Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 04. Januar 2014, 11.05 - 12.00 Uhr Notizen aus dem toten Winkel Europas - Im Dreiländereck zwischen Bulgarien, Türkei und Griechenland Mit Reportagen von Simone Böcker Redakteur am Mikrofon: Norbert Weber Musikauswahl: Babette Michel (DLF 2012) Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Opening: (Stimmen) Musik Die Menschen in den drei Ländern sind sich sehr ähnlich. Das kann man beim Essen sehen. Auch wenn man sich jetzt darüber streitet, welche Speise von wem erfunden wurde. Die Griechen sagen, Baklava gehöre ihnen. Die Bulgaren denken, dass Shkembe Chorba - die Kuttelsuppe - ihre sei. Wir Türken dagegen meinen, das sei Türkisch. Das ist normal, weil diese drei Völker 500 Jahre zusammengelebt haben, ohne Grenzen und alles. Ein türkisch-stämmiger Bulgare über die historische Region Thrakien, eine der ältesten Kulturlandschaften Europas. Seit Jahrtausenden haben sich im heutigen Drei-Länder-Eck die Machtverhältnisse immer wieder geändert. Flucht und Vertreibung prägten das Leben der Menschen. Und auch heute noch gibt es Flüchtlingsdramen an der türkisch- griechischen Grenze. Manche der Flüchtlinge sterben auch, wenn sie versuchen, den Fluss zu überqueren. Besonders im Winter ist der Fluss sehr wild. Die Polizei findet dann ihre Leichen auf den Feldern oder am Flussufer. Solche Geschichten hören wir hier sehr oft. Hier finden jeden Tag Tragödien statt. Notizen aus dem toten Winkel Europas - Im Dreiländereck zwischen Bulgarien, Türkei und Griechenland. Mit Reportagen von Simone Böcker. Am Mikrofon begrüßt Sie Norbert Weber. Musik Dünne Besiedlung, aussterbende Dörfer, hohe Arbeitslosigkeit: Wo die Europäische Union im Osten endet und Bulgarien und Griechenland mit der Türkei zusammenstoßen, trifft man auf Zonen nationaler Bedeutungslosigkeit. Wichtig ist hier nur die Grenze. Der politische Wandel hat das Leben der Menschen in diesem Gebiet schon immer in unterschiedlichster Weise bestimmt. Einst war die Region Zentrum des Osmanischen Reiches. Dann Hochsicherheitszone zwischen Ost und West während des Kalten Krieges. Nun ist es europäisches Randgebiet. Und mehr als zwei Jahrzehnte nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, werden wieder Grenzanlagen errichtet. Atmo Restaurant, Stimmen Das bulgarische Grenzgebiet zur Türkei ist nahezu menschenleer. Hier liegen nur wenige Dörfer. Eines davon ist Shtit. Zu kommunistischer Zeit befand sich in dem kleinen Ort ein Grenzwachposten. Es galt der Schießbefehl gegen Republikflüchtlinge. Heute steht hier eine moderne Grenzanlage - die neue Außengrenze der Europäischen Union. Sie soll ungebetene Eindringlinge abhalten. Wie überall in Bulgarien haben die meisten Menschen das Dorf verlassen. Übrig geblieben sind die Alten. Den größten Teil ihres Lebens verbrachten sie im Sperrgebiet. Direkt hinter ihren Häusern verlief der Eiserne Vorhang. Reportage 1 Es ist bitter kalt. Durch die Sträßchen von Shtit weht ein eisiger Wind. Im einzigen Restaurant bullert ein Holzofen. Um ihn herum haben es sich drei Dorfbewohner gemütlich gemacht. Sie wärmen sich ihre Füße und Hände. "Bei uns leben nur alte Menschen", sagt eine der Frauen sofort mit einem Lachen. "Wir sind hier die Jüngsten!" Die Jüngsten - sie sind Anfang 60: Margo Apostolova, eine kleine, dunkelhaarige Frau mit vergnügten Augen, und ihr Ehemann Apostol, der mit seiner stattlichen Figur, Schnauzbart und Cowboyhut wie ein in die Jahre gekommener Westernheld aussieht. Den beiden gehört das Lokal, genauso wie das kleine Lebensmittelgeschäft nebenan. Zu ihnen hat sich Margos Schwester Kitschka Miteva gesellt, eine drahtige Frau in Trainingshose. Im Winter sitzen sie gerne mittags zusammen um den Ofen und erzählen. Atmo Gespräch Zum Beispiel reden sie über den plötzlichen heftigen Schneefall, der derzeit viele bulgarische Dörfer von der Außenwelt abgeschnitten hat. Oder auch über vergangene Zeiten, damals im Kommunismus. Als es nicht viel gab, aber jeder Arbeit hatte. Sicherheit, eine Wohnung, ein altes Auto. Das Leben war ruhig, erzählt Kitschka Miteva. Friedlich - auch an der Grenze. Vom Hügel hinterm Dorf haben sie in die Türkei geschaut, auf die Minarette der 20 Kilometer entfernten Stadt Edirne. Die Welt hinter dem Eisernen Vorhang war so nah, sagt sie... ..und gleichzeitig ganz weit weg. Aber wir hatten eigentlich auch keine Sehnsucht, dorthin zu gehen. Weil wir dort keine Verbindungen hatten. Ich für mich kann sagen, wenn ich aus dem Dorf runter zur Grenze gegangen bin und die Luft dort geatmet habe, war sie irgendwie anders. (lacht). Sie war fremd. Ich habe die Türkei als etwas Fremdes angesehen. Und ich brauchte es nicht. Ich habe nie den Wunsch verspürt, dorthin zu gehen. Und doch hat es an ihrer Grenze auch Fluchtversuche gegeben. Kitschka erinnert sich an zwei Männer aus dem Nachbardorf, die es über die Grenze geschafft hatten, weil sie sich vor Ort gut auskannten. Doch blieb eine erfolgreiche Flucht die Ausnahme. Wer bei der Flucht gefasst wurde, wurde umgebracht. Es gab solche Morde hier an der Grenze. Das wusste jeder hier im Dorf. Man hat es gehört, wenn sie geschossen haben. Bis heute gibt es keine offiziellen Zahlen darüber, wie viele Menschen bei ihrem Fluchtversuch an der bulgarischen Grenze erschossen wurden. Und die Bevölkerung hier war dazu erzogen, eine Flucht zu verhindern. Alle haben den Wachleuten sofort mitgeteilt, wenn etwas Ungewöhnliches passierte. Alle waren Grenzpolizisten. Die ganze Bevölkerung! Wenn jemand Unbekanntes in unser Dorf kam, dann hat man die Polizei gerufen. So war die Ideologie. Kitschka Miteva legt einen Scheit Holz im Ofen nach. Als junge Frauen im kommunistischen Bulgarien haben die Schwestern ihr Heimatdorf verlassen müssen, weil es in Shtit kein Auskommen für sie gab. Sie gingen in die Städte, um Arbeit in den neu entstandenen Fabriken anzunehmen. Ein Besuch in der Heimat war nicht so einfach, denn Shtit lag in der 15 km breiten Sperrzone im Grenzgebiet. Wer in die Sperrzone reisen wollte, brauchte eine spezielle Aufenthaltserlaubnis. Man musste zum Innenministerium. Wir, die hier geboren waren, bekamen eine Aufenthaltserlaubnis für drei Monate. Und wenn die ausgelaufen war, musste man wieder hin und einen neuen Antrag stellen. In Ljubimetz gab es einen Posten, der Autos und Züge kontrollierte. Wenn jemand keine Dokumente hatte, musste er mit dem nächsten Zug wieder zurück, wo er her kam. (Lacht) Man hat es auch nicht allen gestattet, in die Sperrzone zu reisen. Wenn jemand zum Beispiel aus Sofia kam, dann brauchte er schon einen guten Grund für seine Reise. Es wurde geprüft, zu wem er reisen wollte und warum. Atmo Geschäft Nebenan hat eine alte Frau mit Kopftuch den Lebensmittelladen betreten. Margo verlässt ihren Ofenplatz und sucht hinter der Theke die gewünschte Ware zusammen: Brot und ein Päckchen Reis. Mein Ofen qualmt heute so stark, beklagt sich die Kundin. Margo zuckt bedauernd mit den Schultern und gibt das Wechselgeld heraus. Dann wiegt sie nachdenklich den Kopf. Damals wie heute - ihnen habe das Leben hier trotzdem immer gefallen. Sie hätten sich damals sicher gefühlt in der Nähe der Grenze, zusammen mit den Grenzsoldaten, die ein Teil Dorfs waren. Es war Normalität. Und manches war früher einfacher als nach der politischen Wende. Denn mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems geriet auch die Wirtschaft in eine tiefe Krise. Die meisten Fabriken mussten schließen, viele Menschen wurden arbeitslos. Auch Margo und Kitschka traf dieses Los. Die Industrie, die ganze Produktion wurde vernichtet. Wir sind als Staat einfach verschwunden. Über zwei Millionen Bulgaren sind ins Ausland gegangen - als billige Arbeitskräfte. Auch wir waren gezwungen in unser Dorf zurückzukehren. Zum Glück ist Ackerboden beständig. Man wird zwar nicht reich davon, aber man hat immerhin etwas zu essen. (allgemeine Heiterkeit). Kurz nach ihrer Rückkehr übernahmen Margo und ihr Mann das Restaurant und den kleinen Laden. Kitschka und ihr Sohn bewirtschafteten die Felder. Die politische Wende habe ihnen demokratische Freiheiten gebracht, sagt Kitschka. Doch es begann ein harter Kampf um den Lebensunterhalt. Es gab keine Dorfbewohner mehr. Die waren in den Städten. Es gab keine Produktionsmittel, keine Maschinen, kein Geld. Das Kapital fehlte. Deswegen kam in Bulgarien 20 Jahre lang die Landwirtschaft nicht in die Gänge. Jetzt sind wir schon 16 Jahre in unserem Dorf. Und dank der EU, der Hilfe für die Landwirtschaft, fallen wir langsam auf die Füße. Unser Auskommen ist bescheiden, aber wir können jetzt einigermaßen davon leben. Margo und Kitschka räumen die Stühle wieder an die Tische. Ihre Mittagspause ist vorbei. Kitschka kehrt zurück in ihr Haus, von dem aus sie über ihre Felder bis in die Türkei schauen kann. Seit 22 Jahren ist die Grenze jetzt schon offen. Auf der anderen Seite war sie immer noch nicht. Denn drüben, so ist sie überzeugt, ist das Leben auch nicht viel anders als hier. Musik Der Fall des Eisernen Vorhangs und die EU- Osterweiterung haben nicht nur den Menschen persönliche Freiheiten gebracht sondern auch den Austausch von Gütern und Dienstleistungen sowie von Meinungen und Ideen wieder ermöglicht. Den Wandel, der sich durch das Öffnen der Grenzen vollzogen hat, verspüren im Besonderen die Fernfahrer. Sie kennen sich in Ost- und Westeuropa oft besser aus als die Berufseuropäer, schreibt Karl Schlögel in seinem Buch Promenade in Jalta, denn sie sind von Berufs wegen Tag für Tag dort unterwegs. Musik Lit 1 Lit 1 Sie kennen das neue Europa und die verschlungenen Wege, die dorthin führen. Sie suchen keine Pfade nach Utopia, sondern Wege auf die andere Seite. Die Topographie in ihrem Kopf ist nicht mehr die von Ost und West; ihre Frage ist vielmehr, wie gut die Straßen sind, wo die Parkplätze bewacht und wo die Mädchen am freundlichsten sind. Sie haben nie Marketing studiert, aber wie die "Bedürfnisstruktur" aussieht, die sich auf den Basaren des östlichen Europa ausbreitet, das wissen sie genau. Beim Transport von Gebrauchtwagen nach Riga kalkulieren sie genau den Vorteil des Landwegs gegenüber dem Seeweg. Sie kennen die Krisengebiete und Kriegszonen nicht aus dem Fernsehen, sondern als Betroffene: Jelzins Krieg im Kaukasus hat die Routen nach Baku und Jerewan verlegt, der Krieg im alten Jugoslawien hat die alte Balkanroute unterbrochen. Sie machen von ihrer Weitgereistheit kein Aufhebens, denn, Grenzüberschreitung ist ihr tägliches Brot. Musik Mit dem Zusammenbruch der kommunistischen Systeme Osteuropas 1989 hat sich auch die rigide Ausreisepolitik Bulgariens überholt. Die Grenzen zwischen Bulgarien und Griechenland sind seitdem offen. Allerdings: Zwischen den beiden Ländern gab es im Kalten Krieg nur wenige Grenzübergänge. Viele der einst verbindenden Straßen im südlichen Rhodopengebirge enden in Grenznähe in einer Sackgasse. Atmo Markt Wer ins Nachbarland fahren wollte, musste dafür große Umwege in Kauf nehmen. Nach und nach werden nun alte Verbindungen wieder geschaffen und neue Grenzstationen eingerichtet. Das beflügelt den Austausch und Verkehr. In einer Region, die von Arbeitslosigkeit und schrumpfender Bevölkerung geplagt ist, wird die Grenznähe zum Standortvorteil. Das ist vor allem samstags zu spüren, am Markttag in Svilengrad. Das bulgarische Grenzstädtchen ist ein beliebtes Ausflugsziel für die griechischen Nachbarn. Sie kommen zum Einkaufen, Tanken, oder um sich die Haare schneiden zu lassen. Reportage 2 Atmo Frisörsalon Der kleine Friseursalon "Brava" liegt nur ein paar Meter vom Markt entfernt und ist ein beliebter Treffpunkt. Der nur wenige Quadratmeter große, freundliche Raum ist das Reich von Sonya Kiosseva, einer kleinen rundlichen Frau mit dunklen Locken. Auf dem einzigen Frisiersessel sitzt eine ältere griechische Dame mit rötlichem Kurzhaarschnitt. In der Sofaecke haben ihre Freundinnen Platz genommen und warten, bis sie an der Reihe sind. Ja, die Griechen kommen in unsere Stadt. Sie kommen vor allem zu uns, weil es für sie am Nächsten liegt. Das erste griechische Dorf ist 10 km von Svilengrad entfernt, 5 km sind es von der Grenze aus. Und da jetzt der Grenzübertritt so einfach ist, fahren sie statt ins 50 km entfernte Orestiada lieber hierher zu uns ins viel näher gelegene Svilengrad. Mit einem Zerstäuber befeuchtet Sonya das Haar von Dina Seferiadou. Sie wechseln ein paar Sätze auf Griechisch. Sonya hat die Sprache gelernt, weil plötzlich ein Großteil ihrer Kundinnen aus Griechenland kam. Das war 2007, als Bulgarien Mitglied der EU wurde und die Grenzformalitäten zwischen den beiden Ländern wegfielen. Auch Dina Seferiadou, die nun unter dem schwarzen Umhang verschwindet, besuchte damals zum ersten Mal Bulgarien. Wir sind aus Dikia, einem kleinen Dorf an der bulgarischen Grenze. In erster Linie kommen wir her, weil das Einkaufen hier billiger ist. Denn wie jeder weiß, geht es uns derzeit wirtschaftlich nicht gut. Wir müssen sparen. Deshalb kaufen wir hier unsere Lebensmittel, Gemüse, Kleidung. Es ist nicht wie Griechenland. Wir haben bessere Produkte. (lacht). Aber es ist für uns billiger und näher. Und dann gehen wir hier ein bisschen spazieren, trinken einen Kaffee zusammen, gehen essen, solche Sachen. Nicht nur die günstigen Preise locken die Griechen - auch das Nachtleben ist für die Nachbarn attraktiv. Svilengrad hat sich zum "Klein Las Vegas" Bulgariens gemausert. Die vielen Casinos der Stadt werden vor allem von Türken und Griechen besucht, die als Glücksspieltouristen die Grenze überqueren. Sonya sieht das positiv. Die Stadt entwickelt sich und profitiert vom Geld der ausländischen Touristen. Man merkt das auch an der Infrastruktur. Die Straßen und Gehsteige sind viel besser als früher und sogar mit Blumen geschmückt. In den letzten Jahren ist es bei uns viel hübscher geworden. Das zieht die Leute an. Wir können uns glücklich schätzen, dass wir eine Stadt im Grenzdreieck sind. Ein kleines Städtchen irgendwo im Landesinneren hat es vielleicht viel schwerer. Nicht nur vielleicht, sondern mit Sicherheit! Mit routinierter Leichtigkeit macht sich Sonya mit der Schere an die Arbeit. Dabei plaudert sie mit den Damen über Kochrezepte und bringt ihnen ein paar bulgarische Wörter bei. Sie lacht, als die Griechinnen ihre paar Brocken Bulgarisch präsentieren. Yannis Karaoulis, ein sportlicher Mittsechziger und Begleiter der Damengesellschaft, erinnert sich an die ersten Besuche in Bulgarien. Das war noch zu kommunistischen Zeiten. Damals hatten wir etwas Angst wegen dem Regime. Wir waren zu Besuch bei Verwandten hier. Aber es hat uns gefallen. Alle hatten Arbeit. Jetzt ist Bulgarien zwar demokratisch, aber Arbeit zu finden ist ein Problem. (lacht). Aber das ist jetzt überall so, auch in Griechenland. Die Krise ist überall. Atmo Tür geht auf, Begrüßung.. Die Tür geht auf, ein griechisches Ehepaar ruft Sonya ein herzliches "Kalimera!", "Hallo" entgegen. Die beiden erkundigen sich nach Sonyas Familie, dann gehen sie weiter auf den Markt. Über die Jahre sind aus Kunden Freunde geworden, sagt Sonya nicht ohne Stolz. Viele kommen einfach vorbei wenn sie in der Stadt sind. Sie umarmen und küssen mich, weil ich so etwas wie eine Freundin für sie geworden bin. Sie bringen mir Eier von ihren Hühnern. Sie sagen, bitteschön, die sind für dich. Andere bringen mir hin und wieder Kuchen. Das ist sehr lieb. Sie kommen und fragen: Wo kann man dies oder jenes kaufen? Bitte schreibe mir einen Zettel auf Bulgarisch. Manchmal nutzen sie mich für alle möglichen Dienste. Das finde ich nicht schlimm, sondern freue mich, dass ich behilflich sein kann. Mit dem Föhn gibt Sonya der Frisur von Dina Seferiadou noch den letzten Schliff. Mittlerweile hat sie durch ihre Arbeit viele Freunde in Griechenland, und so fährt auch sie regelmäßig über die Grenze. Als ich zum ersten Mal in ihr Dorf gefahren bin, war ich schon am Parkplatz ganz verblüfft, wie viele bekannte Gesichter ich gesehen habe. Sonya, komm zu uns auf einen Kaffee! Komm zu uns, komm zu uns. Eine Kundin hatte mir vorher erklärt, wo sie wohnt, damit ich sie besuche. Aber es stellte sich heraus, dass es egal ist, an wessen Tür ich klopfe in Dikia, ich finde immer Bekannte! (Lacht laut.) Und das ist sehr schön. Wo wird man sonst so schnell zu Menschen nach Hause eingeladen? Man muss sich schon sehr nah sein. Sie sind sehr gastfreundlich. Sie sagen: Komm, ich zeig dir mein Haus. Sie haben mich in ihre Welt gelassen. Die Frisur ist fertig. Zufrieden betrachtet sich Dina Seferiadou im Spiegel. Dann greift sie zum Besen und fegt ihre Haare vom Boden zusammen. Atmo lachen "Du fühlst dich ja wie zu Hause", scherzt Sonya. Dann drückt Dina ihr acht Leva in die Hand - das sind vier Euro. In Griechenland hätte sie mindestens das Doppelte bezahlt. Die Frauen ziehen ihre Jacken an. Heute wollen sie nur kurz bleiben. Das Wetter ist zu schlecht. Vielleicht werden sie einen Kaffee trinken und tanken. Bei der Verabschiedung entspinnt sich ein Gespräch mit einer jungen bulgarischen Kundin, die bislang schweigend gewartet hat. Sie sucht einen Mann. Atmo Gespräch, lachen. "Wie alt bist du?" fragt Yannis. Sonya übersetzt. "Sag 36...!" Yannis hat seinen Sohn im Kopf, der ebenfalls noch nicht verheiratet ist. "Er hat einen Traktor und ein Appartment in Alexandropoulis. Du brauchst nicht zu arbeiten, nur kochen!", sagt Yannis. Es herrscht große Heiterkeit. "Dann soll er herkommen, damit wir uns kennenlernen", antwortet die Frau. Eine bulgarische Schwiegertochter - auch das ist in der griechischen Grenzregion schon längst keine Seltenheit mehr. "Habt ihr kein Foto dabei?" fragt Sonya noch beim Abschied an der Tür. "Nein, und das, obwohl er so schön ist", scherzt die Mutter. Ein letztes "Yassas" zum Gruß, dann schließt sich die Tür in Sonyas Friseursalon. Musik Musik Lit 2 Literatur 2 Europa ist für sie keine Berufung, sondern ein Job. Ihr Traum von Europa ist ein Jahresvisum, das ihnen Zutritt zum Schengener- Europa verschafft. Sie stehen nicht in einem Stau, der in den Urlaub, sondern in die Mühen der Ebene führt. Sie schimpfen auf die "Spekulanten", deren Waren sie transportieren, von deren Gewinnen sie aber nichts zu sehen bekommen. Auf den Fernsehmonitoren in ihren Kabinen haben sie alle Fernsehprogramme zwischen Riga und Moskau mitbekommen, und ihr Schluss ist, dass sie sich immer weniger unterscheiden. Sie haben von Berufs wegen einen langen Atem, aber die Zeitrechnung, der sie jetzt zum Durchbruch verhelfen, läuft nach der Devise "time is money". Sie durchqueren mehrere Zeitzonen, aber sie arbeiten zielstrebig und jeder für sich an der Herstellung der europäischen Einheitszeit. Man weiß hier nichts vom "clash of civilizations", vom Graben zwischen Byzanz und Rom, von Mittel- und Ost-Europa, dafür um so mehr von den Brücken, die darüber hinweg führen und die repariert werden müssen. Sie kennen mehr die vielen Europas, aus denen Europa besteht, und nicht nur EU- Europa, das sich für das ganze hält. Sie fahren von einer Peripherie zur anderen und schaffen so neue Zonen des Kontakts. (...)Sie betreiben nicht "Kulturvergleich", aber erkennen an der ,,Kultur des Fahrens", am System von Verkehrszeichen und Schildern einerseits und der schieren Wegelosigkeit andererseits, dass es ein "Kulturgefälle" gibt. Europa ist für sie ein Raum, in dem Ortsveränderung möglichst ohne Gefahr für Gut und Leben vor sich geht. Musik Passiert man die Grenze von Bulgarien Richtung Türkei, erreicht man die Stadt Edirne. Sie ist das Zentrum Thrakiens, einer Region, die schon in der Antike zusammen gehörte. Im Osmanischen Reich war Edirne fast ein Jahrhundert lang die Hauptstadt des Imperiums, denn die Stadt lag an einem Knotenpunkt auf der wichtigen Verbindungsstrecke zwischen Europa und Asien - der Seidenstraße. 500 Jahre lang war die heute auf drei Länder verteilte Region ein Teil des Osmanischen Reichs. Erst nach dessen Zerfall, Ende des 19. Jahrhunderts, und den Balkankriegen 1912/1913, bildeten sich die heutigen Nationalstaaten und teilten Thrakien auf die drei Nachbarländer auf. Das multiethnische Zusammenleben von Griechen, Türken und Bulgaren gehörte nun fast überall der Vergangenheit an. Atmo Gerichtsgebäude Die Bulgarische Kommunistische Partei trieb schließlich das Projekt eines ethnisch homogenen Nationalstaats auf die Spitze: Durch eine rigide Assimilationspolitik gegenüber der türkischstämmigen Minderheit im Land, die schließlich Ende der 80er Jahre in der so genannten "Großen Exkursion" gipfelte. Über 300.000 türkischstämmige Bulgaren wurden aus dem Land vertrieben und mussten ins Nachbarland Türkei fliehen. Nach der Wende normalisierte sich das Verhältnis zwischen der Türkei und Bulgarien. Viele der Ausgewanderten kehrten zurück, andere haben sich dagegen für immer in der Türkei niedergelassen. Doch eine wirkliche Öffnung der Grenze hat bislang nicht stattgefunden: Zwar können heute Bulgaren ungehindert in die Türkei reisen. Für türkische Staatsbürger ist ein Besuch in Bulgarien hingegen schwierig. Denn für eine Reise Richtung Westen brauchen sie ein Visum. Reportage 3 Zur Mittagszeit am Gericht von Edirne. In kleinen Grüppchen verlassen die Staatsbeamten das Gebäude für die Mittagspause. Coşkun Molla, ein Mann Anfang 60 mit edlem Anzug und randloser Brille, macht sich auf den Weg zurück zu seiner Anwaltskanzlei. Atmo Stadt Er taucht ein in die belebte Fußgängerstraße mit den alten Markthallen, vorbei an der mächtigen Selimiye-Moschee, die von der einst großen Vergangenheit der Stadt zeugt. Molla ist stolz auf seine Stadt. Edirne war immer ein sehr wichtiges Zentrum auf dem Balkan und lag am Weg, der Asien und Europa verband. Hier haben sich nicht nur die Wege gekreuzt, sondern es sind sich auch die Kulturen und Menschen begegnet. Alle Wege führten durch Edirne. Auch der Weg von Coşkun Molla führte nach Edirne. Er ist ursprünglich in Bulgarien geboren und gehörte dort der türkischen Minderheit an. 19 Jahre war er alt, als er und seine Familie ihr Heimatdorf für immer verließen und in die Türkei aussiedelten. Das war am 17. November 1978. Dieses Datum kann ich nicht vergessen. In Bulgarien wurde viel Druck auf uns ausgeübt. Es war uns verboten, Türkisch zu sprechen und unsere Bräuche zu pflegen. Die Beschneidung der Jungen war verboten. Mein Vater wurde deswegen zum Verhör geladen. Ob in der Schule, in Kulturvereinen oder in der Armee - wir fühlten uns nicht als normale Bürger akzeptiert. Und das nur, weil wir Türken sind. Und deswegen haben wir es vorgezogen dahin zu gehen, wo man gleicher unter gleichen ist. Molla wirft ein paar Münzen in den Hut eines Straßenmusikers. Sein Herz hängt noch an Bulgarien, doch hat er sich die Türkei schnell zu seiner zweiten Heimat gemacht. Als 1989 der Druck der Kommunistischen Partei auf die türkische Minderheit so stark wurde und eine große Flüchtlingswelle auslöste, war er schon Anwalt in Edirne und konnte sich so für die Rechte seiner Landsleute einsetzen. Atmo Treppen steigen, Tür Mollas Büro liegt im Zentrum der Stadt. In der Mitte/In der Ecke des kleinen/großen Raums steht ein wuchtiger Schreibtisch. Auf ihm stehen zierliche Bronzefigürchen. In den Ecken stapeln sich Bücher. Schon kurz nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems in Bulgarien versuchte Molla erste Kontakte in seiner alten Heimat zu knüpfen. Mit Erfolg: Schon bald kam es zu den ersten Treffen türkischer und bulgarischer Anwälte. Sie veranstalteten gemeinsame Tagungen, Freundschaften entstanden. Doch vor etwa vier Jahren begannen dann die Probleme. Seit einigen Jahren geben sie uns in Bulgarien kaum noch ein Visum. Sie überschütten uns mit Bürokratie. Es ist eine schwierige Prozedur. Die Kollegen aus Bulgarien haben uns im letzten Herbst zu einer Juristenfeier eingeladen. Aber weil es wegen der Visa so schwierig war, haben wir schließlich auf den Besuch verzichten müssen. Auch für Geschäftsleute ist es sehr problematisch. Sie bekommen kein Visum. So können sie nicht mehr nach Bulgarien fahren und ihren Geschäften nachgehen. Warum, kann ich mir nicht erklären. Das Leben in Edirne. Statt an der ehemaligen Seidenstraße gleicht es heute manchmal eher dem Leben an einer Einbahnstraße, scherzt Molla. Bulgaren und Griechen kommen vor allem am Wochenende scharenweise zum Einkaufen nach Edirne. Aber wir hier als Nachbarn haben die gleiche Möglichkeit nicht. Wir wollen einfach nur mal Urlaub im Nachbarland machen oder einkaufen. Wir wollen wissen, wie es dort aussieht. Wie die Leute leben. Ein bisschen spazieren gehen und wieder heimkehren. Niemand hat dort etwas Böses vor. Als bulgarischer Türke hat Molla vor zwei Jahren eine dauerhafte Reiseerlaubnis erhalten. Dieselbe Reisefreiheit wünscht er sich nun auch für seine türkischen Landsleute - wenn endlich, endlich die Visapflicht abgeschafft wird, die Menschen sich in alle Richtungen besuchen, und die Region vielleicht wieder ein Stück zusammenwachsen kann. Die Menschen in den drei Ländern sind sich sehr ähnlich. Das kann man beim Essen sehen. Auch wenn man sich jetzt darüber streitet, welche Speise von wem erfunden wurde. Die Griechen sagen, Baklava gehöre ihnen. Die Bulgaren denken, dass Shkembe Chorba - die Kuttelsuppe - ihre sei. Wir Türken dagegen meinen, das sei Türkisch. Das ist normal, weil diese drei Völker 500 Jahre zusammengelebt haben, ohne Grenzen und alles. Sie haben sich gegenseitig beeinflusst. Und noch immer beeinflussen wir uns. Molla greift zu seiner Aktentasche - es ist Feierabend. Er ist überzeugt: Die Menschen in der Region bewegen sich aufeinander zu. Bulgarien hat mittlerweile tatsächlich eine Erleichterung bei der Visavergabe angekündigt - eine große Hoffnung für den Anwalt, dass sich Edirne wieder zu einem echten Kreuzweg entwickelt. In der Grenzregion sprechen auch viele Bulgaren Türkisch. Und in der Türkei können viele Bulgarisch oder Griechisch. Es gibt keine Probleme im Kontakt. Die Grenzen können nur durch den Kontakt der Menschen überwunden werden. Und das passiert immer mehr in den letzten Jahren. Die Grenzen sind für mich eher administrativer Art. Wir sollten ihnen nicht zu viel Achtung schenken. Musik Ein Fluss markiert die Grenze zwischen Griechenland und der Türkei. Sein Name Evros gibt auch der dortigen griechischen Provinz ihren Namen. Der Fluss und die Region haben es zu trauriger Berühmtheit gebracht. Denn immer mehr Flüchtlinge aus Afghanistan, Iran, Irak oder Somalia suchen ihren Weg nach Europa über die türkisch- griechische Grenze. Das Einfallstor bildet ein zwölf Kilometer langer Abschnitt im Dreiländereck - der einzige Teil der Grenze, der auf dem Land verläuft. Der erste Ort auf griechischer Seite ist das Grenzstädtchen Orestiada. Atmo Familie, Stimmen Flucht und Vertreibung - das ist für die Menschen in Orestiada nichts Unbekanntes. Schon Anfang der 20er Jahre hatte der türkisch-griechische Krieg eine gewaltige Bevölkerungsumsiedlung zur Folge. 1,5 Millionen Griechen wurden aus den griechisch besiedelten Gebieten in der Türkei zurück nach Griechenland vertrieben. Auf der anderen Seite mussten ca. 600.000 in Griechenland ansässige Türken Griechenland verlassen. In Orestiada hat fast jede Familie ihre Wurzeln in der Türkei - im nur wenige Kilometer entfernten Dorf Karaağaç. Vor fast 100 Jahren überquerten sie genau denselben Grenzabschnitt, über den auch heute die Flüchtlinge kommen. Reportage 4 Atmo Kinder, Essen Wochenende bei der Familie Samouridis. In der geräumigen Wohnküche macht Dora Mittagsessen für die beiden Töchter. Panagiotis, ein großer, dunkler Lockenkopf mit Strickpullover, schneidet ein paar Scheiben Brot ab und belegt sie mit Käse. Wir machen ein paar Sandwiches für die Flüchtlinge und bringen sie zum Bahnhof. Da findet man normalerweise viele, die auf den Zug nach Athen warten. Wir bringen dort öfters Sachen vorbei, wenn wir etwas übrig haben. Essen oder Kleidung. Besonders im Winter wird das immer gebraucht. Atmo Tüte, Anziehen, Hausflur, Straße Der 36-Jährige packt die Brote in eine Plastiktüte, dazu ein paar Orangen. Dann zieht er sich Mütze, Schal und Jacke über und macht sich auf den Weg zum Bahnhof. Doch heute, an diesem kalten Wintertag, ist der einzige Bahnsteig leer. Manche der Flüchtlinge sterben auch, wenn sie versuchen, den Fluss zu überqueren. Besonders im Winter ist der Fluss sehr wild. Die Polizei findet dann ihre Leichen auf den Feldern oder am Flussufer. Solche Geschichten hören wir hier sehr oft. Hier finden jeden Tag Tragödien statt. Panagiotis wirft einen Blick auf den Fahrplan. Um 19 Uhr geht der nächste Zug. Er will es später noch einmal versuchen. Panagiotis ist Mitglied einer Studentengruppe. Sie veranstalten Diskussionsrunden und haben einmal wöchentlich eine Sendung im lokalen Radio. Ihr Ziel ist es, die Menschen in Orestiada über die Flüchtlingsthematik aufzuklären. Die Leute in Orestiada reagieren widersprüchlich auf die Flüchtlinge. Einerseits wollen sie den Flüchtlingsstrom stoppen, weil sie wissen, dass das ein Problem für Griechenland ist. Andererseits aber haben sie auch sehr menschliche Gefühle. Es gibt viele, die den Flüchtlingen helfen, ihnen Essen oder Kleider geben, weil sie wissen, was sie durchgemacht haben, warum sie ihr Land verließen. Die Menschen hier verstehen ihre Geschichten und sie haben Mitleid. Mit großen Schritten, die Hände in den Taschen, eilt Panagiotis durch die rechtwinkligen Straßen. Die moderne Stadt mit ihren Wohnblocks, die wie auf einem Schachbrett ordentlich in Reih und Glied aufgestellt sind, wurde 1923 von Flüchtlingen gegründet, als nach dem griechisch-türkischen Krieg alle Griechen aus der Türkei vertrieben wurden. Auch seine Großeltern mussten damals fliehen, erzählt Panagiotis, während er einen der Häuserblocks betritt. Atmo Begrüßung Vater Sein Vater Damon Samouridis, ein ernster Mann mit gestutztem grauen Vollbart, öffnet die Tür. Der 69-Jährige Rentner ist in diesem Haus geboren. Seine Eltern haben es gebaut, nachdem sie ihren Heimatort Karaağaç Hals über Kopf verlassen mussten. Verstehen Sie, innerhalb von 20 Tagen, was soll man machen? Weil es war schwierig um zu transportieren manche Sachen. z.B. ein Bett. Wie kann man ein Bett transportieren zu der Zeit/ Es war, so wie ich das gehört habe, eine ganz schlechte Geschichte. Damon kramt sein Deutsch hervor, das er in den 60er Jahren als griechischer Gastarbeiter in Deutschland gelernt hat. Die griechischen Flüchtlinge schlugen ihre Zelte buchstäblich kurz hinter der Grenze auf. Aus dem Nichts schufen sie ihre neue Stadt - 17 Kilometer von der alten Heimat entfernt. Atmo reden griechisch Ob seine Großeltern damals gehofft hatten, irgendwann einmal wieder in ihre Heimat zurückzukehren, fragt Panagiotis seinen Vater. Ja, viele haben geglaubt eines Tages wir kommen wieder zurück. Aber mit der Zeit... Aber die Sehnsucht war Sehnsucht. Meine Mutter und Vater zum Beispiel, der sehr gut Türkisch sprach, ist sehr oft gegangen in der Türkei. Sie sind in Karaağaç gegangen, sie haben versucht, ihre alte Häuser zu finden. Ungefähr hat meine Mutter einmal erzählt, die Nachbarschaft hat sie, aber genau das Haus, weil sie haben geändert auch die Sachen, hat sie nicht gesehen. Die Hoffnung ist gegangen, die Sehnsucht ist geblieben. Und sie haben die neue Stadt, die sie eigenhändig aufbauten, lieben gelernt. Doch wie ist das Verhältnis, wie sind die Gefühle gegenüber den türkischen Nachbarn? Damon legt die Stirn in Falten. Für nicht nur diese Geschichte sondern die ganze Geschichte vor viele Jahren sind nicht die besten zwischen Griechen und Türken. Hass. Weiß ich nicht. Eine Weile schweigt er, es fällt ihm schwer die richtigen Worte zu finden. Dann redet Damon aber doch. Wenn wir nicht das Wort Hass benutzen wollen. Aber Liebe können wir auf keinen Fall benutzen (Lacht leise). Ich hasse die Türken nicht. Aber ich kann nicht sagen, dass ich die Türken liebe. Liebe empfindet Damon zu seiner Heimat Orestiada. Viele Menschen verließen in den 60er Jahren als Gastarbeiter ihre Stadt - und wie Damon gelang es ihnen, sich mit dem Geld aus Deutschland ein gutes Leben aufzubauen. Erst die Flucht der Eltern aus der Türkei, dann das eigene Leben als Gastarbeiter - vielleicht, sagt Damon nachdenklich, können wegen dieser Erfahrungen die Menschen hier das Schicksal der Flüchtlinge besser verstehen. Ich habe wahrscheinlich mehr Verständnis für die Flüchtlinge hier, als jemand, der keine Migrationserfahrungen gemacht hat. Aber natürlich sehe ich auch die Probleme. Denn sie fügen dem Land auch Schaden zu. Zum Beispiel, wenn sie klauen. Wenn du die griechischen Gefängnisse anschaust: 40 bis 45 Prozent der Insassen sind Ausländer. Trotzdem: Weil ich Migrant war, weil ich Armut kenne und auch um meine Existenz kämpfen musste, verstehe ich auch ihre Armut und ihren Kampf. Panagiotis zieht kritisch die Augenbrauen hoch. Aber warum stehlen sie? Und sollen wir sie sterben lassen, damit wir ein besseres und ruhiges Leben führen können? Die meisten Leute denken so widersprüchlich. Man muss die Gründe sehen, warum sie das tun. Aber wenn ich so etwas sage, dann heißt es, ich habe romantische oder utopische Vorstellungen. Panagiotis räumt die Tassen vom Tisch. Er will zurück zu Frau und Kindern. Diese Diskussion mit seinem Vater führt er öfters. Dabei stehen sie mit ihrer Meinung eigentlich gar nicht so weit auseinander. Nur dass Panagiotis überzeugt ist, dass das Problem mit den Flüchtlingen kein Griechisches ist. Wenn wir nicht die Ursache für die Migration erkennen, dann verschwenden wir unsere Zeit. Wir alle kennen die Verantwortung der westlichen Gesellschaften, wir wissen wie unterschiedlich der Lebensstandard auf der Welt ist, und wir wissen auch warum. Da liegt die Lösung, und nicht hier, in Orestiada. Musik Atmo Geschäft/ Café Offene Grenzen, das bedeutet Reisefreiheit, Austausch von Waren und freier Handel. Es eröffnet Menschen aber auch die Möglichkeit Arbeit im Nachbarland zu suchen. Besonders wichtig, wenn die Situation im eigenen Land immer schwieriger wird. Für einige wird die Reisefreiheit zum Zwang. Die Grenze. Fluch oder Segen? Eine Antwort fällt vor allem für die Minderheit der Roma schwer. Sie haben oftmals keine andere Wahl, als ihren Lebensunterhalt auf Feldern in Griechenland oder anderswo in Europa zu suchen. Reportage 5 Stoyan Rumenov betritt den kleinen Lebensmittelladen im Herzen des Roma- Viertels von Ljubimetz - einem bulgarischen Städtchen im Grenzdreieck. Er bestellt einen Kaffee und setzt sich an das einzige Tischchen in der Ecke. Heute hat er nichts zu tun. Den ganzen Monat schon nicht. Es ist Winter - und damit totale Flaute auf dem Arbeitsmarkt, beklagt sich der 38-Jährige. Im Moment sind hier praktisch alle arbeitslos. Fünf Prozent haben vielleicht Arbeit. Alle anderen sind zu Hause. Unsere einzige Hoffnung ist Griechenland. Aber dort gibt es nur Saisonarbeit. Vor allem in den Monaten Mai bis September, wenn die Oliven und Mandeln geerntet werden. Stoyan fährt sich mit der Hand über das schmale Gesicht unter der Baseballkappe. Seit fünf Jahren arbeitet er schon regelmäßig als Erntehelfer in Griechenland. In Bulgarien ist gerade große Krise. Man bekommt hier für einen Tag Arbeit 20 Leva, das sind 10 Euro. Und in Griechenland bezahlen sie 30 Euro am Tag. Das ist ein riesiger Unterschied. Deswegen gehen die Leute massenweise nach Griechenland, aber auch nach Spanien, Italien und Deutschland. Bulgaren gibt es überall. Eine junge Frau mit Kind kommt in den Laden. Sie bestellt ein Brot. Der kleine Laden ist ein Treffpunkt im Viertel, wo man einen Kaffee trinkt und sich unterhält. Die meisten Kunden lassen anschreiben und zahlen, wenn sie Kindergeld bekommen oder ein bisschen Geld verdient haben. Atmo Gespräch "Aber nicht für alle ist die Arbeit in Griechenland eine Lösung", mischt sich die Verkäuferin Sascha ein. "Du musst deine Familie allein lassen, deine Kinder, deine Frau." Stoyan zuckt mit den Schultern. "Was will man machen, wenn es hier keine Arbeit gibt", seufzt er. "Man hat keine Wahl." Ja, ein Dilemma, räumt Sascha ein. "Denn wenn du zu Hause bleibst und die Familie hungrig ist, macht es auch keinen Sinn." Stoyan trinkt seinen Kaffee aus und geht hinaus auf die Straße. Rechts und links stehen kleine Ziegelsteinhäuser. Je weiter es stadtauswärts geht, um so provisorischer und ärmlicher sehen die Gebäude aus. Atmo Straße, Pferdekarren Aus einem der Häuser kommen Mila und Raycho. Auch sie fahren jedes Jahr nach Griechenland. Bulgarien ist gerade sehr schlecht dran. Wenn nicht Griechenland wäre, dann ginge es uns noch schlechter. Deswegen sind wir sehr froh, dass sie die Grenze geöffnet haben. So können wir arbeiten und unsere Familien ernähren. Raycho nickt. Früher hat die Familie von der Sozialhilfe gelebt. Jetzt können sie sich sogar ein Auto leisten. "Seit die Grenzen offen sind, ist das Viertel besser dran," sagt er. Wie viele Familien in der Region bauen auch sie ihr Gemüse selbst an und versuchen, auch davon zu leben. Oft bleiben wir auf unserem Gemüse sitzen. Wir pflanzen Melonen, Tomaten, Paprika und Auberginen an. Aber es gibt keinen Markt für unsere Waren. Im Sommer bekommen wir 10 Stotinki - 5 Cent - für das Kilo Tomaten. Die Preise sind einfach zu niedrig. Atmo Haus, Zimmer, reden Stoyans Haus ist klein, aber solide gebaut. In zwei Räumen lebt er zusammen mit seinen Eltern und den vier Kindern. Seine Frau ist vor drei Monaten an Krebs gestorben. Im Wohnzimmer brennt ein Holzofen, ein Baby liegt auf dem eisernen Bettgestell. Stoyans älteste Tochter hat gerade ihr erstes Kind bekommen. Der Schwiegersohn ist in Spanien. "Er pflückt dort Oliven," erzählt die Tochter. "Denn in Spanien zahlen sie noch mehr als in Griechenland." Spätestens im März, so hofft Stoyan, gibt es auch für ihn wieder Arbeit. Vielleicht auf einer griechischen Insel. Dann wird er seiner Familie 100 bis150 Euro im Monat schicken können. Den Rest braucht er selbst zum Leben dort. Die Perspektivlosigkeit lastet schwer auf seinen Schultern. Ich bin wirklich beunruhigt und mache mir Sorgen, weil ich nicht weiter komme. Ich fühle mich sehr allein. Mir tut manchmal die Seele weh. Das Herz tut mir weh. Weil wir Roman hier alle keine Chance haben. Sein Traum ist es, wieder eine Frau zu finden, und eine Arbeit - irgendwo. In Tschechien vielleicht oder auch in Deutschland. Doch ist sein Traum auch gleichzeitig ein Fluch. Die Zeiten haben Stoyan wieder zu einem Nomaden gemacht. Müde schaut er aus dem Fenster. Die Demokratie, der Beitritt zur EU, die Öffnung der Grenzen - für seine Familie hat sich das Leben dadurch nicht verbessert. Im Kommunismus war das Leben viel besser. Da gab es Arbeit. Alle hatten Arbeit. Und die Leute waren viel zufriedener als jetzt. Wir konnten zwar damals nicht in andere Länder reisen. Wir kamen nicht nach Griechenland oder in die Türkei. Aber wir mussten auch nicht. Musik Grenzen, die verbinden. Grenzen, die trennen. - Sie hörten: "Notizen aus dem toten Winkel Europas - Im Dreiländereck zwischen Bulgarien, Türkei und Griechenland". Die Autorin der Reportagen war Simone Böcker, Babette Michel suchte die Musik aus und führte Regie. Die Literaturauszüge entnahmen wir dem Buch: Promenade in Jalta von Karl Schlögel, erschienen im Carl Hanser Verlag München 2001. Sprecher war Josef Trattnik. Für Ihr Interesse dankt, auch im Namen von Ton und Technik, Norbert Weber. Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Tag! Musik 1