Deutschlandradio Kultur, Zeitfragen 13. Mai 2013, 19 Uhr 30 150 Jahre SPD Vorwärts in die neue Zeit? Ein Feature von Heiner Dahl. O-Ton 1 a Ausschnitt Sound Imagefilm SPD Stimmen (Musik) Die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben schon den Anspruch die Welt zu verändern, so groß sich das auch anhört. Dieser ständige Glaube daran, dass Gesellschaft immer weiter entwickelt werden muss, dass es möglich sein kann, ein besseres Leben für alle zu erzielen. Wenn Du was verändern willst, was besser machen willst, da musst Du nicht warten, bis irgendwer kommt und das macht, da musst Du selbst anfangen. (Musik) O-Ton 1b Steinbrück Ich will mit Augenmaß unseren Gestaltungsanspruch für eine Wir-Gesellschaft wahrnehmen. Dafür steht die SPD. Dafür stehe ich. (Beifall) Sprecher Die älteste Partei Deutschlands in einem ganz besonderen Jahr. Ansage: 150 Jahre SPD Vorwärts in die neue Zeit? Ein Feature von Heiner Dahl. Atmo Fest Essen Einen wunderschönen guten Abend meine Damen und Herren, auch einen wunderschönen Abend liebe Genossinnen und Genossen. Sprecher Die SPD veranstaltet quer durch die Republik Empfänge und Feste zu ihrer außergewöhnlich langen und facettenreichen Geschichte. Im Jubiläumsjahr präsentiert sich die Partei als Bewegung für Freiheit und soziale Gerechtigkeit. Sprecher 2 Der feierliche Blick auf die Parteigeschichte. Atmo Landtag Düsseldorf/Begrüßung durch MP Kraft Ausstellungseröffnung Liebe Frau Landtagspräsidentin, ich grüße auch ausdrücklich die Genossinnen und Genossen… Sprecher Nordrhein-Westfalens Landtag in Düsseldorf Mitte April. Wie in vielen anderen Städten zeigt die SPD auch hier die Wanderausstellung „150 Jahre deutsche Sozialdemokratie." Bei der Eröffnung ist die SPD-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft ganz im Einklang mit dem, was sie mit der Geschichte der Partei verbindet. O-Ton 2 Kraft Wichtig ist mir, dass deutlich wird mit diesem Jubiläum, welch lange Geschichte die Sozialdemokratie hat in Deutschland und dass sie dabei immer ne klare Linie verfolgt hat: Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Sprecher Die NRW-Parteivorsitzende im sprichwörtlichen „Stammland der Sozialdemokratie“ verweist auf eigene Erfahrungen. Sie habe selbst mitbekommen, dass die stolze SPD aus vielen beschwerlichen Etappen hervorgegangen und daran auch stetig gewachsen ist. O-Ton 3 Kraft Als ich Parteivorsitzende wurde und Jubiläen gefeiert habe, 100-jährige Ortsvereine, und mir dort gezeigt wurde, wie die Geschichte des Ortsvereins war, was das bedeutet hat, dass viele unserer Mitglieder verfolgt wurden, auch dafür getötet wurden, dass sie diese Themen vertreten haben, dass sie sich für die Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern eingesetzt haben, für die Rechte von Frauen. Das ist etwas, was mich tief berührt hat und was mich auch nicht mehr loslässt. Und wir sind die einzige Partei – darauf sind wir stolz – die auch nie ihren Namen hat ändern müssen. Sondern wir sind seit 150 Jahren die Sozialdemokratie und das wollen wir auch weiter sein. Sprecher Die vom Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung erarbeitete Ausstellung zeigt wichtige Wegmarken. Sie gibt Auskunft über mutige Entscheidungen. Etwa die Ablehnung des „Ermächtigungsgesetzes“ der Nazis 1933, die neue Ostpolitik Anfang der 70er Jahre und die Aussöhnung mit Polen und anderen osteuropäischen Staaten. Die Ausstellung verschweigt aber auch Brüche und Niederlagen der Partei nicht. Etwa die Bewilligung der Kriegskredite 1914, die grundrechtseinschränkenden Notstandsgesetze 1968 oder die Auseinandersetzungen um die Sozial- und Arbeitsgesetzgebung ab 1998.Viel Raum nehmen große SPD-Persönlichkeiten ein – darunter Otto Wels, Kurt Schumacher und besonders prominent Willy Brandt. Auffallend zurückhaltend bleibt sie zu zeitgenössischen SPD-Granden. Warum? O-Ton 4 Kraft Jede Zeit braucht ihre eigenen Antworten, hat Willy Brandt mal gesagt und jede Zeit braucht auch ihre eigenen Persönlichkeiten. Heute wird anders Politik gemacht als zu Zeiten von Willy Brandt. Es sind andere Merkmale erforderlich. Die Probleme sind nicht einfacher geworden, aber sie sind vielleicht sogar komplexer geworden. Und darauf braucht man andere Antworten. Volkspartei zu sein heißt immer den Blick auf alle zu lenken. Wir haben uns ja entwickelt von dem Arbeiterverein Ferdinand Lasalle bis hin zur Volkspartei. Und das sind Schritte, die haben Strukturen verändert und auch verändern müssen. Sprecher Kann es sein, dass sich traditionelle Leitwerte der Sozialdemokratie auf ihrem langen Weg von politisch Verfolgten über diffamierte „vaterlandslose Gesellen“ bis hin zur Regierungspartei teilweise auch abgeschliffen haben? Dass heutige SPD-Größen diese Leitwerte deshalb nicht mehr wie vor Zeiten repräsentieren? O-Ton 5 Kraft Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität sind auch der Leitfaden für dieses Wahlprogramm zur Bundestagswahl. Gerechtigkeit, da geht es um Arbeitsmarkt. Die Frage auch der Löhne, des Mindestlohns ist eine Frage von Gerechtigkeit, aber auch von Freiheit. Freiheit heißt ja heute auch teilhaben können. Und das betrifft viele Bereiche. Gerechtigkeit auch in der Wirtschaft. Auch das ist Blickpunkt der SPD, natürlich auch Gerechtigkeit eine Frage von Steuern. Und da haben wir einiges noch zu leisten in den nächsten Jahren. Das heißt unsere Ziele sind die gleichen, aber die Ziele haben wir immer noch nicht vollständig erreicht. Sprecher Beim Blick auf die Schautafeln der Ausstellung fällt eine tiefgreifende Zäsur in der Parteigeschichte auf. Unter der fett gedruckten Überschrift „Der Preis des Regierens“ wird das Zerwürfnis zwischen Bundeskanzler Gerhard Schröder und dem damaligen Parteivorsitzenden Oskar Lafontaine 1999 ebenso thematisiert wie die spätere Agenda 2010. Die szenisch aufbereiteten Hinweise dazu veranschaulichen, wie sehr dieses Reformprogramm die SPD erschüttert hat. Zig Tausend Mitgliederaustritte und grandiose Stimmenverluste bezeugen es allein schon in Zahlen. Die Agenda-Politik hat der SPD aber auch in ihrem ureigenen politischen Revier massive strukturelle Probleme beschert. Erst mit der „Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit“ und nach deren Fusion mit der PDS zur neuen Partei „Die Linke.“ Der Aderlass an Parteimitgliedern und Anhängern offenbart sich in großen Teilen als „Fleisch aus dem Fleisch der SPD.“ Viele Gewerkschafter und linke Sozialdemokraten haben die Partei Richtung „die Linke“ verlassen. Die wiederum hat vor allem die Agenda-Reform genutzt, um der SPD dauerhaft Konkurrenz auf dem Feld „soziale Gerechtigkeit“ zu machen. Der Text unter dem Parteiemblem „Die Linke“ und die dazu abgebildeten Personen bezeugen das unmissverständlich. Grund genug zu fragen, ob mit der Agenda-Politik der Regierung Schröder die SPD nicht auch traditionelle Leitwerte und Zielvorstellungen der Sozialdemokratie relativiert oder sogar aufgegeben hat. O-Ton 6 Kraft Das muss man heute gar nicht mehr kommentieren, Agenda 2010. Heute haben wir schon 2013. Mich interessiert die Zukunft. Und über die Zukunft und was die SPD will und wofür sie steht, darüber reden wir. Da haben wir die richtigen Ziele. Wenn ich das sehe, man die Bürgerinnen und Bürger befragt in Meinungsumfragen, da sind wir auf dem richtigen Weg. Sprecher Kann es sein, dass Ort und Anlass feierlicher Selbstdarstellungen nicht dazu geeignet sind, ernüchternde Parteierfahrungen auch nüchtern zu beurteilen? Dass SPD-Spitzenpolitiker im Amt unangenehme Themen wie „Agenda 2010“ lieber meiden? Sprecher 2 Der Blick auf die Partei von oben. O-Ton 7 Nahles Für mich ist die Grundidee der SPD, dass man ein selbstbestimmtes Leben führen kann, dass man nicht unterdrückt werden kann, dass man - ja - der Autor seines eigenen Lebens wird. Dafür hat die SPD über alles hinweg, über Kaiserreich, über Naziherrschaft, gekämpft und insoweit, ist die SPD die eigentliche Freiheitsbewegung. Wir haben immer gesagt, Freiheit ist nicht nur Freiheit von Unterdrückung, Fremdherrschaft. Es ist auch immer Freiheit zu. Und zu einem selbstbestimmten Leben braucht es auch den staatlichen Rahmen. Das heißt für uns, Freiheit hat Bedingungen. Und diese Bedingungen, die muss auch ein Staat, organisieren, dafür muss es auch Ressourcen geben. Also Geld. Deswegen ist die Partei SPD am Ende eine Partei von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität und das sind die drei zentralen Werte, die auf allen Bannern, alten und neuen Fahnen der SPD zu finden sind. Sprecher Generalsekretärin Andrea Nahles. Maßgebliche Mitautorin des derzeit geltenden SPD-Parteiprogramms von 2007. Kopf und Stimme des aktuellen SPD-Wahlprogramms 2013. Beide Dokumente propagieren die Grundwerte des demokratischen Sozialismus. Sie stellen soziale Gerechtigkeit als Leitwert heraus, heben die Vision einer freien, gerechten und solidarischen Gesellschaft als dauernde Aufgabe hervor und bezeichnen die soziale Demokratie als „Prinzip des Handelns.“ Wie vereinbart sich das mit wichtigen Weichenstellungen der Hartz IV Gesetze und der Agenda-Reform? O-Ton 8 Nahles Wir haben auch Fehler gemacht. Und einer der entscheidenden Fehler in der Agenda-Zeit war, dass wir an der doch recht erstarrten Arbeitsmarktlage in Deutschland Kritik hatten, ich glaube, es war notwendig auch, das zu flexibilisieren. Aber: Wir haben es übertrieben an einigen Stellen. Zum Beispiel im Bereich der Leiharbeit. Und ein anderer Fehler war sicherlich, dass wir auch im Bereich der Hartz-IV-Gesetzgebung den Rückgriff auf das Ersparte der Leute gemacht haben. Das sind keine großen Summen, die die Menschen haben. Das Vermögen ist in Deutschland ja ganz klar verteilt. Das haben ganz wenige an der Spitze der Gesellschaft. Das widerspricht auch sozusagen dem Grundgefühl, das die Menschen haben, wir haben uns was zurückgelegt für schlechte Zeiten und dann war das auf einmal sofort weg. Sprecher Gerhard Schröder wollte mit der Agenda-Reform die Kosten des Sozialstaats senken. Aber viele Mitglieder und Anhänger der SPD haben sie zuerst als Reform auf Kosten des Sozialstaats empfunden. Weil die Sozialabgaben nicht mehr paritätisch zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer bezahlt wurden. Weil die Arbeitslosenhilfe abgeschafft und mit der Sozialhilfe auf einem niedrigeren Niveau zusammengelegt wurde. Weil die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes auf zwölf Monate verkürzt wurde. Weil jeder nicht offensichtlich sittenwidrige Job angenommen werden musste. Weil durch Hartz IV jeder Arbeitsplatzverlust schnell zur existenziellen Bedrohung wurde. Zusammen mit den Steuerreformen der Schröder-Regierung veränderte all das die innere Balance des Sozialstaats. Der Staat entlastete Unternehmer und Spitzenverdiener. Der Staat entlastete sich selbst bei den Ausgaben für Arbeitnehmer, Arbeitslose und Arme. Belastet hat es bis heute die SPD. Weil Mitglieder und Anhänger ihre Ideale in der Partei nicht mehr repräsentiert sehen? O-Ton 9 Nahles Die Leute reagieren in der SPD empfindlich, wenn sie das Gefühl haben, dass an unseren Grundwerten gewackelt wird.Und sie haben Teile der Agenda als nen Angriff auf diese Grundwerte empfunden. Und dass sie darauf allergisch reagiert hat, die SPD, das find ich eigentlich ein gutes Zeichen. Das heißt nämlich, dass sie selber weiß, was sie will, dass die Partei durchaus ein Gefühl dafür hat, was ein Sozialdemokrat an Werten auch vertreten sollte. Sprecher Ein großes Plus der Sozialdemokratie war immer ihr fester Wertefundus. Voran die von der Aufklärung und der Französischen Revolution propagierten Ideale Freiheit, Solidarität und sozialer Gerechtigkeit. Dass diese vermeintlichen „Ewigkeitswerte“ der Sozialdemokratie unter den Druck kurzfristigen SPD-Regierungshandelns gerieten, zudem mit „Basta-Rhetorik“ und erklärter Alternativlosigkeit von oben relativiert wurden, hat tiefe Wunden im Innenleben der Partei geschlagen. Bis heute? O-Ton 10 Nahles Es war über Jahre weder möglich, dass man das kritisiert, was schlecht gelaufen ist, es war umgekehrt in der Partei aber auch nicht möglich, die Agenda zu loben. Und ich glaube, beides können wir heute, nach dreieinhalb Jahren, wo Sigmar Gabriel und ich auch eine pragmatische Erneuerung in der SPD eingeleitet haben, tun. Dieses Thema spaltet die SPD nicht mehr, sondern wir sind da mittlerweile mit uns selbst wieder im Reinen, wir sagen: Einiges war falsch, anderes war richtig. Sprecher Kann es sein, dass SPD-Spitzenpolitiker ihr Sensorium für tiefe Verwerfungen innerhalb der Partei nicht auf „scharf“ gestellt haben? Dass SPD-Politiker an der Basis diesen überhaupt nicht entkommen können? Sprecher 2 Der Blick auf die Partei von unten. O-Ton 11 Blaskowski Einen wunderschönen guten Abend meine Damen und Herren, liebe Genossinnen und Genossen. Ich freue mich dass ihr zu unserem Frühlingsfest erscheinen seid…. Sprecher 40 Kilometer Luftlinie von Düsseldorf entfernt. Sylvia Blaskowski, Vorsitzende des SPD-Ortvereins in Essen-Katernberg begrüßt rund 100 Gäste. Freunde und Anhänger der SPD sitzen neben Partei-Funktionären von Stadt, Kreis und Stadtteilen. Das Durchschnittsalter im Saal liegt deutlich sichtbar über der Pensionsgrenze. O-Ton 12 Blaskowski Wir haben uns überlegt, dass die große alte Dame SPD auch mal ein Frühlingkleid bekommen könnte und nicht immer/ein Herbstkleid oder so. Sprecher Sylvia Blaskowski offeriert ein warm-kaltes Büfett, Essener Traditionsbier und gute Laune mit der Show einer Gruppe mit Ruhrpott-Programm. Ihr Angebot zum Festjahr der Partei hört sich kaum nach jubiläumsfröhlicher Zuversicht an. O-Ton 13 Blaskowski Sie wird 150 Jahre, ist schon ein wunderbares Alter und die große SPD in Berlin hat gesagt, okay feiern wir dann auch die 150 Jahre. Atmo Saal Essen-Katernberg, spärlicher Applaus Sprecher Die Stimmung im Saal wird dem freudigen Anlass nicht gerecht. Dafür redet SPD-Volkes Stimme hier und da Klartext. Allerdings immer mit eingebautem Selbstschutz „unter der Hand.“ Genau gesagt, mit der Hand auf der Mikrofonoberfläche. Einer fühlt sich bei der SPD an den Zustand erinnert, mit dem Ärzte Herzinfarkte definieren und meint, davon werde sich die Partei lange Zeit nicht erholen. Ein anderer macht sich mit Galgenhumor Gedanken darüber, ob man eine neue Arbeitsgemeinschaft gründen solle: „Sozialdemokraten in der SPD". Wieder andere sagen, ihnen sei ihre Partei irgendwie abhandengekommen. Die Stimmungsberichte zeugen von viel Pessimismus und wenig Optimismus. Können Stimmungsberichte auch Lageberichte sein aus dem wahren Leben in einer ursozialdemokratischen Kernregion? O-Ton 14 Blaskowski Wir sind ja hier in der Herzkammer. Aber hier im Essener Norden, gerade hier, die Menschen sind ja ganz stark betroffen worden, ich sag das jetzt mal, knallhart erwischt worden von der Agenda 2010. Und das kriegen wir natürlich auch zum Teil dann von einigen Leuten, um die Ohren geschlagen, dass die SPD damals die Agenda 2010 durchgesetzt hat. Aber viele Menschen hier nehmen nicht wahr, dass wir ja gerade für diese Menschen die Politik machen. Und dass wir ja quasi an deren Seite stehen. Sprecher Sylvia Blaskowski sitzt nach dem Ende ihres Frühlingsfestes mit vier SPD-Mitstreitern ziemlich unfröhlich am langen Tisch des Festsaales. Alle sind viele Jahre dabei, alle sind stolz auf die große Geschichte der SPD. Aber alle verströmen auch einen Hauch von Tristesse. Für Margot Ackermann, Kinder- und Jugendbeauftrage der SPD in der Bezirksvertretung Essen sind es konkrete Erfahrungen aus einer bescheidenen Gegenwart. O-Ton 15 Ackermann Das ist natürlich für uns sehr unbefriedigend, wenn wir am Info-Stand stehen und viele gehen vorbei. Wir hatten jetzt zum Beispiel hier die Osteraktion, dass wir dann Ostereier verteilen, auf die Leute zugehen und sagen: Also die SPD Katernberg wünscht Frohe Ostern. Nein, ich nehm kein Ei. Also da merken wir natürlich bei vielen früheren Anhängern der SPD, dass das so nachwirkend ist, dass viele dann sagen, nee, dann wählen wir nicht mehr die SPD, dann gehen wir zu den Linken. Musik/Effekt Sprecher 2 Der Blick zurück im Zorn. Oder: Wie die SPD werden sollte, aber nicht werden wollte. O-Ton 16 Lafontaine Erwiesenermaßen setzen sich die Interessen der Gesellschaft nicht durch. Und damit müsste sich die heutige Sozialdemokratie konfrontieren. Dann käme sie irgendwann zu dem Punkt, dass die Machtverteilung eine andere geworden ist. Und dass sie selbst eben mit verursacht hat in den letzten Jahrzehnten, dass diese Machtverteilung einer demokratischen Gesellschaft im Wege steht. Und wenn die Interessen der Mehrheit sich nicht durchsetzen, dann ist sie auch nicht sozial. Denn sozial ist es ja nicht, Löhne zu kürzen oder soziale Leistungen zu kürzen oder Renten zu kürzen, wie wir es in ganz Europa beobachten können. Sprecher Oskar Lafontaine sieht die Sozialdemokratie ganz grundsätzlich auf Abwegen. Der einst beliebte Vorsitzende, der die Partei von 1995 bis 1999 führte, ist mit seinen Vorstellungen zur politischen Grundausrichtung der SPD gescheitert. Sein persönliches Zerwürfnis mit Gerhard Schröder bezeichnet er im Vergleich mit der großen SPD-Geschichte als nachrangig. Nicht so etwas zähle, sondern, dass die Partei seit Schröders Politikschwenk zur bürgerlichen Mitte nicht mehr im Einklang mit ihren Leitwerten stehe. Für Lafontaine zeigt sich am banalen Beispiel, dass die Partei weit weg ist von ihren sozialdemokratischen Wurzeln. O-Ton 17 Lafontaine Die Menschen müssen das Gefühl haben, dass sie überhaupt noch verstanden werden. Und wenn dann Sätze gesagt werden wie beispielsweise früher von Kanzler Schröder, jetzt auch von Kanzlerin Merkel: Deutschland geht es gut. Dann wissen eben die Leute, die Leiharbeit haben oder die eben Aufstocker sind oder im Niedriglohnsektor sind oder befristete Arbeitsverträge haben oder nur Minijobs haben, die wissen dann, dass die da oben überhaupt nicht mehr zur Kenntnis nehmen, was eigentlich passiert. Weil der Satz „Deutschland geht es gut“ ist ein fürchterlich dummer Satz, weil man sofort ja die Frage stellen muss: Wer ist Deutschland? Sprecher Kann man rund acht Millionen Menschen, die im Niedriglohnbereich arbeiten, nicht mehr zu Deutschland zählen, weil es ihnen offenkundig nicht gut geht? Mangelt es der heutigen Sozialdemokratie an glaubwürdiger Rückbesinnung auf die Interessen ihrer Stammklientel? Musik instrumental: Wann wir schreiten Seit an Seit Sprecher Beim großen Fest in Leipzig am 23. Mai, dem Datum der Parteigründung vor genau 150 Jahren, feiert die SPD ihre große Geschichte mit allen Granden. Mit der einzigen Ausnahme: Oskar Lafontaine, der 2005 zur Linkspartei wechselte, wird nicht dabei sein. O-Ton 18 Lafontaine Ich glaube, dass es sicherlich ein Zeichen von Souveränität wäre, wenn man sagen würde, wir sind in der Lage, auch dann Vorsitzende einzuladen, wenn sie sich von der Partei entfernt haben aus politisch-inhaltlichen Gründen. Aber man kann das ja auch historisch zusammenbinden. Ich glaube, wenn die SPD mal wieder lernen würde, dass etwa Rosa Luxemburg oder Karl Liebknecht, dass das langjährige Sozialdemokraten waren. Dann hätte sie wieder die Chance vielleicht, zu der ursprünglichen sozialdemokratischen Programmatik zurückzufinden: Soziale Gerechtigkeit ist die Voraussetzung einer demokratischen Gesellschaft. Sprecher Der SPD-Markenkern „soziale Gerechtigkeit“ ist der Essener SPD-Basis zum alles entscheidenden Lackmustest geworden. Für ihre Arbeit vor Ort und für ihre persönliche Auseinandersetzung mit der Partei. O-Ton 19 Schönberger Auch ich hab das so empfunden, dass das eigentlich nicht mehr meine SPD ist, was da gelaufen ist und deswegen meine ich, es ist seit einiger Zeit schwierig, für die Sozialdemokraten klar zu machen, was ihre Schwerpunkte sind, wir können immer wieder sagen, das sind unsere Werte. Wir wollen, dass eben nicht zum Beispiel Bildung für Kinder und Jugendliche von der wirtschaftlichen Situation der Eltern abhängig ist. Wir wollen Fehler, die wir in der Agenda gemacht haben, wir wollen das verbessern, weil wir sehen, es ist ganz was anderes rausgekommen. Es ist eben nicht die Solidarität und nicht die Gerechtigkeit und nicht die Chancengleichheit für alle. Und ich glaube, das ist auch die Chance für die SPD, dass sie zugeben, dass sie sich in den letzten Jahren ein Stück weit von diesen Grundwerten auch entfernt haben in ihrer Politik. Und da ist es ganz wichtig, dass das glaubhaft bei den Leuten ankommt. Sprecher Sigrid Schönberger, ehemaliges Stadtratsmitglied, heute im Vorstand des SPD-Ortsvereins Essen-Katernberg. O-Ton 21 Franz Wir kümmern uns um jede Straße, um jeden Kindergartenplatz, um jede Schule. Das muss die Partei auf Bundesebene auch wieder für sich reklamieren, dass sie die Kümmerer sind für die kleinen Leute, die nicht das große Geld haben, wo es Schwierigkeiten gibt, dass die SPD wieder diese Partei wird, wie sie es gewesen ist, auf Bundesebene. Sprecher Michael Franz, für die SPD Essen-Katernberg im Stadtrat. Eine Momentaufnahme. Sicher nicht repräsentativ für die Gesamtpartei. Aber in einem doch ziemlich aussagekräftig. Gestandene Sozialdemokraten ringen mühsam um Anschluss an bessere Zeiten. Hier in Essen wiegt das besonders schwer. Hier hatte die SPD immer Wahlergebnisse weit über dem Bundesdurchschnitt und oft sogar über der 60-Prozentmarke. Bei der letzten Bundestagswahl 2009 landete man dann bei gerade noch 39 Prozent. Einer aus der Runde sagt: strandete man. Keiner hier hat allzu große Hoffnung, schnell wieder aus dem Allzeit-Tief herauszukommen. Aber keiner lässt erkennen, dass veränderte gesellschaftliche Rahmenbedingungen auch neue politische Konzepte und Strategien erfordern. So verharrt man seit Jahren im Stillstand. Silvia Blaskowski sagt, in ihrem Ortsverein seien gerade noch 138 SPD-Mitglieder dabei. Und wirklich aktiv seien nur noch ganz wenige. O-Ton 22 Blaskowski Um das jetzt mal in aller Deutlichkeit zu sagen: Das ist ein hartes Geschäft. Wir haben wenig Zulauf. In einem Jahr vielleicht ein bis zwei Mitglieder, wenn überhaupt. Wir haben leider Gottes mehr Sterbefälle als Zuläufe. Es ist einfach so ja, es ist ein wirklich, ein mühsames Geschäft, wenn ich das jetzt mal so sagen darf. Wir, ich weiß auch keine Lösung dafür. Sprecher Zu Hochzeiten sei in Essen alles besser gewesen. Hier habe man früher wie von selbst die Leute zur SPD gebracht. Nach dem Muster: Hier hast Du einen Arbeitsvertrag, hier hast Du den Gewerkschaftsantrag und hier den SPD-Mitgliedsantrag. Heute müsse man Bürger ganz ohne solche unwiderstehlichen Angebote davon überzeugen, die SPD würde sich mehr als andere für kleine Leute einsetzen. Aber gerade das komme diesen nicht mehr an. O-Ton 23 Blaskovski Ich hätte manchmal mehr auch, dass ein Politiker, der ein Stückchen weiter oben sitzt, auch noch weiß, dass wir die Basis sind, dass wir im Grunde genommen die Politik machen für die Leute, die da oben sitzen, weil, wenn es uns nicht gäbe, säßen die nicht da oben. Wenn wir nicht den Leuten die Politik hier vor Ort nahe bringen würden, gäbe es keinen Sigmar Gabriel und es gibt keinen zukünftigen Bundeskanzler Peer Steinbrück. Musik-Effekt Sprecher Der Ausblick auf die Macht. Atmo Saal Augsburg, Jubel Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Gäste. Sprecher Augsburg am 14. April 2013. O-Ton 24 Steinbrück Ich beginne ich mit dem Schluss: Ich will Kanzler der Bundesrepublik Deutschland werden.(Klatschen…) Sprecher Peer Steinbrück kann nach diesem Anfang mit seiner Rede ziemlich genau zwei Minuten nicht weitermachen. Die Delegierten umjubeln ihren Kanzlerkandidaten mit stehenden Ovationen. Atmo Saal Augsburg, Jubel O-Ton 25 Steinbrück Vielen Dank! Langsam, langsam! (……….) Ich will aber nicht deshalb Kanzler der Bundesrepublik Deutschland werden, weil es für mich persönlich wichtig ist, sondern weil ich mit Euch gemeinsam vieles in unserem Land wieder ins Lot bringen möchte. Sprecher Peer Steinbrück gibt sich alle Mühe, seiner Rolle als SPD-Hoffnungsträger für die Regierungsübernahme in Berlin gerecht zu werden. O-Ton 27 Steinbrück Es ist nicht cool, dass Zeitarbeiter teilweise bis zu 40 Prozent weniger verdienen als gleich qualifizierte festangestellte Kollegen. Sprecher Das Zeitarbeitsthema ist nur ein besonders krasses Beispiel für das generelle Dilemma der SPD und ihres Kanzlerkandidaten. Peer Steinbrück gilt vielen als Mann, der den SPD-Schwenk zur bürgerlichen Partei unter Schröder maßgeblich mitgestaltet hat und der selbst seit Jahren als Sozialdemokrat fürs gehobene Dasein auftritt. Und das nicht erst durch seine Millioneneinkünfte als politischer Auftragsredner oder seine Absage an Weine unter 5 Euro. O-Ton 28 Steinbrück Ich will mit Augenmaß unseren Gestaltungsanspruch für eine Wir-Gesellschaft wahrnehmen. Dafür steht die SPD. Dafür stehe ich. Sprecher Im Jubel von Augsburg dient Peer Steinbrück die traditionelle Werteskala der SPD fast vollständig ab. Und verbindet sie mit den dazugehörigen politischen Forderungen. Für gesetzlichen Mindestlohn, für bessere Bildungschancen für Einkommensschwache, für bezahlbare Mieten. Gegen die Einkommens- und Vermögensschere zwischen Reich und Arm, gegen Steuerflucht, gegen Arbeits- und Rentenarmut. Und dennoch. Peer Steinbrück und die SPD verharren im Zustimmungstief. Demoskopen geben der Partei irgendwo zwischen 24 und 28 Prozent Stimmenanteil. Dem Kanzlerkandidaten zudem extrem schlechte Beliebtheitswerte im direkten Vergleich mit Angela Merkel. Sogar bei ihrem zentralen Leitwert „soziale Gerechtigkeit“ liegt die SPD inzwischen bei Umfragen knapp hinter der Union. Während politische Kommentatoren darüber staunen, macht Peer Steinbrück böse Medien dafür verantwortlich. Dass die für ihn zu einem Gutteil schuld an seinem schweren Stand beim Wahlpublikum sind, beweist der Klartextredner mit eindrucksvollen Kostproben. O-Ton 29 Steinbrück, zwei Fragesteller Fr: Herr Steinbrück, wie bewerten Sie ihren Anteil an den derzeitigen Umfragen? St: Gar nicht. Fr: Herr Steinbrück, kann einer Kanzler werden, der kein Glück hat so wie Sie? St: Ja. Sprecher Einsilbig-schräge Einlagen dieser Art haben zwei Hauptreaktionen hervorgerufen. Sie sind zu lustigen Bestandteilen von Satire und Kabarett geworden und zu unlustigen Markenzeichen des Kanzlerkandidaten beim Publikum. Offenbar wollen sich nur wenige vorstellen, solche Verhaltensweisen nach der Bundestagswahl als Kanzler-Kabinettstückchen präsentiert zu bekommen. Musik instrumental Die Gedanken sind frei darüber Sprecher Kann es sein, dass des Kanzlerkandidaten eingeforderte Beinfreiheit für die Bewegungspartei SPD zur Fessel wird? Dass immer dann, wenn die SPD mit ihren großen Idealen punkten will, die Identitätsfalle zuschlägt? O-Ton 30 Steinbrück Deutschland, liebe Genossinnen und Genossen, ist es immer gut gegangen, wenn Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten regierten, und zwar, weil es immer Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten waren, die soziale Gerechtigkeit und eine florierende Wirtschaft zusammengedacht und zusammengebracht haben. Absage: 150 Jahre SPD Vorwärts in die neue Zeit? Ein Feature von Heiner Dahl. Es sprachen: Joachim Schönfeld und Ulrich Lipka Ton: Thomas Monnerjahn Regie: Stefanie Lazai Redaktion: Constanze Lehmann Produktion: Deutschlandradio Kultur 2013 16