KULTUR UND GESELLSCHAFT Organisationseinheit : 46 Reihe : LITERATUR 19.30 Kostenträger : P.6.2.11.0 Titel der Sendung: Pilzkopf und Präservative Die Tagung der Gruppe 47 1966 in Princeton Autor : Helmut Böttiger Redaktion: : Sigried Wesener Sendetermin : 01.03..2011 Besetzung : Autor (spricht selbst) Musik/ o-Ton Regie : Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig Deutschlandradio Kultur Literatur Redaktion: Sigried Wesener Pilzkopf und Präservative. Die Tagung der Gruppe 47 1966 in Princeton Von Helmut Böttiger ___________________________________________________________________ _____ Regie: Musik. Beatles: Across the Universe. Am besten die Stelle "nothing's gonna change my world" (kann immer leitmotivisch eingesetzt werden) O-Ton 1: Hans Werner Richter, CD 2, 31:30 Wir haben nicht so viel Zeit, Herr Handke! Wir wissen, was Sie meinen! O-Ton 2: Joachim Kaiser, Kassette A, 8:54 Die Philosophen geraten immer ins Schwitzen, wenn über Humor zu reden ist. Das ist besonders kompliziert! O-Ton 3a: Walter Jens, Kassette A, 36:23 Das ist witzig, das ist nicht nur witzig; das ist graziös, das ist nicht nur graziös! O-Ton 3b: Reich-Ranicki, Kassette A, 6:52 Eine Prosa von ungewöhnlicher Klarheit! Er arbeitet interessanterweise immer mit kurzen Sätzen, meist mit Hauptsätzen! O-Ton 4: Hans Mayer, Kassette A, 43:55 Ich glaube, Reich-Ranicki hat die Dinge ein wenig verniedlicht! Autor: Die Kritiker sind wieder voll in Fahrt. Die Tagung der Gruppe 47 an der amerikanischen Eliteuniversität Princeton im Jahr 1966 ist ein Kulminationspunkt des Literaturbetriebs. Hier gilt es, sich zu beweisen. Es gibt in dieser Zeit noch keine der heute üblichen Literaturevents und Literaturfestivals, die über das ganze Jahr verstreut sind. Im Laufe der fünfziger und sechziger Jahre, bis zur letzten Tagung 1967, konzentriert sich der Literaturbetrieb ausschließlich auf drei Tage im Jahr: die Tagung der Gruppe 47. Aus Princeton kabeln die Berichterstatter mehrere ganzseitige Artikel für die Feuilletons der wichtigen Zeitungen. Der Rundfunk schneidet mit, und die Verleger gieren nach jungen Autoren, die bei der Kritik gut weggekommen sind. Jürgen Becker, einer der Autoren, die durch die Gruppe 47 bekannt wurden, erinnert sich: O-Ton 5: Jürgen Becker, 47, 0:56-1:05 Es war, wie wenn Sepp Herberger einen in die Nationalmannschaft beruft, das kam einem als junger Autor so vor. Regie: Musik Autor: Die Universität Princeton hat Anfang 2011 sämtliche Lesungen und Diskussionen dieses legendären vorletzten Treffens der Gruppe 47 ins Internet gestellt. Damit kann man hautnah miterleben, wie der Literaturbetrieb im heutigen Sinne erfunden wurde: vor allem die rhetorischen Manöver der Kritiker, die auf Pointe setzen. Die Tagung in Princeton wirkt wie ein Wendepunkt in der Geschichte der Gruppe 47. Es beginnen heftige Diskussionen über den von den USA geführten Vietnamkrieg. Doch auch jetzt noch gibt es in der Gruppendebatte Sternstunden. Der 36-jährige Reinhard Lettau etwa hat in Harvard studiert und liest einen Text, der sich ums Militär dreht, aber den Vietnamkrieg an keiner Stelle benennt. O-Ton 6: Lettau, Kassette A, 20:52-21:38 Der Feldmarschall beugt sich gegen das Glas, sieht dort sein Bild in der Nacht. Im Zimmer herrscht Ruhe. Nach einer Weile sagt der Feldmarschall: "Draußen ist nichts zu sehen." Der General atmet auf. Noch vom Fenster aus fragt der Feldmarschall: "Gehört haben Sie den Feind wohl auch nicht?" "Einmal war der Feind im Baum und hat einen Vogel nachgemacht", antwortet der General. "Wir gingen und hörten es von oben zwitschern. Deutliches Zwitschern im Laub. Echte Vögel, bei unserm Näherkommen, wären aufgeflogen." Autor: Walter Höllerer analysiert spontan: O-Ton 7: Höllerer, Kassette A, 41:35-42:11 Das ganze Arrangement liegt ausgebreitet, das ist auch die Kunst dieser Prosa. Es scheint dann aus Blech gestanzt, diese ganzen Figuren, das Militär ist eingefangen in diesen Blechfiguren, und nur eine Figur wird nicht so gezeichnet, und das ist der Feind. Der Feind steht dieser Blechfigurenwelt gegenüber, und in den kann man sich hineinbeißen, es ist also so etwas Weiches, und außerdem wird er so geschildert, dass man sofort den Übersprung hat von dieser Formalität zu Lettaus Thema. Autor: Schließlich meldet sich, nach Joachim Kaiser und anderen, auch Hans Magnus Enzensberger. Bei ihm spürt man, dass in dieser Zeit noch ganz andere Diskussionen in der Luft liegen als bloß literarische. O-Ton 8: Enzensberger, Kassette B, 0:19-1:06 Ich würde dem Kaiser widersprechen. Ich finde den Vergleich mit Ionesco absolut verkehrt und wäre auch vorsichtig mit dem Begriff des Absurden. Natürlich ist hier von absurden Dingen die Rede, Dinge, die absurd gesehen sind, aber man versteht ja unter absurder Literatur gewöhnlich etwas Anderes. Ebenso wenig glaub ich, dass es ne antimilitaristische Geschichte ist. Ich würde eher sagen: eine postmilitaristische Geschichte. Und da sehe ich die eigentliche Kühnheit der Geschichte, die sozusagen das Phänomen unterläuft und eigentlich so spricht, als gäbe es gar keine Kriege mehr, als wäre das ein Relikt, auf das man zurückblicken kann. Es ist also ein Nachruf auf den Krieg, das Ganze, und da sehe ich die politische Kraft der Geschichte, das ist eigentlich eine utopische Kraft. Regie: Musik Autor: Wie um das alles zu beschwichtigen, läuten ab und zu die Glocken der Universitätskirche von Princeton im Hintergrund. Das hört sich jetzt, auf ihrer Internet- Website, um so heimeliger an. Die Glocken läuten auch, als der große Schriftsteller Peter Weiss kleine Bedenken zum Text von Peter Bichsel vorträgt. Bichsel hat schon bei der vorangegangen Tagung aus diesem Text vorgetragen und dafür den begehrten und nicht immer vergebenen Preis der Gruppe 47 bekommen. O-Ton 9: Peter Weiss, Kassette A, 2:08-3:09 Wahrscheinlich ist das schwer zu kritisieren, weil dieses Stück so ähnlich ist wie die anderen Stücke, die damals in der Gruppe so ausführlich diskutiert worden sind. Da fällt es einem wahrscheinlich schwer, neue Argumente zu finden. Denn die Stilmittel, die Bichsel benützt, sind ja hier genauso angewandt, wenngleich in etwas größerer Form, die, und das ist vielleicht das einzig Neue, dass er eine Form sucht, die sich von der Kleinkunst entfernt und sich etwas mehr fast dem Epischen nähert. Regie: Musik Autor: Der junge Autor Jürgen Becker ist von anderen, neuen Tendenzen geprägt, ganz im Gegensatz zu den dominierenden Protagonisten der Gruppe 47. Er zeigt sich stark von der Pop-Art beeinflusst und baut in seinem Text über einen Rom-Aufenthalt Alltagsslang ein. O-Ton 10: Jürgen Becker, CD 1, Track 2, 2:03-2:19 Die Seiten des Tagebuchs füllen sich rasch. Ein Sonntag. In Rom will ich wieder in Odenthal sein. In Odenthal will ich zurück nach St. Pauli. St. Pauli: ich will jetzt in Liverpool sein. In Liverpool zieht's mich zurück in den Wald. Autor: Heute blickt Jürgen Becker eher amüsiert zurück. O-Ton 11: Jürgen Becker, 47, 25:15-25:58 In meinem Fall, da wurde sehr kontrovers diskutiert. Unverständnis zum Teil, sehr viel Neugier, zum Teil richtiges Interesse auch, ich erinnere mich, wie Höllerer sehr interessiert reagierte, oder auch Joachim Kaiser. Am meisten fühlte ich mich verstanden von Marcel Reich-Ranicki. Denn der fragte so mit seiner Emphase: Ist das noch Literatur? Und da wusste ich, er hat mich verstanden. Denn das war natürlich nicht mehr Literatur, wie er sie verstand. Autor: Aber auch Walter Jens und Hans Mayer können mit den neuen Tönen, die einer wie Jürgen Becker anschlägt, nicht so viel anfangen. O-Ton 12: Walter Jens, CD 1, Track 2, 11:05 Man erkennt das Strukturprinzip (...) nicht. Es bleibt (...) beim vagen Assoziieren. (...) Es ist in gar keiner Weise hier ein kalkulables Gesetz erkennbar. O-Ton 13: Hans Mayer, CD 1, Track 2, 14:31-14:45 Das ist eine Montage aus Zeitungen, Redensarten, das ist eine aneinandergereihte Zitierfelder bei einer Party, Momentaufnahmen, und das ist so, wie wir es gehört haben, ganz leicht zu machen. Autor: Doch die Zeit rast gerade gegen Ende der sechziger Jahre noch stürmischer als sonst. Im Jahr darauf, 1967 bei der letzten Tagung der Gruppe 67 in der fränkischen Pulvermühle, bekommt Jürgen Becker den Preis der Gruppe 47. In Princeton ist so etwas nicht zu ahnen. O-Ton 14: Walter Jens, CD 1, Track 2, 12:30-12:47 Wenn hier heute morgen gesagt wurde von Reich-Ranicki, das sollten Sie nicht drucken, Fried - ich würde das hier auch nicht drucken! Regie: Musik Autor: Friedrich Christian Delius ist in Princeton als 23-Jähriger mit dabei: O-Ton 16: Delius, CD 1, 24:13 + 26:18 Spätestens in Princeton war das so, dass bei etlichen Altmitgliedern gesagt wurde: "Die Colloquiums-Jugend". Also Höllerers Schüler, die gerieten also in den Verdacht der Langeweile, der betulichen Prosastrickerei usw. usw. Also das bezog sich eigentlich auf ne Handvoll Leute, und das war mehr so ein allgemeiner Unwille, irgendwie erwartete man was anderes von der jungen Literatur. Autor: Klaus Stiller ist in Princeton als 25-jähriger Debütant dabei. Regie: O-Ton 14 A, neu! Stiller, am Ende des Take-Bandes (Anfang der Lesung, erstes Gedicht) Autor: Heute erinnert sich Klaus Stiller an die Atmosphäre so: O-Ton 15: Stiller, 5:03-5:50 Es gab eine Solidarität des "inneren Freundeskreises", wie der Hans Werner Richter das sagte, nicht offiziell sagte, aber ich hab das zufällig einmal gehört, als er mit anderen sprach, vom "inneren Freundeskreis" sprach, zu dem gehörten wir alle nicht! Es war dann eher dieses Abschotten gegenüber diesen jungen Leuten, die vielleicht in Amerika allein von der Haltung her schon besser angekommen wären. Und da hatten die offensichtlich, was wir gar nicht erwartet haben, eine Heidenangst, dass ihnen die Show gestohlen wird. Autor: Ein weiterer junger Autor, von dem man noch viel hören wird, liest ebenfalls: der 24- jährige Österreicher Peter Handke. O-Ton 17: Handke, CD 2, O:50-1:19 Der Hausierer ist noch unterwegs. Das Wurstblatt hängt aus der Semmel. Heute wird ein heißer Tag werden. Das Ende eines Besenstiels schaut aus dem Türspalt. Der Koffer ist zu auffällig. Ich kann durch das Schlüsselloch doch nur einen umgekippten Schuh erkennen. Seine Hände übertragen ihre Ungeduld auf ihn, sie fliehen vor ihm her so schnell, dass er nicht mitkommen kann. Es ist wieder dieser Kreiseltraum. Ein Glas klirrt, vielleicht eine Fensterscheibe. Regie: langsam ausblenden Sprecher: So richtig gut kommt Handke damit nicht weg. Reich-Ranicki findet das Ganze langweilig. Grass findet vor allem Reich-Ranicki langweilig, Handke aber auch. Walter Jens bekennt: O-Ton 18: Jens, CD 2, 23:18-23:46 Das Prinzip als solches, Mutmaßungen mit Hilfe von Hauptsätzen zu erzielen, würde ich verteidigen, wohl bemerkend, dass es am Ende nicht mehr als eine interessante Fingerübung ergeben kann, aber diese könnte vielleicht den Autor doch für zukünftige Unternehmungen stärken. Sprecher: Auch Reinhard Baumgart fühlt sich ziemlich sicher: O-Ton 19: Baumgart, CD 2, 24:30-24:43 Ich habe eigentlich den Eindruck, dass das, was er erzählt, diesen Vorgang gar nicht herstellt in Worten, sondern einen schon hergestellten Vorgang nacherzählt, dass hier eine Art von erzählerischer Sekundärliteratur vorliegt. Regie: Musik Sprecher: Am nächsten Tag liest Hermann-Peter Piwitt, ein Generationskollege Handkes. In Handke, der bestimmt recht schlecht geschlafen hat, brodelt es. Er steht nach der Lesung Piwitts plötzlich auf und zetert. Alle schreiben in ihren Berichten über die Tagung in Princeton dann nur noch über Peter Handke. O-Ton 20: 47, 30:52-34:15 Ich bemerke, dass in der gegenwärtigen deutschen Prosa eine Art Beschreibungsimpotenz vorherrscht. Man sucht sein Heil in einer bloßen Beschreibung, was von Natur aus schon das billigste ist, womit man überhaupt nur Literatur machen kann. Wenn man nichts mehr weiß, dann kann man immer noch Einzelheiten beschreiben. Es ist eine ganz, ganz unschöpferische Periode in der deutschen Literatur doch hier angebrochen. Dieses komische Schlagwort von einem neuen Realismus wird von allerlei Leuten ausgenützt, um doch da irgendwie ins Gespräch zu kommen, obwohl sie keinerlei Fähigkeiten und keinerlei schöpferische Potenz zu irgendeiner Literatur haben. Das Übel dieser Prosa besteht darin, dass man sie ebensogut aus einem Lexikon abschreiben könnte. Man könnte den Sprachduden, diesen Bilderduden verwenden, und nun diese Bilder aufschlagen und auf die einzelnen Teile hinweisen, und dieses System wird hier angewendet. Und wird vorgegeben hier Literatur zu machen, was eine völlig läppische und idiotische Literatur ist. Und die Kritik - ist damit einverstanden, weil eben ihr überkommenes Instrumentarium noch für diese Literatur ausreicht, gerade noch hinreicht. Weil die Kritik ebenso läppisch ist wie diese läppische Literatur. Regie: Lachen stehenlassen! Sprecher: Man versteht zunächst nicht, was Handke genau umtreibt, man merkt nur, dass etwas los ist und freut sich daran. Friedrich Christian Delius und Klaus Stiller erinnern sich. O-Ton 21: Delius, CD 1, 28:42 So viel ist jedenfalls sicher: das war überhaupt nicht spontan. Es war gar nicht auf die Literatur bezogen, sondern der hat das von zuhause mitgebracht. Das war sozusagen von langer Hand inszeniert. Denn er wollte diesen Auftritt haben. Dann mit dem schönen Wort "Beschreibungsimpotenz" hat er natürlich alle flach gelegt. O-Ton 22: Stiller, 14:17-15:56 Ich erinnere mich, dass wir, also diese Gruppe Piwitt und Chotjewitz war dabei und Buch, diese Leute, die sich schon kannten, der Handke kannte uns ja alle nicht, war uns nie begegnet und wir auch dem Handke nicht, war waren da zusammen und ich erinnere mich, dass wir da ne Flasche Whiskey gekauft hatten und da durch den Park liefen und jeder hat immer einen Schluck Whiskey getrunken. Und dann lief vielleicht so 50 Meter hinter uns dieser scheue Beatle, und der tat uns irgendwie leid, so dass wir auf ihn gewartet haben und ihn in die Gruppe mit hineinnahmen. Und er selbst war dann immer noch schüchtern und hat kaum was gesagt. Da saßen wir alle zusammen auf so Bänken, und um zu zeigen, was er für ein Kerl ist, hat er dann ein Mädchen angesprochen, die vorn an uns vorbeiging, eine junge Amerikanerin. Und rief dann - und ich sag das, weil es einfach die Situation schildert, in der der Handke sich damals befand, er wollte auch zeigen, was für ein Kerl er ist, aber er war eigentlich ein ganz schüchterner Typ. Und um das zu beweisen, hat er gerufen. Hello, I want to fuck you! Und da haben wir natürlich gelacht, und das Mädchen hat auch gelächelt und ist weitergegangen. Das war dann sozusagen der Auftritt von Handke im Park außerhalb der Gruppensitzungen. Sprecher: Handkes Auftritt wird dadurch geadelt, dass Hans Mayer, der wortmächtigste, professoralste und heimlich von allen am meisten geachtete und gefürchtete Kritiker, direkt danach das Wort ergreift. O-Ton 23: Hans Mayer, 47, 36:45-37:57 Was Handke meint, ist folgendes - - - (Gelächter) Ja, warum soll ich Handke nicht gegen Handke verteidigen? Grass hat mit Recht gestern von der Bundesrepublik als einem Problem des neuen Biedermeier gesprochen. Die Literatur, die wir hier in vielen Fällen erlebt haben, ist eine Literatur, die Reflex einer neurestaurativen, biedermeierlichen Gesellschaft ist, deren typische Züge ein Quietismus, ein Establishment ist. Insofern hat Handke vollkommen recht gehabt, dass er seinem Unbehagen Ausdruck gegeben hat, indem er gesagt hat: Was schreiben denn eigentlich die deutschen Schriftsteller hier? Wie sehen sie die Welt? Und Handke hat vollkommen recht, wenn er sagt, die Kritik, auch hier im Saal, macht es sich zu leicht, sie geht zu sehr gefällig auf diesen Zustand ein, statt die Frage dieses Zustands und seiner Berechenbarkeit zu stellen. Autor: Hans Mayer ahnt, dass Handke für ein neues Konzept von Literatur steht, aber er interpretiert ihn nach den ihm vertrauten politischen Mustern. So richtig greifen die aber nicht mehr. Handkes Auftritt in Princeton ist nämlich nichts anderes als die Geburt einer deutschen Popkultur aus dem Geist der Gruppe 47. Innerhalb von zwei, drei Minuten wird Handke zum Markenzeichen. Einen besonderen Effekt erzielt die Diskrepanz zwischen seiner radikalen Rede und seinem äußeren Erscheinungsbild: er sieht aus wie ein etwas verklemmter Klosterschüler, der stotternd und nach Luft schnappend auf sich aufmerksam machen will. Vor allem aber hat sich Handke einen ganz speziellen Haarschnitt zugelegt, einen "Pilzkopf" wie die Beatles, die allgemein den Gipfel an Lebensgier darstellen. Ein solcher Pilzkopf ist in der Literaturszene ein Motiv aus anderen Sphären. Und es wirkt ungemein. In Gazetten und Magazinen genügt in den nächsten Wochen und Monaten als Illustration bloß eine Art Schattenriss, die schwarze Silhouette eines Pilzkopfs mit Sonnenbrille und halblangem Haar, und jeder weiß: das ist Peter Handke. Er hat völlig unverblümt die Andy-Warhol-Ästhetik übernommen und gilt damit in Deutschland wie dieser in den USA als Trendsetter. Regie: Musik Autor: Nach der Tagung kommt es zu einem Treffen zwischen deutschen und amerikanischen Schriftstellern. Dort spricht der Beatlyriker Allen Ginsberg über den wünschenswerten Einfluss der bewusstseinserweiternden Droge LSD auf die Politik. Günter Grass erwidert kühn, dass er eher Kaffee bevorzuge. Da prallen doch recht unterschiedliche Welten aufeinander. Allerdings steht Günter Grass keineswegs stellvertretend für die ganze Gruppe 47. Er ist damals schon ein alter Sozialdemokrat und spürt eher diffus, dass sich gerade atmosphärisch einiges sehr ändert. In seinen neuesten Gedichten, die er bei der Tagung mit großem Erfolg vorträgt, wird mittelbar etwas davon spürbar. O-Ton 24: Grass, CD 1, Track 2, 24:24-26:29 März Schon wieder mischen sie Beton. Von rostiger Armierung taut die letzte Hemmung. Fertigteile verfügen sich und stehen stramm: Komm. Pass dich an. Komm. Pass dich an. Als meine Wut den Horizont verbog, als ich den Müll nicht schlucken wollte, als ich mit kleinen spitzen Verben Bereifung schlitzte - Warum parken Sie? - als ich den Pudding durch ein Haarsieb hetzte und ihm sein rosa Gegenteil bewies, als ich mir Schatten fing, als Schattenfänger bezahlt, danach veranlagt wurde, als ich die Nägel himmelwärts durch frischgestrichne Bänke trieb, als ich Papier mit Hass bekritzelt, zu Schiffchen faltete und schwimmen ließ, als Liebe einen Knochen warf und meine Zunge sich Geschmack erdachte (...) Regie: hier oder schon früher langsam ausblenden! Autor: Walter Höllerer, einer der herausragenden Kritiker bei den Gruppentagungen, liefert aus dem Stegreif eine sympathetische Einschätzung der Grass'schen Lyrik. O-Ton 25: Höllerer, CD 1, Track 2, 29:56-30:40 Und bei dem "März"-Gedicht - "brach der Frühling aus: / Ich hab genug. Komm. Zieh dich aus" - direkter kann man es wahrscheinlich nicht sagen, aber das ist am Ende eines Gedichts, das mit "als ich / als ich/ als ich/ wiederholt und ein Resumée gezogen, das stimmt. Und das sich als Resumée dann aber auch nicht als bloß gedankliche Zusammenfassung liest, sondern es ist die Zusammenfassung auch dessen, was das Gedicht eben als Ganzes hergibt, auch in den Bildern hergibt. Die Bilder und das, was gedacht wird, steht nicht nebeneinander. Es ist niemals ein Kommentar zu den Bildern, sondern die Bilder sind immer in diese Gedanken hineingeschoben und stimmen dort, wo sie stehen. Autor: Walter Höllerer ist nimmt Günter Grass als großen Schriftsteller ernst, aber er widmet sich mit Inbrunst auch den neuen Entwicklungen. Er hat bereits 1961 einen großformatigen Band mit "Junger Amerikanischer Lyrik" herausgebracht. Hier sind all jene Autoren versammelt, die in den nächsten Jahren Kultcharakter bekommen werden: neben Allen Ginsberg und Gregory Corso etwa Jack Kerouac, William S. Borroughs, Robert Creeley, Lawrence Ferlinghetti oder Frank O'Hara. Auf einer beigefügten Schallplatte sind zudem Corso und Ginsberg im Originalton zu hören. Höllerer hat 1965 auch mit seinen Thesen zum "langen Gedicht" Aufmerksamkeit erregt, die die zeitgenössische US-Lyrik als Maßstab nehmen und feiern. Regie: Musik Autor: Es gelingt in Princeton jedoch nicht mehr, wie früher nur über literarische Texte zu reden und die Politik auszuklammern. Peter Weiss etwa hält im Rahmen der Veranstaltungen in Princeton eine scharfe Rede gegen den Vietnamkrieg. Friedrich Christian Delius, einer der ganz jungen Teilnehmer auf den letzten Treffen der Gruppe 47, stellt im Nachhinein fest: O-Ton 26: Delius CD 1, 49:05-50:21 In Princeton gab's die Debatten, und da ging's um die Frage, wie man sich zum Vietnamkrieg verhält. Das war natürlich das Thema. Und da war es extrem, ein extremer Gegensatz war es zwischen Erich Fried und Grass. Das war der schärfste Gegensatz. Oder Reich-Ranicki und Peter Weiss. Das wurde ja auch ausgetragen, es gab ja diesen einen Tag in Princeton, wo dann, also nach der Tagung, politische Diskussionen geführt wurden, mit Amerikanern, wo dann diese Konflikte ausgetragen wurden. Und danach war natürlich Grass nicht mehr gut auf Erich Fried zu sprechen und Erich Fried nicht mehr auf Grass. Autor: Der Vietnam-Krieg spaltet nicht nur Grass und Fried. Als Juniorpartner der CDU in einer großen Koalition enttäuscht die SPD zusehends viele Intellektuelle. 1966 stimmt die SPD zudem den Notstandgesetzen zu. Ein Teil der Gruppe 47 sieht sich da auf der Seite einer außerparlamentarischen Opposition. Zu den Vertretern der künftigen 68er gehört auch der Verleger Klaus Wagenbach, obwohl er fast genauso alt ist wie Grass. Wagenbach nennt die Autoren, die sich auf der Seite der Radikalen befinden: Reinhard Lettau, der in den USA lebt, Erich Fried, der in London lebt, Enzensberger in Norwegen, Peter Weiss in Stockholm: O-Ton 27: Wagenbach: 11:02-11:51 Die hatten den Blick von außen, ja. Die sahen, was kommt. Oder was ist. Der Blick auf die Bundesrepublik in den sechziger Jahren. Der war ja ein Blick in eine bis 64, 65, zum Auschwitz-Prozess, ein Blick in die Fettlebe und in den Sexualterror. Also es war nicht lustig in den 50er und 60er Jahren in Deutschland für junge Leute! Die kamen nicht mal an Präservative geschweige denn an irgendwas. Ich sage immer: Das war die große Zeit der Autoliegesitze! Das war furchtbar! Das heißt: Die Verlogenheit war offensichtlich in den sechziger Jahren! Regie: Musik. O-Ton 28 entfällt Autor: Stellvertretend für viele verkrachen sich im Vorfeld von 1968 auch die Freunde Grass und Wagenbach: O-Ton 29: Wagenbach: 9:01-9:52 Dann kam der Gedichtband "Ausgefragt". Und da waren Gedichte gegen die Studenten drin. Und ich hab ihm gesagt: Günter, das kannst du nicht machen! Das sind junge Leute, was heißt das - hier, wer hat euch - wer bezahlt euch - also das war so n bisschen, also das hat mir nicht gefallen. Und Günter als unverbesserlicher Sozialdemokrat, so gingen wir auseinander. Und zwar sehr lange! Sehr lange! Autor: 1967, ein Jahr später, auf dem letzten Treffen der Gruppe 67, demonstrieren Studenten der Universität Erlangen vor dem Tagungsort. O-Ton 30: 47, 38:34-38:40 Die Gruppe 47 ist ein Papiertiger! Die Gruppe 47 ist ein Papiertiger! Autor: Unter denen, die sich mit den Studenten verbünden und sich damit gegen den Corpsgeist der Gruppe 47 stellen, befindet sich an erster Stelle Reinhard Lettau. So hallt sein großer Erfolg, den er mit seiner Lesung in Princeton gehabt hat, auf ungeahnte Weise nach. Sein Text "Der Feind" hat vieles vorweggenommen. O-Ton 31: Lettau, Kassette A, 19:34 Draußen regnet es. Der General kommt zurück. "Haben Sie gewonnen?" wird er gefragt. "Ich habe den Feind nicht gefunden", antwortet der General. Regie: Musik 19