COPYRIGHT Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Es darf ohne Genehmigung nicht verwertet werden. Insbesondere darf es nicht ganz oder teilweise oder in Auszügen abgeschrieben oder in sonstiger Weise vervielfältigt werden. Für Rundfunkzwecke darf das Manuskript nur mit Genehmigung von Deutschlandradio Kultur benutzt werden. Deutschlandradio Kultur Deutschlandrundfahrt Jenseits der Documenta - Die nordhessische Provinz rund um Kassel Von Barbara Wiegand Sendung: 09. Juni 2012, 15.05 Uhr 2 Kennmelodie Autorin Alle fünf Jahre steht die Stadt Kassel im Focus - zumindest in der nationalen und internationalen Kunstszene. Denn alle fünf Jahre findet hier die Weltkunstschau Documenta statt. Ein Anlass für uns, sich einmal rund um Kassel umzuschauen - auf der Suche nach Kunst und Kultur. Gibt es sie oder nicht? Ist sie eher provinziell, oder trägt das weltoffene Flair der Documenta auch über die Stadtgrenzen hinaus? Ist sie in der Region verwurzelt, oder wirkt sie aufgesetzt? Die Antworten auf diese Fragen sind vielfältig - genauso vielfältig wie das, was es an Kunst und Kultur zu entdecken gilt. Von der märchenhaften Vergangenheit, über malerische Traditionen bis hin zu alternativen Lebensentwürfen und kulturellen Initiativen. Nichts davon ist bunt, schillernd. Der Nordhesse macht nicht viel Aufhebens um das, was das Land und seine Leute zu bieten haben. Vieles ist über Jahre, ja Jahrhunderte gewachsen. Anderes hat sich seine besonderen Nischen gesucht - an den Grenzen zwischen Kunst, Kultur, Geschichte und Natur. (Kennmelodie) Spr. v. D.: Jenseits der documenta - Die nordhessische Provinz rund um Kassel Eine Deutschlandrundfahrt von Barbara Wiegand 3 Atmo 1 Rattern Auto über Kolonnenweg O-Ton 1 Autorin/Sander Also war dann hier durchgängig ein Zaun noch? Ja da vorn. Da vorn war der Grenzzaun. Hier sind die mit ihren LKWs lang. Dazwischen dann noch die Hunde. Und Minenfeld und alles so was. Autorin Karin Adam und Sandrino Sandinista Sander sind auf dem ehemaligen Todesstreifen entlang der innerdeutschen Grenze unterwegs, der durch das Naturschutzgebiet Dreiherrenstein-Eschenberg-Kreutzerberg führt. Der Geländewagen der beiden rattert über die Betonbohlen des alten Kolonnenwegs, der sich am Rand der einst verminten Schneise durch den Wald zieht. Atmo 1 Rattern O-Ton 2 Sander Die Musik, die wir hören, dass finde ich ja interessant, das Fahrgeräusch gekoppelt mit dem Auf und Ab, das ist die Auswirkung der DDR. Autorin Zum dumpfen Rattern in den Ohren gesellt sich bald ein beklemmendes Gefühl im Magen. Denn hier hat sich die Natur noch lange nicht ihr angestammtes Terrain zurück erobert. Auch wenn viele Tiere und Pflanzen, die durch die Grenzanlagen zurückgedrängt wurden, hier mittlerweile wieder heimisch sind. 4 Luchs und Wildkatze kehrten zurück, Uhu und Graureiher haben sich angesiedelt. Aber der Grenz-Streifen ist nicht zu übersehen, zieht sich mitten durch den Wald, als Zeichen der deutsch-deutschen Teilung. O-Ton 3 Adam ....die Bäume sind auch noch gar nicht hoch, noch sehr deutlich ne. ..... Atmo 2 Archiv Vögel-Wald Autorin Am Rande dieser Schneise, ein Stück in den Wald hinein, verläuft ein kleiner Weg. Früher patrouillierte der Bundesgrenzschutz auf diesem schmalen Pfad. Heute scheinen durch die Bäume hindurch Stelen, auf deren Spitzen kleine Figuren postiert sind. Grob aus Holz heraus geschnitzt passen sie sich der Umgebung an - und irritieren doch, wie sie über den Betrachter hinweg zum Waldrand blicken. O-Ton 4 Adam/Sander "Zaungäste" oder so heißt es ne? Genau "Zaungäste" von Georg Janthur aus Wuppertal, alte Eisenbahnschwellen verwendet, oben gleich mit diesen Figuren ausgeschnitten, die gen Osten gucken, also ne alte Situation, die Grenze steht noch und sie schaun' rüber und so stehen sie hier in einer Reihe und lauern auf den Moment der Öffnung, was ja dann auch passiert ist... Autorin Janthurs Skulpturengruppe ist eines der Kunstwerke, die entlang des einstigen Todesstreifens stehen. 5 Der frühere Kontrollweg der Westdeutschen Grenzer ist ein Teilstück des Wanderwegs X8, auch Barbarossaweg genannt, der über 332 Kilometer vom nordhessischen Korbach zum Kyffhäuser in Thüringen führt. Mehr als 40 Jahre lang wurde er von der innerdeutschen Grenze unterbrochen. Nun ist er ein Stück weit identisch mit dem Weg der Deutschen Einheit und wird immer mehr zum Kunstwanderweg. Schon vor Jahren hatten Karin Adam und Sandrino Sandinista Sander die Idee, gehen und sehen auf diese Weise zu verbinden O-Ton 5 Sander Wandern muss man gut finden. Kunst muss man gut finden. Wir kennen ja unsere Landschaft, die ist toll, und in Verbindung mit Kunst ist das sensationell, das haben wir dann begonnen 2001 am Heiligenberg, Felsberg, Gensungen. Gott sei Dank war da auch ein Restaurant und die hatten gleich im ersten Jahr um die 20tausend Leute dort. So was spricht sich rum und so wurde der Weg länger und länger. Autorin 220 Kunstwerke haben Karin Adam und Sandrino Sander mit Hilfe der eigens gegründeten Stiftung Ars Natura seither aufgestellt - zwischen Bad Wildungen und Treffurt. Und je näher der X8 auf dem bisher fertig gestellten Teil des Kunstwanderweges der ehemaligen Grenze kommt, desto mehr beschäftigen sich diese Werke mit dem Thema Trennung und Wiedervereinigung. Das tun sie nie massiv und augenfällig, sondern eher unauffällig, angepasst an die Natur. Zwischen Buchen, Eichen, Fichten und Eiben tauchen sie fast beiläufig am Wegrand auf. Etwa das aus kleinen Holzstäben geformte "&- Zeichen", das eine Künstlerin auf dem Waldboden ablegte - als nach der Wiedervereinigung überflüssig gewordenes Zeichen der Aufteilung zwischen DDR & BRD. 6 Oder der Stein-Kreis - aus Hunderten von Brocken geschaffen, die der Künstler Hama Lohrmann im nahen Steinbruch gefunden hat. Er hat den Stein-Kreis durch einen Baumstamm in zwei Halbkreise geteilt. O-Ton 6 Adam Ist ja auch Unterschlupf für Eidechsen oder andere Tiere. Er denkt da auch durchaus an die Natur und nennt es der Region entsprechend Ringgau Kreis. Denn wir befinden uns hier im sogenannten Ringgau-Kreis. Und er hat es einfach mal so genannt. Atmo 2 Vögel Wald noch mal hoch Autorin An die Tierwelt haben auch andere Künstler gedacht. Einige Kilometer von dem Stein-Kreis entfernt steht etwa ein Vogelhaus am Rande einer kleinen Lichtung - genauer gesagt ein Taubenschlag, den einmal echte Brieftauben nutzen sollten - auf ihrem Flug von West nach Ost O-Ton 7 Sander/Adam Hier oben sind wir schon fast im Urwald. Das zieht sich jetzt rüber bis zum Heldrastein. Und Fundamente setzen ist hier sehr schwierig und artfremdes Material durften wir eh nicht benutzen. Warum auch, was hat Plastik hier zu suchen. Und von daher haben wir auch keine Probleme mit Hessen Forst oder so. Hier ganz wenige Meter entfernt da beginnt quasi dieses Urwaldgebiet ja, da fallen die Bäume um und bleiben auch so liegen. Und dort haben wir auch kein Kunstwerk gesetzt. Denn der Urwald soll quasi unberührt bleiben und das Taubenhaus steht quasi an dessen Rand. Autorin So sind die meisten der Land-Art Objekte aus Holz oder Stein. Einige aber auch aus Stahl. Wie die Figur, aufgestellt in der Nähe des kleinen Ortes Rührda im Osten Nordhessens, von wo aus der Weg in Richtungen Thüringen führt. Sie wirkt seltsam zerborsten und doch irgendwie zusammen gewachsen. 7 O-Ton 8 Sander/Adam Der Künstler Markus Elhardt hat hier zum Thema Wiedervereinigung gearbeitet. Das Werk heißt "Getrennt - Vereint" Man sieht eine Figur auseinandergeschnitten und scheinbar wieder zusammengearbeitet, zusammen geschweißt. Was ich spannend finde ist, dass er zunächst erst eine Figur gearbeitet hat, so wie Deutschland früher auch ein Deutschland war. Und dann sich herangemacht hat, die Figur zu zerschneiden und dann wieder zusammenzusetzen. Man weiß nicht genau, ob die genau wieder so zusammenwachsen, wie es früher war, sicher nicht, sondern es wird etwas Neues entstehen, Und das ist im Prinzip das, wie es mit Deutschland geschehen ist. Es ist etwas Neues entstanden, zwei Staaten mussten sich aufeinander zu bewegen und sind immer noch dabei. Und er hat das symbolisch überzeugend dargestellt, finde ich Autorin Während wir die langsam vor sich hinrostende Figur betrachten, kommt ein Mann mittleren Alters vorbei. Er führt eine Gruppe durch den Wald, den er zum Teil bewirtschaftet wie er uns erzählt. Rainer Weishaar ist sein Name und zu der Skulptur, hier im Zonenrandgebiet, weiß er sofort etwas zu sagen O-Ton 9 Weishaar Ich bin hier groß geworden. Ja, es wurde häufig gesagt, dass man am A...der Welt wohnt sozusagen. Wir haben Verwandtschaft in Thüringen und die Verwandtschaft ist während der Trennung auch immer aufrecht erhalten worden. Mein Pate etwa - ich bin 1961 noch vor dem Mauerbau geboren - mein Pate stammt aus Thüringen. Da ist die Verwandtschaft gepflegt worden. Das Gefühl beim Überschreiten der Grenze habe ich noch durchaus im Magen bewusst. Das war wirklich unangenehm. Autorin Und auch den Fall der Grenzbefestigungen wird der Forstmann wohl nie vergessen. Denn in den Novembertagen '89 war er im Nordhessischen, am Hohen Meißner unterwegs. Ein Bergplateau, das viele Thüringer nach der Öffnung der Grenze auf ihrem Weg nach Kassel passierten - der nächstgelegenen Großstadt im Westen. 8 O-Ton 10 Weishaar Zum Thema Wiedervereinigung habe ich vielleicht noch ein Erlebnis - am 10. November hatten wir eine Jagd am Hohen Meißner. Und da stand die Jagdgesellschaft zusammen und da tuckerte von Velmeden ein Trabi, der quälte sich den Berg hoch, morgens um halb neun und wir standen da in der Jagdgesellschaft vom Forstamt Bad Sooden Allendorf zusammen. Und aus dem Trabi kamen so fünf Leute meines Kalibers raus und die waren überrascht, dass da überall bewaffnete Leute rumstanden. Und ich bin auf die zugegangen und gefragt: wo kommt ihr denn her? Und sie meinten aus Kassel, wir haben gestern im Radio gehört die Grenze ist offen - konnten wir nicht glauben - und wir sind hingefahren und die haben uns durchgelassen! Und wir sind nach Kassel und in die Kasseler Innenstadt. Und da ham wir noch ein bisschen hin und her geschnuddelt und die Jagdcorona kam dazu und dann ham wir noch gefragt, was sie vorhaben und dann haben wir noch unter den Jägern den Hut rumgehen lassen, weil die hatten ja keine Kohle dabei. Nur Ostmark. Ja, war ein Erlebnis, was sich bei mir auch gut eingebrannt hat Autorin Wie Trennung und Wiedervereinigung die Region geprägt haben, dass kann man gut vom Dreiherrenstein aus betrachten. Der Aussichtspunkt ist einer der Stationen am Kunstwanderweg X8, an der Grenze zwischen Hessen und Thüringen. Von dort oben hat man einen guten Blick auf die Dörfer, die rechts und links der Werra liegen. Wie eine Schlange windet sich der Fluss durch das Tal. Früher verlief an seinen Ufern - ja teilweise mitten im Wasser - die innerdeutsche Grenze. O-Ton 11 Sander Hier sind wir an einem ganz wichtigen Platz. Der Aussichtspunkt am Dreiherrenstein. Gleich neben der ehemaligen Grenze. Mit dem Blick ins Tal runder. Hier sieht man Großburschla und so weiter und den alten Grenzverlauf. Die Werra sieht man und bis zum Horizont die Tafelberge. Da vorn ist der Westen und auf dieser Seite der Werra das Örtchen da unten war früher Osten gewesen, Großburschla. Der Grenzverlauf ist ganz seltsam 01 MUSIK 9 Autorin Fährt man vom ehemaligen Zonenrandgebiet in Richtung Süden, stößt man auf einen Ort mit einer erstaunlichen Kunst-Geschichte: Das "Malerdorf Willingshausen" - die vielleicht älteste Malerkolonie Deutschlands. Gelegen im Schwalm-Eder-Kreis, rund 50 Kilometer südlich von Kassel. Vor fast 200 Jahren gegründet, unter anderem von Ludwig Emil Grimm, Bruder der Märchensammler Jacob und Wilhelm Grimm. O-Ton 12 Geißel Unsere Wurzeln sind in 1814, denn da war Ludwig Emil Grimm und Gerhardt von Reutern das erste Mal in der Natur gesessen und haben gemalt. Das Malerstübchen wie auch die Gemeinde sind Mitglied in EuroArt - der Vereinigung europäischer Malerkolonien. Und da hat der Generalsekretär bei der 800 Jahr Feier in Willingshausen gesagt, ja, wenn das schon 1814 losging, dann seid ihr die älteste in Malerkolonie Europas. Ich bin da vorsichtig mit. Aber immerhin haben hier die ersten Maler...wenn man den Anspruch nicht auf Malerkolonie sondern auf Maler-Dorf nehmen würde, dann hätte das durchaus Berechtigung. Denn hier sind die Maler Saisonweise hergekommen, die haben hier keine Häuser gehabt und sind Jahrelang hier gewesen. Autorin Erzählt Helmut Geißel, Vorsitzender des "Malerstübchen" - einem Verein, der an die "Kunstgeschichte" des Dorfes erinnern will. Im Inneren der Vereinsräume ist alles noch so, wie es früher einmal war: ein altes Sofa, Fotos und Gemälden an den Wänden. Der kleine Raum ist ein Nachbau des Malerstübchens im früheren Dorfgasthof. Dort avancierte er schon bald nach Gründung der Malerkolonie um 1830 zum Künstlertreff. Hier kamen die Künstler abends zusammen, um sich bei dem ein oder anderen Getränk über ihr "Tagwerk" auszutauschen. Über die Bilder, die sie meist unter freiem Himmel malten - vom Land und seinen Leuten. 10 Atmo 3 Kirche Von den sanften Hügeln, den Wiesen und Wäldern. Den Gärten mit knorrigen alten Bäumen, den Feldsteinkirchen und Fachwerkhäusern. Und von den Menschen, die dort lebten - in ihren Alltags - oder Festtagstrachten. Denn das waren die Motive, die wohl die meisten Künstler hierherzogen, in den Schwalm-Eder Kreis im Norden Hessens. Sie waren fasziniert von den Frauen und Männern, die als Bauern oder Handwerker sehr traditionsbewusst lebten. Was sich vor allem an den Trachten zeigte. Für jeden Anlass gab es die passenden Farben, die passenden Kopfbedeckungen. Und je reicher man war, desto mehr Aufwand wurde betrieben. O-Ton 13 Geißel Landschaft und Tracht. Auch der Menschenschlag. Wenn sie sehen, die alten Schwälmer, dass der Schwälmer mit langen Haaren, was ja ungewöhnlich war. Und dass die Frauen bis zu 14 Röcke trugen. Und wenn sie da, ein Hochzeitspaar. Die Braut konnte sich von morgens bis abends nicht setzen, so ein Rockschmuck war da am Körper- Also das war schon außergewöhnlich. Autorin Und in der Tat - wenn man die Bilder in dem kleinen Museum betrachtet, von Willingshausen und den Willingshäusern, in ihren Trachten und mit ihren Traditionen, dann wird schnell klar, dass die Kunst, die hier entstand, meist mehr war als Heile-Welt-Folklore. Zeichnungen und Ölgemälde von Hochzeiten, aber auch von Todesfällen. Der Blick in die engen Dorfgassen, auf zart schraffierten Skizzen, mit den dicht an dicht stehenden, manchmal krummen und schiefen Fachwerkhäusern. Idyllisch - und offenbart doch auch die Einfachheit des Lebens. 11 Und die Portraits der Bauern, der Schäfer und kleinen Handwerksleute: sie zeigen immer wieder wahre Charakterköpfe. Gesichter, vom Landleben geprägt, manchmal etwas müde, oft sehr markant geschnitten mit einem ernsten und würdevollen Ausdruck. Mehr als 300 Künstler kamen über die Jahre in die Kolonie, um zu malen und zu zeichnen. Darunter mancher, dem man einen solchen "Arbeitsausflug" auf's Land nicht zugetraut hätte O-Ton 14 Geißel Dadurch dass Ludwig Knaus mit seinen Studenten von Düsseldorf her kam und Carl Bantzer, der ja ein Kind der Schwalm ist, der kam mit seinen Studenten von Dresden hierher und da waren Schüler dabei wie Kurt Schwitters, wo man alles glauben würde nur nicht, Schüler des Trachtenmalers von Carl Bantzer. Und Schwitters hat auch gesagt: Ich konnte Bantzer nicht leiden, aber bei ihm habe ich am meisten gelernt. Und auch Konrad Felixmüller, Expressionist, war hier, da lebt die Enkelin noch, die noch ein Schwälmer Bild hat. Also mit Schwälmer Trachten. Mit der ich selbst in Verbindung stand und das Bild mal ausleihen wollte, aber da war man zu ängstlich letztendlich. Was ich auch verstehen kann. Autorin Auch heute kommen noch Künstler ins Schwälmer Dorf. Es gibt Kurse für Hobbymaler und ein Stipendium für Nachwuchs-Künstler. Anja Köhne ist die jüngste Stipendiatin der Gemeinde Willingshausen. Sie ist gerade dabei, einige Papierabzüge an die Wand zu pinnen. Es sind Fotos aus Willingshausen, auf denen sie erste Eindrücke ihrer neuen Umgebung festgehalten hat - auf ihre ganz besondere Weise. Denn auf den ersten Blick haben die Vierecke und Diagonalen, die man darauf sieht, nichts mit dem Schwälmer Dorf zu tun. Ja, sie sind auch weit entfernt von den Landschafts- und Trachtenbildern einstiger Malerkolonisten. Beim näheren Hinsehen erkennt man aber, dass es sich sehr wohl um Ansichten des Dorfes handelt. Denn sie hat die Straßen und Gassen des Fachwerk-Dorfes fotografiert. Die großen Höfe, die kleinen, schmal und dicht aneinander gereihten Häuschen. 12 Nicht etwa in ihrer ganzen urigen Schönheit, sondern sie hat einzelne Stützen, Streben und Schwellen aufgenommen - mit dem verputzen Gefach dazwischen. Diese "Fassadenausschnitte" erinnern dann an abstrakte Bilder. O-Ton 15 Köhne Das ist auch meine Arbeitsweise, dass ich Dinge um mich herum erstmal auf mich wirken lassen. Und dann versuche, eine Bedeutung darin zu finden, die über die eigene Bedeutung des Dings drüber hinaus geht. Dass es eben nicht eine rein dokumentarische Fotografie ist, sondern in Richtung symbolische Fotografie ist. Das sind keine Fotomontagen, sondern ganz normale Fotografien, nur vielleicht mit einem ungewöhnlichen Ausschnitt oder so. Das gehört halt dazu, das ist auch Willingshausen. Das einfach abzubilden wäre zu wenig. Ich versuche damit zu spielen und in der Art und Weise dem Fachwerk vielleicht auch noch ein anderes Gesicht zu geben Autorin Die 27jährige Absolventin der Kunsthochschule Kassel hat aber nicht nur fotografiert, sondern auch Postkarten verteilt. Als Teil des Projektes, das sie in den drei Monaten ihres Stipendiums durchführen will. Dabei sollen die Dorfbewohner auf den Karten notieren, was sie für sie fotografieren soll - und die Postkarten mit den Wünschen drauf in die blau weißen Briefkästen werfen, die Anja Köhne im Ort aufgehängt hat. O-Ton 16 Köhne Ich wünsch mir quasi von den Dorfbewohnern, dass sie mir auf den Karten einen Fotoauftrag geben. Das kann etwas ganz konkretes sein. Wie das auch schon öfter der Fall war. Einer hat etwa geschrieben: Am Sonntag ist eine Ausstellung - ich denke die soll fotodokumentiert werden. Ich werde das aber auf eine künstlerische Art und Weise lösen. Der Auftrag kann aber auch was ganz abstraktes sein. Ich habe etwa zwei Begriffe bekommen, die eine sehr große Herausforderungen sind. Und zwar ist eines über Gehen und eines über Glück. Und das ist natürlich als Fotoauftrag schon komplizierter, schon kompliziertere Aufträge, die mich sehr fordern. 13 Autorin Über Auftragsmangel kann die Künstlerin nicht klagen. Im Gegenteil, viele würden die Karten ausfüllen. Denn die Willingshäuser seien es offensichtlich gewöhnt, dass immer mal wieder ein "Künstler reinschneit und seltsame Dinge macht", meint Köhne lachend. Sicher war die "Integration" ins Dorfleben aber auch deshalb so gut, weil Anja Köhne wie die anderen Stipendiaten im Ort wohnt. Und zwar im "Hirtenhaus", in dem früher Schäfer übernachteten, wenn sie mit ihren Herden durch die Schwalm zogen. Die niedrigen Decken, die kleinen Stuben und Fenster, die bunt bemalten Öfen, das traditionelle Schwälmer Geschirr - an all dieses "heimelige" musste sich die Künstlerin erstmal gewöhnen. Und seinen Reiz entdecken O-Ton 17 Köhne Ja das ist das Gute glaube ich, dass man hier so was geborgeneres, gemütliches hat, weil vieles heutzutage in der Kunst auch recht kühl und minimiert irgendwie funktioniert. Das ist ein schöner Gegensatz. Und spannend auch wenn man sich vorstellt, wie alt das Haus ist und wer hier schon alles war. Heute habe ich mal das Gästebuch durchgeblättert, allein in den letzten 30 Jahren waren hier interessante Leute. Künstler, Hobbykünstler, Urlauber. Wie die auch Willingshausen wahrgenommen haben. Und wenn man sich dann noch vorstellt, wie es vor 200 Jahren hier war. Also es ist auf jeden Fall ein Haus mit Geschichte, wo man auch ein bisschen ehrfürchtig ist teilweise 02 Musik Musikarchiv Von Soundtrack Fabelhafte Welt der Amelie Autorin Ludwig Emil Grimm, Mitbegründer der Malerkolonie "Willingshausen" im Schwalm-Eder- Kreis, bekam schon mal Besuch von seinen Brüdern Jacob und Wilhelm, den "Märchensammlern". Schließlich waren die Grimms gut mit den von Schwertzells bekannt, einem Adelsgeschlecht, das bis heute im Renaissanceschlösschen in Willingshausen wohnt, gleich neben der kleinen Feldsteinkirche. 14 Atmo 3 Kirche nochmal Autorin Hier, in der Schwälmer Region, im südlichen Teil Nordhessens gelegen, holten sie sich vielleicht auch die Inspiration für die Mär vom Rotkäppchen. Denn die Mädchen trugen früher solche roten Käppchen zu ihren Trachten. So war die Schwalm - wie die Landschaft genannt wird - eine der Stationen auf dem Weg der Gebrüder Grimm durch Nordhessen. Eine Tour auf den Spuren alter Märchen und Sagen, die sie auch zum Hohen Meißner geführt hat. Denn hier auf dem gut 750 Meter hohen Bergmassiv befindet sich der Legende nach der Zugang zum unterirdischen Reich der Frau Holle. Jene Frau aus dem Märchen von der Goldmarie und der Pechmarie, die in dieses Märchenreich der alten Frau Holle gelangen, und nach einigen Prüfungen auf die Welt zurückkehren - die faule Hässliche mit Pech bedacht, die fleißige Schöne reich beschenkt Zitator "Endlich kam das Mädchen zu einem kleinen Haus, daraus guckte eine alte Frau. Weil sie aber so große Zähne hatte, ward ihm angst, und es wollte fortlaufen. Die alte Frau aber rief ihm nach: "Was fürchtest du dich, liebes Kind? Bleib' bei mir, wenn du alle Arbeit im Hause ordentlich tun willst, so soll's dir gut gehen. Du musst nur Acht geben, dass du mein Bett gut machst und fleißig aufschüttelst, dass die Federn fliegen, dann schneit es in der Welt; ich bin die Frau Holle." O-Ton 18 Lenarduzzi Der Frau Holle Teich an sich, da gibt es verschiedene Ansichten. Viele sagen halt, der ist unermesslich tief dieser Teich. Und am Grund befindet sich ihr Schloss. Und Sonntagskinder würden hier ein Glöckchen hören - was sich biologisch auch begründen lässt. Denn hier gibt es den Glockenfrosch... Atmo 4 Glockenfrosch bzw. Geburtshelfer Kröte (im V-Speicher / Cybinski) 15 Autorin Marco Lenarduzzi, Leiter des Naturparks Meißner-Kaufunger Wald, steht am Ufer des sogenannten Frau Holle Teichs. Einem See auf einer kleinen Lichtung. Umwachsen von Rohrkolben, die sich leicht im Wind wiegen. Nur einmal taucht ein kleiner Fisch plätschernd an der Oberfläche auf. Hat er vielleicht schon mal das Tor zum Reich der Frau Holle durchschwommen und das silberne Schloss, die Blumenwiesen und Apfelbäume entdeckt, die es dort unten geben soll? Ob er auch der Frau Holle begegnet ist - und wie sie wohl aussah? Denn während sie im Märchen eine alte Frau ist, taucht sie in anderen Erzählungen als holde Schöne auf, die gern auch mal ein Bad im Teich nahm und dabei Reisende und Jäger verführte. Ja, manche Sage erzählt, sie stand unter dem besonderen Schutz der Göttin Hulda Zitator Martha, ein hübsches junges Mädchen aus Dudenrode am Meißner, heiratete den stärksten und schönsten Mann ihres Dorfes, der hieß Holle. So wurde sie Frau Holle genannt. Sie liebten einander sehr und waren glücklich, bis er zu trinken und spielen begann. Zuletzt verlor er alles Hab und Gut, ja, sogar seine Freiheit. Er wurde als Sklave in die Fremde verkauft. Martha Holle war nun allein, ohne Bleibe und sehr arm. Göttin Hulda hörte ihr Weinen und Klagen und nahm sie unter ihre Obhut. Sie schenkte ihr ein Zauberschloss mit einem wunderbaren Garten, voll Blumen und Obst und Gemüse. Das Schloss lag in der Tiefe eines schönen Waldteiches. In Göttin Huldas Namen wirkte Frau Holle segensreich in Feld und Flur und kümmerte sich besonders um arme Familien. Autorin Manche sahen in Frau Holle aber nicht nur eine Stellvertreterin, sondern die Göttin Hulda selbst. O-Ton 19 Lenarduzzi 16 Die Brüder Grimm die kamen ja relativ spät. Und vor der Christianisierung wurde Frau Holle am Hohen Meißner als Göttin verehrt. Und wir haben ihr da vorne auch eine Figur gewidmet, die viele etwas verwirrt, weil sie mit der älteren Dame und der Goldmarie und der Pechmarie nichts zu tun hat. Was sich vor der Christianisierung bis heute gerettet hat ist die Tatsache, dass man früher geglaubt hat, dass die Frau Holle in den Raunächten, also den Tagen zwischen Weihnachten und Neujahr, mit dem wilden Heer über den Meißner ritt und die verstorbenen Seelen des Vorjahres mitgenommen hat, auf der wilden Jagd zur Badestube geführt hat, das ist auf der Westseite des Meißners, dort in ihr unterirdisches Reich eingedrungen ist mit den verstorbenen Seelen und sie unter den Frau Holle Teich gebracht hat und da wurden die verstorbenen Seelen wiedergeboren. Autorin Diese legendären Geschichten haben hier, am Ufer des Sees, bis heute überlebt. Und so manches vorüberziehen sehen: Die Zeit, als man den steilen Abhang über dem Frau Holle Teich als Skisprungschanze nutzte, die mit Wollgräsern bewachsene Wiese als Auslaufzone. Skisport wird übrigens am Hohen Meißner bis heute betrieben - auf den Wiesen rund um das Naturfreundehaus. Hier findet sich auch der Gedenkstein, der vermerkt, wie der Hohe Meißner zu seinem Namen kam - denn das Bergmassiv trägt den Namen Hoher Meißner nicht wegen seiner gut 750 Meter Höhe O-Ton 20 Lenarduzzi Wir stehen hier am Gedenkstein für den Freideutschen Jugendtag. Der hat stattgefunden am 12. Oktober 1913. Damals haben sich hier mehrere Tausend Jugendliche getroffen und haben protestiert gegen Militarismus und die wieder kehrenden Feiern zur Leipziger Völkerschlacht. Und dieses Hohe Fest hat dazu geführt, dass der Meißner dann den Begriff Hoher Meißner trägt. Autorin Damals war der Bergbau am Hohen Meißner schon im vollen Gange. Auf diesem Berg wurden nicht nur Feste gefeiert, er war und ist nicht nur Märchenland, Wanderregion und Skigebiet, sondern er ist auch das älteste Braunkohlebergbaugebiet seiner Art in Deutschland. 17 Von 1560 bis 1974 wurde - mit Unterbrechungen - hier Braunkohle gefördert. Auf der Suche nach Brennstoff hat man während 400 Jahren das Basaltmassiv mit dutzenden Stollen durchzogen. O-Ton 21 Träger Die Wälder waren kahl geschlagen. Es war kein Holz mehr vorhanden, warum? Man hat geheizt, man hat Häuser gebaut, Erz geschmolzen, Salz gesiedet. Das war damals sehr wichtig, das war das weiße Gold der damaligen Zeit. Und das ging aber nur, wenn man Feuer hatte und das war schwierig weil keine Brennstoffe vorhanden waren. Insofern war es ein großes Glück, dass der damalige Salzgrebe von Sooden hier angefangen hat Bergbau auf Braunkohle zu betreiben. Nur der Obere Bereich des Flözes wurde abgebaut, das ist die Kohle die im Kontakt zum Feuerflüssigen Lava stand, die hatte so ähnliche Heizwerte wie Steinkohle. Die wurde Bergmännisch abgebaut, aber das war schwierig. Denn das waren ja keine Bergleute, sondern Bauern. Die haben zuerst die Stollen falsch angesetzt, so dass das am Anfang nicht so ertragreich war Autorin Erzählt Harry Träger, lange Jahre Bergmann am Hohen Meißner. Er steht vor einem der alten Stollen, die man heute nicht mehr betreten, in die man nur noch hineinsehen kann Atmo 5 Wasser O-Ton 22 Träger Das ist das sogenannte Stollenwasser, das aus dem Berg kommt. Der Stollen ist noch 70, 80 Meter begehbar, dann ist er verwahrt, wie die Bergleute sagen. Das heißt, man hat eine Mauer gesetzt. Nur unten hat man frei gelassen, damit das Wasser rauslaufen kann... Der Schwalbenthaler Erbstollen ist ein Bergmännisch in den Berg getriebenes Bauwerk, ca. 700 Meter lang. Und musste damals auch mit Wetter - sprich Atemluft versorgt werden. Und weil man keine Elektrizität hatte ging das nur über den physikalischen Weg. Das heißt, man musste Differenzen schaffen, Höhenunterschiede, so dass man den Schornsteineffekt erreichte. Zu dem Zweck hat man parallel zum Schwalbenthaler Erbstollen den Karlstollen angelegt, der oben drüber liegt und das dann verbunden, so dass man den Schornsteineffekt erreichte 18 Autorin Die Spuren des Bergbaus, der zunächst unter Tage stattfand, später über Tage, sind also bis heute noch am Hohen Meißner zu sehen. Und sie sollen auch erhalten bleiben. Manche Steilwand, manche Erhebung hier ist nämlich nicht natürlich entstanden, sondern abgebaut und aufgeschüttet worden. Etwa der Kalbesee, unter dem Kalbeplateau am Ostrand des Hohen Meißners gelegen. Ein Tagebaurestloch mit Grund und Regenwasser gefüllt, an dessen Ufer auf einer Seite eine Steilwand aufragt. Am Fuße dieser Steilwand stockt einem gar der Atem - denn hier brennt die Kohle - und ein beißender Schwefelgeruch macht sich breit O-Ton 23 Lenarduzzi Man sieht auch, dass das Ganze nicht so gesund ist, denn die Bäume dahinten sind abgestorben. Durch den Schwefel, der da austritt die ganze Zeit. Wenn man das jetzt hier betrachtet, dann ist das ein einzigartiger Ort. Wo die Kohle brennt, das gibt es eigentlich so gar nicht. Und festgehalten ist hier, dass die Kohle seit 400 Jahren brennt. Und der Bereich hier bis zum Schwalbenthal, wo das Bergbaudorf war, wurde früher die stinkenden Steine genannt, und später in den Karten als Stinksteinwand bezeichnet. Und die Kohle entzündet sich von selber, die hat also keiner angezündet, sondern Oxidation an der Oberfläche der Kohle genügen da. Da entzündet sich ein kleiner Punkt, da entsteht ein Glutnest. Und das wird immer größer. Autorin Das Feuer zu löschen, wäre viel zu aufwändig, meint Lenarduzzi. Allerdings kommt der Leiter des Naturparks Meißner-Kaufunger Wald regelmäßig hierher, um notfalls doch Alarm zu schlagen. Und auch, um zu sehen, was das Wanderfalkenpärchen macht, das sich in einem in der Steilwand aufgehängten Kästchen niedergelassen hat Atmo 6 Wanderfalke (V-Speicher / Cybinski) 19 Autorin Am Hohen Meißner kann man oft nicht mehr unterscheiden, was Halde ist, was natürlich entstandene Anhöhe. Denn immer wieder haben die Bäume ihre Wurzeln durch den Abraum geschlagen. Und wenn man die giftigen Nebel an der Stinksteinwand aufsteigen sieht, wenn man durchs Höllental wandert, wo einst auch nach Kohle gegraben wurde, oder in der Kitzkammer vielleicht der hohen weißen Frau mit dem mächtigen Schlüsselbund begegnet, die dort der Sage nach verkehrt, wenn man über den Kalbesee blickt oder in den tiefen Hollenteich - dann erlebt man auf dem Hohen Meißner diese bemerkenswerte Verbindung zwischen Bergbaugeschichte, Natur und Märchenwelt. 03 MUSIK Autorin Witzenhausen - eine Kleinstadt, gut zwanzig Kilometer entfernt vom Hohen Meißner in Richtung der nordhessischen Metropole Kassel gelegen. Umgeben von zahlreichen Kirschplantagen ist es eines der größten Kirschen-Anbaugebiete Deutschlands und im Frühjahr ein Blütenmeer, das viele Besucher anzieht. Seit Anfang des 19ten Jahrhunderts leben die Menschen hier inmitten von Kirschen, aber immer weniger von den Kirschen. Wie viele andere Bauern betreiben sie ihre Höfe nur im Nebenerwerb. Während sich also die konventionelle Landwirtschaft schwertut in der Region, erlebt die ökologische auch hier einen Aufschwung. Es gibt einige Biobauern - und damit einhergehend bisweilen auch alternative Lebensformen Atmo 7 Kühe 20 O-Ton 24 Rüther Das ist im Prinzip ein alter Aussiedlerhof aus den 60er Jahren. Hier unten die Tiere, oben die Scheune mit Stroh und Heu. Hier haben schon diverse Umbauten stattgefunden, während früher noch Anbinderhaltung war gibt es jetzt den Tretmiststall und wir haben noch fünf Hektar Wiesen, wo sie sich bewegen können. Das sind die Milchkühe Atmo 8 Schweinegrunzen O-Ton 25 Rüther Das ist die Schweinewelt. Das sind die Mastschweine, die so im Laufe des Jahres von uns gehen werden und das sind zwei Zuchtsauen mit jungen Ferkeln Autorin Christine Rüther ist auf einem Rundgang durch den Kuh- und den Schweinestall eines Aussiedlerhofes bei Niederkaufungen, nahe Kassel. Mit 20 Hektar Land gehört der Biohof zur Kommune Niederkaufungen, die sich vor 26 Jahren im zwei Kilometer entfernten Niederkaufungen in einem ehemaligen Gutshof angesiedelt hat. Der steht im Ortskern. Es ist ein großer Hof mit einem Spielplatz davor, für die Kinder der Kommunen-Kita, und einem alten Obstgarten dahinter. Dazwischen gruppieren sich mehrere Gebäude: Das alte Herrenhaus, in dem heute Seminare stattfinden, Lagerräume und ein recht nüchtern und modern anmutender Gebäudetrakt, der früher als Arbeiterwohnheim des VW-Werks in Kassel-Baunatal diente. Jetzt leben hier viele Mitglieder der Kommune in Wohngemeinschaften - als Wahlfamilien O-Ton 26 Hänsler Es gibt hier ungefähr 80 Personen, die hier leben. 60 Erwachsene und ungefähr 20 Kinder und Jugendliche. Und damit wir uns nicht so verlieren, haben wir das Zusammenleben in ungefähr zehn WGs organisiert, in denen dann von drei bis sieben, acht Leute zusammenleben. Im Idealfall gibt es dann einen stärkeren sozialen Zusammenhang, manchmal aber auch nur Leute, die in einer WG sind, weil sie da ein freies Zimmer gefunden haben... 21 Autorin Sagt Otto Hänsler, ein Kommunarde, der gemeinsam mit Christine Rüther durch die Kommune führt. O-Ton 27 Hänsler Ich bin ungefähr zehn Jahre her. Ich komme aus dem Ruhrgebiet. Und konnte mir nie vorstellen, das Ruhrgebiet einmal zu verlassen und in eine so dörfliche Gegend zu ziehen. Aber die Wünsche waren da, beides zu verknüpfen, arbeiten und Leben. Und deshalb 1996 erstmals die Fühler ausgestreckt, nach hier, nach neunmonatiger Probezeit dann wieder zurück. So Fragen, kann ich wirklich mein Vermögen hier einbringen. So Häuschen aufgeben, das man sich aufgebaut hat mit Freunden da lassen? Das waren so Sicherheiten, auf die ich nicht verzichten wollte. Deshalb bin ich erstmal zurück in den Ruhrpott. Dann meine Meinung geändert, meine Mutter ist krebskrank geworden, dann habe ich gesehen, dass Geld nicht alles ist, worauf man bauen kann. Es sind die Leute, die Freunde, die ganz wichtig sind, die mehr Wert sind als alles zurück gelegte Geld, als ein Haus. Das gab Anlass noch mal zu überlegen und 2001 bin ich dann endgültig hierher und habe es nicht bereut Autorin Hänsler hat also lange überlegt, bevor er zum Kommunarden wurde - auch weil es ein großer Schritt ist. Ja, es hat ein bisschen was von einem Eintritt ins Kloster, sagt er. Es heißt verzichten - etwa auf die persönliche Habe. Denn zum Prinzip der Kommune gehört es, das gesamte Vermögen, das man mitbringt, in die Gemeinschaft einzubringen. Und alles miteinander zu teilen. Etwa den Fuhrpark der Kommune - bestehend aus etlichen Fahrrädern, elektrisch oder per Pedes betrieben, und auch einigen Autos. O-Ton 28 Rüther/Hänsler Wir teilen uns mit 60 Erwachsenen 6 Autos. Ist das richtig so? Ich weiß nicht wie viele es sind. Aber das ist im Grunde ja auch egal, weil wir die Dinger nutzen können, wenn wir sie brauchen. Denn das ist Teil unserer Philosophie - Dinge nicht haben sondern Dinge gemeinsam benutzen können. Ich kann mich eintragen im Autoplan wenn ich ein Auto brauche und fahre dann damit, obwohl es mir nicht privat gehört. 22 Autorin Wenn der einzelne darüber hinaus einmal etwas für sich braucht und anschaffen will, ist der Griff in die Kasse erlaubt O-Ton 29 Rüther Wir haben das Bedürfnisprinzip das heißt erstmal, dass sich jeder soviel aus der Kasse nimmt wie er braucht. Wir haben die Regel, das über 150 Euro transparent gemacht werden und die Menschen auch darauf angesprochen werden können ob die Ausgabe nötig ist Autorin Urlaubsreisen zum Beispiel werden erst in der Gruppe, etwa im wöchentlichen Plenum, besprochen. Verdient wird das Geld für das gemeinsame Leben durch gemeinsames Arbeiten. Christine Rüther etwa arbeitet für die "Rote Rübe", den Gemüsebaubetrieb der Kommune, Otto Hänsler in der Schreinerei. Neben dem Biobauernhof gibt es unter anderem noch eine Käserei, in der die Milch der Kühe verarbeitet wird, einen Hofladen, in dem eigene Produkte verkauft werden, einen Baubetrieb, eine Tagespflege für Demenzkranke und eine Kindertagesstätte, in die nicht nur Erwachsene und Kinder aus der Kommune, sondern auch aus dem Dorf kommen. O-Ton 30 Hänsler Und das heißt ja schon was, dass Kinder ihre Eltern dann auch zu uns bringen. Kommune ist ja erstmal was, wo erstmal manche Leute sagen: Huch was ist denn das?! Und das heißt ja schon was, dass die Angehörigen dann diesen Kommunarden anzuvertrauen, das ist ein gutes Zeichen, wie akzeptiert wie hier im Dorf sind. Bei Kindern und Alten. Autorin So ist diese 1986 aus dem Geist der 70er Jahre und der Suche nach alternativen Lebensformen heraus gegründete Kommune in Niederkaufungen als heute größte politische 23 Kommune Deutschlands etabliert und integriert. Ja, das Klima hier im Nordhessischen scheint günstig zu sein, die Menschen erstaunlich offen für derartige alternative Lebensformen und auch kulturelle Projekte. Schließlich gründet sich im Nachbardorf Oberkaufungen gerade eine weitere Kommune. 04 Musik Atmo 2 Vögel/Wald aus Archiv In einem Wald bei Kassel - inmitten von schlanken oder etwas knorrig gewachsenen Buchen - steht ein steinernes Wasserbassin. Groß und wuchtig wirkt es, wie es da auf zwei mächtigen Steinen ruht. Die Bäume spiegeln sich im Wasser der kreisrunden Schale wider. Ab und an kommen Finken oder Stare angeflogen, tauchen durstig ihre Schnäbel in diese mächtige Vogeltränke. Oder sie nehmen ein erfrischendes Bad. Die Natur, das Leben und der Tod - sie treffen hier aufeinander. Denn die Steine unter dem Bassin sind Sarkophage - die Vogeltränke ist ein Grabmal. Atmo 2 Vögel Wald, unter die Autorin, am Ende im Ton stehen lassen Ein Grabmal in der Künstler-Nekropole am Stadtrand Kassels. Hier haben Künstler zu Lebzeiten ihre eigene Grabstätte geschaffen. Nach einer Idee des Kasseler Künstlers und Kunstprofessors Harry Kramer ist dieser Friedhof weit entfernt von einer Ansammlung morbider Monumente. Die Nekropole ist auch kein gruseliges Kunstevent oder ein Skulpturenpfad der jenseitigen Art - vielmehr eine einzigartige letzte Ruhestätte - inmitten der Natur O-Ton 31 Eppler Harry Kramer war ja ein Künstler der Avantgarde zuzuordnen und ihm ging es bei der Künstlernekropole darum, eine Verbindung zwischen Kunst und Alltag herzustellen. Und die Künstlernekropole ist deshalb auch kein Skulpturenwanderweg. Man findet nur die Hinweise auf dem Parkplatz, darüber hinaus gibt es keine Exponatschilder. Das ist aber Bestandteil des Konzeptes 24 Autorin Sagt Gerold Eppler, Vorsitzender des Kuratoriums der Stiftung Künstler-Nekropole. Vom Parkplatz "Bergfreiheit" aus beginnt diese "Friedhofsbegehung". Auf breiten Fahrwegen und schmalen Pfaden. Durch kleine Schluchten, über Hügel in den Wald hinein. Bizarr schlingen sich die Wurzeln der Bäume ineinander, ranken sichtbar über eine steile Böschung hinweg, um schließlich doch den festigenden Halt in der Erde zu finden - darunter ruht still der Blaue See, unergründlich dunkel, friedvoll. O-Ton 32 Eppler Der Blaue See war also ein Steinbruch gewesen und die Landschaft, die wild romantische zerklüftete Landschaft, die überwachsen ist mit dem Totholz, den Buchen, ist durch den Steinbruchbetrieb entstanden. Die Klüfte, die kleinen Hügel, das sind die Abraumhalden, auf denen sich dann die Buchen ausgesät haben. Und das macht dann auch den Stimmungswert der Künstlernekropole aus. Atmo 2 Vögel/Wald noch mal Autorin Auf einer Anhöhe über dem See gelangt man zu einem steinernen Monument - wuchtig, mit wulstigen Kanten, mit Schwüngen und Schrägen steht es da als riesiger Sarkophag - dessen Unterteil und Deckel irgendwie gegeneinander verschoben wirken. "Lebensmüde? Abulvenz" hat Fritz Schwegler schon zu Lebzeiten der Nachwelt darauf verwirrenderweise hinterlassen. O-Ton 33 Eppler Hier stehen wir vor der Arbeit von Fritz Schwegler, die Arbeit heißt EN 6355. Und was man sieht ist ein Sarkophag, ein ungeheuer monumentales Grabzeichen, wenn man sich vorstellt, dass in dem Grabmal nur eine kleine Urne beigesetzt werden soll. Und wenn man sich mit dem Grabmal beschäftigt, dann spürt man auch gleich die Ironie, die in den Werken von Schwegler mitschwingt. 25 Autorin Nicht weit davon, an einer nur Verwandten und Freunden bekannten Stelle, fand 1997 die erste Bestattung am Blauen See statt: Die Urne von Harry Kramer wurde beigesetzt. Dass der Initiator dieses ungewöhnlichen Friedhofes kein eigen geschaffenes Grabmal hat ist Teil der nicht einfachen Entstehungsgeschichte dieser Künstler-Nekropole. O-Ton 34 Eppler Harry Kramer ist hier bestattet, aber anonym. Man findet keinen Hinweis. Auch hier sieht man wieder die Widersprüchlichkeit im Umgang mit Sterben, Tod, Trauern und Gedenken. Harry Kramer wollte am Anfang hier natürlich sein eigenes Grabmal haben. Nachdem man ihm aber vorgeworfen hat, er würde hier als elitärer Künstler sich Freiheiten rausnehmen, hat er gesagt, ihr könnt mir alle mal den Buckel runterrutschen, ich lasse mich in Südfrankreich auf meinem Grundstück beisetzen. Davon sind wir im Kuratorium immer ausgegangen. Bis Harry Kramer dann gestorben ist und dann wurde der Wunsch geäußert, dass man die Asche in der Künstlernekropole beisetzt an einer Stelle, die nur vier oder fünf vertrauten Personen bekannt ist. Autorin So erinnert an den Gründer und Stifter der Nekropole heute kein eigenes Kunstwerk. Nur ein kurz vor seinem Tod von einem Freund für ihn gemaltes Bild hängt zum Gedenken an einem Baum. Seine Idee, das eigene Grabmal zu gestalten, haben andere Künstler vollendet. Eingeladen wurden sie dazu von der Stiftung, die er zu Lebzeiten noch geschaffen hat und deren Träger heute die Stadt Kassel ist. Bei ihrer künstlerischen Auseinandersetzung mit der Endlichkeit hatten sie weitgehend freie Hand. Einzige Bedingung ist, dass kein Monument über drei Meter hoch ist und dass sich die Grabstätten, in denen nur Urnen beigesetzt werden dürfen, in die umgebende Landschaft eingliedern müssen. Und so sind die ersten acht der ursprünglich von Kramer geplanten 40 Gräber ganz unterschiedlich gestaltet: 26 Fast unbemerkt bleibt auf den ersten Blick Timm Ulrichs künftige letzte Ruhestätte: je nach Jahreszeit vom Winde mit Blättern und kleinen Zweigen beweht befindet sich eine schwere, in Bronze gefasste Glasplatte am Rande eines kleinen Uferpfades. An ihrer Unterseite perlen Feuchtigkeitstropfen, zwei Fußabdrücke in Bronze gegossen haben grünliche Patina angesetzt. Zwei Fußabdrücke, die Teil eines absichtsvoll in den Erdtiefen verborgenen Monuments sind. O-Ton 35 Eppler Timm Ulrichs ist hergegangen und hat seinen Körper abgegossen. Diese Negativform wurde dann zur Skulptur. Auf den ersten Blick wirkt die Arbeit, als hätte jemand seine Fußabdrücke hinterlassen. Beim genauen Hinsehen stellt man fest, dass man auf den Spann des Fußes schaut. Diese Arbeit umschreibt den Raum, den Timm Ulrichs eingenommen hat, zu dem Zeitpunkt als die Skulptur hergestellt wurde. Letztendlich stehen wir hier vor dem ausgesparten Künstler. Der Künstler ist hier - da wir vor einem Hohlraum stehen - als Anwesender abwesend. Autorin Schaut man nach der Betrachtung dieser "Negativskulptur" wieder hoch, fällt einem ein Auge auf, das einen durch die Bäume hindurch scheinbar unverwandt ansieht. Der Künstler und Grafiker Karl Oskar Blase hat das Sinnesorgan aus Beton nachgeformt und auf eine Stele postiert. Momentum nennt sich diese Arbeit O-Ton 36 Blase Momentum ja das Auge, der Augenblick. Das Auge ist das wichtigste Organ für die Kunst Wenn das nicht funktioniert, dann ist man als Künstler ziemlich ausgeschlossen. Autorin Momentum bedeutet hier aber auch, über den Moment, den Augenblick hinaus zu wirken. Denn Kunst und Natur gehen in diesem Friedwald eine Verbindung ein - zwischen Vergänglichkeit und Ewigkeit, zwischen Werden und Vergehen. 27 Die Künstler haben extra für diesen Ort Werke gestaltet, die gleichzeitig Grabmale sind. Und so verbindet sich mit dieser Nekropole nicht nur die übliche Hoffnung des Künstlers, etwas Bleibendes geschaffen zu haben. Sondern auch das Wissen, das dieses Kunstwerk einmal seine letzte Ruhestätte sein wird. O-Ton 37 Eppler Hinzu kommt, dass die Künstler, die sich auf diese Projekt hier einlassen, ihren eigenen Tod denken müssen. Und diese Tatsache, dass man sterben muss, die verdrängen wir im Allgemeinen. Das hängt mit unserer Lebenssituation zusammen. Wir können natürlich davon ausgehen, wenn wir in den westlichen Industrienationen leben, dass wir sehr alt werden. Deswegen verschieben wir häufig diese Auseinandersetzung. Hier in der Künstler-Nekropole wird es aber konkret. Hier gestalte ich mein eigenes Grabmal und denke mein eigenes Ende. Kennmelodie Spr. V. D.: Jenseits der documenta - Die nordhessische Provinz rund um Kassel Sie hörten eine Deutschlandrundfahrt von Barbara Wiegand Ton: Inge Görgner Regie: Karena Lütge Redaktion: Margarete Wohlan Eine Produktion von Deutschlandradio Kultur 2012