KULTUR UND GESELLSCHAFT Reihe : LITERATUR 19.30 Titel der Sendung: "Never accept the facts of life" Irlands rebellische Literaten heute Autor : Anat Kalman Redaktion: : Sigried Wesener Sendetermin : 03.04.2012 Besetzung : Zitator : Sprecherin : Zitatorin ( auch übers.) : Regie : Urheberrechtlicher Hinweis: : Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zweckengenutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig "Never accept the facts of life" Irlands rebellische Literaten heute Von Anat Kalman ATMO ... Meeresrauschen, da hinein die Stimme von Hugo Hamilton, der einen kleinen Reim auf Gälisch/Irisch liest ... Meeresrauschen da hinein Zuspiel Hugo Hamilton Deutsch Wir sind in Irland ein sehr abgelegenes Volk gewesen für lange Zeit. Wir schwelgten da am Atlantik rum und hatten wenig Kontakt mit Europa. Unsere vordere Tür war immer England, alles ging durch England oder durch Amerika. Sprecherin Der irische Schriftsteller Hugo Hamilton ist Dubliner, geboren 1953 als Kind eines irischen Vaters und einer deutschen Mutter. Das war damals etwas Außergewöhnliches. Seine Mutter war Anfang der 50ger Jahre nach Irland gereist. Dort traf sie den Vater von Hugo, sie blieb und gründete eine Familie. Zuspiel Hugo Hamilton Deutsch Die Zuwanderer, die jetzt nach Irland kommen, die bereichern das Land wirklich, weil sie einen starken Blick auf Europa geben. Also wir sind jetzt ganz anders geworden in den letzten zwanzig Jahren. Wir sind jetzt ein gebildetes Volk, wir haben den Reichtum durchgemacht, die Leute kennen, was es heißt ein Haus zu besitzen. Es ist ein ganz anderes Land geworden. Dieses Revolutionäre, das haben wir zum Glück hinter uns gelassen. Sprecherin Für Hugo Hamilton ist es noch schwierig gewesen, ein sogenanntes Mischlingskind zu sein, vor allem ein deutsches. Denn in diesem ersten Jahrzehnt nach dem 2. Weltkrieg war auch in Irland alles Deutsche verpönt. Zuspiel Hugo Hamilton Deutsch Ich erinnere mich als Junge mit 15. Ich hab meine deutsche Mutter auf der Straße in Dublin gesehen, sie kam mir entgegen und ich bin dann umgedreht und bin weggelaufen. Ich wollte niemandem zugeben, dass ich eine deutsche Mutter hatte. Wie die mich ständig Nazi genannte hatten und ich hatte den Spitznamen Eichmann. Also ich habe lange meine eigene Mutter geleugnet. Und dieses Deutschsein wollte ich auch nicht. Atmo ... ATMO ... Straßenatmo von Dublin, die typischen Ampelgeräusche an den Straßenecken. Sprecherin Heute, im Dublin des 21. Jahrhunderts ist das nicht mehr nachvollziehbar. Das Leben auf der grünen Insel im Norden hat sich verändert und damit auch der Blick der Iren auf die Welt und auf die Menschen, die aus dieser fremden, nicht irischen Welt kommen. Zitator Keine andere Stadt in Europa scheint entschlossener zu sein, ihr Erscheinungsbild zu verändern. Dublin ist kosmopolitischer geworden, weniger isoliert, weltoffener. Sprecherin schreibt Hugo Hamilton in seinem Buch Die redselige Insel. Zitator Es hat seine eigene Schwulenszene und sein eigenes Chinatown. In der Parnell-Street gibt es die Polish Bar. ATMO ... Publärm ... In Coway's Bar gegenüber vom Rotunda Maternity Hospital, feiern die Männer ihre frisch geborenen Baby's immer noch mit großen cremigen Pints. Stolze Väter, zweifelnde Väter, erleichterte Väter. Inzwischen sind Immigrantenväter aus aller Herren Länder darunter, deren Kinder dafür sorgen, dass diesem Land die ewige Jugend erhalten bleibt. ATMO ... Publärm, da hinein das Lied der sweet Molly Malone ... Sprecherin Die Iren waren immer sehr auf ihre eigene Geschichte konzentriert, in der Auseinandersetzung mit England ging es darum , die eigene Identität, die Landessprache, das Gälische und die nationale Unabhängigkeit zu verteidigen. Gegenüber Reisenden waren sie aufgeschlossen und höflich, ihnen öffneten sie ihre Türen und Herzen. Einwanderer betrachteten sie dagegen mit Argwohn. ATMO ... das Lied der sweet Molly Malone ... da hinein ... Nachdem dann aber in den achtziger Jahren über ein Sechstel der Bevölkerung die Insel verließ und zum Schluss nur noch 3,5 Millionen Iren auf ihr lebten, erklärte sich Irland während der ersten Jugoslawienkriege zwischen 1991 und 1995 bereit, 200 Flüchtlinge aufzunehmen. Nur 160 wollten überhaupt kommen. Denn Dublin war zu dieser Zeit keine sehr attraktive Stadt, sie war heruntergekommen, in der Innenstadt gab es Brachflächen, auf denen Ziegen grasten und die Grundstücksspekulanten ließen die Häuser am Ufer der Liffey verfallen. Doch dann lockte die Regierung mit einer großzügigen Steuerfreiheit ausländische Unternehmen ins Land und die Wirtschaft begann zu boomen. Heute stammen rund zehn Prozent der Bevölkerung Irlands aus dem Ausland. ATMO ... Straßenatmo von Dublin, Menschen, Lachen und Straßenmusikanten ... Und während sich das Mischlingskind Hugo Hamilton im Multi-Kulti-Getümmel immer wohler fühlt, ringen nun jene mit ihrer Identität, die früher einmal ganz genau wussten, wohin sie gehörten. Denn mit den neuen Einwanderern veränderte sich auch das Gesicht und der Lebensstil der irischen Hauptstadt Dublin. ATMO ... Straßenatmo von Dublin, Menschen ... da hinein Zitator Vor fünfzig Jahren wurde in Leserbriefen an die Zeitungen gefordert, die Statue des britischen Admirals Nelson durch eine Muttergottesstatue zu ersetzen oder einfach zu sprengen, um sie sich ein für allemal vom Hals zu schaffen. Inzwischen hat man die Säule durch einen stählernen Spitzturm ersetzt, eine große, glitzernde Nadel, die in den rötlichen Himmel ragt und so hoch ist, dass sich nicht einmal Möwen darauf niederlassen können. Sie heißt Millenium Monument, aber eigentlich weiß keiner, wessen sie gedenken soll. Einige der Männer in Molloy's Pub meinten, sie stelle eine riesige Spritze dar und sei ein Denkmal für die vielen Junkies in Dublin. Doch sie hat keine echte Funktion und gedenkt weder der Freiheit Irlands noch der Toten oder Lebenden. Sie ist ein Denkmal für das Nichts. Die Iren, früher so empfindlich, was ihre Geschichte betraf, haben inzwischen begonnen, das große, heldenhafte Nichts zu verehren. Sprecherin Um Identität und Identitätslosigkeit geht es in allen Erzählungen und Romanen von Hugo Hamilton. In den Legenden ist der Protagonist Gregor auf der Suche nach seiner wahren Identität, denn sein Onkel hatte ihm eines Tages erzählt, dass seine Mutter ihn im Krieg als Findelkind aufgenommen habe und er eigentlich ein verwaistes jüdisches Kind sei. Gregor machte sich also auf die Suche nach seinen wahren Wurzeln, doch er konnte nichts mehr finden und nichts mehr beweisen. Auch Städte können Identitätsprobleme haben, nämlich dann, wenn sie sich so verändern, dass sie der Heimkehrer nicht wieder erkennt. Und ohne Identität sind auch die vielen verlassenen Häuser, die so typisch für Irland sind. ATMO... irische Musik, da hinein Zitator Zitator Bis zum heutigen Tag findet man überall im Westen Irlands, in jeder Stadt und in jedem Bezirk, verlassene Häuser, in deren Fenster Vorhänge flattern und auf deren Küchentischen noch Tassen und Teller stehen. Manchmal entdecke ich in die Wände eingebaute Regale, auf denen man einst Eier und Butter aufbewahrt hatte. Das schwere Bombardement der Zeit hatte nichts verschont, was nicht aus Stein war. Überall wuchs Gras, drinnen und draußen. Sprecherin Und doch ist diese den Dingen und Schicksalen anhaftende Identitätslosigkeit nur eine scheinbare, meint Hugo Hamilton. Denn Identität ist eigentlich etwas ganz anderes. Zuspiel Hugo Hamilton Deutsch Identität ist etwas Narratives. Ich glaub' für mich ist das die beste Erklärung, dass jeder für sich ein Porträt macht von seinem eigenen Leben ... dass das eigentlich die Identität herstellt und nicht die sachlichen, wie der Pass oder woher man kam, die Heimat. Es ist eigentlich die Geschichte, die von einem erzählt wird. Sprecherin Geschichten durch die der Mensch zu sich selbst findet - das ist trotz allem ein typisch irisches Motiv. Im rauen nordischen Klima über den endlos grünen Wiesen und im ständigen Kampf gegen England, lebten viele Iren "in" ihren Geschichten und "durch" ihre Geschichten. Geschichten erzählen, Theater spielen, vom Anderssein träumen, schreiben und beschreiben, in diesem nicht sehr besiedelten Land spielten Literatur und Theater immer eine ganz besondere Rolle. Vielleicht ist es darum kein Zufall, dass die großen englischsprachigen Erzähler vor allem Iren waren, wie James Joyce, Georges Bernard Shaw, Oscar Wilde oder Samuel Becket. Heute stehen und sitzen diese als Bronzefiguren in Lebensgröße überall in Dublin. Oscar Wilde lümmelt dandyhaft gekleidet auf einem Felsbrocken auf dem Merrion Square und der 1967 verstorbene Lyriker Patrick Kavanagh sitzt mit lässig überschlagenen Beinen in der Mespil Road und blickt nachdenklich auf den Grand Canal, so wie er es immer wollte, denn in einem Gedicht schrieb er , Zitator Und wenn ihr mich zu Grabe tragt, dann bitte mit Blick auf den Grand Canal und auf sein gleichmäßiges Dahinfließen ... ATMO..... irische Klänge Sprecherin Eine andere Generation ist heute angetreten. Neben Hugo Hamilton gibt es den 1957 geborenen Gerard Whelan. Er widmet sich in seinen Romanen der Vergangenheit, vor allem irischen Kriegskinderschicksalen. Denn obwohl die Iren nun darauf verzichtet haben, weiter gegen England zu kämpfen, gedenken sie doch gern der Opfer, die die letzten Jahrzehnte von ihnen forderten. Gerard Whelan stammt vom irischen Plattland, aus dem County Wexford, wo er auch heute - nach einem langen Vagabundenleben - wieder wohnt. Sein Roman The Guns of Easter/ die Gewehre von Easter , in dem er die Tragödie des irischen Freiheitskampfes beschreibt, wurde ein Beststeller. Aber erst in der kleinen Geschichte Die leeren Stufen aus seinem Zyklus Kriegskinder, zeigt er, wie wundervoll und wie verhäng- nisvoll es sein kann, wenn man sich selbst zu sehr "erfindet". Die Geschichte spielt in Irland während des gesamtirischen Unabhängigkeitskriegs von 1919 bis 1921. Die kleine Mattie fand eine Pistole und brachte sie mit nach Hause, obwohl die englische Besatzungsarmee regelmäßig Hausdurchsuchungen durchführte, weil sie den Iren jeglichen Besitz von Waffen strengstens verboten hatte. Zitatorin "Matilda Foley! rief Mutter, Du lässt das Ding augenblicklich verschwinden!" Mattie kicherte, hielt die Waffe hoch und wehte nach mir in die Küche. Ich stand da, meine Hand auf der Türklinke und blickte ihr hinterher. "Was ist das?" Mutter war sehr nervös. "Ist das denn überhaupt echt?" Klar war es echt, Mattie hatte gesehen, wie zwei englische Soldaten einen Mann festnahmen, wahrscheinlich hatte er es dort an der Mauer eingegraben. Sie deutete auf die Inschrift und zeigte allen, dass sie lesen konnte. "Sieh' " sagte sie "Da steht Waffenfabrik... Mauser... Oberndorf... A.Neckar. Das ist Deutsch." Mattie war überzeugt zu wissen, was das heißt. Waffenfabrik war der Name der Fabrik, Oberndorf war der Ort und A. Neckar der Name des Herstellers. Plötzlich rief sie "Antonio, ich weiß der Hersteller heißt Antonio, Antonio Neckar." Sprecherin Mattie stellte sich vor, wie dieser Antonio wohl ist. Ein guter Ehemann, ganz anders als ihr Vater. Ein Mann, der nicht trinkt und stattdessen regelmäßig arbeitet. Ein Mann, der sie und ihre Familie aus ihrer trostlosen Armut befreien und ihnen ein bescheidenes Leben ermöglichen würde. Mattie versteckte die Waffe und lebte in ihrer Fantasie weiter mit Antonio Neckar. Sie träumte von einer friedlichen Existenz in einem kleinen Haus und von einem Ehemann, der in der Waffenfabrik arbeitet und dem sie Sandwiches macht. Bis eines Tages ein englischer Soldat das Versteck der Waffe fand und Mattie verzweifelt alles daran setzte, diese Waffe, diese Geschichte und diesen Traum für sich behalten zu dürfen. Sie tat etwas Ungeheuerliches, rang mit dem Soldaten um die Waffe und wurde erschossen. Als sie zusammenbrach, rief sie "Antonio" ... . ATMO... Song von Agnes Obel ... Erst Jahrzehnte später traf die Erzählerin der Geschichte in einem Museum auf das gleiche Waffenmodell und erfuhr: Oberndorf A. Neckar heißt übersetzt Oberndorf Am Neckar. ATMO... Song von Agnes Obel ... da hinein ... Zitator Was geschah Dir Kind - mit goldenem Haar - was geschah damals - ich war nicht da -// - Du ranntest so wild - du lachtest so hell - wie plötzliche Sonne - und ergriffst mich schnell - // - Doch dann kam ein andrer - und hat dich betört - mit schmeichelndem Lachen - Du hast ihn erhört - // - Du bist ihm gefolgt - tief in den Wald - im Dunkeln sah niemand - die Wolfsgestalt - Sprecherin Typisch für irische Erzähler ist die distanzierte Selbstironie, mit der sie die tragischsten Schicksale darstellen. Hier blicken die Menschen gern hinter die Kulissen, hinter das, was glänzt und glauben, besser als alles andere zu sein. Irisch sein heißt darum immer auch bewusst anders sein als Zeitgeist und Moden es wünschen. Gegenüber dem eleganten englischen Gentleman gab man sich Jahrzehnte lang betont bäuerlich und auch heute setzt sich einer, der sich als waschechter Ire versteht gern von den neuen Yuppies ab, die der Wirtschaftsboom auf die Insel geschwemmt hat. "Der typische Ire" in den Jahren des Booms - so die Schriftstellerin Marian Keyes - war "einer aus Galway". Galway ist die Gegend, aus der Nora Barnacle , die Frau des weltberümten irischen Schriftstellers James Joyce stammte. Sie stand für viele Joyc'sche Frauenfiguren, vor allem für Molly Bloom aus seinem Roman Ullysses, was die westirische Region Galway zum Inbegriff alles Ur-irischen machte. Zitator Um als einer aus Galway zu gelten, musste man nicht aus Galway sein, es war eine Art Ober- begriff für Menschen, die Falafel, flauschige Pullover und Festivals mochten - Musikfestivals, klar, aber auch Comedy-Lyrik-Bierfestivals... alles zählte. Sprecherin schreibt Marian Keyes in ihrem Roman Der hellste Stern am Himmel Zitator Solange es mit Schlamm und Bier zu tun hatte, war es ideal. Für "einen aus Galway" bestand das perfekte Wochenende, sozusagen sein Utopia darin, bei einem Antiglobalisierungsmarsch mitzumachen, von der Polizei verprügelt zu werden und zusammen mit einer Dreierbande von Demonstranten des harten Kerns aus Genua in eine Arrestzelle geworfen zu werden. "Die aus Galway" waren Entbehrungen gewohnt, sie schliefen bei ihren Freunden auf dem harten, kalten Fußboden und ließen manch irisches Wort in ihre Unterhaltung einfließen. Sie waren stolz darauf Iren zu sein, auch wenn einige von ihnen eigentlich keine Iren waren. Sprecherin Die 1963 geborene Marian Keyes ist Irlands populärste Schriftstellerin. Sie schreibt nicht nur dicke Romane, sondern auch viele Serien fürs Fernsehen. In ihnen geht es um alles, was das Alltagsleben in Irland ausmacht: um Drogen, Ehedramen, um Gewalt gegen Frauen, um Depression und Alkohol. Um all das, was Marian Keyes selbst durchgemacht hat. Doch ihre Geschichten sind nicht tragisch, düster oder hoffnungslos. Mit einer deftigen Brise Ironie und Wortwitz beschreibt sie, wie man aus diesen Höllen des Alltags aussteigt. Und genau das macht sie so populär. Wie in dem Youtube-Clip, in dem sie mit ihrem typischen kindlichen Charme vor genau der Alkoholabhängigkeit warnt, der sie selbst einmal erlegen war. Zuspiel Marian Keyes Englisch Ich war ein Teenager, als ich anfing zu trinken. Ich verliebte mich sofort in den Alkohol, er war die Liebe meines Lebens und ich war bereit, dorthin zu gehen, wohin er mich führen würde. Und ich war auch bereit, alles dafür aufzuopfern. Ich war ständig bedroht, meine Arbeit zu verlieren, ich war suizidgefährdet und wie alle dachte ich, ich trinke, weil ich unglücklich bin und wenn das vorbei ist, dann höre ich von alleine auf. Natürlich war ich noch eine Frau, die sich um ihr Äußeres kümmerte, trotzdem war ich bereits eine Alkoholikerin Sprecherin Marian Keyes war ein sehr schüchternes und auch ein sehr ängstliches Mädchen. Das beschreibt sie sehr lebendig am Ende ihres ersten Romans Wassermelone. Zitatorin Schon in sehr jungen Jahren machte ich mir Sorgen über alles, aber auch wirklich alles. Bis auf den heutigen Tag ist es das erste, was ich morgens tue - noch bevor ich die Augen aufschlage. Mit sieben Jahren hatte ich solche Angst, zu spät zur Schule zu kommen, dass ich eine Zeitlang vollständig angezogen zu Bett ging und mein Nachthemd darüber trug. Sprecherin Vierzehn Jahre war sie alt, als sie anfing regelmäßig zu trinken. Und sie trank bis sie 30 war, einen mittelmäßigen Studienabschluss absolviert und in London vergeblich versucht hatte, als Juristin eine Anstellung zu finden. Zitatorin Sechs Wochen lang war ich arbeitslos, und der Teil meines Ichs, dem es Spaß machte, so zu tun, als wäre er erwachsen, freute sich darüber. Es war für mich ein neues Erlebnis, auf den Markt zu gehen und angefaultes billiges Gemüse zu kaufen. Oder im Supermarkt Käsereste zu herabgesetzten Preisen, oder die auf dem Magnetstreifen meiner Wochenkarte gespeicherte Gültigkeitsdauer zu manipulieren, damit ich mir keine neue kaufen musste, wenn sie abgelaufen war. Und natürlich unanständige Summen für Alkohol auszugeben. Das änderte sich nie. Dann bekam ich eine Anstellung. Allerdings war es nicht das, was ich mir vorgestellt hatte. Niemand wollte eine junge Frau mit irischem Jura-Examen beschäftigen. Und niemand wollte eine Mitarbeiterin haben, die in Irland in der Verwaltung gearbeitet hatte. Also wurde ich Kellnerin in einem sehr coolen Lokal namens Videocafé. Sprecherin Damals begann sie zu schreiben, das heißt alles zu beschreiben, was sie erlebte und fühlte. Und sie hatte damit Erfolg. Marian Keyes fühlt wie sie spricht und spricht wie sie schreibt, alles kommt direkt vom Herzen. Heute arbeitet sie in der Verwaltung einer Hochschule für Architektur, ist verheiratet und schreibt einen dicken Wälzer nach dem anderen. Schreiben ist ihre Freizeitbeschäftigung. Den Alkohol hat sie mittlerweile durch Schokolade ersetzt. Angeblich isst ist sie davon vier Tafeln am Tag. Das Plädoyer dafür ist auch im Youtube zu finden, unter Marian Keyes on chocolate. Zuspiel Marian Keyes Englisch Schokolade produziert die gleichen Glückshormone wie die Liebe, nur dass sie viel unkomplizierter ist. Stellen Sie sich einmal vor, alle Menschen würden im gleichen Augenblick Schokolade essen, tja dann hätten wir in diesem Moment alle die gleichen Gefühle, wir würden unsere Arme weit ausbreiten und uns umarmen und alle Kriege und Streitereien wären beendet ... . ATMO sie spricht weiter, wird abgeblendet und irische Musik wird eingeblendet. Da hinein Zitator "Ich möchte wissen, wer es gewesen ist, der den Menschen als vernünftiges Tier definiert hat. Der Mensch ist vielerlei, aber er ist nicht vernünftig." Sprecherin schreibt der Ire Oscar Wilde in seinem Roman Das Bildnis des Dorian Grey und drückt damit aus, was für viele in Irland gilt: Das Leben ist hart und kurz und der Mitmensch meist ein gefährliches Untier, unberechenbar und dunkel, bestenfalls mysteriös und dem Teufel verschrieben. Da es heute jedoch keinen Teufel mehr gibt, bleibt nur noch die nackte Kriminalität. Und die hat seit dem Wirtschaftsboom der neunziger Jahre enorm zugenommen, erklärt Niamh O'Connor, Kriminaljournalistin und Bestsellerautorin aus Dublin. Zuspiel Niamh O'Connor Englisch Als wir in den achtziger Jahren von einer Rezession direkt in einen Boom kamen, sind einige wirklich übergeschnappt. Das kann man schon sagen. Die Menschen haben das schnell verdiente Geld weder gespart noch investiert, sie haben es einfach ausgegeben. Und man gewöhnte sich an diese andere Art zu leben. Schon zu dieser Zeit hatten wir viele Männer und Frauen aus der Mittelklasse, die plötzlich ihre Ehepartner umbrachten, aus Karrieregründen oder weil sie sich scheiden lassen wollten. Statt den Ehepartner zu verlassen und sich mit der Hälfte zufrieden zu geben, brachte man den anderen einfach um. Diese Leute fanden, dass Teilen unter ihrer Würde wäre und dass sie das Recht darauf hätten, ein möglichst profitables Leben zu führen. Sprecherin Niamh O'Connor ist die bekannteste Kriminaljournalistin Irlands, eine Art irische Lisa Marklund. Wie diese arbeitet sie in erster Linie als Kriminaljournalistin und sie hat auch schon sechs Sachbücher über wahre Verbrechen herausgegeben. Ihr erfolgreichstes Buch heißt "Opferspiel" und erscheint in diesem Jahr auch in Deutschland. Ihre Tage verbringt die heute Vierzigjährige im Dubliner Strafgerichtshof neben der Anklagebank. Sie führt Interviews mit der Polizei, mit den Opfern, den Tätern und den Angehörigen beider Seiten. Seit zwanzig Jahren taucht sie tief in die Welt des Verbrechens ein und kämpft für ein Neben-klagerecht für Verbrechensopfer, die das Glück hatten, ihr Martyrium zu überleben. Zitatorin Die Angehörigen der Opfer oder die Opfer gelten als Zeugen und müssen vor Ge- richt aussagen. Dabei müssen sie oft selbst mit anhören, unter welch grausamen Bedingungen andere gestorben sind. Doch ein Familienmitglied, das vor Kummer und Entsetzen aufschreit oder in irgendeiner Form dagegen protestiert, kann wegen Missachtung des Gerichts in einer Verwahrzelle abgeführt und dort festgehalten werden, bis es sich für sein Verhalten entschuldigt hat. Dafür bin ich wie Jo Birmingham der Meinung, dass die Opfer und deren Familie das Recht bekommen sollen, als Nebenkläger auftreten zu dürfen, was ihnen diese Prozeduren ersparen würde. Sprecherin Jo Birmingham ist die Protagonistin in der Kriminalgeschichte Opferspiele. Sie ist eine alleinerziehende Mutter und Kommissarin, die eine Folge brutaler Morde in der Stadt aufklären muss, die sich alle um die Entführung eines kleinen Mädchens ranken und bloßlegen, was die irische Gesellschaft bis in die höchsten Sphären der Politik an Seilschaften und Korruptionsaffären zu bieten hat. Nicht zufällig wählte Niamh O'Connor für ihre Geschichte eine Kommissarin . Sie möchte damit an die 1996 ermordete Veronica Guerin erinnern. Denn deren Tod hat sie überhaupt erst zur Kriminaljournalistin werden lassen. Zuspiel Niamh O'Connor Englisch Ich war eigentlich Reporterin für eine Abendzeitung, als eines Tages ein Kollege anrief und mir von einem Mord erzählte. Ich sagte ihm, es sei für diese Nummer zu spät und er meinte aber, die Geschichte sei sehr wichtig. Das Opfer hieß Veronica Guerin und sie war Kriminaljournalistin, Man hatte sie ermordet, weil sie über bestimme Verbrechen berichtete. Seither setze ich mich mit dem, was sie geschrieben hat, intensiv auseinander und auch mit der Frage warum sie dafür sterben musste. Ihr Tod hat hier im Land viel ausgelöst, es gab neue Gesetze und auch der Blick der Menschen auf Verbrechen veränderte sich. Verbrechen sind heute in den Medien genauso wichtig wie Politik. ATMO ... Regen ... alte keltische Klänge ... da hinein Sprecherin Doch wo ist das "alte" Irland? Das der verrauchten Pubs, der lausig kalten Tage , der Irisch sprechenden Rotschöpfe, der dampfenden Suppen, der Piratentruhen und Trinkpokale ? ATMO ... in einem Pub, viel Lärm, da hinein rezitiert Aifric Mac Aodha ihr Gedicht Dieses Irland gibt es heute noch, dort, wo die Insel noch ist, wie sie immer war: Uneinnehmbar grün, moorig, windig und endlos weit. Von daher stammt Lyrikerin Aifric Mac Aodha. Mit ihren langen dunklen Haaren und ihrer schmalen Erscheinung wirkt sie wie eine Fee, die nun im geräuschvollen Pub der Hauptstadt versucht ein wenig Irisches in die Moderne zurückzuholen : Zwischen Pint trinkenden Touristen und alten Damen, die sich in Begleitung ihres Schoßhündchens zur Tea-Time treffen, während schwitzende Bedienungen versuchen, möglichst schnell zu den ständigen in die Höhe schnallenden Zeigefingern zu gelangen. ATMO ... in einem lauten Pub ... Zuspiel Aifric Mac Aodha Englisch liest eines ihrer Gedichte vor ... da hinein irische Klänge ... da hinein die Zitatorin Zitatorin Für die Ratte war sie gedacht - doch in der bleichen Morgensonne - inmitten von Blumen und Gräsern fand ich statt ihrer einen Vogel - gefangen und tot. Zuspiel Aifric Mac Aodha Englisch Diese Zeilen sind dem Tode meiner Eltern gewidmet, die kurz hintereinander gestorben sind. Mein Vater hatte Krebs und meine Mutter starb noch vor ihm an einem Herzinfarkt. Ich war damals 19 Jahre alt. Meine Eltern waren beide sehr mit der irischen Sprache verbunden, mein Vater stammte aus Belfast und er ging dann sogar noch weiter in den Norden, um dort zu leben, wo man noch Irisch spricht. Er verfiel dieser Sprache, er war richtig in sie verliebt. Er war Professor für Geographie und hat sogar seine wissenschaftlichen Bücher auf Irisch veröffentlicht. Und er hat auch Gedichte auf Irisch verfasst. Ich habe seine ganzen Gedichte gesammelt und sie jetzt herausgegeben. Sprecherin Aifric Mac Aodha hat irische Literatur studiert und arbeitet gerade an einem neu geplanten Englisch-Irischen Wörterbuch mit. Daneben ist sie Redakteurin für das irische Literaturmagazin Comhar. Das Irische - so erzählt sie - verliere leider weiterhin an Bedeutung. Selbst Nordirland hat nun mit England Frieden geschlossen und vielen Iren ist es mittlerweile eigentlich egal, ob diese Sprache überlebt oder nicht. Zuspiel Aifric Mac Aodha Englisch Wenn ich sage, dass ich für eine Irisch sprachige Literaturzeitschrift arbeite, reagieren die wenigsten darauf neutral. Entweder schlagen sie mir auf den Rücken und erklären mir, wie sie selbst zur Sprache stehen oder sie reagieren abweisend. Gut, man kann in der Schule Irisch lernen, aber nicht alle Iren sind damit einverstanden. Sicherlich wird diese Sprache nie ganz verschwinden, aber ich glaube absolut nicht daran, dass das Irische eines Tages als Landessprache an die Stelle des Englischen treten wird. Sprecherin Und so ist das irische Schicksal auch heute noch vielschichtig und nicht nur in Nord und Süd gespalten. Im tiefsten Innern brodelt das Altkeltische, nach außen haben sich die Iren mit ihrer anglo-sächsischen Zugehörigkeit abgefunden, im Geiste blicken sie nach Europa. Oder wird ihr Weg immer der gleiche sein? Zitator Hier draußen im Moor hat sich vermutlich seit Jahrhunderten nichts verändert. Wir wandern über den Rücken der Erde, über das weite, braune Achill, das mit hochgezogenen Schultern dem Wind trotzt, und die Schultern heißen Silvermore und Minaun. Die Häuser liegen hinter uns. Hier draußen gibt es keine Autos. Keine Menschen. Keine Telefonleitungen. Und wir hören nichts, nichts außer dem Wind, der unablässig in unseren Ohren braust. ATMO ... irische Musik QUELLENANGABEN Autor Titel des Buches Verlag Ersch . Jahr Übersetzer Lyrik/ Hugo Hamilton Die redselige Insel Luchterhand 2007 Henning Ahrens Prosa Hugo Hamilton Legenden Random House GmbH 2010 Henning Ahrens Prosa Gerard Whelan War Children The O'Brien Press Dublin 2003 Prosa Marian Keyes Der hellste Stern im Himmel Heyne Verlag 2010 Susanne Höbel Lyrik und Prosa Marian Keyes Wassermelone Heyne Verlag 1995 K.Schatzhau ser Prosa Oscar Wilde Das Bildnis des Dorian Grey Anakonda- Verlag 2007 Meike Breitkreutz Prosa Niamh O'Connor Opferspiele Diana Verlag 2012 Karin Diemerling Prosa 2