COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von DeutschlandRadio / Funkhaus Berlin benutzt werden. 17.1.2010 Ein Flugzeugentführer als Held Vergessene Gesichter (8/8): Alexander Tiede Eine Reportage von Tina Hüttl Regie: Atmo 1 (evtl. nur Atmo Geldeinwurf U- Bahn fährt ein) Regie: 1. O-Ton: (15s) Mein Wunsch war, in die Freiheit zu kommen, und dass ich das nicht für 20 Pfennige mit der S-Bahn erreichte, ist traurig. Ist traurig in der Geschichte Deutschlands, dass so ein Staat solange bestehen konnte, das ist eine Katastrophe. Regie: Atmo 2 Ticketautomat: (Geld Einwurf), Ticket drucken Titel: Vergessene Gesichter: Ein flüchtiger Held - der Flugzeugentführer Detlef Alexander Tiede. Eine Reportage von Tina Hüttl Regie: Atmo 3 Bahnsteig, Leute laufen, einfahrender Zug (bei 1:50) Autorin: Treffpunkt: Ticketautomat am Bahnsteig Otisstraße in Berlin- Reinickendorf. Detlef Tiede wartet schon ? Kaugummi kauend. Unter den wenigen Berufspendlern in Anzügen ist der Rentner nicht zu verfehlen. Weiße Baseballkappe, darunter ein herzliches Lachen. Und über dem großen Bauch ein grellfarbener Fliegerblouson, auf dessen Rücken ein amerikanischer Sportmodehersteller fett mit seinem Namen wirbt. Regie: 2. O-Ton: (17s) So jetzt kommt unser Zug, dann werden wir erst mal einsteigen und in Richtung Tempelhof fahren, the airport of Berlin ? as you can say ? Welcome to Westberlin (lacht, Türen öffnen sich, steigt ein). Autorin darüber: Als die U5 Richtung Tempelhof einfährt, ist er der erste, der drin ist. Regie: 3. O-Ton: (5s) (Zug fährt los). Ne, wir setzen uns hier hin (...) Autorin: Kaum hingesetzt, öffnet er den braunen Lederknautschbeutel, den er die ganze Zeit über festhält und kramt in dessen Tiefe zwischen losen Blättern und Fotos. Regie: 3. O-Ton wieder hoch: (5s) Als erstes habe ich hier (Kramen), gucken sie mal. Das ist das absolute Zeichen. Autorin darüber: Er fischt einen rot-blauen Aufnäher hervor, bestickt mit einem Flugzeug und vielen Sternen. Regie: 4. O-Ton: (15s) Das habe ich von den GIs bekommen, die die Galaxy fliegen. In der Zeit, das ist eine Erinnerung für mich, die auch einmalig ist und einmalig war. Das ist das größte Transportflugzeug seinerzeit. (plus 20s Atmo) (Regie: Atmo 4 U-Bahnfahrt allgemein) Autorin: Ganz langsam streicht Tiede mit seinen kurzen Fingern über das gestickte Relief des Aufnähers. Flugzeuge, GIs, überhaupt alles Amerikanische begeistern ihn. Gerade mal 23 Jahre ist er, als er mit einer gekaperten Maschine der Freiheit und dem in Tempelhof stationierten US-Militär entgegenfliegt. Jetzt fährt er mit der U-Bahn an den Ort des Geschehens. Ein Ur-Berliner mit Schnauze, der 1945 in der Stadt zur Welt kommt, und nach ihrer Teilung leider auf der falschen Seite wohnt. Regie: 5. O-Ton: (25s) Als Kind habe ich ja viel mit meiner Oma unternommen - meine Eltern sind ja arbeiten gegangen - und die hat immer gesagt: Komm wir gehen Schwuchtern. Also Schwuchtern hieß, wir gehen so ein bisschen um die Häuser gucken und kaufen, weil es ja eben im Osten - es ist ja wie Tag und Nacht, muss man sich vorstellen. Ja, also im Westberlin das Paradies und im Osten absolut grau und düster (U-Bahn fährt im Hintergrund los). Regie: Atmo 5 U-Bahn fährt los (Ansage: Einsteigen bitte, Sirenen, insg. Atmo 5:30min) Autorin: Eben noch hat sich der Fahrgast gegenüber hinter seiner Zeitung versteckt. Nun guckt er Tiede über den Rand seiner Morgenpost neugierig an. Ihm ist das egal. Sich still und unauffällig einzufügen, liegt ihm nicht, nicht in der U-Bahn, nicht in der DDR. Als er 16 ist, errichtet der Staat um ihn herum die Mauer. (Regie: 6. O-Ton: (15s) Wir haben eigentlich immer noch daran gedacht, das geht vorüber. In meiner Umgebung haben alle gesagt, die Amerikaner werden das nicht zulassen, die werden uns raushauen.) Autorin: Dass seine heimlichen Westbesuche, bei denen er sich erst mit Vollmilchschokolade, später mit Gold-Dollar Zigaretten eindeckt, so jäh enden, verzeiht er dem Regime nie. Er geht nicht zu den Jungpionieren, nicht zur FDJ. Auch in der Schule eckt er mit seiner großen Klappe immer wieder an: Regie: 7. O-Ton: (25s) Ich wollte dann eigentlich, na ja war ein Wunsch meiner Mutter, dass ich studieren sollte ? und mein Notenstand war nicht blendend, aber mit 2,5 hätte der ausgereicht, aber da hat man gesagt, nicht so direkt, aber gesellschaftlich ist er... Autorin: Tiede wird unterbrochen. Ein Herr in Jeansjacke zückt seinen Kontrolleursausweis: Regie: 7. O-Ton weiter: (2s) Kontrolleur: Fahrscheine bitte... Autorin darüber: Kontrollsituationen kennt er nur allzu gut von früher. Er hat schlimmere hinter sich: damals 1978 im Zug nach Polen und später am Flughafen in Danzig. Doch dazu später, Tiede zeigt jetzt einfach lächelnd sein Ticket. Regie: 7. O-Ton weiter: (4s) Haben wir Glück gehabt,(lacht). (Zug hält, Türen öffnen sich, Sirenen). Autorin: Weil seine sozialistische Gesinnung bezweifelt wird, darf er kein Abitur machen, das Studium fällt also flach. Regie: 8. O-Ton (7s) Zum Leidwesen meiner Mutter, für mich? Ich wollte eigentlich gar nicht (lacht). Autorin: Stattdessen lernt er Kellner. Dank der Unterstützung eines Lehrers ergattert er eine Stelle in VEB Johannishof, einem Gästehaus der Regierung: Regie: 9. O-Ton: (32s) War ne gute, ne sehr gute Ausbildung. Also die hatte internationalen Standart. Alles mit Silberbesteck, mit Flambieren, Tranchieren und ich habe auch als Zimmerkellner gearbeitet und hatte während der Lehrzeit eine ghanesische Familie und habe mein Englisch aufbessern können. Autorin: Das internationale Flair, die ausländischen Gäste, die prunkvolle Ausstattung - all das schürt Tiedes Sehnsucht nach dem Westen. Er schaut aus dem Fenster. Draußen fliegt das Schwarz des Tunnels vorüber, tief in ihm drinnen die Erinnerungen. Ausschlaggebend dafür, einen Ausreiseantrag zu stellen, ist jedoch die Trennung von seiner Frau Maria, einer Polin, mit der er einen Sohn namens John hat: Regie: 10. O-Ton: (33s) Die Heirat hielt nicht lange an, und na ja 76 war die Scheidung, und da kam der springende Punkt: meine geschiedene Frau hat sich abgesetzt und ist nach Westberlin mit meinem Sohn. Und von diesem Zeitpunkt an habe ich eben Aktivitäten gezeigt, - mein Sohn war für mich entführt worden - dass ich zu meinem Sohn möchte. Autorin: Nach sechs Ausreiseanträgen lädt ihn das Ministerium für Staatssicherheit vor, droht mit Konsequenzen, falls er sie nicht zurückzieht. Erschrocken schaut Tiede auf, als die Bahn aus der Röhre in den hell erleuchteten Bahnhof eintaucht. Regie: 11. O-Ton: (6s) Am Platz der Luftbrücke (U-Bahn Sirene, Türen) Wollen wir hier nicht raus? Ich bin jetzt aufgeregt. Regie: 12. O-Ton: (18s) (Türen öffnen, aussteigen) Naja, jetzt wird es schon wieder dramatisch, wenn ich davon erzähle. Ich sehe es alles immer noch vor mir (Tür schließt sich, Sirene), es ist immer noch die Aufregung. (Zug fährt ab) Regie: Atmo 6 Bahnsteig leise (7min, bei 3:30 einfahrender, bei 4:40 abfahrender Zug) Autorin: Am Platz der Luftbrücke steigt Tiede aus. Die wenigen Fahrgäste am Bahnsteig verflüchtigen sich schnell. Er lässt sich auf die nächste Bank fallen, trinkt aus der mitgebrachten Wasserflasche. Eine nervöse Anspannung ergreift ihn - wie bei seinem ersten Fluchtversuch im August 1978: zusammen mit seiner alten Liebschaft Ingrid und deren Tochter Sabine will er sich von Polen aus nach Travemünde absetzen. Am Bahnsteig in Danzig warten sie auf ihren westdeutschen Fluchthelfer Horst Fischer, der die gefälschten Papiere bringen soll: (Regie: evtl Atmo 7 einfahrender Zug darunter) Regie: 13. O-Ton: (15s) Der Zug kommt, aber Horst Fischer ist nicht drin. Also schlagartig war mir klar, den hat die Stasi geschnappt, also klipp und klar. Autorin: Tiede steht unter Schock, er wird blaß. Jetzt dagegen rötet sich sein schon schlaffes Gesicht - vor Zorn, weil ihm heute klar ist, dass seine Fluchtpartnerin den Plan zuvor ausgeplaudert hat. Damals weiß er nur: bei der Einreise in die DDR müssen er und Ingrid in Stasihaft. Trotzdem: sie will zurück, er betrinkt sich in einer Danziger Kneipe. Regie: 14. O-Ton: (20s) Wir haben Aal gegessen, Wodka getrunken, und in diesem Rauschzustand bin ich schlafen gegangen. (Hintergrund: einfahrender Zug) Und da ist diese Flugzeugentführung geboren worden. Jedenfalls bin ich aufgestanden ? und ich sage jetzt mal so ? die Geburt kam im Schlaf. (Heute kann man lachen darüber, aber Ingrid sagte zu mir, du bist verrückt). (Regie: evtl. Atmo 8 abfahrender Zug) Regie: Wechsel in Atmo 9, Schritte und Treppen vom Bahnsteig an Oberfläche Autorin: Abrupt setzt Tiede sich in Bewegung, er verlässt den unterirdischen Bahnhof mit seinem imposanten Deckengewölbe und nimmt die Stufen zur Oberfläche. Regie: 15. O-Ton: (7s) Ne, wir müssen hier, wir sind hier falsch rausgegangen, wir müssen so runter. (plus Atmo Autos und Laufen auf Straße) Autorin darüber: Auf dem Mehrringdamm rasen die Autos. Zuerst kommt die Hungerharke, dann das monumentale Hauptgebäude von Tempelhof in Sicht. Vor etwas mehr als 30 Jahren ist Tiede mit dem Taxi unterwegs - zum Flughafen in Danzig. Zuvor kauft er auf einem Flohmarkt noch eine silberfarbene Damenpistole, ein Spielzeug aus Weißblech. Es ist der 30. August 1978 ? derselbe Tag, an dem er einige Stunden später hier in Tempelhof landet. Von der kurzen Strecke bis zum Haupteingang, ist er jetzt ganz außer Atem. Regie: 16. O-Ton (4s) So nun werden wir reingehen. (probiert Türen aus) Autorin darüber: Vergeblich versucht er sich an den schweren Glastüren ... Regie: 16. O-Ton weiter (10s) Ja, ist aber hier zu. (...) Wie man sieht, Führung. ( ... ) Hm, sieht alles ziemlich trostlos aus. Regie: Atmo 10 Gang zu GAT Bereich Autorin: Also auf zur Abfertigungshalle um die Ecke, der Treffpunkt für Führungen. Hier, erwartet ihn schon ein kleinerer Herr mit einer beigen Multifunktionsweste. Regie: O-Ton 17 (mit Atmo-Vorlauf) Begrüßung der Beiden (10s) Die Herrschaften? Die beiden sind da. Wede: Cool dann können wir ja früher anfangen. Wede ist mein Name, Tiede: Tiede ist mein Name. Tag Herr Tiede.... (plus Atmo) Autorin darüber: Sie schütteln einander die Hand. Henry Wede kennt jeden Winkel des 1,2 Kilometer langen Flughafengebäudes, ist seit 1960 hier beschäftigt. (Tiede, freut sich, will sofort wissen, ob ihm sein Name etwas sagt. Regie: 18. O-Ton (8s) Ne, ne, die Stimme habe ich schon mal gehört. Tiede: Haben Sie schon mal gehört? Dann kann ich Ihnen mal was zeigen (Reißverschluss). Autorin: Er öffnet den Lederknautschbeutel, holt den Galaxy-Aufnäher hervor: Regie: 18. O-Ton, wieder hoch (10s) Davon haben sie mit Sicherheit auch schon was gehört. (Knistern) Wo habe ich denn das. Wede: brauche Brille. Tiede: Kennen sie das? Wede: ne dat ist doch hier vom Flughafen irgendwo. Tiede: ja klar, das ist die Galaxy. Wede: Ja, da war ich auch drin.... Autorin: Wede bleibt unbeeindruckt Regie: 19. O-Ton: (14s) Wede: ich habe sowas von der Feuerwehr, sieht fast genauso aus. Tiede: Jaja, ich hatte auch ne Jacke und ich habe ihnen Autogramme gegeben. War ja immer super, wunderbar. Wede: die waren für jeden, der kam, dankbar, dass sie einen Anlass zum Feiern haben. Tiede: Ich war ja der absolute Hero hier. Autorin darüber: Es ist ein komisches Zusammentreffen. Von Statur und Gestus ähnlich, reden beide darauf los. Beide von ihrer Bedeutung für diesen Ort überzeugt. Wede fängt mit 25 Jahren als Gepäckträger hier an, zuletzt leitet er die Grundstücksverwaltung. ) Regie: Atmo 11 Gang zu Hauptgebäude, Türschlüssel Wede: so jetzt müssen wir hier hoch (Treppensteigen, Schritte) Autorin darüber: Seit seiner Pensionierung vor zehn Jahren, führt Henry Wede in seiner Freizeit Besuchergruppen durch Tempelhof. Regie Atmo 11 wieder hoch Tiede: Ach, das ist jetzt hier die Haupthalle. (Schritte) Autorin: Langsam schreitet Tiede die Reihe mit den Check Ins ab. Die Anzeigetafeln, das Förderband für den Koffer - alles ist noch da, verlassen, funktionslos. Regie: 20. O-Ton (12s) Ja, so viele Counter, so viel waren ja da nicht. Ist ja alles im Verhältnis, ist ja alles riesig, ist ein Nebenflughafen. (plus Atmo) Autorin darüber: In Gedanken steht er jetzt wieder am Schalter, allerdings noch in Danzig, wo er für den Flug 165 der polnischen Fluggesellschaft LOT ein Ticket löst. Darauf steht: Abflug 8:40 ? Ankunft: 9:35 Uhr Berlin Schönefeld, dem Flughafen in der DDR. Dort ankommen will Tiede auf keinen Fall. Die Spielzeugpistole steckt im Parker von Sabine, der Tochter seiner Begleiterin, als sie durch die Sicherheitskontrolle gehen: Regie: 21. O-Ton: (15s) Und wir sind an der Reihe und werden gleich raussortiert. Und wir wurden gefilzt. Also nackt und ausziehen und getrennt. Und da habe ich gedacht, jetzt ist die Sache bevor sie beginnt gestorben ... Autorin darüber: Doch die polnische Sicherheitsbeamtin scherzt mit dem Mädchen: "Schieß mich nicht tot!" und winkt die Pistole durch. In der voll besetzten Maschine, einer Tupolew 134, sitzt Tiede in Reihe 5, alleine. Alles kommt ihm verdächtig vor. Er bestellt sich Cognac, raucht eine Zigarette nach der anderen, geht immer wieder nach vorne - die Lage auskundschaften. Dann kommt die Ansage: Fertig machen zur Landung. Regie: 22. O-Ton: (22s) ...das war wie ein Start. In diesem Moment habe ich gesagt, gib mir den Parker, weil darin die Pistole war, habe die rüber genommen auf den freien Platz, also nervös so, und hatte so ein Jacket an und bin so, wie ich die Pistole hier reinmachen wollte im Laufen... Autorin darüber: In der riesigen Abflughalle spielt Tiede die Situation nach: Er macht einen Satz nach vorne und hält dem überraschten Wede den durchgedrückten Finger an den Kopf, wie damals der Stewardess Ewa die Spielzeugpistole: Regie: 22. O-Ton bei 36s wieder hoch (20s) ... und habe den Vorhang beiseite geschoben und die erste Bezugsperson war die Ewa Przybysz und habe die gegriffen und habe sie runtergerissen: (redet polnisch) Also wenn ihr nicht macht, was ich sage dann werde ich sofort schießen ... Autorin darüber: Endlos lange 20 Minuten kreist die Tupolew im Himmel über Berlin. Die Besatzung ist verängstigt, Tiede jedoch siegesgewiss: Dann endlich meldet sich Tempelhof, gibt die Erlaubnis zur Landung. Regie: Wechsel in Atmo 12: Gang zum Rollfeld (Schlüsselklappern) Wede: Also das ist der Braune, der ist es nicht (schließt auf). Also die wollen nicht das wir runtergehen. Wenn wir von der Treppe gehen, haben sie nichts dagegen, aber wir wollen den Ablauf da unten nicht stören ... Autorin darüber: Die Tour geht weiter zum Rollfeld. Tiede folgt Wede durch mehrere Glastüren, schaut schließlich von einem Treppenabsatz des Haupthangars auf das überdachte Vorfeld hinab. Dort herrscht Hochbetrieb. (Regie: 23. O-Ton: (15s) Und hier war ja Kriegszustand ausgebrochen, das habe ich am Rande mitbekommen, musste Anweisungen folgen: Wede: Für die kam ne fremde Maschine runter, die wussten nicht, wer ist da drin. Tiede: Kann man ja auch nicht.) Regie: Atmo 13 Rollfeld Autorin: Früher rollten hier die Maschinen zum Ein- und Ausstieg der Passagiere vor, erzählt Wede. Jetzt bauen Arbeiter an einer Tribüne, ein Rosinenbomber parkt noch ? für Touristen. Dahinter: Stallungen aus Zeltplanen, mit Stroh vor dem Eingang. Denn auf dem Rollfeld gastiert derzeit eine Pferdesdressurshow. Damals umstellen blinkende Militärfahrzeuge das Flugfeld, GIs zücken die Waffen. Tiede reißt jetzt die Arme hoch, noch einmal formen seine Finger das Victory-Zeichen. Regie: 24. O-Ton: (8s) Und ich habe Victory und die haben unten gerufen: You are welcome, welcome. Have a nice day . (Lacht) Autorin: Die Amerikaner schicken ihn zurück in das Flugzeug. Drinnen sitzen 52 verdutzte DDR-Bürger. Der Entführer darf schreien: Wer aussteigen will, ist frei. Regie: 25. O-Ton: (15s) Und da ist hinten jemand aufgestanden, und zu dem habe ich noch gesagt: Und Sie setzen sich hin. Und nun kann ich nicht sagen, warum ich das gesagt habe. Hat sich später rausgestellt, das ist ein Familienvater, der Herr Schröder, der mit seiner Familie nun aussteigen wollte. Autorin: Die Schröders und drei weitere DDR-Bürger bleiben im Westen, der Rest macht sich noch am selben Abend auf den Weg in die DDR - mit dem Bus. Tiede, Ingrid Ruske und ihre Tochter werden isoliert. Wohin sie gebracht werden, weiß er nicht mehr. Wede führt. Regie: 26. O-Ton: (40s oder kürzen) (Atmo-Vorlauf: Schlüssel klimpern, Das ist ein Riesengelände. Tiede: Wir konnten nämlich auf Straße gucken und andere Seite Ampeln. Wede ist ja interessant, dann kann das das Hotel gewesen sein. T: Ja ist mit Sicherheit das Hotel gewesen. Regie: Atmo 14 Schritte draußen Autorin : Nach einer kurzen, freundlichen Vernehmung bringen die Amerikaner den Entführer in den Hoteltrakt des Flughafens. Tiede steht vor einem braunen dreistöckigen Gebäuderiegel seitlich des Haupteingangs, dann geht es die Treppen hoch. Regie: Atmo 15 Treppenhaus, Treppensteigen Tiede: Ah, ist so stickig hier... Autorin darüber: Fast 6 Monate bleibt er hier in Untersuchungshaft, für ihn eine Zeit voll der schönsten Erinnerungen. Regie: Atmo 15 bei 11s wieder hoch: Treppensteigen Tiede: Auf jeden Fall bin ich immer Fahrstuhl gefahren. (Schlüssel) Regie 27. O-Ton (20s) Wede: So sieht das Hotel aus. Tiede: Ja, ja ja. Also det isses doch und hier war das Office von der Reinigungsfrau. Wede im HG: Badezimmer Küche für Adjutanten. Und hier wenn man rausguckt sieht man Ampeln... Autorin darüber: 1993 ziehen die Amerikaner aus Tempelhof ab, in den Räumen kommt kurzzeitig eine Polizeiabteilung zur Bekämpfung von Vereinigungskriminalität unter. Seitdem auch sie fort ist, verfällt alles: Heizungsrohre liegen frei, die Tapeten hängen in Fetzen, in endlosen Zimmerfolgen muffeln braune Teppichböden vor sich hin. Tiede sieht sich angewidert in seinem Raum um, er schwitzt, vor Augen noch das glamouröse Bild von früher: Regie: 28. O-Ton: (12s) Davor hat immer jemand gesessen also zu meinem Schutz. Und ansonsten bestellt: What do you want for breakfast? You are welcome. (..) und, na ja, dann hat man Bestellung aufgegeben... Autorin darüber: Täglich isst er mit den Offizieren T-Bone-Steaks, geht am Flugfeld Joggen. Doch der Fall sorgt für Spannungen mitten im kalten Krieg. Kurz zuvor hatten die Amerikaner ein internationales Abkommen gegen Luftpiraterie unterschrieben, sie müssen ihrem sympathischen Entführer den Prozess machen. Für 100 000 Mark bauen sie ihm in Tempelhof einen Gerichtsaal. Verhandelt wird nach US- Verfahrensvorschriften, weshalb die Amerikaner aus 500 Berlinern zwölf Geschworene auswählen. Der einzige amerikanische Strafprozess - je in Deutschland. (Regie: 29 O-Ton: (12s) Und ich war der einzige Gefangene vom US Court of Berlin mit 001. (Lacht)) Regie: 30. O-Ton: (15s) Wede: Ach, haben Sie dann nachher hier später vor Gericht gestanden? Tiede: Na ja klar. Wede: Der Richter Stern hat doch hier das Verhör gemacht. Ich kann Ihnen hier noch Wände zeigen, wo das dicke Glas eingebaut wurde. Panzerglas, wegen dieser Gerichtsverhandlung.... Autorin: Tiede winkt ab. Er hat Hunger, will an die frische Luft, weg von dem tristen Ort, an den er so glanzvolle Erinnerungen hat. Regie: Wechsel in Atmo 16: Zurückgehen (mit 7s Vorlauf) Wede: Gehen wir jetzt zurück, da wo wir angefangen haben? (Türen, Treppen heruntergehen) Tiede: Das haben sie ja, wie man eben im Film sieht, so haben die den Saal hergerichtet.... Autorin darüber: Sogar Hollywood verfilmt seine Geschichte. Auf dem Weg nach unten erzählt Tiede vom Prozessausgang. Die Stasi kann unbemerkt einen ihrer Männer einschleusen. Als einziger Geschworener plädiert dieser auf schuldig. Richter Herbert Stern verurteilt ihn wegen Geiselnahme, doch die Strafe ist mit der U-Haft abgegolten. "Judgement in Berlin" - heißt der Film, Martin Sheen spielt den Richter... Regie: 31. O-Ton: (20s) (Während Treppensteigen)Und Heinz Hoenig spielt da meine Person, die aber mehr oder weniger auch nur rumsitzt und zuhört. Aber das hat er richtig so verkörpert. Was sollte ich da viel ? Auf ne Frage habe ich geantwortet. Aber im Grunde haben die ihr Spiel gespielt. Ihr juristisches Spiel. Regie: Wechsel in Atmo 17: Auf der Straße Autorin: Tiede atmet auf, er liebt das Leben hier draußen im Westen und den freien Himmel, auch wenn dieser heute grau ist. Zielstrebig überquert er die befahrene Kreuzung, biegt in eine ruhigere Seitenstraße vom Tempelhofer Damm ab. Regie: 32. O-Ton: (20s) Nächste Querstraße, will doch nur mal sehen, ob die Pizzeria noch ist, weil da auch Erinnerungen dranhängen, weil ich wunderbare Stunden mit den Leuten verbracht habe, die natürlich auch sehr interessiert waren. Autorin darüber: Nach der Freilassung zieht er zu seiner Ex-Frau, es hält nur kurz. Immerhin kann er seinen Sohn jetzt sehen. Einer aus dem Servicepersonal der Amerikaner verschafft ihm in der Pizzeria eines Freundes einen Job. Regie: 33. O-Ton: (13s) Hier, ja genau, hier war das ? ja das war früher Pizzeria Columbus von Giuliano. Hierdrin... Autorin darüber: Auf dem Schild über Giulianos Pizzeria steht inzwischen: Zur Kartoffelpfanne. Regie 34. O-Ton (3s) Na, ich geh mal vor... Autorin: Tiede betritt den steril lachsfarben gefliesten Raum. Regie: 34. O-Ton wieder hoch: (17s) Die haben auch umgebaut (Stimmen). Der Tresen war seinerzeit hier, die Küche dahinten. Aber ja, wir können ja mal Platz nehmen, wollen wir da am Fenster? Ich finde es nicht gut, wenn man an Tisch sitzt, wo noch nicht abgeräumt ist, fein, gut... Autorin darüber: Bis auf einen Tisch mit jungen Spanierinnen ist die Kartoffelpfanne leer. Regie: 35. O-Ton: (15s) (Bier wird serviert) Tiede: Dankeschön. Hier die Würstchen, ist das wie Currywurst? (Kellner antwortet). Tiede: Bratwurst mit Kartoffelsalat, können sie ja machen... Autorin darüber: Tiede will Bier und Bratwurst mit Pommes. Dann setzt wie auf Bestellung das Lied "Wind of Change" ein. Mauerfall. Regie: 36. O-Ton: (20s) Ah Scorpions, Change ? aber das war das Lied, aber der Typ mit der Mütze war nicht so meiner, ist aber ein schönes Lied. Aber wie gesagt, zum Mauerfall will ich mich gar nicht so äußern, weil ich dazu ein anderes Verhältnis habe... Regie: Lied Wind of Change einspielen und mit Atmo 18 Restaurant mischen Autorin: Nach seiner Flucht schließt Tiede mit dem Osten ab, außer bei seinen Eltern meldet er sich bei keinem seiner alten Bekannten. Später, als er seine Stasi-Akte liest, ist er auch froh darüber. Regie: 37. O-Ton: (unter Wind of Change legen) (20s) Deswegen habe ich schon ein zwiespältiges Verhältnis, wie das passiert ist. Dass die Menschen sich selbst befreit haben? Riesig, prima. Dass Deutschland eins ist? Riesig, prima. Aber diese ganzen Verbrecher sind heute noch tätig oder wie man sagt, diese Seilschaften, das ist eine Katastrophe. Autorin: Bis heute fährt er so gut wie nie in den Osten der Stadt. Umso lieber fliegt er dafür in den Süden: Regie: 38. O-Ton: (30s) In der letzten Zeit verreise ich nur ans Mittelmeer und Tunesien, aber wenn ich da nun neben Menschen aus der ehemaligen DDR - sind ja Menschen wie du und ich und ist in Ordnung - aber so wie das irgendwie zu politischen Gespräch kommt, blocke ich ab. Ich will das nicht. Weil dann teilweise diese: Ach ja, die Westler, die Arroganten, praktisch die Reichen - wir die Verlierer. Ja was haben die? Die haben nur dazu gewonnen. Die können sich nicht beklagen. Regie: Atmo 19 Essen, Schneidegeräusche Autorin: Auch Tiede klagt nicht. Die Spanierinnen haben den Laden verlassen, und er tunkt mit sichtlichem Genuss seine Bratwurst in den Senf. Regie: 39. O-Ton (10s) Gut, Mhh. Aber der Senf schmeckt so gut, dass ich gar kein Ketchup brauche. Currywurst ist auch ne Berliner Institution... Autorin darüber: Extravagante Ansprüche kennt er nicht. Er arbeitet als Kellner im Interconti, im Grunewaldtturm, später in einem Ausflugslokal von Siemens. Das Geld ist immer knapp. Einmal reicht es bis nach Amerika, wo seine Offiziers-Freunde ihn verheiraten wollen. Dort zu leben? Das ist ihm viel zu weit weg. Sein Ziel war, ist und bleibt Westberlin. ENDE (Atmo 20: Treppensteigen extra, Atmo 21: Geldeinwurf extra, Atmo 22: Schritte extra) 1