu zweit festzuhalten. Und von dem Aggressionspotenzial haben wir in jeder Klasse eigentlich mindestens zwei Schüler. SPRECHERIN Olou ist älter geworden, reifer, ruhiger. Er akzeptiert die Regeln - er weiß, dass er sonst gehen muss (obwohl sehr selten ein Kind tatsächlich der Schule verwiesen wird). Möglicherweise, sagt Klasohm, bekommt er Medikamente; manche Schüler können sich so überhaupt erst wieder in den Schulalltag einfügen. Er wird ständig beobachtet und gezielt gefördert. Nur selten lässt er sich noch provozieren. Er fühlt sich wohl, kann gut lesen, liest anderen in der Pause vor. Bald kommt er, der einmal als unbeschulbar galt, in die siebte Klasse. O-TON 44 (Klasohm) Die können das schaffen. Nicht jeder, man kann es nicht vorher wissen, aber ich glaube schon, dass es Karrieren gegeben hat, die auch anders hätten verlaufen können. Wenn man ein bisschen mehr drauf eingeht, ein bisschen mehr Zeit und Raum hat, sich mit den Problemen der Schüler zu beschäftigen. E N D E