Deutschlandrundfahrt Doppelt hält besser Oldenburg in Oldenburg Von Paul Stänner (784 15 38) Sendung: 28. Mai 2011, 15.05h Ton: Borris Manych Regie: Roswitha Graf Redaktion: Ulf Dammann Produktion: Deutschlandradio Kultur 2011 Musik Titelmusik O-Ton Die Schlosswache tritt uns entgegen mit einer schönen Säulenvorhalle mit dorischen Säulen, die kennen sie von Athen, vom Parthenon, so was haben wir eben auch in Oldenburg, mit einem schönen Dreiecksgiebel darüber. Musik Titelmusik O-Ton Und so wurde ich dann nach Berlin verteilt und bin dann nach Deutschland gegangen um hier in Deutschland, in Berlin die Ausbildung zur Rabbinerin zu bekommen. Musik Titelmusik O-Ton Was so das allgemeine Lebensgefühl in Oldenburg angeht, hat mal jemand gesagt, Oldenburg sei gewissermaßen der nördliche Gegenpol zu Freiburg im Breisgau. Das hätte so ein ähnliches Lebensgefühl, da ist was dran. Musik Titelmusik O-Ton Es gab einen Volkspark, da war Remmidemmi, da war Musik, hier ging es darum, das ästhetische Empfinden zu schulen. Musik Titelmusik Sprecherin: Doppelt hält besser Oldenburg in Oldenburg Eine Deutschlandrundfahrt mit Paul Stänner Atmo Alina Treiger stellt mich auf Russisch vor, man hört: "Deutschlandradio Kultur", und erklärt, dass man nicht fotografiert (dumpfe Schläge, weil Bücher geworfen werden) Autor Im Gemeindezentrum sind sie zusammengekommen und suchen ihre Plätze am Tisch - ungefähr ein Dutzend älterer Menschen, die Männer mit gebügeltem Hemd und Krawatte, die Damen, die ihren Bernsteinschmuck angelegt haben, in Strickkombinationen. O-Ton Treiger Jedes Mal gibt es so viel Besuch, jemand begleitet sehr oft, dass sie schon gewohnt sind, an sie und sie werden keine Angst haben. Atmo Russisches Reden Autor Alina Treiger, eine Frau in den 30ern, hat ihre rotbraunen Haare aufgesteckt. Sie trägt eine weiße Bluse, ein hellbraunes Jackett und einen dunkelbraunen Rock. Mit viel Papier und Charme versucht sie, ihren Zuhörern den Talmud nahe zu bringen. Alina Treiger ist die Rabbinerin der jüdischen Gemeinde von Oldenburg und dem benachbarten Delmenhorst. Sie ist die erste Frau, die in Deutschland 75 Jahre nach der Shoah zur Rabbinerin ausgebildet und ordiniert wurde. Das war Anfang 2011 ein Medienereignis. Alina Treiger und ihre Gemeinde haben sich an Mikrofone gewöhnt, auf Kameras können sie verzichten. O-Ton Treiger Wir haben vorher bereits eine Reihe der Vorlesungen gehabt zum Thema Gebet und wir haben bereits eine sehr ausführliche Einleitung zu diesem Thema gemacht, was das ist, warum das ist, was das bedeutet und jetzt fangen wir die zweite Reihe an, die Einleitung und Einführung in das Gebet. Und jetzt habe ich ein Plan verteilt mit den Themen, die wir für uns haben, aber ansonsten, glaube ich, werde ich das nicht mehr unterbrechen. Atmo weiter Autor Ein Ehepaar trägt dicke Wollsachen; die beiden sehen aus wie Menschen, die - immer etwas verfroren vom langen Stillsitzen - in Büchern leben. Sie alle kommen aus der ehemaligen Sowjetunion und die Chance, wichtige Texte ihrer Religion und ihres Glaubens kennen zu lernen, haben sie erst in Deutschland bekommen. Ihre Deutschkenntnisse sind mangelhaft; Alina Treiger, die Rabbinerin, hält ihren Unterricht auf Russisch. Und dann unterbricht sie ihn doch noch einmal: O-Ton Treiger Ich habe für Sie auch ein Exemplar vorbereitet, auf deutsch, dass ist der Talmud, auf Russisch muss ich immer extra vorbereiten, weil auf Russisch eine Talmud-Übersetzung gibt es noch nicht, aber auf deutsch. Das ist Talmud Traktat Migelan und wir beschäftigten uns mit Gebet. Es ist eine Zusammensetzung von Gebetsordnung und hier wird erklärt, warum ist die Ordnung so, wie sie ist. (weiter auf Russisch...) Atmo russisch - darüber: Autor Ich versuche, mich mit dem Text vertraut zu machen. Sprecherin: Weshalb setzen sie den Segen von der Buße hinter den von der Einsicht? Dies ist nicht einleuchtend, denn es heißt: "Er möge sich zum Herrn bekehren, so wird er sich seiner erbarmen, und zu unserem Gotte, denn er wird reichlich vergeben." Autor: Aber schon als deutscher Text ist er schwer zu lesen, davon, dass sich mir der theologische Inhalt erschließt, kann überhaupt keine Rede sein. Die Emigranten aus Russland hängen an den Lippen der jungen Lehrerin, die ihre Tochter oder sogar ihre Enkelin sein könnte. Auf einem Tisch liegen Bilder, die bald für eine Ausstellung gehängt werden sollen. Meist sind es Themen aus der Natur und etliche dieser mittelgroßen Aquarelle lassen erahnen, dass der oder die Künstler eine fundierte Ausbildung erhalten haben. Auskunft über die Bilder kann niemand im Raum geben. Statt einer Antwort gibt es selbstgebackenes Brot. Atmo "Spassiba...", man bricht auf Autor Nach ungefähr einer Stunde ist der Unterricht vorbei. Die alten Leute bedanken sich von Herzen und räumen den Saal auf. Alina Treiger erzählt: O-Ton Treiger Sie verstehen hebräisch nicht. Die wenigsten von diesen Leuten sind jüdisch erzogen worden seit Kindheit und alle, die aus der ehemaligen Sowjetunion kommen... die Religion war verboten, hebräisch zu lernen war verboten. Sie haben nie die Möglichkeit gehabt, die Begriffe zu verstehen, sie zu benutzen. Das Gebet ist auch auf eine bestimmte Art und Weise aufgebaut mit bestimmten Regeln und verlangt Vorwissen. Musik 1: Titel: Op. 55 "Eroica" Interpret: St. Martin-in-the-Fields, Dgt. Neville Marriner Komponist: Ludwig van Beethoven Verlag: Philips, LC-Nr. 00305 Autor Das niedersächsische Oldenburg liegt im Landkreis Oldenburg; es gibt noch ein anderes in Schleswig-Holstein. Und mindestens vier in den USA. Oldenburg in Oldenburg also, was ein wenig so klingt, als hätten die Bewohner dieser Stadt Schwierigkeiten, sich den Namen zu merken. Doppelt erwähnt behält man ihn besser: Oldenburg in Oldenburg. Die Stadt ist mit ihren einhundertsechzigtausend Einwohnern die viertgrößte im Land und liegt in der Nähe von Bremen. Atmo Straße Stadtbummel. In der überraschenden Hitze des Mai sind die Straßencafés überfüllt, in der Fußgängerzone bekommt man keinen Fuß mehr vor den anderen. Ein schwarz beanzugter Geschäftsmann eilt zu einem Termin, nimmt sich aber die Zeit, sich zu bücken und einen Löffel aufzuheben, der einer Kellnerin vom Tablett gerutscht ist. Das Servierschürzchen bedankt sich, der Nadelstreifenanzug strahlt und eilt weiter. Oldenburg ist eine wohlerzogene Stadt. Atmo wegziehen Musik 1: "Eroica" Autor 1345 wurde Oldenburg das Stadtrecht verliehen und es blickt seitdem auf eine lange Geschichte zurück, die immer mit den Grafen und Herzögen aus dem Geschlecht derer von Oldenburg zu tun hat. 1918 ging auch hier die alte Fürstenherrlichkeit den Bach der Geschichte hinunter, aber die Nachkommen der alten Herrscherdynastie werden noch heute - wie aus wohlunterrichteten Kreisen versichert wird - mit "Königliche Hoheit" angesprochen. Außerdem hatten die oldenburgischen Herrscher eine Neigung zu Vornamen im Dreierpack: Besonders wichtig für das Großherzogtum Oldenburg war Peter Friedrich Ludwig, der selbst den Titel des Großherzogs nie führte. Musik 1 "Eroica" endet O-Ton Welp Peter Friedrich Ludwig war ein Anhänger der Aufklärung und die Aufklärung stellt die Vernunft in den Mittelpunkt und der klassizistische Baustil ist im Grund genommen das architektonische Äquivalent zur Aufklärung. Autor Jürgen Welp arbeitet für die Oldenburgische Landschaft, eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, die sich um den Erhalt der kulturellen Schätze Oldenburgs kümmert. O-Ton Welp Nach dem überbordenden Barock wollte man einen schlichten klaren Stil haben, den bot der Klassizismus und diesen Stil bevorzugte Peter Friedrich Ludwig, der im Übrigen auch als zweiter Herzog von Oldenburg hier seinen Regierungssitz endgültig wieder nach Oldenburg verlegt hat. Das ist 1803 offiziell geworden und Peter Friedrich Ludwig wollte eben seine Residenzstadt in diesem klassizistischen Stil ausstatten. Autor Wir stehen auf dem Schlossplatz von Oldenburg in Oldenburg. Das imposante, hellgelbe Schloss mit den aufwändigen Stuckrahmen um die Fenster ist erhalten geblieben. Überhaupt ist der Krieg mit seinen Verwüstungen an der Stadt vorbeigezogen; die großen Schäden an der historischen Bausubstanz, den Abriss des Marstalls und der Kavaliershäuser, haben in den 60er Jahren die Oldenburger Stadtväter selbst verursacht. Aber wir stehen jetzt vor einem der Gebäude, derentwegen man sich Oldenburg in Oldenburg merken muss. Weiß leuchtend in seiner Pracht steht vor uns die Schlosswache. O-Ton Welp Ja, hier stehen wir vor der Oldenburger Schlosswache, das ist ein Gebäude, das unter dem Sohn von Herzog Peter Friedrich Ludwig, Großherzog Paul Friedrich August, im Jahre 1839 errichtet worden ist... Autor Wundern Sie sich nicht über die Namen im Dreiertakt - wir sind in Oldenburg in Oldenburg. O-Ton Welp ... denn Paul Friedrich August hat, wie sein Vater, den klassizistischen Baustil für Staatsbauten bevorzugt. Ja, und die Schlosswache tritt uns entgegen mit einer schönen Säulenvorhalle mit dorischen Säulen, die kennen sie von Athen, vom Parthenon. So was haben wir eben auch in Oldenburg, mit einem schönen Dreiecksgiebel darüber. In dem Dreiecksgiebel ist ein Waffenfries abgebildet, also Rüstungen und Schilde, Speere und eine Hellebarde sind dort zu sehen und es wird gesagt, dass dieser Waffenfries anspielte auf den Sieg über Napoleon, denn es ist jetzt zweihundert Jahre her, dass Oldenburg für drei Jahre zum französischen Staat gekommen war. Und als der Herzog zurückgekommen ist, wurde das als Befreiung empfunden. Und an dieses Ereignis erinnert man sich durch den Waffenfries hier an der Schlosswache. Atmo O-Ton endet in Glockenschlagen, darüber Autor Na bitte - Oldenburg ist ein wenig auch Athen. Herzog Peter Friedrich Ludwig, der Aufklärer, hatte das Glück, dass er groß bauen konnte. Er verlegte seinen Regierungssitz von Eutin nach Oldenburg. Er konnte also in einer Stadt, die über ein Jahrhundert lang auf Verschleiß gefahren worden war, gleichsam auf unbewohntem Terrain, neu beginnen. Und er nutzte die Chance mit Leidenschaft - Oldenburg in Oldenburg leuchtet weiß im Stil des Klassizismus, mit großen lichtdurchlässigen Fenstern, dreieckigem Giebelschmuck und Säulenportalen. Wir durcheilen die Stadt, was dank der ältesten Fußgängerzone Deutschlands eine kurze Angelegenheit ist, und stehen vor einem lang gestreckten, zweigeschossigen Bau, der anders als die Bürgerhäuser nicht weiß, sondern gelb gestrichen ist wie das Schloss. O-Ton Welp Hier stehen wir vor dem Peter Friedrich Ludwigs Hospital; und das Peter Friedrich Ludwigs Hospital ist errichtet worden unter Großherzog Paul Friedrich August aus einem Fond, den schon sein Vater Peter Friedrich Ludwig angelegt hat, dieses Gebäude ist in gewisser Weise das Denkmal für den Herzog Peter Friederich Ludwig, dessen Grabspruch lautete: "Vater dem Lande zu sein war ihm höchster Beruf". Und so einem Landesvater so ein Krankenhaus als Denkmal zu errichten, das passt. Autor Zur Geschichte von Oldenburg in Oldenburg gehört auch, dass es hier eine Oktoberrevolution gab. Das war nicht die, durch die der Herzog seine Ämter und Würden abtreten musste und Oldenburg ein Freistaat wurde, es war vielmehr eine hübsche, unblutige Revolution nach Art der bedächtigen Oldenburger. O-Ton Welp Ganz interessant ist, dass dieser Bau verwandt ist mit dem russischen Klassizismus. Und eine Anekdote kann man vielleicht erzählen, dass in den späten 60iger Jahren hier ein Film gedreht worden ist über die Oktoberrevolution, als es den eisernen Vorhang noch gab. Da hat man hier in Oldenburg das Peter Friedrich Ludwigs Hospital als Winterpalais stürmen lassen von Komparsen, Lenin hat hier gesprochen, also als Schauspieler selbstverständlich, und dann haben wir ein bisschen St.Petersburg in Oldenburg gehabt. Autor Man lernt - Oldenburg ist auch St.Petersburg. Musik 1: "Eroica" Autor Die Wilhelmstraße hinter dem Kulturzentrum Peter Friedrich Ludwig, das ursprünglich ein Hospital gewesen ist, ist eine schmale, gerade einmal anderthalb Autos breite Straße. An beiden Enden ist sie von Sperren verschlossen, die nur von den Anwohnern geöffnet werden können. Eigenartige Gebäude befinden sich hier: Hüfthoch ragt ein lang gestreckter Bunker aus einer Grasfläche mit zwei abwärts führenden Treppen an beiden Enden. Verblasste Aufschriften stammen vermutlich von einem Kunstprojekt. Daneben steht eine hellbraune, hölzerne Baracke und ein Schild belehrt uns, dass diese Baracke aus den 20er Jahren dazu diente, Kranke mit ansteckenden Infektionen zu isolieren. Heute spielt hier ein Theater-Laboratorium. Einige Schritte weiter ein unscheinbares zweigeschossiges Wohnhaus. Daneben, mit einer neugotischen, weißen Fassade ein Haus mit einer hebräischen Inschrift, das Gotteshaus der jüdischen Gemeinde. Das Wohnhaus entpuppt sich als das Gemeindehaus der Oldenburger Juden; hier arbeitet Rabbinerin Alina Treiger. Wir gehen die schmale Treppe hinauf in ein Besprechungszimmer, wo ein Fotokopierer und einige Tische und Stühle stehen. An der Wand ein großes Magnet- Schachspiel. O-Ton Treiger In der Sowjetunion war es verboten, die Religion auszuüben und es betraf jede Religion, das war eine Situation an sich und eine andere Situation war es, jüdisch zu sein. Autor Alina Treiger, die Rabbinerin von Oldenburg, wuchs in der Ukraine auf, in einem Ort namens Poltawa, 350 Kilometer von Kiew entfernt. Die Stadt beherbergt mehrere Universitäten und Hochschulen. Alina Treiger hat es bereits geschafft, bei Wikipedia einen Eintrag in der Liste nennenswerter Persönlichkeiten zu bekommen, die Poltawa hervorgebracht hat. Dabei war Poltawa nicht nett zu seinen jüdischen Mitbürgern. O-Ton Treiger Darüber wurde nicht gesprochen. In meiner Schule in der Klasse hatte ich zwei Mädchen und einen Jungen, die auch aus jüdischen Familien waren, aber ich wusste nichts darüber zu einem bestimmten Zeitpunkt, und zwar nach dem Zerfall der Sowjetunion. Und in der Zeit sind dann die jüdischen Gemeinden gegründet worden und die unterschiedlichen jüdischen Organisationen waren dann im Spiel, zum Beispiel Sonod, das ist die jewish agency aus Israel. Und im Grunde gesehen, sie haben die Juden propagandiert, nach Israel auszureisen. Autor Alina Treiger ging nicht nach Israel, aber die Situation nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion empfand sie als einen Moment der Befreiung. O-Ton Treiger Und diese Information plötzlich über das Judentum, den jüdischen Staat, die Möglichkeit, sich mit anderen Juden zu treffen, das war der Zeitpunkt, an dem plötzlich wir alle uns mit unserer jüdischen Identität nach außen zeigen konnten. Sowohl die Menschen an sich, die haben angefangen sich auszufragen, ob etwas Interessantes abläuft. Autor Mit zwölf Jahren kam die kleine Alina in die jüdische Gemeinde von Poltawa. Sie besuchte eine Sonntagsschule, lernte das hebräische Alphabet und jüdische Geschichte. Jüdische Geschichte, das war ganz wesentlich biblische Geschichte und bei der Gelegenheit lernte sie auch viel über ihre Familie. O-Ton Treiger Erzähle ich eine Geschichte, damit man versteht besser: Wir haben die einfach die Geschichte über die Vorväter und Vormütter gelernt und dann haben wir ihre Namen gelernt, das habe ich zum ersten Mal gehört. Abraham, Isaak habe ich vorher noch nie gehört und dann hieß es, die zweite Erzmutter hieß Rifka, und dann habe ich zum ersten Mal verstanden, dass meine Oma Rifka heißt und daher kommt der Name. Das habe ich vorher nicht verstanden, was das ist für ein komischer Name? Die biblischen Geschichten waren überhaupt nicht bekannt und so langsam konnte ich immer mehr lernen über mich selbst und das jüdische Volk. Autor Über die jüdischen Gemeindeorganisationen, in denen sie aktiv war, kam Alina Treiger zu einer Ausbildung in jüdischer Geschichte und Theologie. Sie ließ Poltawa hinter sich. O-Ton Treiger Ich war dort bis zu meinem 18. Geburtstag, danach bin ich nach Moskau gegangen, um dort in dem "Institute of Progressive Judaism" zu studieren. Und da im Grunde gesehen habe ich das Reformjudentum kennen gelernt und ab dem Zeitpunkt hat mich das Reformjudentum geprägt. Autor Nach ihrer Zeit in Moskau arbeitete sie in verschiedenen Gemeinden, auch in Poltawa, und dann stand eines Tages die Entscheidung an, zu studieren. Dafür gab es zwei Optionen - London oder Berlin. O-Ton Treiger Und so wurde ich dann nach Berlin verteilt und bin dann nach Deutschland gegangen, um hier in Deutschland, in Berlin, die Ausbildung zur Rabbinerin zu bekommen. Autor Die Entscheidung fiel nicht leicht - bis zu diesem Zeitpunkt sprach Alina Treiger noch kein Wort deutsch und es war keineswegs ausgemacht, ob sie dem Studium in deutscher Sprache würde folgen können. O-Ton Treiger Ich wusste, dass es in Deutschland eine große jüdische Gemeinde gibt, und viele sind auch in der Zeit nach Deutschland ausgereist, um hier in Deutschland zu leben. Das war im Grunde gesehen eine sehr schöne Option, obwohl ich bin nach Deutschland gefahren, nicht mit dem Ziel, hier zu bleiben, sondern hier zu studieren. Und erst im Lauf der Jahre hat sich das so ergeben, dass ich mich in Deutschland eingelebt habe und ich bin als jüdische Emigrantin nach Deutschland eingereist. Autor In einem Praktikum während ihres Studiums lernte sie Oldenburg kennen. Die jüdische Gemeinde und ihre zukünftige Rabbinerin verstanden sich gleich gut, das hatte mit der gemeinsamen Sprache zu tun und auch damit, dass die Gemeinde durch eine frühere Rabbinerin aus der Schweiz daran gewöhnt war, von einer Frau geführt zu werden. Die Mitglieder entschieden, dass sie Alina Treiger haben wollten. Ihr unmittelbarer Amtsvorgänger hatte einige Sympathien verspielt, weil er sich weigerte, nach Oldenburg zu ziehen und es vorzog, zwischen Berlin und seiner Gemeinde zu pendeln. Den Fehler machte Alina Treiger nicht, als sie ihr Amt im März 2011 übernahm. Sie hat sich in Oldenburg eingelebt, obwohl alles noch ganz frisch ist, selbst der Rollrasen in ihrem Garten wurde erst vor einer Woche geliefert. O-Ton Treiger Es gefällt mir immer mehr in Oldenburg. Es war natürlich eine Umstellung von einer großen Stadt nach einer kleineren Stadt. Es ist wirklich eine sehr schöne Stadt, sehr freundliche Menschen und kulturell sehr geprägt. Autor Dennoch: Oldenburg liegt ein wenig abseits. Vor allem, wenn man den religiösen Diskurs sucht. O-Ton Treiger Für viele Rabbiner gibt es Bedenken, in eine kleine Stadt zu ziehen, weil sie dann wenig Kontakt zu ihren Kollegen bekommen. In meinem Fall war es kein Grund, sich Sorgen zu machen, weil ich mit einem künftigen Rabbiner verheiratet bin und wir haben immer unsere rabbinischen Diskussionen zuhause. Also haben wir beide kein Problem gehabt in eine weit gelegene Gegend vom Zentrum zu gehen, vom jüdischen Zentrum, mein ich. Autor Nun gut - Oldenburg ist nicht Jerusalem. Musik 2: Titel: Freyt aykh, Yidelekh Interpret: The Klezmatics Komponist: trad. Verlag: Piranha Musik, LC-Nr. 07717 Atmo Außenatmo mit Autobahngeräuschen Autor Der Weg führt von der großen Straße weg durch die Schrebergärten, die ordentlich und proper hinter exakt geschnittenen Hecken in der Sonne liegen. Am Ende des Weges hängt ein Tor wacklig in den Angeln. Rechts davon ein verrosteter Mercedesbus, links ein Werkstattneubau. Über uns sind die Schallschutzwände der A 28 zu erkennen, die den Autolärm nur unwesentlich verringern. Auf weißen Plastikstühlen sitzen drei Männer in der frühen Morgensonne und trinken Wein. Atmo Gelächter und Gerede O-Ton Oetter Ich bin Ralf Oetter aus Oldenburg, mein Pseudoname ist Freiherr Peter Wilhelm von Kreyenbrück. Unter diesem Namen stelle ich also den Wein "Chateau de Garage" her. Autor Die drei sind unterschiedlich fest im Berufsleben verankert, aber nichts scheint sie daran zu hindern, schon morgens schweren, öligen Rotwein zu trinken. Rolf Oetter wird etwas einsilbig, wenn es darum geht, seinen Beruf zu erläutern. Am Ende läuft es auf so etwas wie Lebenskünstler hinaus. Kein versicherungspflichtiger Beruf. O-Ton Oetter Diese Garage haben wir gebaut, weil wir der Motoren- und Veteranenclub von Oldenburg sind. Und wir haben alte Busse, alte Autos, sind 30 Mitglieder, und in diesem Gebäude haben wir eigentlich Busse und Autos stehen. Und vor Jahren haben wir da unseren Wein ausgebaut. Und gerade in dieser großen Garage ist es sehr kühl und der Wein gelingt uns da ganz besonders. Und darum haben wir den Wein "Chateau de Garage" genannt, weil ein etwas Französisches sollte im Wein sein. Autor Nun ist Oldenburg nicht eben als Weinregion bekannt. Bier und Schnaps sind hier die maßstabsetzenden Alkoholika, so, wie Grünkohl mit fetten Würsten oder Labskaus mit Hering die kulinarischen Eckwerte setzen. Von daher ist die Wiege des Weinanbaus in Oldenburg vielleicht nicht ganz zu Unrecht ein Ort, dem man den Wein nicht ansieht. Atmo Außenatmo mit Autobahngeräuschen Autor Wir gehen, im Schatten der Autobahn, auf den Weinberg. Berg ist übertrieben, eine ansteigende Ebene ist es, nicht eben so, dass man außer Atem kommt. O-Ton Oetter Wir haben hier einen See, den haben wir ausgebaggert. Wir haben den Erdaushub als Berg aufgeschichtet und in diesen Berg haben wir unseren Wein gepflanzt. Wir haben festgestellt, wie wir fünf, sechs Meter hier runtergebaggert haben, dass wir Nordseeboden hier rausgebaggert haben, weil die Ebbe und Flut, also die Tide noch bis hinter Oldenburg geht. Wir haben in Oldenburg jeden Tag Ebbe und Flut zwei Mal am Tag. Und wie wir vor 10-, 20-, 30.000 oder Millionen Jahren keine Deiche hatten, überschwemmt das ganze Oldenburger Land zwei Mal mit Seewasser der Nordsee. Und diese Sedimente haben sich hier abgelagert in Millionen von Jahren und wir haben ein ganz neues Terroir, ein Weinanbaugebiet "Deutsche Nordseeküste". Autor Wobei der eigene See nicht nur die Sedimente liefert, auf denen die Weinstöcke wachsen, sondern er fungiert - so hat es Oetter bei den großen Winzern abgeschaut - auch als Wärmepuffer, der die Nachtfröste abfedert. Ein Kollege aus der Nachbarschaft sitzt geknickt am Garagentisch, denn dem sind in der letzten Nacht alle Trauben schwarz geworden. Das könnte Oetter nicht passieren. O-Ton Oetter Wir können mal weitergehen, wir haben auf der linken Seite jetzt eine Cabernet-Traube. Die Cabernet-Traube ist eine erfahrene Traube, die dieses Klima gerne hat, Norddeutschland ist Cabernet-Land, nicht Frankreich, nicht Südafrika, nicht Brasilien, hier wächst die Cabernet- Traube und wenn man sie hier mal sieht, die kräftige Blüte, der hohe Ansatz von Blüten, ich kann nur sagen, wenn wir in Norddeutschland eine Rebe anbauen sollten, dann ist das die Cabernet-Pflanze. Autor Oetter schwört auf den ökologischen Anbau - hier wird nicht gespritzt, stattdessen laufen Hühner und Enten durch den Weinberg und fressen die Viecher, die dem Wein schaden könnten. O-Ton Oetter Ich mach keine Monokultur. Ich habe Kartoffeln, ich habe Schalotten, ich habe Obstbäume, Kirschbäume, Pfirsichbäume, das heißt unser Wein wächst in Reihen, aber in Abstand zur nächsten Reihe, wo immer mal wieder eine Apfelbaumreihe ist, und so wurde auch vor hundert Jahren oder zweihundert Jahren der Wein angebaut. Der Wein wurde als Mischkultur angebaut und nicht als Monokultur, wo er heute in einem Riesenstress sich befindet. Autor Was die oldenburgische Landschaft nahe legt: Rolf Oetter ist der Sohn eines Landwirts, nicht eines Winzers. Aber er hat sich umgesehen. O-Ton Oetter Ich bin durch die Welt gereist, ich habe mir in der ganzen Welt Wein angesehen, und ich hab auch Wein probiert. Und ich habe mir gesagt, ich kann es besser machen. Ich mache einen besseren Wein. Ich bin durch die Welt gereist und hab mir die Fehler der anderen Winzer angeguckt. Und ich mache jetzt hier in Oldenburg einen der besten Weine weltweit. Atmo Gläser klingen, anstoßen Autor Der Oldenburger Wein ist dunkelrot, von satter Farbe, an der Wand des Glases zieht er Schlieren wie Öl. Auf der Zunge ist er süßlich bis marzipanartig im ersten Kontakt. Schwer ist er auf jeden Fall, man sollte unbedingt ein wenig Schinken dazu essen. Im Abgang ist der Chateau de Garage kraftvoll und wehrhaft und durchaus in der Lage, auch noch im letzten Moment seinem Bezwinger ernsthaften Schaden zuzufügen. So ging es mir jedenfalls. Vielleicht hätte der Rebensaft aus dem Grünkohlland noch länger Sauerstoff ziehen oder wir nicht in der prallen Sonne sitzen sollen. Das alles ist schwer zu entscheiden und wird ein Rätsel bleiben. Im Handel ist der Wein ohnehin nicht erhältlich; wer eine Flasche kaufen möchte, muss sich in den Marschweg bemühen und auf harte Verhandlungen gefasst machen. Immerhin - der Mann hat eine Vision: O-Ton Oetter Ich würde mich freuen, wenn jetzt durch dieses Gespräch andere Landwirte, die größere Flächen frei haben, versuchen würden, mit mir zusammen den Weinanbau noch zu fördern, dass wir wirklich ein Weinanbaugebiet "Deutsche Nordseeküste" werden. Und ich möchte euch allen sagen, das werden die teuersten Weine, die überhaupt je produziert worden sind. Musik 3: Titel: Summer wine Interpret: Nancy Sinatra, Lee Hazlewood Komponist/Texter: Lee Hazlewood Verlag: Polydor, LC-Nr. 00309 Atmo Cafe, viele Menschen Autor Am Abend vor dem 8. Mai, an dem man bundesweit der Niederlage der Nationalsozialisten gedenkt, bietet die Fußgängerzone von Oldenburg einen eigenartigen Anblick. Viele junge Frauen sitzen an den Tischen der Straßenlokale, etliche von ihnen sind als Biene Maja verkleidet mit wippenden Antennen auf dem Kopf. Eine andere kommt als dickbusige Amme mit einer kondomartigen Zipfelmütze auf dem Kopf daher, noch eine andere hat sich in einen Karton eingezwängt und geht als Versandpaket. Zwischendurch ziehen schwere, untersetzte Männer mit schwarzen, ärmellosen Kutten und orangefarbenen Aufnähern durch die Straßen, mit bärenartig tapsenden Schritten immer zu zweit wie im Kindergarten - eine Rockergruppe macht Betriebsausflug. Die verkleideten Frauen werden später erklärt als Abschiedsparty für eine Junggesellin, für die Rocker gibt es keine Erklärung. Es ist ein friedlicher Abend in einer lauschigen Stadt. Die Sonne geht unter. Musik 4: Titel: Good Morning, Good Morning Interpret: The Beatles Komposition/Text: John Lennon/Paul McCartney Verlag: Parlophone, LC-Nr. 00299 Atmo Park mit Straßenlärm, bleibt stehen bis: "Aber so weit sind wir..." O-Ton Eilers Wir sitzen hier an dem Oldenburger Schlossteich, dieser Schlossteich war ursprünglich mal Teil des Festungsgrabens, der eine Bastion umfloss, insofern ist er auch so ein bisschen wie ein Haken geformt. Und man hat diesen Festungsgraben dann einfach nur an zwei Seiten abgedichtet, abgedeicht, so dass man dadurch schon diesen Schlossgartenteich hatte. Autor Es ist ein sonniger Vormittag, und Irmgard Eilers und ich sitzen auf der Parkbank. Über den See hinweg blicken wir auf das vermutlich beliebteste Motiv von Oldenburg - wer auch immer heiratet, will sich hier fotografieren lassen. O-Ton Eilers Und dieser Teich umfließt die ehemalige Bastion und auf dieser Bastion hatte sich der letzte Oldenburger Herzog, der 1918 dann abdanken musste, vor gut hundert Jahren noch mal ein Palais gebaut, einen roten Klinkerbau. Autor Den Park um uns herum verdanken wir - wieder einmal - dem dreinamigen Landesvater Peter Friedrich Ludwig. Kaum hatte er seine Residenzstadt Oldenburg in Oldenburg mit klassizistischen Perlen beglückt, machte er sich daran, einen Landschaftspark im englischen Stil zu entwerfen. Atmo Kinder gehen vorbei O-Ton Eilers Es war dann hier das Problem, dass Oldenburg unter die Occupation von Napoleon kam, der Herzog von 1811 bis -13 ins Exil gehen musste... Autor Währenddessen die Franzosen in einem erstaunlich unfranzösischen Akt von Kulturlosigkeit im Park Kühe weiden ließen und Pferderennen veranstalteten. O-Ton Eilers ... sodass man 1814 wieder von vorn anfangen musste. Autor Aber so weit sind wir noch nicht: Zunächst einmal ist es uns zu laut hier. Natürlich ist es schön, wenn man aus der verwinkelten Altstadt mit den verschlungenen Gässchen nur über eine Straße in den lauschigen Park geht, aber solange die Elektroautos auf sich warten lassen, ist es am Rande doch zu laut. Wir eilen in die Tiefen des Parkes, vorbei an Studenten, die in der Sonne auf Grünflächen lagern und lebhaft darüber diskutieren, welche Zitiermethode sie später bei ihren Dissertationen anwenden werden. Falls man dann im Zeitalter von "copy and paste" überhaupt noch zitiert. O-Ton Eilers Der Herzog, der diesen Garten anlegen ließ, lernte die Rhododendren auf seiner Kavalierstour Ende des 18. Jahrhunderts in England kennen. Da fing man an mit Rhododendrenzüchtung. Heute gibt es über 13.000 Sorten, und er war so begeistert, dass er die ersten per Schiff hier in diese Region kommen ließ. 1820 herum hat man hier die Rhododendren, die damals noch etwas ganz besonderes waren, angepflanzt. Und wir haben heute viele historische Sorten vom Ende des 19. Jahrhunderts im Schlossgarten, die wirklich so im Mai, Juni eine einzige Blütenpracht darstellen... Autor ... die unbedingt zu bewundern ist. Der Park ist in dieser Zeit ein einziges Blütenmeer. Der Rhododendron ist eine heikle Pflanze - einerseits schafft er wunderbar blütenreiche, blickdichte Büsche, hinter denen sich die überraschendsten Ausblicke auftun können, andererseits macht seine Triebkraft dem Gärtner zu schaffen. Rhododendron wächst immer und überall und überall mächtig. Ohne gelegentliche Generalamputationen kann man seiner kaum Herr werden. O-Ton Eilers Der Oldenburger Schlossgarten ist eigentlich sehr schmal. Er ist an seiner schmalsten Stelle gut hundert Meter breit, das heißt, man musste Tricks anwenden, um diesen Park optisch größer wirken zu lassen. Der eine Trick ist die Wegeführung, typisch für einen englischen Landschaftsgarten, eine geschwungene Wegeführung, das heißt, ich ändere immer wieder meine Laufrichtung, damit immer wieder meine Blickrichtung, und es tun sich mir immer wieder schöne Gartenbilder auf. Atmo Natur Autor Peter Friedrich und so weiter war ein Mann mit Visionen - und schaffte es so, sein weiß leuchtendes klassizistisches Oldenburg in den Landschaftspark einzugliedern. Wieder mit einem Trick: O-Ton Eilers Der zweite Trick ist, dass man die Bebauung links und rechts des Parks mit einbezogen hat. Diese Grundstücke wurden vom Herzog zu sehr günstigen Preisen an höhere Hofregierungsbeamte gegeben, aber dafür mussten sie den Bauplan vorlegen und das war die Bedingung, dass diese Häuser klassizistisch waren, zwei Stockwerke hatten, damit es vom Park aus ein schönes Gartenbild ergab, wenn der Weg auf die Grenze des Gartens zuführte. Autor Der dreinamige Herzog, früh verwitwet und ein wenig eigenbrötlerisch geworden, hatte sich den Park, zumindest seinen innersten Bereich, als einen privaten Rückzugsraum geschaffen. Zutritt bekam nur, wer einen Schlüssel hatte. Also kaum jemand. Ein Garten als Paradies. Musik 5: Titel: Promenade Interpret: Cleveland Orchestra, Dgt. Christoph von Dohnanyi Komponist: Modest Mussorgski Verlag: Teldec, LC-Nr. 06019 O-Ton Eilers Dieser Park war ziemlich von Anfang an für die Öffentlichkeit geöffnet, nur ein kleiner Teil im Inneren war Privatgarten. Und der Herzog sah das als die gehobene Promenade. Autor Ganz im Sinne der klassischen Landschaftsgartenkunst, die den Garten als Bild sah. Für die schlichten Gemüter wurde an anderer Stelle gesorgt. O-Ton Eilers Es gab einen Volkspark, das Eversten-Holz, da war Remmidemmi, da war Musik, da war Wasserausschank. Hier benahm man sich gut, hier ging es darum, das ästhetische Empfinden zu schulen. Es ging darum, ein bisschen Botanik zu unterrichten. Und hier hatte man sich anständig zu benehmen. Autor "Wasserausschank" ist übrigens keine verschämte Metapher für eine Bierbar oder sonstigen alkoholischen Ausschank, nein - es gab dort wirklich Wasser, Mineralwasser. Solche Hemmungslosigkeiten duldete man jedoch nicht im Park des dreinamigen Herzogs von Oldenburg in Oldenburg. Selbiger erlies Vorschriften. O-Ton Eilers Man zog sich anständig an. Die Herren hatten ihren Hut aufzusetzen und die Großtante meines Mannes erzählte, dass so um 1920 herum es sogar noch verboten war, mit einem Kinderwagen durch den Schlossgarten zu gehen, weil dieses Kindergeschrei die Ruhe hier im Park stören könnte. Atmo Bundeswehrkorps spielt Filmmusik "Exodus" Autor Es ist der 8. Mai und in dem Park, in dem Bürger sich anständig benehmen sollen, findet ein Konzert statt. Ein Musikkorps der Bundeswehr hat sich im Halbkreis auf dem Rasen aufgebaut, um Militärmärsche vorzutragen. Die ordentlichen Bürger mit Krawatte und Rüschenbluse strömen - so schnell es die Gehhilfen zulassen - zwischen Tulpen und Rhododendren herbei, um sich von der bewaffneten Macht bespielen zu lassen. Atmo kurz hoch Autor Das Heeresmusikkorps I hat sich - wenig geschmackssicher - ausgerechnet den 8. Mai, den Tag der Kapitulation der Nazi- Wehrmacht ausgesucht, um öffentlich Kriegsmärsche zu spielen. Das provoziert die antimilitaristische Jugend. Und die stört das Konzert. Die militanten Pazifisten haben mit List kleinbürgerliche Gewohnheiten übernommen und in ihre Protesttaktik eingebaut. Wie die Spießer haben sie Tretboote gemietet, mit denen sie - vielleicht einhundert Meter neben dem Bundeswehrorchester - träge die Hunte auf und ab fahren und das Konzert durch Trillerpfeifen und röhrende Klangkörper stören. Die Bereitschaftspolizei, angetreten in schwerer Montur, steht hilflos am Ufer. Atmo Musik der Bundeswehr mit kakophonischen Störgeräuschen Musik 6: Titel: Things have changed Interpret: Bob Dylan Komponist/Texter: Bob Dylan Verlag: Columbia, LC 00162 Atmo Lokal Florian O-Ton Modick Ich bin Klaus Modick, wohnhaft in Oldenburg, soeben 60 Jahre alt geworden, zumindestens nicht deprimiert. Autor Der mit zahlreichen Preisen geehrte Klaus Modick ist sozusagen das literarische Aushängeschild von Oldenburg. Er ist vor allem durch eine Reihe von Romanen bekannt geworden. Wir treffen uns, während die Bundeswehr noch kämpft, in der altstädtischen Fußgängerzone von Oldenburg. O-Ton Modick Wir sind im Cafe Florian am Oldenburger Marktplatz. Und wir sitzen hier in so einem kleinen Innenhof, in dem ich normalerweise nicht sitze, weil er keine Sonne hat. Das Gute an diesem Innenhof ist aber, dass man hier rauchen darf. Trotzdem sitze ich hier gern, weil das Cafe so was Altmodisches hat. Und hier lese ich meine Zeitungen. Und das ist, wenn Sie so wollen, mein Stammcafe. Autor Modicks neuester Roman heiß Sunset. In seinem Mittelpunkt steht der Schriftsteller Lion Feuchtwanger, der vor den Nazis nach Amerika floh und dort 1958 starb. Über Feuchtwanger hatte schon der Student Modick seine Dissertation geschrieben, sich dann gelegentlich auch noch mal in einzelnen Essays zu ihm geäußert, aber im Lauf der Jahre ein wenig das Interesse verloren. O-Ton Modick Aber vor zwei Jahren war ich Stipendiat in der Villa Aurora. Die Villa Aurora in Los Angeles ist Feuchtwangers ehemaliges Wohnhaus, was seit 15 Jahren eine Künstlerresidenz ist. Und da hatte ich ein Aufenthaltsstipendium. Und die Figur Feuchtwanger und der Mensch Feuchtwanger und sein Werk, was mir vor dreißig Jahren als ein akademisches Problem erschienen war, bekam eine Lebendigkeit und Lebenswirklichkeit, die mir so nahe gegangen ist, dass ich dachte, das könnte man doch noch mal anders anfassen, nämlich erzählend. Autor Die eigene Lebens- und Berufserfahrung und wohl auch die Aura des Ortes unter der kalifornischen Sonne zündeten dann einen ganz besonderen Impuls. O-Ton Modick Also ich begegnete dem Feuchtwanger jetzt gewissermaßen als Kollege und nicht mehr als etwas naiver Student. Und aus dieser Erfahrung in dem Feuchtwangerschen Gehäuse zu leben - ich hab sogar in Feuchtwangers Schlafzimmer geschlafen, im Bett des Meister übernachtet und jeden Tag in den Spiegel geschaut in seinem Badezimmer, in den auch er geschaut hat - das war eben sehr intim und irgendwann hab ich gedacht, vielleicht bin ich es ja gar nicht, der da aus dem Spiegel zurückschaut, sondern irgendwie vexiert auch das Bild des alten Feuchtwangers. Und es war so, als wenn so ein Geist aus der Kulisse gestiegen wäre und zu mir gesagt hätte: "Klaus Modick, mach Du das mal, Du kennst mich vielleicht von allen, die hier waren, am besten." Und so ist dann der Roman entstanden. Autor Klaus Modick ist in Oldenburg zur Schule gegangen, auf das so genannte Alte Gymnasium, wo die Söhne des Bildungsbürgertums das große Latium und das Graecum machten. Über diese Zeit entstand auch ein kleines Büchlein, das aber außerhalb des Regierungsbezirks Oldenburg kaum Wellen geschlagen hat. O-Ton Modick Ich bin nach dem Abitur nach Hamburg gegangen, hab da studiert, aber nicht nur studiert, sondern auch nach dem Studium einige Jahre gelebt. Und auch der Beginn meiner Karriere als Schriftsteller, das fiel alles in meine Hamburger Zeit. Und als wir - meine Frau und ich - Kinder bekamen, kam bei uns die Idee auf, vielleicht aus Hamburg wegzugehen und aufs Land zu ziehen. Und das haben wir dann auch gemacht. Autor Das Landleben in der weiteren Peripherie von Oldenburg war ruhig, aber Modick ständig auf Reisen. Wahrscheinlich war es diese Umtriebigkeit, die ihn Jahre später dazu veranlasste, mit dem Roman über Feuchtwanger schon das zweite Buch über eine Exilsituation zu schreiben. O-Ton Modick In diese Zeit auf dem Lande sind dann aber sehr viele und sehr lange Auslandsaufenthalte gefallen, die ich zum Teil alleine, zum Teil aber auch mit der ganzen Familie absolviert habe. Und da sind wir dann sehr und weit rumgekommen... Autor ... bis wiederum die Kinder verlangten, das öde Landleben gegen den betörenden Lärm der Stadt einzutauschen. Oldenburg erhielt den Zuschlag - warum? O-Ton Modick Oldenburg hat aus verschiedenen Gründen den Zuschlag bekommen: Ich hatte das Gefühl, ich kann jetzt zurück in diese Stadt, weil ich lange genug weg gewesen bin. Was ich mir nicht hätte vorstellen können, mein Leben hier zu verbringen. Ich bin jetzt wieder hier und fühl mich hier auch sehr wohl, aber ich glaube, ich fühle mich unter anderem deswegen so wohl, weil ich so lange weg war. Autor Das hat etwas von "der verlorene Sohn kehrt heim" - unter anderem nach mehreren Jahren in den USA, wo er als Hochschullehrer tätig war. O-Ton Modick Also erstmal ist es ja eine sehr überschaubare Provinzstadt. Ich will mal sagen, Oldenburg hat, was man ja oft mit Provinz assoziiert - ein etwas verstockt, vermuffeltes, provinziell Kleingeistiges - das gibt es hier nicht so. Es herrscht hier eine relativ weltoffene Atmosphäre. Und es ist auch eine relativ schöne Stadt, eine sehr grüne Stadt. Und anders als manche Metropole hier sind natürlich auch die Miet- und Hauspreise unverhältnismäßig erschwinglicher als in solchen Metropolen. Autor Und dann kommt es zu einem überraschenden Vergleich: O-Ton Modick Was so das allgemeine Lebensgefühl in Oldenburg angeht, hat mal jemand - das war nicht ich, aber das hat mir gleich eingeleuchtet - gesagt, Oldenburg sei gewissermaßen der nördliche Gegenpol zu Freiburg im Breisgau. Das hätte so ein ähnliches Lebensgefühl, da ist was dran. Autor Universität, Forschungseinrichtungen, Staatstheater, Horst Janssen- Museum - Oldenburg, das für sich selbst mit dem Etikett "Übermorgenstadt" wirbt, hat sicherlich ein reiches Geistesleben zu bieten, aber für einen Autor lautet doch die Frage: Wie viel Urbanität braucht ein Schriftsteller? O-Ton Modick Dafür gibt es, glaub ich, keine Formel, dass muss jeder Autor für sich selbst entscheiden. Arno Schmidt, sicher ein großer Schriftsteller, hat fast sein ganzes Leben irgendwo in so einer Heidekate verbracht. Das hat seinem Werk offenbar nicht geschadet. Und von Arno Schmidt stammt auch der schön zynische Satz: "Was heißt hier schon New York, ich war oft genug in Hannover". Dann gibt es wiederum andere, die funktionieren überhaupt nur in Metropolsituationen oder Metropolatmosphären. Ich kann sozusagen beides. Zum Arbeiten selbst finde ich diese freundliche Entspanntheit, die Oldenburg bietet, sehr angenehm. Also ich kann hier gut arbeiten, um aber Anregungen für das zu bekommen, was ich schreibe, muss ich hier natürlich auch regelmäßig raus. Denn so angenehm Oldenburg ist, das muss man dann auch sagen - Oldenburg ist eben nicht New York. Autor In der Tat: Oldenburg ist nicht New York. Atmo Mädchen spielt Klavier, darüber Autor In Delmenhorst, in der Nähe von Oldenburg, haben sich in der jüdischen Gemeinde Kinder zur Sonntagsschule versammelt. Alina Treiger versucht, ihnen die Gedenktage nahe zu bringen. Der 9. Mai, der in Russland als Tag des Sieges über Nazi-Deutschland, als "Veteranentag" gefeiert wird, ist wichtig für die vielen russischstämmigen Gemeindemitglieder. O-Ton Treiger 9. Mai richtig! Und das fällt zusammen mit dem Gedenktag in Israel und das hat mit einem anderen Krieg zu tun, das ist der Krieg für die Unabhängigkeit Israels. Unabhängigkeitskrieg und am nächsten Tag, das wäre dann der 10. Mai, feiern wir Unabhängigkeitstag von Israel, Staat Israel. Darüber sprechen wir etwas später, aber heute wird es ein Konzert geben und wir werden singen. Wir lernen ein Lied, es ist ganz kurz, es ist nicht kompliziert... Atmo Rascheln der Notenblätter / Kinder, die versuchen das Lied zu lesen Autor Es entsteht ein kleines Chaos am Klavier, der Text ist da, aber die Noten sind verschwunden. Inzwischen treffen die letzten Nachzügler ein, nun ist es vielleicht ein Dutzend Kinder, die sich auf den Stühlen vor dem Klavier drängen. Dann tauchen die Noten doch noch auf und die Probe kann beginnen. O-Ton Treiger liest hebräisch vor - abblenden Autor Was sie nachsprechen, klingt nach und nach immer ähnlicher dem, was Alina Treiger ihnen vorsagt. Die Kinder sind ein wenig verschüchtert, sie wissen, es ist ein großer Festtag und sie lernen ein fremdes Lied und müssen es nachher vorsingen - das alles ist neu. Und dann ist da noch dieser Mann vom Radio mit dem Mikrofon. Schließlich geht es los. O-Ton Treiger (Klavier setzt ein) Das hat Theodor Herzl gesagt: "Wenn ihr wollt, ist das alles kein Märchen, alles ist in euren Händen." Das hat er gesagt über das Land Israel, weil wir einen eigenen Staat bauen wollten. Und wenige haben daran geglaubt, aber alles ist Wahrheit geworden. Ich singe eine Strophe und danach ihr... O-Ton weiter laufen lassen Autor Für einen vielleicht neun Jahre alten Jungen ist das alles zuviel. Er rollt sich in seinem Sitz in der ersten Reihe zusammen. Er verschränkt die Arme und bewegt seine Lippen gerade noch so viel, dass er Luft holen kann. Alina Treiger hockt sich vor ihn hin, streckt die Hand aus, ergreift sanft das Kinn des Jungen und hilft dem lustlosen Unterkiefer, sich zu bewegen. Der bockige Junge stellt plötzlich fest, dass seine Rabbinerin für niemand mehr Aufmerksamkeit hat als für ihn, einzig und allein für ihn. Er ist ganz und gar bezuckert, lächelt verlegen und schmilzt dahin wie Butter in der Sonne. Und bald singt auch er aus voller Seele. Atmo frei und dann Übergang in den Abspann Regie Schlussmusik Sprecherin: Doppelt hält besser Oldenburg in Oldenburg Eine Deutschlandrundfahrt mit Paul Stänner Ton: Borris Manych Regie: Roswitha Graf Redaktion: Ulf Dammann Produktion: Deutschlandradio Kultur, 2011 29 29