Die törichte Neigung, in der Welt herumzuschweifen Eine Lange Nacht über Robinson Crusoe Autor: Christian Blees Regie: Rita Höhne Redaktion: Dr. Monika Künzel SprecherInnen Bernhard Schütz Markus Hoffmann Mirko Böttcher Max Volkert Martens Peter Kaempfe Sendetermine: 17. August 2019 Deutschlandfunk Kultur 17./18. August 2019 Deutschlandfunk ___________________________________________________________________________ Urheberrechtlicher Hinweis: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Jede Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in den §§ 45 bis 63 Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) Deutschlandradio - unkorrigiertes Exemplar - insofern zutreffend. 1. Stunde Musik Erzähler: Diese Lange Nacht über Robinson Crusoe beginnt nicht etwa, wie man es vielleicht vermuten könnte, auf einer einsamen Insel. Unsere akustische Reise startet stattdessen im eher beschaulichen Iserlohn - immerhin die größte Stadt des Sauerlandes. Einer der hier lebenden, insgesamt rund 93.000 Einwohner heißt Walter Wehner. Walter Wehner ist nicht nur Germanist und Historiker. Er betreibt unter anderem auch die Internetseite www.robinsone.de. Auf dieser hat er, geordnet nach Epochen und Gattungen, gleich mehrere hundert sogenannte Robinsonaden aufgelistet - also Bücher, Theaterstücke, Comics, Filme und sogar Opern, die alle in irgendeiner Form robinsonhafte Schicksale erzählen. Dass Walter Wehner gleich zu Beginn unserer Sendung zu Wort kommt, hat jedoch weniger mit seinem Fachwissen zum Thema Robinson zu tun. Es ist vielmehr eine gewisse Skepsis, die er während unseres Besuchs bei ihm zuhause zum Ausdruck gebracht hat. O-TON: WALTER WEHNER Ich habe mich gefragt: Wer macht sich auf den weiten Weg von Berlin bis in das weltbekannte Iserlohn und will etwas über Robinsonaden wissen? Reist, wie ich jetzt weiß, auch noch an andere Stationen Deutschlands - und habe dann auch noch von Ihnen erfahren: Es handelt sich um eine "Lange Nacht", Themennacht. Da habe ich gedacht: drei Stunden Robinson? Werden da zwei Stunden mit Musik gefüllt? Oder was passiert da? Also, das hat dann meine Fantasie doch etwas überstrapaziert. Erzähler: Tja, liebe Hörerinnen und Hörer - vielleicht sehen Sie das ja ähnlich skeptisch wie Walter Wehner? Darum sei Ihnen lieber gleich zu Beginn versichert: Die drei Stunden über einen der berühmtesten Romane der Weltliteratur werden ganz bestimmt nicht mit zwei Stunden Seefahrermusik angefüllt. Wir verraten Ihnen in den nächsten drei Stunden unter anderem, was ein deutsches Kakaogetränk mit Robinson Crusoe zu tun hat, weshalb sein Autor, Daniel Defoe, einst gleich mehrfach im Gefängnis gelandet ist - und wie es kommt, dass kaum jemand von uns den berühmten Roman bis heute je komplett gelesen hat. Und selbstverständlich werden wir im Laufe dieser Langen Nacht nicht nur zu Walter Wehner nach Iserlohn zurückkehren - sondern auch jene Insel kennen lernen, die heutzutage den Namen der berühmten Schiffbrüchigen trägt. Jetzt aber wollen wir aber erst einmal hören, was Robinson Crusoe zu Beginn des Romans und in eigenen Worten über sich und seine Herkunft zu berichten hat. ATMO: HAFEN, MÖVENGESCHREI Darüber gelegt: Zitator Robinson Crusoe: Ich wurde im Jahr 1632 in der Stadt York als Spross einer angesehenen Familie geboren, die allerdings nicht aus diesem Land kam, denn mein Vater war ein Ausländer aus Bremen, der sich zunächst in Hull niedergelassen hatte. Durch Handel erwarb er sich ein ansehnliches Vermögen, gab das Geschäft auf und zog nach York, von wo meine Mutter stammte, deren Angehörige Robinson hießen. Ihre Familie war in der Gegend hochgeachtet, und ihr zu Ehren bekam ich den Namen Robinson Kreutznaer, doch durch die Einverleibung ins Englische wurde unser Familienname zu Crusoe. Sogar wir selbst nennen und schreiben uns so, und so haben auch meine Freunde mich immer genannt. Erzähler: Robinson Crusoes Vater kam also ursprünglich aus Bremen! So behauptet es zumindest Daniel Defoe in seinem Roman. Und tatsächlich: In Bremen gibt es sogar ein Haus, das nach Robinson Crusoe benannt ist. ATMO: CRUSOE HAUS BREMEN Erzähler: Bremen, Böttcherstraße 1. Hier steht das so genannte Robinson-Crusoe-Haus, und hier sind wir auch mit Uwe Bölts verabredet. O-TON: UWE BÖLTS Ich bin wissenschaftlicher Mitarbeiter der Böttcherstraße GmbH, und diese verwaltet die Böttcherstraße: 107 Meter lang, Verbindung zwischen dem Marktplatz in Bremen und der Weser - und mit ihren 107 Metern als Gesamtkunstwerk eigentlich doch Bremens heimliche Hautstraße, so sagt man. Gebaut 1923 bis 1931, und damit ein interessantes Beispiel der Zwischenkriegs-Architektur. Erzähler: Bei der Böttcherstraße GmbH handelt es sich um eine Tochter der Sparkasse Bremen. Die Gesellschaft mit beschränkter Haftung ist seit 2004 damit beauftragt, ein gutes halbes Dutzend Häuser in der Böttcherstraße zu bewirtschaften. Um das Jahr 1900 herum hatten sich hier noch mehrere kleine Lagerhäuser befunden. Wegen Baufälligkeit wurden sie aber alle 1921 abgerissen. In den Jahren danach ließ der Eigentümer - der Bremer Kaffeehändler Ludwig Roselius - in der Böttcherstraße eine kleine Kolonie für Künstler und Kleinkunst-Handwerker errichten. Mit Ateliers, Läden und Wohnungen. Ludwig Roselius besaß in Brasilien riesige Kaffeeplantagen und hatte es durch sein Unternehmen zu großem Reichtum gebracht. Viele von uns dürften den Namen der Firma schon einmal gehört haben: KAFFEE HAG. O-TON: UWE BÖLTS Ludwig Roselius hat hier, mit dieser Böttcherstraße, sieben Häuser gebaut, die alle verschiedenen Themen zuzuordnen sind. Und das letzte Haus dieser Straße, 1929 bis 1931 entstanden, das hat er nach Robinson Crusoe benannt. Warum? Natürlich hatte er diesen Roman gelesen, in seiner Jugend, und war begeistert davon. Das ist die eine Seite. Diese Figur des Robinson, der also in die Welt, irgendwo einer fremden Welt, ausgesetzt wird und sich dort zurecht findet und dann eben seine Erfahrungen machen kann und mit diesen Erfahrungen dann eben auch nach Hause kommt - das war ihm auch in gewisser Weise Vorbild. Und der Pioniergeist - so kann man das vielleicht bezeichnen -, dieser Pioniergeist, der hat Ludwig Roselius animiert, dieses Haus so zu benennen. Erzähler: Bis kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs fanden im Robinson-Crusoe-Haus vor allem die Treffen eines Bremer Gesellschaftsclubs statt. So gab es hier außer den eigentlichen Clubräumen unter anderem einen Speisesaal, eine Bar und eine Galerie. Die Halle im Erdgeschoss dagegen wurde von Ludwig Roselius höchstpersönlich genutzt - und zwar, um ein Getränk zu bewerben, das er ein paar Jahre zuvor selbst erfunden hatte. O-TON: UWE BÖLTS Also, das weitere Produkt, was er auf den Markt gebracht hat 1927, war KABA. Das kennen Sie alle: der Plantagentrank. Hergestellt wurde der in Bremen. Da gab es ein extra Kaba-Werk, was dann gebaut wurde. Aber was ich hier vor allem zeigen wollte mit diesem Robinson Crusoe Haus: unten, in der Eingangshalle, wo wir uns jetzt befinden, dort hat er den Raum genutzt, um Propaganda für dieses neue Getränk KABA zu machen. Propaganda hieß damals Werbung, nichts anderes. Wir kennen das unter einem anderen Begriff. Und dazu hat er einen Bremer Künstler beauftragt, nämlich Theodor Schultz-Walbaum. Und dieser Theodor Schultz-Walbaum, der hat sechs relativ großformatige Holztafeln gefertigt, die die Geschichte Robinsons in sechs Teilen, auf sechs Tafeln, zeigt (sic!) - und auch einzeln betitelt sind. Erzähler: Ursprünglich hingen die sechs von Theodor Schultz-Walbaum gemalten Tafeln mit Robinson-Motiven in der Vorhalle des Robinson-Crusoe-Hauses. Mittlerweile aber wird die Halle schon seit längerem von einer Kaffeerösterei mit angeschlossenem Café genutzt. Darum wurden die imposanten Kunstwerke vor einiger Zeit umgehängt - und zwar in das leider ziemlich dunkle und wenig repräsentative Treppenhaus. O-TON: UWE BÖLTS Ludwig Roselius hatte ja eigene Plantagen in Brasilien und hat die betrieben und wollte natürlich ein positives Bild der Kolonien transportieren. Und hat dies eben mithilfe dieser Robinson-Geschichte auch versucht. Das war sicherlich ein Hintergrund, der öffentlich nicht so gesagt wurde, aber der, denke ich mal, da mit hineingespielt hat - ein positives Bild der Kolonien zu vermitteln. Erzähler: Auf das Thema Robinson und Kolonialismus werden wir später noch ausführlicher zu sprechen kommen. Festzuhalten bleibt zunächst. Wer sich für Robinson Crusoe interessiert und irgendwann einmal nach Bremen kommt, der sollte sich durchaus auf den Weg in die Böttcherstraße eins machen. Denn sehenswert sind die sechs Bildtafeln, die hier im Treppenhaus hängen, allemal. Musik Erzähler: Um den Inhalt und die bis heute anhaltende Faszination von ROBINSON CRUSOE besser verstehen zu können, wollen wir uns zunächst etwas näher mit dem Autor des Romans beschäftigen. Denn als das Buch im April 1719 erschien, war Daniel Defoe schon 59 Jahre alt. Er hatte bis zu diesem Zeitpunkt also schon eine ganze Menge erlebt. Geboren wurde Defoe eines Tages im Jahre 1660 in London. O-TON: HEIKO POSTMA Also, das Geburtsjahr von Daniel Defoe ist bekannt - aber mehr eben auch nicht. Man weiß nicht genau den Geburtstag. Manche haben ja spekuliert, es wäre der Tag, an dem Robinson auf seiner Insel landet, aber das ist wirklich Spekulation. Erzähler: Das sagt der Literaturhistoriker Heiko Postma aus Hannover. Postma hat ein kleines Büchlein über Daniel Defoe veröffentlicht. Es trägt den Titel "Projektemacher und Geheimagent, Publizist und Romancier". Allein diese Aufzählung lässt bereits erahnen, dass Daniel Defoe ein recht bewegtes Leben geführt haben muss. Und wer, wie Heiko Postma, etwas tiefer in die Materie einsteigt, der weiß auch: In ROBINSON CRUSOE spiegelt sich nicht nur Daniel Defoes persönliche Weltanschauung wider. Auch das eine oder andere biografische Detail des berühmten Schiffbrüchigen weist durchaus gewisse Parallelen auf zu Daniel Defoes eigenen Lebenserfahrungen. Hören wir uns darum also einmal an, was Robinson Crusoe über sich und seine Familie zu berichten hat. Dass der Vater ursprünglich ein Bremer Kaufmann war, den es irgendwann nach England verschlug, wissen wir ja schon. Zitator Robinson Crusoe: Da ich der dritte und jüngste Sohn der Familie und noch ohne jede Berufsausbildung war, begaben sich meine Gedanken früh auf allerlei Abwege. Mein Vater, der schon sehr alt war, hatte mir ein gewisses Maß an Bildung zukommen lassen, soweit das durch häusliche Erziehung und den Besuch einer öffentlichen Schule auf dem Lande möglich ist, und für mich eine Laufbahn als Jurist vorgesehen, doch ich hatte mir in den Kopf gesetzt, zur See zu fahren, und an diesem Entschluss hielt ich gegen den Willen, ja, den Befehl meines Vaters und allem Flehen und gutem Zureden meiner Mutter und manchen Freundes zum Trotz so unbeirrt fest, dass darin etwas Schicksalhaftes zu liegen schien, in dem sich jenes Elend ankündigte, das mir beschieden sein sollte. Meinem Vater, einem klugen und besonnenen Mann, war mein Vorhaben nicht entgangen, und mit gutem Rat und ernst zu nehmenden Argumenten versuchte er, mich davon abzubringen. Eines Morgens rief er mich in sein Zimmer, das er wegen seiner Gicht kaum mehr verließ, um mit mir in aller Offenheit darüber zu sprechen. Er fragte mich, was außer dem bloßen Wunsch zu reisen mich dazu bewog, mein Elternhaus und mein Vaterland zu verlassen, ein Land, in dem mir viele Türen offen stünden und ich die Aussicht hätte, durch Fleiß und Einsatz zu Wohlstand zu kommen und ein ruhiges und angenehmes Leben zu führen. Er erklärte mir, dass nur besonders arme oder besonders begüterte Menschen das Abenteuer in der Fremde suchten, um dadurch aufzusteigen oder sich durch Unternehmungen abseits der ausgetretenen Wege einen Namen zu machen; diese Dinge aber seien entweder zu weit über oder zu weit unter dem, was meinem Stand angemessen sei, der doch eher in der Mitte liege beziehungsweise dem entspreche, was man die oberste Stufe des niederen Milieus nennen könne; die Erfahrung habe ihn gelehrt, dass dieser Stand der beste und dem Glück des Menschen am dienlichsten sei, weil er weder den Qualen und Entbehrungen, der Mühsal und dem Leid des hart arbeitenden Teils der Bevölkerung ausgesetzt noch für den Hochmut, das Schwelgen, den Ehrgeiz und die Missgunst des vornehmeren Teils der Menschheit anfällig sei. Er ermunterte mich, mein Augenmerk darauf zu richten, dann würde ich feststellen, dass Menschen, die ihm angehörten, geräusch- und problemlos durchs Leben gingen und ebenso unbeschwert wieder hinaus, ohne von ihrer Hände oder ihres Kopfes Arbeit behelligt, vom Kampf um das tägliche Brot versklavt zu werden oder unter äußeren Umständen leiden zu müssen, die den Seelenfrieden und die körperliche Erholung bedrohen, ohne vom Feuer des Neides oder vom Schwelbrand des Strebens nach Höherem verzehrt zu werden; stattdessen schritten sie leichten Fußes durch die Welt und schmeckten die Süße des Lebens, ohne dessen Bitterkeit kosten zu müssen, begleitet von dem Gefühl, glücklich zu sein, worin sie jeder neue Tag bestätigte. Anschließend pochte er mit Nachdruck und größter Zuneigung darauf, ich möge nicht den jugendlichen Helden geben, mich nicht in jenes Unheil stürzen, vor dem mich die Natur und der Stand, in den ich geboren worden war, gerade bewahren sollten; ich sei nicht gezwungen, mein täglich Brot zu verdienen, denn er werde für mich sorgen und bestrebt sein, mir die Lebensweise zu ermöglichen, die er mir soeben ans Herz gelegt habe; sollte ich des Lebens trotzdem nicht recht froh und glücklich werden, dann sei das allein mein Schicksal oder mein Verschulden, er hingegen trüge in diesem Fall keine Verantwortung, da er seiner Pflicht nachgekommen sei und mich vor Schritten gewarnt habe, die, wie er wisse, zu meinem Schaden wären; kurz: Wie er mich nach Kräften unterstützen würde, sofern ich, wie von ihm verlangt, zu Hause bliebe und ein geordnetes Leben führte, so wolle er andererseits nicht zu meinem Unglück beitragen, indem er mich zum Fortgehen auch noch ermutige; und auch wenn er nicht aufhören werde, für mich zu beten, wage er die Voraussage, dass der liebe Gott zu einem unbedachten Schritt, wie ich ihn vorhätte, seinen Segen nicht geben werde und ich eines Tages, wenn niemand in der Nähe wäre, dessen Hilfe ich in Anspruch nehmen könnte, Zeit und Anlass fände, darüber nachzudenken, warum ich seinen Rat missachtet hätte. Beim letzten Teil seiner Rede, die wahrlich prophetisch war, auch wenn ich kaum annehme, dass sich mein Vater dessen bewusst war, bei diesem letzten Teil seiner Rede also fiel mir auf, dass Tränen über sein Gesicht liefen, und als er davon sprach, dass ich dereinst Anlass zur Reue haben werde, jedoch niemanden, der mir helfen könnte, war er so bewegt, dass er seine Rede abbrach und erklärte, sein Herz sei zu schwer, um weitersprechen zu können. Ich war von der Rede tief beeindruckt, aber wem wäre es anders ergangen? Also entschied ich, die Absicht fortzugehen nicht weiter zu verfolgen, sondern dem Wunsch meines Vaters zu entsprechen und mich in der Heimat niederzulassen. Doch schon nach wenigen Tagen waren die guten Vorsätze dahin, und um weiteren Behelligungen durch meinen Vater vorzubeugen, beschloss ich nach wenigen Wochen, mich heimlich aus dem Staub zu machen. Erzähler: Der Widerstand gegen die beruflichen Pläne, die der Vater für Robinson hegte, den gab es auch im wahren Leben des Autors. James Foe - den Familiennamen sollte Daniel erst einige Jahre später eigenmächtig um das französische Adelsprädikat "De" ergänzen - war ein gelernter Wachszieher und Kerzenhändler. Wäre es nach ihm gegangen, dann hätte sein Sohn eigentlich Priester werden sollen. Daniel dagegen strebte stattdessen eine Karriere als Kaufmann an. O-TON: HEIKO POSTMA Und den wollte er ergreifen, und das hat er dann ja auch gemacht, als Geschäftsmann und als "Projekte-Macher", nicht? Er hatte ja am Anfang doch allerlei Projekte, mit denen er zum Teil ja auf groteske Weise gescheitert ist. Aber er hat es immer wieder versucht, damit in Gang zu kommen. Erzähler: Bei Daniels Berufswunsch könnte vielleicht ein Onkel eine gewisse Rolle gespielt haben. Henry Foe betrieb eine Sattlerei. Durch diese stand er unter anderem in regelmäßigem geschäftlichem Austausch mit englischen Kolonien in Amerika. Gut möglich also, dass der Beruf des Kaufmanns dem jungen Daniel, der zu seinem Onkel einen regen Kontakt pflegte, einigermaßen reizvoll erschien. Zitator Daniel Defoe: Ein echter Kaufmann ist immer zugleich auch der vielseitigste Gelehrte. Er versteht fremde Sprachen ohne Lehrbücher, Geographie ohne Landkarten, seine Geschäftsbücher und die Route seiner Handelsreisen umspannen die Welt, und während er in seinem Kontor sitzt, verkehrt er mit allen Nationen und führt mit dem besten und weltoffensten Teil der Gesellschaft eine universale Korrespondenz. Erzähler: So kam es schließlich, dass Daniel Foe bereits mit Mitte Zwanzig begann, von London aus einen durchaus schwungvollen Import-Export-Handel aus und nach den englischen Kolonien in Amerika zu betreiben - zunächst mit Strumpfhosen, später mit Spirituosen und Tabak. 1684 heiratete Daniel die damals 20-jährige Mary Tuffley, die einer wohlhabenden Familie entstammte. Mary sollte ihm im Laufe der Jahre nicht nur insgesamt acht Kinder gebären, sondern auch eine stattliche Mitgift in die Ehe einbringen. Dies war umso wichtiger, als Daniel Foe - der keinerlei kaufmännische Ausbildung absolviert hatte - mit seinen geschäftlichen Unternehmungen im Laufe der Zeit immer waghalsiger wurde. O-TON: HEIKO POSTMA Er hat also versucht - das ist ja auch sehr modern -, eine Schiffsversicherung zu gründen. Er hat dann Pech gehabt, dass gerade ein Seekrieg mit Frankreich stattfand, bei dem unglaublich viele Schiffe versenkt worden sind, so dass die Versicherung Pleite gegangen ist. Dann hat er versucht, eine Firma zu gründen, die Taucherglocken herstellt, um zu Schiffen tauchen zu können - damit ist er auch gescheitert. Dann hatte er versucht, eine Firma zu machen, die Parfüm herstellt. Aus den Duftstoffen der Zibet-Katze wollte er was machen. Erzähler: Zibet-Katzen produzieren einen moschusähnlichen Duftstoff. Darum waren sie im 17. Jahrhundert ebenso begehrt wie teuer. Für den Kauf von insgesamt siebzig Exemplaren musste Daniel Foe einen hohen Kredit aufnehmen. Aus dem erhofften Gewinn aber wurde nichts. So blieb ihm nichts anders übrig, als Konkurs anzumelden. 1692 - er war damals 32 Jahre alt - betrug Daniel Foes Schuldenstand sagenhafte 17.000 Pfund. Im Vergleich dazu lag der durchschnittliche Jahresverdienst eines Handwerkers zu dieser Zeit bei nur rund 40 Pfund. Um seinen vielen Gläubigern zu entkommen, ließ Foe seine Ehefrau und die Kinder kurzerhand in London zurück und flüchtete auf die Orkney-Inseln. Sein Biograf Wolfgang Riehle schreibt: Zitator: Das Inselleben bot ihm die Möglichkeit, den inneren Frieden wiederzufinden. Der Gedanke, dass Foe wohl hier erstmals Sinn für das Leben auf einer Insel entwickelt haben dürfte, ist naheliegend, zumal einige nautische Details in ROBINSON CRUSOE an die Gegebenheiten der Orkney-Inseln erinnern. Doch es scheint, dass seine kaufmännische Misswirtschaft noch auf ganz andere Weise als wesentliche Voraussetzung gerade für seine Romane diente: Er lernt die Verzweiflung und die menschlichen Abgründe aus eigener Erfahrung kennen. Erzähler: Weil er seine Familie auf Dauer nicht allein lassen wollte, kehrte Daniel Defoe nach einiger Zeit aus dem Inselversteck zurück nach London. Dort gelang es ihm, finanziell wieder einigermaßen auf die Beine zu kommen. O-TON: HEIKO POSTMA Und dann hatte er - und das war durchaus erfolgreich - eine Firma gegründet, die Ziegel herstellt, also eine Ziegelei. Und da hatte er Absätze, weil nämlich die Dissenter auf ihren Gotteshäusern die Ziegel verwendet haben. Erzähler: Die so genannten Dissenter - das waren religiöse Abweichler, die sich nicht zur anglikanischen Bischofskirche, der Church of England, bekennen wollten. Sie hatten zuvor im Bürgerkrieg für die Rechte des Parlaments gekämpft - und gegen den König. Zwar ging es ihnen weniger darum, die Monarchie völlig abzuschaffen, als vielmehr nur deren Macht zu beschränken. Doch das genügte, um den Dissenters alle öffentlichen Ämter sowie den Zugang zu Universitäten zu verwehren. Ihre Gottesdienste hielten sie notgedrungen in eigenen Versammlungshäusern ab - und für deren Dächer lieferte Daniel Foes Ziegelei nicht selten das Material. Denn auch seine Familie gehörte den Dissenters an. Dass auch ihn dies schon früh zum gesellschaftlichen Außenseiter machte, störte den jungen Daniel damals nicht weiter. Er fand das durchaus anziehend. O-TON: CHRISTOPH HOUSWITSCHKA Aber was hat diese Außenseiter-Position so faszinierend gemacht? Erzähler: ... fragt Christoph Houswitschka. Houswitschka ist Anglist am Lehrstuhl für englische Literaturwissenschaft der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. O-TON: CHRISTOPH HOUSWITSCHKA In den Schulen der Dissenter - denn sie waren nicht in der Lage, nach Oxford oder Cambridge zu gehen - wurden die neuesten Philosophen gelesen. Nicht das alte Zeug aus der Antike, nicht die kanonisierten Leselisten der Vergangenheit, sondern tatsächlich die neuesten Philosophen - wie zum Beispiel John Locke, Thomas Hobbes. Deswegen waren die Dissenter die fortschrittlichsten Denker und die fortschrittlichsten Entwickler der englischen Gesellschaft, nachdem dieser Verfassungskompromiss gefunden war, und haben ganz wesentlich auch die Industrialisierung in England dadurch vorangebracht. Dadurch, dass sie Außenseiter waren, sind sie meistens in den Norden gegangen und haben dort die ersten Fabriken aufgebaut. In London waren die Dissenter nicht nur verfolgt, sondern aufgrund der Wendigkeit ihres Denkens durchaus am kulturellen, politischen Leben beteiligt. Erzähler: Wolfgang Riehle schreibt in seiner Defoe-Biografie: Zitator: Defoes Leben fällt in eine bedeutende Phase der englischen Geschichte. Schon vor einiger Zeit hatten sich zwei große politische Gruppierungen gebildet, die seit 1679 die Namen Tories und Whigs trugen. Die Tories bekannten sich zur Begründung der Monarchie durch göttliches Recht sowie zur Einheit von Kirche und Staat. Einen Widerstand gegen die königliche Gewalt hielten sie für unerlaubt. Anders die Whigs: Sie bestritten die göttliche Legitimation der königlichen Autorität, nahmen protestantischen Widerstand für sich in Anspruch; sie waren bereit, den Dissenters eine politische Heimat zu gewähren. O-TON: CHRISTOPH HOUSWITSCHKA Es gibt bestimmte Themen, die bei Defoe immer wiederkehren, und das sind Themen, die wir heute immer noch in unseren Gesellschaften verhandeln: Migration - ist Migration etwas Gutes? Ist es etwas Schlechtes? Defoe war ein glühender Befürworter der Migration. Er hat einen ganz wesentlichen Beitrag gehabt, Anfang des 18. Jahrhunderts, eine Gesetzesinitiative durchs Parlament zu bringen, was leider nur ein Jahr gehalten hat, um Kriegsflüchtlinge aus den linksrheinischen Gebieten - also Deutsche, die aufgrund der kriegerischen Unternehmungen von Ludwig XIV. alles verloren hatten - in England aufzunehmen. Und sein Argument war ein Argument, was wir heute auch noch hören. Er hat gesagt: "Wenn diese Leute zu uns kommen, werden sie tüchtig daran arbeiten, eine eigene Existenz aufzubauen. Sie brauchen Nahrungsmittel, sie brauchen Kleidung, sie brauchen alles Mögliche, was unsere Wirtschaft positiv beeinflussen wird, unsere Wirtschaft nach vorne bringen wird." Das waren Defoes Argumente. Erzähler: An der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert regierte in England König Wilhelm der Dritte von Oranien, ein gebürtiger Holländer. Diesen Umstand wollten die Whigs nutzen, um die Rechte des Königs zu beschneiden. Dabei bezogen sie sich auf einen Beschluss des englischen Parlaments aus dem Jahre 1698. Demnach durfte die einheimische Armee nur noch aus gebürtigen Engländern bestehen. Wie, fragten die Whigs, konnte es dann sein, dass es sich ausgerechnet beim König NICHT um einen Engländer handelte? In einem Pamphlet wurden der König und sein Beraterstab daraufhin sogar als "Buren-Brut" verunglimpft. Dies ging Daniel Foe eindeutig zu weit. Noch Jahre später sollte er wettern über... Zitator Daniel Defoe: ...dieses niederträchtige schimpfliche Pamphlet in sehr schlechten Versen, worin der Autor über den König persönlich herfiel und anschließend über die holländische Nation; und nachdem er seine Majestät mit Verbrechen zusammengebracht hat, an die nicht einmal dessen schlimmster Feind ohne Schrecken denken könnte, summiert er all das unter der anrüchigen Bezeichnung AUSLÄNDER. Erzähler: Als direkte Antwort auf das Pamphlet der Whigs veröffentlichte Daniel Foe 1701 ein längeres, satirisches Gedicht. Es trug den Titel "The True-Born Englishman", "Der waschechte Engländer". Darin hieß es unter anderem: Zitator Daniel Defoe: Jede Nation, die Englands Kräfte schränkte ein Brachte eig'ne Sprach' und Sitten neu hinein. Ein unsich'res, recht ungleiches Volk ist so entstanden Indem sich alle Nationen in ihm verbanden. "Ein echter Engländer" ist ein Widerspruch, ironisch Wort und Wahrheitsbruch. Erzähler: Das Gedicht, mit dem Daniel Foe für Toleranz gegenüber nationalen und religiösen Minderheiten eintrat, wurde auf Anhieb zum Besteller. Der überraschende Erfolg brachte ihn dazu, seinem Nachnamen Foe die noble Vorsilbe De hinzuzufügen. Von da an trug er offiziell nur noch den Namen Daniel Defoe. Musik Erzähler: Im Laufe seines Lebens sollte Daniel Defoe insgesamt weit über 500 so genannte Pamphlete veröffentlichen. Das waren oft überspitzt formulierte Streit- oder auch Schmähschriften zu allen möglichen wissenschaftlichen, religiösen oder politischen Themen. Damit wurde Defoe in einer Phase politischer und gesellschaftlicher Umbrüche zu einem wichtigen Vordenker seiner Zeit. Eine der von ihm entwickelten Ideen betraf die Einrichtung einer Bildungs-Akademie für Frauen. Heiko Postma. O-TON: HEIKO POSTMA Er hat das mit einem großen Engagement vertreten und immer wieder festgestellt, dass Männer und Frauen völlig gleichrangig seien - dass aber durch die politische Situation Frauen also darauf reduziert würden, außer Lesen und Schreiben vielleicht noch Häkeln und Nähen zu lernen, aber von Bildungseinrichtungen ferngehalten würden. Und das sah er als einen großen Skandal an - möglicherweise dadurch bedingt, dass die Männer befürchteten, die Frauen könnten ihnen überlegen sein. Zitator Daniel Defoe: Ich habe es immer für eine der barbarischsten Gewohnheiten in der Welt gehalten, dass wir, die wir uns als zivilisiertes und christliches Land betrachten, den Frauen die Vorzüge der Bildung verweigern. Wir behandeln dies Geschlecht tagtäglich mit Torheit und Impertinenz; dabei bin ich mir gewiss, hätten die Frauen gleich uns die Vorzüge von Unterricht genossen, sie würden sich weniger zuschulden kommen lassen als wir. Tatsächlich muss man sich wundern, wie es angehen kann, dass Frauen überhaupt so konversationssicher sind, da sie all ihr Wissen nur ihren natürlichen Anlagen verdanken. Ihre Jugend besteht darin, dass man ihnen beibringt, zu nähen und zu sticken oder irgendwelchen Krimskrams anzufertigen. Sicher, man lehrt sie lesen und vielleicht noch, ihren Namen zu schreiben oder so etwas; und das ist der Höhepunkt im Bildungsgang einer Frau. Die Seele sitzt im Körper wie ein Rohdiamant und muss geschliffen werden, oder ihr Glanz wird niemals zum Vorschein kommen. Und das steht fest: so, wie uns die vernünftige Seele vom Vieh unterscheidet, so weitet Erziehung diesen Abstand aus und macht einige weniger roh als andere. Dies ist zu offenkundig, um noch irgendeines Beweises zu bedürfen. Aber warum sollte dann den Frauen das Recht auf Bildung vorenthalten werden? Wenn Wissen und Verstehen nutzlose Beigaben dieses Geschlechts gewesen wären, hätte der allmächtige Gott den Frauen niemals die Befähigung dazu gegeben, denn er schuf nichts Zweckloses. Was also hat die Frau nur getan, dass sie das Recht auf Bildung einbüßte? Die Fähigkeiten der Frauen sind vermutlich größer, ihre Sinne rascher als jene der Männer; was uns den Vorwurf der Ungerechtigkeit einträgt, und was so aussieht, als würden wir den Frauen die Vorzüge der Bildung verweigern, aus Angst, sie könnten, einmal fortgeschritten, mit den Männern konkurrieren. Erzähler:: Die Frauen-Bildungsanstalt blieb beileibe nicht das einzige Projekt, das Daniel Defoes Gedanken entsprang. Einige von ihnen veröffentlichte er als Aufsatz-Sammlung. Diese enthielt alle möglichen Vorschläge zur - so Defoe wörtlich - "Verbesserung des wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebens der Nation". So etwa eine genossenschaftlich betriebene Landwirtschaftsbank, ein fertig ausgearbeitetes System zur Instandsetzung sowie Instandhaltung von Fernstraßen oder eine Sozialversicherung,... Zitator Daniel Defoe: ... durch die im Notfall auch der erbarmungswürdigste und ärmste Mensch einen Mindestunterhalt beanspruchen könnte, damit er ihn nicht als Almosen erbetteln muss. Erzähler: Die Idee eines "bedingungslosen Grundeinkommens" gab es Dank Daniel Defoe also schon 1697! Und es gibt noch mehr aktuelle Bezüge, die sich zwischen seinen damaligen Überlegungen und unserer modernen Welt herstellen lassen. Noch einmal der Anglist Christoph Houswitschka aus Bamberg. O-TON: CHRISTOPH HOUSWITSCHKA Nun darf man natürlich nicht glauben, dass Defoe nur ein Vertreter von Ideen war, die wir heute alle unbedingt akzeptieren und befürworten würden. Defoe lebt natürlich in einer Zeit, in der sich das britische Empire ausdehnt, in der die Kolonisierung anderer Länder fortschreitet. Das hat natürlich bestimmte Konsequenzen, auch im Hinblick auf sein Weltbild. Er ist Befürworter von "free trade" - ein Thema, was uns heute wieder beschäftigt, weil einige glauben, free trade wäre zum Nachteil ihrer Länder. Defoe ist einer der ganz frühen Vertreter eines unbedingten free trade, Freihandels, damit möglichst viele Länder miteinander Handel treiben können. Sein Argument ist: Jeder produziert etwas, was der andere nicht hat. Und im Austausch dieser Waren wird die Wirtschaft aller Beteiligten nach vorne gebracht, und jeder kann nur davon profitieren. Ein Argument, das wir heute auch noch hören. Defoe hat das fast wörtlich so in seine - typisch für Dissenter eben - in seinen Schriften immer wieder festgehalten. Zitator Daniel Defoe: Jede Nation hat etwas, was sich von ihr holen lässt und etwas, womit sie mit einer anderen tauschen kann. Sie besitzt etwas im Überfluss, was eine andre benötigt. Der Handel, ein Wechselspiel von Export und Import, kann sogar Berge versetzen, kann sie übers Meer in andere Länder schaffen. Welch ein großer Teil der "Terra Firma" wurde nicht von Newcastle in Form von Kohle weggeführt, deren Asche sich in den meisten Ländern der Welt mit dem dortigen Boden vermischt hat? O-TON: CHRISTOPH HOUSWITSCHKA Er ist ein Befürworter dessen, was wir heute Globalisierung nennen würden - und der Begriff ist in seiner Zeit durchaus auch schon anwendbar. Denn das britische Empire dehnt sich mächtig aus in dieser Zeit. Für ihn ist also diese Globalisierung ganz einfach auch Kolonisierung. Das muss man ganz deutlich sagen - und mit dieser Kolonisierung kommt natürlich auch ein ganz bestimmtes Menschenbild: Die Briten sind diejenigen, die diese neuen Möglichkeiten der Wirtschaft tatsächlich umsetzen können und anderen Völkern nahebringen können. Erzähler: Daniel Defoes öffentliches Eintreten für Globalisierung und Kolonisierung sollte sich später auch in ROBINSON CRUSOE widerspiegeln. Denn bevor es Robinson auf die einsame Insel verschlug, hatte er sich in Brasilien als Besitzer großer Zucker- und Tabakplantagen selbstständig gemacht. Zwei Jahre lang steckte Robinson Crusoe eine Menge Geld in das Projekt. Um geschäftlich schneller voranzukommen, ließ er sich zusätzlich aus England wertvolle Tauschgüter liefern. Zitator Robinson Crusoe: Da es sich bei der Ware um englische Erzeugnisse wie Tuche aus Leinen, Wolle und Baumwolle sowie weitere Dinge handelte, die hier sehr begehrt und deshalb sehr wertvoll waren, fand ich Mittel und Wege, sie mit großem Gewinn zu verkaufen, sodass ich sagen darf, dass ich den ursprünglichen Wert der Fracht vervierfachen konnte und hinsichtlich des Auf- und Ausbaus meiner Plantage unendlich viel besser dran war als mein armer Nachbar. Das Erste, was ich mit dem Geld anstellte, war, mir einen Schwarzen als Sklaven sowie einen europäischen Diener zu leisten. Doch wie so oft aus falsch verwendetem Wohlstand größtes Unglück erwächst, so erging es auch mir. Im folgenden Jahr betrieb ich die Plantage mit großem Erfolg und erntete vom eigenen Grund und Boden fünfzig große Ballen Tabak, nicht mitgerechnet die Menge, die ich bei meinen Nachbarn gegen Lebensnotwendiges eingetauscht hatte, und diese fünfzig Ballen, ein jeder mehr als einen Zentner schwer, warteten gut getrocknet und gelagert auf die Rückkehr der Schiffe aus Lissabon. Doch je mehr meine Geschäfte florierten und mein Wohlstand wuchs, desto mehr Pläne und Projekte geisterten mir im Kopf herum, die meine Mittel überstiegen, und genau das ist es, was häufig selbst die besten Geschäftsleute in den Ruin treibt. Hätte ich mich mit dem Lebensstandard, den ich erreicht hatte, zufriedengegeben, dann hätte ich mich all der Annehmlichkeiten erfreuen können, die mir bereits zuteilgeworden waren, derentwegen mir mein Vater so nachdrücklich ein geruhsames und zurückhaltendes Leben ans Herz gelegt hatte und mit denen in seiner Schilderung der mittlere Stand reich gesegnet war. Doch mich erwartete anderes, denn ich sollte der willige Vollstrecker meines eigenen Unheils werden, meine Schuld mehren und die Grübeleien über mich selbst verdoppeln, wozu ich in meinem künftigen Elend genügend Muße haben sollte. All diese Irrtümer waren dem Umstand geschuldet, dass ich unbeirrbar an meiner zweifelsohne törichten Neigung festhielt, in der Welt herumzuschweifen. Erzähler: Mit Robinson Crusoes weiterem Schicksal werden wir uns in der zweiten Stunde unserer Langen Nacht noch ausführlicher beschäftigen. Ohne seinen Drang, Geschäfte zu machen und dafür die Ozeane zu überqueren, wäre ihm sein berühmtes Inselabenteuer jedenfalls erspart geblieben. Was spielte sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts politisch in England ab? Am 19. März 1702 kam König Wilhelm der Dritte bei einem Reitunfall ums Leben. Weil Wilhelms eigene Ehe kinderlos geblieben war, wurde seine Schwägerin, Anne Stuart, zur Thronfolgerin ernannt. Der Defoe- Biograf Wolfgang Riehle schreibt: Zitator: In der veränderten politischen Lage musste man mit einer lang anhaltenden Tory- Mehrheit im Unterhaus rechnen. Dies bedeutete für die Dissenters erneut eine größere Bedrohung. Die Stimmung gegen sie wurde durch einen populistischen, ja extremistischen Tory-Geistlichen angeheizt. Dieser hatte die Church of England aufgefordert, "die Dissenters mit der blutigen Flagge des Widerstandes zu konfrontieren". Wiederum fühlte sich Defoe zum Eingreifen mit seiner wichtigsten Waffe aufgerufen, dem Pamphlet. Erzähler: Für seine Erwiderung wählte Daniel Defoe einen reichlich provokanten Stil. Schon der Titel hatte es in sich: "The Shortest Way With The Dissenter" - "Wie man mit dem Dissenter kurzen Prozess macht". Wie Heiko Postma erklärt, schlüpfte Defoe damit gewissermaßen in die Rolle eines Vertreters der anglikanischen Kirche,... O-TON: HEIKO POSTMA ... der mehr oder weniger direkt fordert, die Dissenter zu liquidieren. Das hat zweierlei bewirkt: zum einen, dass Defoe plötzlich zwischen allen Stühlen saß, weil auch seine eigenen Leute fanden, dass das übertrieben war. Während er selber meinte, man müsste die Ironie doch heraushören. Aber Defoe hat immer Probleme mit der Ironie gehabt, die ist nicht so ganz leicht zu erkennen. Erzähler: Daniel Defoe wurde plötzlich wegen Verleumdung und Volksverhetzung steckbrieflich gesucht. Zitator: Er ist mittelgroß, hager, etwa 40 Jahre alt, hat eine bräunliche Hautfarbe und dunkelbraune Haare, trägt aber Perücke. Hakennase, spitzes Kinn, graue Augen und ein großes Muttermal in der Mundgegend. Erzähler: Um sich dem Zugriff des englischen Rechts zu entziehen, floh Daniel Defoe erneut - diesmal aufs schottische Festland. Doch dort hielt er es nicht lange aus. Wie schon zuvor, bei seiner Flucht auf die Orkney-Inseln, trieb ihn die Sorge um Frau und Kinder schließlich zurück nach London. Dort wurde Defoe jedoch von einem Denunzianten verraten. Denn auf seinen Kopf war eine Belohnung ausgesetzt. Daniel Defoe wurde daraufhin öffentlich an den Pranger gestellt und er landete für eine zunächst unbestimmte Zeit im berüchtigten Londoner Gefängnis Newgate. O-TON: HEIKO POSTMA Da hat aber der englische Premierminister Harley eingegriffen und Defoe aus dem Gefängnis entlassen. Erzähler: Robert Harley, der der neuen Regierung vorstand, konnte sich schlicht nicht vorstellen, dass Daniel Defoe sein provozierendes Traktat über die Dissenter tatsächlich wörtlich gemeint hatte. Ein politisch derart versierter Autor, so glaubte Harley, dürfe sein Dasein nie und nimmer im Gefängnis fristen. Harley fragte Defoe sogar, ob sich dieser vorstellen könne, im Auftrag der Regierung quasi als Geheimagent nach Schottland zu reisen. O-TON: HEIKO POSTMA Man muss dazu wissen, dass damals ja die Verhandlungen liefen, dass man Schottland in das Königreich integrieren könnte. Das war alles unter Queen Anne. Das sollte also jetzt vorbereitet werden, und Defoe ist nach Schottland geschickt worden, um dort under cover, in verschiedensten Rollen - die er alle übrigens glänzend gespielt hat - für diese Union zwischen England und Schottland zu werben. Erzähler: Nachdem er fünf Monate Haft abgesessen hatte, ließ sich Daniel Defoe nicht zweimal bitten. Und so schickte er aus Schottland an Harley schon bald regelmäßige Geheimberichte. Zitator Daniel Defoe: Edinburgh, den 26. November 1706. Ich habe meine ersten und wichtigsten Schritte ausgesprochen glücklich gesetzt, dahingehend, dass ich vollkommen unverdächtig bin, mit irgendjemandem in England zu korrespondieren. Ich stehe in Kontakt mit Presbyterianern, Episkopal-Abweichlern, Papisten und Non-Juroren - und dies, so hoffe ich, mit jeweils gleicher Umsicht. Sie werden, wie ich mir schmeichle, über mein Auftreten nicht zu klagen haben. Ich habe in jeder Gruppierung vertrauenswürdige Kundschafter, und ich spreche mit Jedermann in dessen spezifischer Weise: Für die Kaufleute will ich mich hier geschäftlich niederlassen, Schiffbau betreiben, etc. Für die Juristen will ich Haus- und Grundbesitz erwerben, um meine Familie herzubringen und davon zu leben. Heute werde ich mit einem Parlamentsmitglied einen Partnerschaftsvertrag für eine Glashütte abschließen, morgen mit einem anderen für eine Saline. Bei den Meuterern in Glasgow gelte ich als Fischhändler, bei den Aberdeenern als Woll-Fachmann und bei denen in Perth und im Westen als Leinwand-Aufkäufer; und stets ist am Ende des Gesprächs die Union das Eigentliche, und jedem gegenüber setze ich alles daran, dass ich einige dafür gewinne. O-TON: HEIKO POSTMA Als er dann wiederkam, hat Harley ihm eine Zeitschrift - die erschien mehrmals pro Woche - gegeben: THE REVIEW, in der er die politische Situation der Zeit beleuchtet hat. Das Problem war, das Harley ein Tory-Minister war, während Defoe ja als Whig galt - also bei der Opposition, man würde heute sagen: bei der linken Opposition, so dass seine Parteifreunde ihm natürlich vorgeworfen haben, er würde mit den Konservativen paktieren. Der Witz an der Geschichte ist: Als später mal die Whigs an die Macht kamen, ist er politisch umgeschwenkt und hat wieder Whig- Politik gemacht. Und er hat das nie selber irgendwie als ehrenrührig empfunden, dass er mal für die eine, mal für die andere Seite war, weil er mehr oder weniger der Meinung war, die Politiker taugten eigentlich alle nichts. Zitator Daniel Defoe: Ich habe das Innerste aller Parteien bis in den hintersten Winkel kennengelernt, bis in den hintersten Winkel aller ihrer Gaukeleien und bis auf den fadenscheinigen Boden ihrer Aufrichtigkeit - alles ist bloße Komödie, leere Fassade und erbärmliche Heuchelei, bei jeder Partei, in jedem Zeitalter, unter jeder Regierung und bei jedem Regierungswechsel. Heuchelei der Opposition, um an die Regierung zu kommen, und Heuchelei der Regierung, um ihren eigenen Sturz zu verhindern. Erzähler: Einen Großteil der Beiträge für die REVIEW verfasste Daniel Defoe persönlich. Insgesamt neun Jahre sollte er als verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift arbeiten. Doch eines Tages hörte Daniel Defoe von dem tragischen Schicksal eines schottischen Seefahrers. Dieser hatte angeblich lange Zeit völlig allein auf einer einsamen Insel zugebracht. Erst nach vier Jahren und vier Monaten war er schließlich von einem vorüberfahrenden Schiff entdeckt und gerettet worden. Durch den Bericht neugierig geworden, beschloss Daniel Defoe, sich etwas näher mit der Geschichte dieses schottischen Seefahrers zu beschäftigen... Musik ATMO: EINSAMER STRAND, WELLENRAUSCHEN Zitator: Im Verlaufe der Fahrt der Kaperschiffe DUKE und DUCHESS, Heimathafen Bristol, gelangten sie zu einer Insel namens Juan Fernandez; woselbst sie ihre Pinasse an Land schickten, die kurz darauf mit einem Manne an Bord zurückkam, der in Ziegenfelle gekleidet war und ebenso wild anmutete wie die Ziegen selbst. An Bord der DUKE genommen, sagte jener aus, er sei vier Jahre und vier Monate auf der Insel gewesen, nachdem er ungefähr im Jahre 1705 ausgesetzt worden sei. Sein Name war Alexander Selkirk, Schotte. Als er das erste Mal zu uns an Bord kam, hatte er seine Sprache aus Mangel an Gebrauch so sehr vergessen, dass wir ihn kaum verstehen konnten, denn er schien die Worte nur halb auszusprechen. Wir boten ihm einen Schluck Rum, den er aber nicht anrührte, da er während seines Aufenthaltes hier nur Wasser getrunken hatte, und es verging einige Zeit, bis er unser Essen genießen konnte. Erzähler: Alexander Selkirk, dessen Schicksal in diesem Bericht eines anonymen Verfassers beschrieben wurde, hatte seit seinem neunzehnten Lebensjahr auf unterschiedlichen Schiffen angeheuert. So war er unter anderem ab 1704 zunächst auf dem englischen Kaperschiff ST. GEORGE mitgesegelt, später auf dessen Begleitschiff CINQUE PORTS. Die Mannschaften beider Schiffe waren ausgestattet mit einem so genannten Kaperbrief der britischen Krone. Das hieß: Sie hatten den offiziellen Auftrag, vor der Küste Südamerikas französische und spanische Schiffe aufzubringen und die von diesen transportierten Güter und Wertsachen zu erbeuten. Andrew Lambert, Marinehistoriker am Londoner King's College, erklärt die historischen Hintergründe. O-TON: ANDREW LAMBERT The war at seas is very much about international, global trade. VOICE OVER: Im damaligen Seekrieg spielte der Welthandel eine wichtige Rolle. Die Spanier hatten ihr Reich bis nach Südamerika ausgedehnt und die Engländer wollten eigentlich mit ihnen Handel treiben. Aber die Spanier hatten darauf keine Lust und errichteten hohe Zollbarrieren. Darauf antworteten die Engländer, indem sie Segelschiffe nach Südamerika schickten und die dort fahrenden, spanischen Handelsschiffe kapern ließen. Damit versetzten sie der spanischen Wirtschaft einen schweren Schlag. It's low-grade warfare. But it's very damaging to Spanish economy. Erzähler: Die in der Regel mehrmonatigen Kaperfahrten brachten für die Beteiligten nicht nur extreme Wetterbedingungen mit sich, sondern auch oft unmenschliche Entbehrungen. Darum kam es zwischen den Kapitänen der ST. GEORGE und der CINQUE PORTS immer wieder zum Streit. Dies führte letztlich dazu, dass die beiden Schiffe getrennte Wege fuhren. Alexander Selkirk beschloss, sich der Besatzung der CINQUE PORTS anzuschließen. Deren Kapitän hieß Thomas Stradling. O-TON: ANDREW LAMBERT Thomas Stradling, the captain of the "Cinque Ports" Galley, is a key figure in the Selkirk story. VOICE OVER: Thomas Stradling, der Kapitän der CINQUE PORTS, spielte in Bezug auf Selkirks Schicksal eine Schlüsselrolle. Beide gerieten in heftigen Streit miteinander. Bei Selkrik handelte es sich um einen erfahrenen Seemann. Er glaubte, Stradling sei inkompetent - womit er durchaus Recht hatte. Selkirk befürchtete, unter Stradlings Leitung sei das Schiff nicht sicher. Denn dieser hatte das Kommando nur deshalb zugewiesen bekommen, weil der ursprüngliche Kapitän, unter dem Selkirk angeheuert hatte, gestorben war. Wäre dieser Kapitän noch am Leben gewesen, dann wäre Selkirk auch an Bord der "Cinque Ports Galley" geblieben, als diese von der Insel Juan Fernandez ablegte. Stradling aber überredete Selkirk, zurückzubleiben. So he is a critical element, in a negative sense. He is the bad captain who persuaded Selkirk to go ashore. Erzähler: Die Autorin Diana Souhami hat ein Buch geschrieben mit dem Titel SELKIRKS INSEL. Der Untertitel lautet: "Die wahre Geschichte von Robinson Crusoe". Darin berichtet Souhami anhand historischer Aufzeichnungen, was genau zwischen Alexander Selkirk und seinem Kapitän, Thomas Stradling, seinerzeit vorfiel - damals, im September des Jahres 1704. Die CINQUE PORTS hatte demnach im Zuge einer stürmischen Fahrt die Insel mit Namen Juan Fernandez angelaufen - gelegen rund 670 Kilometer westlich der chilenischen Küste. Zitator: Die CINQUE PORTS wurde übergeholt, und man nahm die Reparaturarbeiten in Angriff. Aber ohne Ersatzmasten und -tauwerk war es ein mühseliges Unterfangen. Und eine Art Würmer, so genannte Schiffsbohrmuscheln, hatten den Schiffsboden befallen und die Eichenplanken zernagt. Laut Selkirks Aussage sahen diese Planken "wie eine Bienenwabe" aus. Es sei ein "großer Fehler" gewesen, den Rumpf nicht von Anfang an mit geteertem Filz zu verhäuten. So konnten die Küfer, Schmiede, Kalfaterer und Segelmacher trotz all ihrer Anstrengungen nur wenig ausrichten. Die Masten wurden gespleißt und die Segel geflickt, aber die Planken blieben so wurmstichig, wie sie waren. Und das Verhältnis zwischen Selkirk als dem Steuermann des Schiffes und Stradling als dessen Kapitän wurde zunehmend feindseliger. Selkirk hielt es für unsinnig, ihre Fahrt auf diesem lecken Schiff, das bei rauer See keinerlei Sicherheit bot, fortzusetzen. Sie würden damit kein feindliches Schiff angreifen keinerlei Beute machen können. Er sagte Stradling, sie sollten nicht eher weitersegeln, als bis sie die Möglichkeit gehabt hätten, die Bohrmuscheln durch Ausbrennen des Schiffsrumpfs abzutöten und die beschädigten Planken zu ersetzen. Erzähler: Alexander Selkirk war entschlossen, noch eine gewisse Zeit auf der Insel zu bleiben. Doch Thomas Stradling zeigte sich unerbittlich. Der Kapitän wollte unbedingt wieder in See stechen. Denn seine Kaperfahrt war bis dahin reichlich erfolglos verlaufen. Um das Unternehmen wenigstens halbwegs zu retten, plante Stradling, möglichst bald in Richtung Peru aufzubrechen. Dort wollte er mit seiner Mannschaft eine Galeone aus Manila kapern. Diese hatte wertvolles mexikanisches Silber an Bord. Diana Souhami schreibt: Zitator: Anfang Oktober ordnete Stradling an, Segel zu setzen. Selkirk riet der Besatzung, den Befehl zu verweigern. Seiner Ansicht nach würden sie mit diesem Schiff nirgendwo anders als auf dem Meeresboden landen. Stradling reagierte mit herablassendem Spott auf seine "übertriebene" Vorsicht. Selkirk geriet in Rage und antwortete mit seinen Fäusten. Stradling bezichtigte ihn der Anstiftung zur Meuterei. Er erklärte, er solle seinen Willen haben und auf der Insel bleiben. Das sei immer noch ein besseres Los, als ihm eigentlich zustünde. Stradling befahl, Selkirks Seemannskiste, Kleidung und Bettzeug an Land zu bringen. Selkirk beobachtete vom Strand aus, wie die Männer sich für die Abfahrt rüsteten. Er bat Stradling, ihm zu verzeihen, ihm zu erlauben, wieder an Bord zu kommen - er werde sich von nun an fügen. Stradling erwiderte, er solle sich zum Teufel scheren; wenn es nach ihm ginge, könnten sich ruhig die Geier an ihm mästen. Selkirk sah zu, wie die kleinen Boote abfahrbereit gemacht wurden. Er sprang von Stein zu Stein und versuchte an Bord zu steigen, wurde aber zurückgestoßen. Er watete ins Wasser und flehte um Erbarmen. Er sah zu, wie der Anker gelichtet und das Schiff auf das offene Meer geschleppt wurde. Es wehte eine leichte Brise aus West. Das Schiff schob sich hinter die Steilküste und verschwand. Erzähler: Alexander Selkirk sollte insgesamt vier Jahre und vier Monate auf der einsamen Insel verbringen., bevor er schließlich gerettet wurde. Immerhin war ihm durch seine Meuterei das Schicksal jener Matrosen erspart geblieben, die vor seinen Augen auf der CINQUE PORTS davongesegelt waren. Denn es kam tatsächlich so, wie es Selkirk bereits vorausgeahnt hatte: Die seeuntüchtige CINQUE PORTS sank, die komplette Besatzung kam ums Leben. Selkirks Rettung nach 52 Monaten Einsamkeit beschrieb einige Zeit später der bereits zitierte Bericht des anonymen Autors: Zitator: Er wurde dadurch entdeckt, dass er am Abend zuvor ein Feuer entzündete, als er oben erwähnte zwei Kaperschiffe sichtete und für englische Schiffe erachtete; wodurch jene erst, da sie sie für eine bewohnbare Insel hielten, ihr Boot zum Kundschaften ausschickten; und so ward er wunderbar errettet aus jener einsamen und beschwerlichen Gefangenschaft, die anders, aller Wahrscheinlichkeit nach, sein Leben dortselbst elendiglich geendet hätte. Er sagte, er habe während seines Aufenthalts hier einige Schiffe vorbeifahren sehen, doch seien nur zwei hereingekommen, um zu ankern; diese habe er für Spanier gehalten und sei vor ihnen geflüchtet, worauf sie auf ihn gefeuert hätten. Wären es Franzosen gewesen, so sagte er, hätte er sich ihnen ergeben, zog es jedoch vor, eher den Tod auf der Insel in Kauf zu nehmen, als in jenem Teil der Welt den Spaniern in die Hände zu fallen, da er glaubte, dass sie ihn entweder ermorden oder zum Sklaven in ihren Minen machen würden. Erzähler: Irgendwann, um das Jahr 1710 herum, gelangte der Bericht über Alexander Selkirks Schicksal schließlich auch in die Hände Daniel Defoes. O-TON: ANDREW LAMBERT And his story is then taken up by Daniel Defoe who is the inventor of the modern English novel, also a spy, a propagandist. VOICE OVER: Selkirks Geschichte wird von Daniel Defoe aufgegriffen, den man als Erfinder des modernen englischen Romans bezeichnen könnte. Durch Defoes geübte Hand wandelt sich Selkirk vom schottischen Seefahrer, der vor allem an Kaperfahrten teilnimmt, in eine ganz andere Person. Darum steht Selkirk schließlich gar nicht im Zentrum von ROBINSON CRUSOE - er liefert letztlich nur eines von vielen Details für das Buch. Defoe war ein unglaublich belesener Zeitgenosse. Er kannte sämtliche Literatur, die für ihn wichtig war. Insofern hat er sich für den "Robinson" nicht nur an einem einzigen Bericht orientiert, sondern an so ziemlich allen Geschichten, die er über die Südsee finden konnte. Sie alle hat er dann miteinander verwoben - um letzten Endes ein Schicksal zu erzählen, das mit Piraterie so gut wie gar nichts mehr zu tun hatte. This is all the stories about the South Seas that he can find, and they are all mixed-up in a particularly inventive way - to support an agenda which has got nothing to do with buckaneering. Erzähler: Zum ersten Mal überhaupt in seinem Leben machte sich Daniel Defoe daran, einen Roman zu Papier zu bringen. Weil er es als Journalist und Verfasser von Pamphleten aber gewohnt war, eher sachlich zu schreiben, tarnte er sein Werk als Tatsachenbericht. Veröffentlicht wurde die von ihm im Grunde dennoch völlig frei erfundene Geschichte schließlich im April 1719. Der vollständige Titel lautete: Zitator Robinson Crusoe: Das Leben und die außergewöhnlich erstaunlichen Abenteuer des Seefahrers ROBINSON CRUSOE aus York, der achtundzwanzig Jahre lang allein auf einer einsamen Insel vor der Küste Amerikas unweit der Mündung des Orinoco lebte, an deren Ufer es ihn nach einem Schiffbruch verschlagen hatte, bei dem außer ihm die gesamte Besatzung zu Tode kam. Mit einem Bericht darüber, wie er schließlich auf ebenso eigentümliche Weise von Piraten gerettet wurde. Von ihm selbst verfasst. Erzähler: Was sich Daniel Defoe für ROBINSON CRUSOE im Einzelnen alles ausgedacht hatte, wie das Buch bei den Lesern ankam und warum der Inhalt bei manchen Menschen noch dreihundert Jahre später heftige Kopfschmerzen verursacht - das, erzählen wir Ihnen in der zweiten Stunde unserer Langen Nacht. Musik 2. Stunde MUSIK ATMO: MEERESRAUSCHEN Zitator Robinson Crusoe: Noch immer wusste ich nicht, wo ich war, ob auf dem Festland oder auf einer Insel, ob in bewohntem oder unbewohntem Gebiet, ob Gefahr durch wilde Tiere drohte oder nicht. In weniger als einer Meile Entfernung lag ein recht steiler und hoher Hügel, der einige andere Hügel, die in nördlicher Richtung einen Höhenzug bildeten, zu überragen schien. Ich nahm eine der beiden Vogelflinten, eine Pistole und ein Pulverhorn, und derart bewaffnet, machte ich mich daran, zum Gipfel des Hügels zu steigen, wo ich, nachdem ich mit einiger Mühe hinaufgelangt war, zu meiner Bestürzung mein Schicksal deutlich vor mir sah, denn ich befand mich auf einer Insel, die in alle Richtungen von Wasser umschlossen war, Land war keines zu sehen, außer einigen Felsen, die in großer Entfernung zu erkennen waren, und zwei kleinen Inseln, kleiner als diese, die etwa drei Wegstunden westlich lagen. Unschwer erkennen konnte ich auch, dass die Insel, auf der ich mich befand, öde und unwirtlich und nur von wilden Tieren bewohnt war, wie ich anzunehmen gute Gründe hatte, auch wenn ich keines sehen konnte. Erzähler: Mit diesen Worten beschreibt Robinson Crusoe jene Insel, auf der er in Daniel Defoes Roman insgesamt mehr als achtundzwanzig Jahre verbringen wird. Wie wir inzwischen wissen, hatte sich Defoe für sein Buch durch das Schicksal des schottischen Seefahrers Alexander Selkirk inspirieren lassen. Das reale Eiland, auf dem Selkirk im September 1704 ausgesetzt worden war, befindet sich rund 670 Kilometer westlich der chilenischen Küste. Zwar diente Alexander Selkirk gewissermaßen als Vorbild für ROBINSON CRUSOE. Doch verortete Daniel Defoe die Robinson-Insel in seinem Roman an völlig anderer Stelle. Noch einmal der Londoner Marinehistoriker Andrew Lambert. O-TON: ANDREW LAMBERT Robinson Crusoe island in Chile, Juan Fernandez, has got nothing to do with the Robinson Crusoe story. VOICE OVER: Die nach Robinson Crusoe benannte Insel, die zuvor den Namen Juan Fernández getragen hatte, hat mit der Geschichte im Roman nichts zu tun. Bei dieser handelt es sich nämlich um eine frei erfundene Insel, die sich an der Mündung zum Orinoko-Fluss befindet - an der karibischen Küste Südamerikas, und nicht an der pazifischen. Das liegt daran, dass der Orinoko sehr eng verknüpft ist mit einem von Daniel Defoes Helden, Sir Walter Raleigh. Raleigh war am Orinoko auf der Jagd nach spanischem Gold gewesen. ... who sailed up the Orinoco to raid the Spanish for gold. Erzähler: Sir Walter Raleigh war schon gut einhundert Jahre verstorben, als ROBINSON CRUSOE erschien. Raleigh hatte in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts als Seefahrer die Welt bereist und galt als Günstling der damaligen englischen Königin, Elisabeth der Ersten. Auch zählte er zu einer der einflussreichsten Persönlichkeiten Englands. Unter anderem finanzierte Raleigh eine Expedition, die 1585 die Gründung der ersten englischen Kolonie in Nordamerika zur Folge hatte. Zehn Jahre später führte der Entdecker eine Expedition nach Südamerika an, um am Orinoko nach Gold zu suchen. Seine dort gemachten Erfahrungen veröffentlichte Raleigh anschließend in einem Reisebericht. Gelesen wurde dieser - allerdings erst mit mehreren Jahrzehnten Verspätung - unter anderem auch von Daniel Defoe. O-TON: ANDREW LAMBERT So Defoe is situating his story in a place which is already mythic for the British. VOICE OVER: Defoe verpflanzt seine Robinson-Geschichte also an einen Ort, der für die Briten damals geradezu mythisch aufgeladen war. Defoe wusste eine Menge über Raleigh. Raleigh ist gewissermaßen sein Vorläufer, der ein bestimmtes Detail für den Roman liefert: einen elisabethanischen Seefahrer, der in Südamerika nach Gold suchte - geschrieben in der wundervollen Prosa des 16. Jahrhunderts. ... who sought gold in South America and who writes some of the most wonderful prose of the English in the 16th century. Zitator Robinson Crusoe: Da ich nun im Begriff stehe, einen melancholischen Bericht über ein Leben in völliger Abgeschiedenheit zu geben, wie die Welt ihn vielleicht noch nie vernommen hat, will ich vorn beginnen und der Reihe nach erzählen. Meiner Zählung nach war es der 30. September, als ich, wie beschrieben, zum ersten Mal einen Fuß auf diese grauenhafte Insel setzte, und während die Sonne bei uns gerade den herbstlichen Himmelsäquator überschritten hatte, stand sie hier fast im Zenit, denn nach meinen Berechnungen befand ich mich neun Grad zweiundzwanzig Minuten nördlich des Äquators. Nachdem ich zehn oder zwölf Tage auf der Insel verbracht hatte, kam mir die Befürchtung, dass ich aus Mangel an Papier, Federn und Tinte mit der Zeitrechnung durcheinanderkommen und auch die Sonntage nicht mehr von den Werktagen unterscheiden könnte. Um das zu verhindern, schnitzte ich mit meinem Messer in Großbuchstaben eine Inschrift in einen stattlichen Pflock, baute daraus ein großes Kreuz und stellte es an jener Stelle am Strand auf, an der ich die Insel erstmals betreten hatte. Und so lautete die Inschrift: "Hier bin ich am 30. September 1659 an Land gegangen." In die Flanken des viereckigen Pfahls schnitt ich jeden Tag mit dem Messer eine Kerbe, und jede siebte Kerbe machte ich doppelt so lang wie die anderen, und an jedem Monatsbeginn machte ich eine Kerbe, die doppelt so lang war wie die für die Sonntage, und so führte ich meinen Kalender beziehungsweise über Wochen, Monate und Jahre, die vergingen, Buch. Erzähler: Im Februar 1957 kam der Spielfilm "Robinson soll nicht sterben" in die deutschen Kinos. Er basierte auf dem gleichnamigen Bühnenstück des Theater- und Drehbuchautors Friedrich Forster von 1932. Der Film war hochkarätig besetzt. Auf der Leinwand zu sehen waren neben Gustav Knuth, Mario Adorf, Gert Fröbe und Elisabeth Flickenschildt auch der 23-jährige Mädchenschwarm Horst Buchholz sowie die erst 18-jährige Romy Schneider. In dem Film macht sich Daniel Defoe - gespielt von Erich Ponto - regelmäßig einen Spaß daraus, ein paar abenteuerhungrige Jungens mit seinen Robinson-Geschichten zu unterhalten. Das gefällt Romy Schneider alias Maud Cantley ganz und gar nicht. O-TON: FILM "ROBINSON SOLL NICHT STERBEN" Romy Schneider: Immer dasselbe! Ganz heiß ist Ihre Hand wieder, vor Aufregung. Dieses Geschichtenerzählen ist gar nicht gut für Sie. Defoe: Ach, lass' mich doch meine Geschichten erzählen! Die Kinder sind doch die einzigen, die noch auf mich hören. Romy Schneider: Die Jungen glauben wirklich, dass Sie der Robinson sind und dass Sie das alles selber erlebt haben. Defoe: Hab' ich auch, hab' ich auch! Romy Schneider: Aber Mr. Defoe - Sie haben doch Mutter und mir einmal selber gesagt, dass Sie in Wirklichkeit noch nie auf der Insel waren. Ein alter Matrose hat Ihnen die Geschichte erzählt. Defoe: Ja, ja. Er hat sie mir erzählt. Aber ich habe Sie aufgeschrieben. Und, weißt Du: Wenn man so alt wird, dann glaubt man eines Tages, man selber hätte das alles erlebt. Romy Schneider: Na, na, na, na, na... Defoe: Also gut - da hast Du einen alten Kerl wie mich wieder mal beim Lügen ertappt. Pfui, Teufel! Erzähler: Nicht nur die Jungen in der Verfilmung von 1957 fanden Gefallen an Daniel Defoes ROBINSON CRUSOE. Auch im realen Leben entpuppte sich Daniel Defoes angeblicher Tatsachenbericht schon kurz nach Erscheinen als regelrechter Bestseller. So war die erste Auflage vom April 1719 schon nach drei Wochen vergriffen - und das, obwohl das Buch immerhin die stolze Summe von fünf Shilling kostete. Das war damals mehr als die Hälfte eines Arbeiter-Wochenlohns. Drei weitere Auflagen folgten innerhalb kürzester Zeit. Parallel dazu kamen auch noch erste Raubdrucke auf den Markt. Dazu der Anglist Christoph Houswitschka aus Bamberg. O-TON: CHRISTOPH HOUSWITSCHKA Hier handelt's sich, im besten Sinne, um Hollywood. Es ist ein Unterhaltungs-Buch, und es ist keine hohe Literatur. Das war eine Geschäftsidee - und das war business. Er hat nicht geschrieben, um zu zeigen, dass er was Neues zur Literatur beitragen kann. Er hat geschrieben, um das Zeug zu verkaufen. Das waren sensationalistische Romane. Und so wurden die geschrieben: als Produkt. Und deswegen haben sie auch diese Verbreitung gefunden. Erzähler: Dass die angeblich wahre Geschichte von Robinson Crusoe tatsächlich frei erfunden war, schien die Leser nicht weiter zu stören. Im Gegenteil: Daniel Defoe reagierte damit im Grunde nur auf ein damals weit verbreitetes Misstrauen. Denn fiktionale Literatur galt beim puritanischen Publikum seinerzeit als minderwertig - ging es darin doch meist um ritterliche Helden- oder üble Schurkengestalten. Der Anglist Dieter Petzold schreibt: Zitator: In der Literaturgeschichtsschreibung wird Defoe häufig als der Begründer des realistischen Romans bezeichnet; er stattet seine Protagonisten mit praktischer Klugheit aus und wertet ihre Verfehlungen nicht als simple Zeichen moralischer Verworfenheit, sondern macht sie als Auswirkungen ungünstiger sozialer Umstände verständlich und bis zu einem gewissen Grade verzeihlich. So außergewöhnlich die Schicksale seiner Helden und Heldinnen auch sind, so erscheinen diese dennoch als "Menschen wie du und ich". Die Darstellung des Durchschnittsmenschen als Romanheld darf wohl erstmals bei Defoe als gelungen angesehen werden. Erzähler: Die Originalausgabe von ROBINSON CRUSOE erreichte nicht nur innerhalb weniger Wochen gleich mehrere Auflagen. Das Buch wurde fast von Beginn an auch weltweit in vielen anderen Sprachen nachgedruckt - und das oft in mehr oder weniger stark bearbeiteten Fassungen. Diese waren mal 300 Seiten lang, mal aber auch nur 150 - ganz zu schweigen von so genannten illustrierten Chapbooks. Das waren dünne, oft nur zwei Dutzend Seiten umfassende Groschenromane, gedruckt auf schlechtem Papier. Insgesamt erschienen so allein zwischen 1719 und 1819 weltweit insgesamt über 150 verschiedene, gekürzte Robinson-Crusoe-Ausgaben. O-TON: RUDOLF MAST Ich kann mich nicht erinnern, dass ich das Buch je ganz gelesen hätte. Und als ich's dann ganz gelesen habe, ist mir das auch klar geworden: dass ich es nie ganz gelesen habe. Erzähler: Sagt Rudolf Mast. Er hat ROBINSON CRUSOE für eine 2019 erschienene Neuausgabe des Hamburger mare Verlags ins Deutsche übertragen - und zwar als Erster überhaupt nach sehr langer Zeit endlich einmal wieder vollständig. O-TON: RUDOLF MAST Denn es enthält Dinge, die mir einfach nicht bekannt waren - und die auch in diesen ganzen Schul-, und Jugendversionen nicht mehr enthalten sind. Das weiß ich erst, seitdem ich's jetzt, für die Übersetzung, zum ersten Mal dann auch auf Englisch, komplett gelesen habe. Erzähler: Als junger Mann hat Rudolf Mast, Jahrgang 1958, eine Lehre als Segelmacher absolviert. Insofern scheint er förmlich prädestiniert dazu, das Buch um den berühmtesten Schiffbrüchigen der Literaturgeschichte zu übersetzen. Allerdings gibt es in ROBINSON CRUSOE gar nicht so viele nautische Fachbegriffe, wie man als Laie zunächst vermuten könnte. Was die Übersetzung so anspruchsvoll gemacht habe, sagt Rudolf Mast, sei vielmehr Daniel Defoes verschachtelte Grammatik. O-TON: RUDOLF MAST Die ist schon sehr kühn, für heutige Verhältnisse. Und die dokumentiert auch den zeitlichen Abstand. Und deswegen war, im Grunde von Anfang an, klar, dass die Grammatik, dass wir die übernehmen. Und nicht durch Punkte die Sätze verkürzen und das Lesen erleichtern und das Verständnis. Sondern, dass wir dem treu bleiben, und dass sich nach dieser etwas überkommenen Grammatik auch die Sprache zu richten hat. ATMO: MEERESRAUSCHEN Zitator Robinson Crusoe: Der schlechte Einfluss, der mich aus meinem Elternhaus vertrieben und auf die Idee gebracht hatte, mein Glück anderswo zu suchen, der mir diese Flausen so nachhaltig in den Kopf setzte, dass ich taub für den guten Rat, das Flehen und selbst die Befehle meines Vaters wurde, dieser Einfluss, worin auch immer er bestanden haben mag, führte mich schnurstracks in das unglückseligste aller Abenteuer, denn ich ging an Bord eines Schiffes, dessen Ziel die Küste Afrikas war, oder, wie die Seeleute sich ausdrücken, an Bord eines Guineafahrers. Erzähler: Für heutige Leser mögen Daniel Defoes komplexe Satzkonstruktionen gewöhnungsbedürftig erscheinen. Übersetzer Rudolf Mast findet, dass sich die Lektüre des dreihundert Jahre alten Textes dennoch lohnt. Zumal dieser in seiner vollständigen Form Facetten aufweise, die man bei der Lektüre eines Abenteuerromans nicht unbedingt erwarten würde. O-TON: RUDOLF MAST Nämlich dieser ganz feine Humor, mit dem dieses Buch von A bis Z unterlegt ist. Zwischendurch dachte ich: Ich sehe den Autor vor mir, den Defoe, wie er sich auf die Schenkel klopft, wenn er wieder irgendwie ein Unglück beschreibt und sich das nächste Unglück nochmal überbietet. Es gibt ja kein Geschehen, was nicht nochmal überboten würde - kein Drama, was nicht noch dramatischer würde, kein Schicksal, was sich nicht noch steigern ließe. Das fasziniert mich bis heute: dieser feine Humor, mit dem er die Erwartungen des Lesers permanent unterläuft. Erzähler: Neben Rudolf Mast legt auch der Bamberger Anglist Christoph Houswitschka heutigen Lesern ans Herz, ROBINSON CRUSOE zu lesen - natürlich am besten in der kompletten Neuübersetzung. O-TON: CHRISTOPH HOUSWITSCHKA Es gibt ganz wenige Bücher in der Literaturgeschichte, die den Rang eines Mythos erlangt haben. "Frankenstein" gehört sicher dazu, ROBINSON auch. Der verwandelt sich laufend neu und der Text wird immer neu gelesen. Erzähler: Eine ganz spezielle Lesart bringt Andrew Lambert, der Marinehistoriker vom Londoner King's College, ins Spiel. Er erinnert daran, dass es sich bei der Figur des Robinson Crusoe laut Daniel Defoe um den Sohn eines deutschen Vaters handelte, der ursprünglich aus Bremen stammte. O-TON: ANDREW LAMBERT So he is not English. He is an Anglo-German hybrid. VOICE OVER: Er ist also kein waschechter Engländer, sondern ein englisch- deutscher Hybrid. Und was für ein englisch-deutscher Hybrid beherrscht 1717 die Schlagzeilen? Ein Typ mit Namen Georg der Erste. Der ist nicht nur König von Hannover, sondern ab 1714 auch der neue König von England. Defoes Roman will uns also folgendes sagen: "Was wir wollen, ist ein König wie Robinson Crusoe - ein König, der es versteht, wie man kleine Inseln beherrscht. Und zwar so, dass diese wirtschaftlich erfolgreich sind und wo er als König alle Glaubensrichtungen akzeptiert." Die Einzigen, zu denen er unfreundlich ist, sind die Kannibalen. Crusoe tötet zwar die Kannibalen. Aber im weiteren Verlauf des Romans nimmt er Spanier und Eingeborene auf, die er zum christlichen Glauben bekehrt. Und das ist es, was die Engländer aus Sicht Defoes wollen: Einen König, der sich in Wirtschaftsdingen versteht, der die Weltmeere bereist, der tolerant gegenüber verschiedenen Glaubensrichtungen ist und der das Land insgesamt reicher macht. Der Roman fordert den König und die Leser also quasi dazu auf, sich über die Zukunft Gedanken zu machen. Das britische Volk dieser Zeit will keinen König, der sozusagen nur deutsch denkt und handelt. Sie haben gar nichts dagegen, dass Georg der Erste als König von Hannover gleichzeitig auch der König von Großbritannien ist. Aber er muss britisch denken und handeln. Das heißt: Er muss sich darüber im Klaren sein, dass die Marine wichtiger ist als das Heer - denn England ist eine Seemacht. Und das ist es, was uns Defoe letztlich mit seiner Geschichte klarzumachen versucht. So that's what Defoe is telling us. It's a really rich and powerful story. Erzähler: So wie der Übersetzer Rudolf Mast, dürften auch von uns wohl nur die wenigsten den "Robinson" jemals wirklich ungekürzt kennen gelernt haben. Darum sei an dieser Stelle kurz erklärt, wie und warum Robinson Crusoe überhaupt als einsamer Schiffbrüchiger auf die legendäre Insel geraten konnte. Ausgangspunkt für Robinsons Schicksal war nämlich dessen geplante Reise von Brasilien nach Guinea. In dem westafrikanischen Staat wollte Robinson, der Plantagenbesitzer, für sich und einige Kollegen aus Brasilien schwarze Sklaven einkaufen. Zitator Robinson Crusoe: Als das Schiff ausgerüstet, die Ladung verstaut und von meinen Partnern alles wie verabredet vorbereitet war, ging ich in einer unglückseligen Stunde am 1. September 1659 an Bord, auf den Tag genau acht Jahre nachdem ich Vater und Mutter in Hull zurückgelassen hatte, vorgeblich in Auflehnung gegen ihre Autorität, tatsächlich aber in närrischer Verkennung meiner eigenen Interessen. Erzähler: Nach zwei Wochen Fahrt geriet Robinsons Schiff nacheinander in gleich zwei schwere Stürme. Beim zweiten landete das Schiff auf einer Sandbank und drohte auseinanderzubrechen. Notgedrungen bestiegen er und seine 16-köpfige Begleitung ein Beiboot. Zitator Robinson Crusoe: Wir waren, wie wir schätzten, etwa eineinhalb Wegstunden gerudert oder besser getrieben, als ein Brecher, hoch wie ein Berg, von achtern heranrollte und uns den sofortigen Todesstoß erwarten ließ. Mit einem Wort: Er packte das Boot mit solcher Gewalt, dass es augenblicklich kenterte; uns, die wir vom Boot und voneinander getrennt wurden, blieb nicht einmal Zeit, "Oh Gott!" zu rufen, denn wir wurden augenblicklich verschluckt. Nichts kann die Verwirrung der Gedanken beschreiben, die ich empfand, als ich ins Wasser tauchte, denn obwohl ich ein guter Schwimmer bin, konnte ich mich nicht befreien, um Luft zu holen, bis die Welle mich ein großes Stück Richtung Land getragen oder besser mitgerissen und sich dabei verausgabt hatte, sich zurückzog und mich zwar so, dass ich Luft bekam, aber vom vielen Wasser, das ich bereits verschluckt hatte, auch halb tot auf einer Sandbank zurückließ. Immerhin war ich geistesgegenwärtig genug und auch noch so gut bei Kräften, dass ich mich aufrichten und versuchen konnte, mich so schnell, wie es mir möglich war, Richtung Ufer vorzukämpfen, dem ich näher war, als ich vermutet hatte, bevor ein weiterer Brecher folgen und mich packen würde. Doch sehr schnell merkte ich, dass das nicht zu vermeiden war, denn in meinem Rücken rollte bereits die nächste Welle heran, hoch wie ein Berg und so entfesselt wie ein Feind, dem ich hoffnungslos unterlegen war. Nun kam es darauf an, die Luft anzuhalten und nach Möglichkeit über Wasser zu bleiben, um sowohl weiter atmen zu können als auch irgendwie schwimmend dem Land näher zu kommen. Denn meine größte Sorge war es, dass die heranrollende Welle mich nicht nur ein großes Stück weit Richtung Ufer tragen, sondern auch mitnehmen würde, wenn sie sich aufs offene Meer zurückzog. Die Welle, die über mir zusammenschlug, begrub mich zwanzig bis dreißig Fuß tief in ihrem Inneren, und ich spürte, wie ich mit enormer Kraft und Geschwindigkeit ein erhebliches Stück Richtung Ufer getragen wurde. Doch ich hielt den Atem an und versuchte mit all meiner Kraft, weiter vorwärts zu schwimmen. Ich war kurz davor zu platzen, als ich merkte, dass ich so weit nach oben gespült wurde, dass mein Kopf und meine Hände die Wasseroberfläche durchbrachen, und obwohl ich mich nicht einmal zwei Sekunden so halten konnte, empfand ich große Erleichterung, denn mit der frischen Luft sog ich auch frischen Mut ein. Dann geriet ich wieder für einige Zeit unter Wasser, wenn auch nicht so lange, dass ich es nicht hätte aushalten können. Als ich merkte, dass die Welle verebbte und sich zurückzuziehen begann, kämpfte ich gegen den Sog des Wassers an, bis ich endlich wieder Grund unter den Füßen spürte. Ich hielt einen Moment lang inne, um Luft zu schnappen und abzuwarten, bis sich das Wasser zurückgezogen hatte; dann gab ich Fersengeld und lief mit aller Kraft, die mir geblieben war, aufs Ufer zu. Erzähler: Nach etwa 60 der insgesamt rund 400 Romanseiten landete Robinson also schließlich auf der einsamen Insel. Das eigentliche Abenteuer des berühmten Schiffbrüchigen konnte damit endlich beginnen. Aber es handelt sich bei ROBINSON CRUSOE nicht nur um einen Abenteuerroman mit einer zwischen den Zeilen versteckten, politischen Botschaft. Der Kieler Übersetzer Nikolaus Stingl, gleichzeitig Experte für englische Literatur, sagt: O-TON: NIKOLAUS STINGL Es gibt bestimmte literarische Traditionen, aus der ROBINSON CRUSOE hervorgegangen ist, nämlich ein typisch puritanisches Genre: die sogenannte spirituelle Autobiografie. Das war ein Genre, wo es darum ging, sein eigenes Leben genau unter die Lupe zu nehmen, es abzusuchen, abzuklopfen auf Hinweise für das Wirken Gottes oder für den Willen Gottes, und daran dann sein eigenes, sein eigenes Tun auszurichten. Man musste also jede kleine Befindlichkeit, jedes äußere Ereignis daraufhin untersuchen, welche Relevanz das für das eigene Leben hat, welche Absicht Gottes sich darin vielleicht kundtut. Und diesem Genre ist ROBINSON CRUSOE auch verpflichtet. Erzähler: Tatsächlich enthält der Roman immer wieder Stellen, an denen Robinson sein eigenes Schicksal als von Gott gewollt empfindet - wie beispielsweise auch überraschende Erfolge beim Nahrungsanbau. Zitator Robinson Crusoe: Es ist unmöglich, das Erstaunen und die Verwirrung meiner Gedanken bei diesem Anblick zu beschreiben. Bislang hatte ich ohne jede religiöse Grundlage gelebt und mir überhaupt über Religion kaum je Gedanken gemacht oder das, was mir widerfahren war, anders denn als Zufall oder allenfalls als Gottes Wille begriffen, wie man leichthin sagt, ohne je nach der Rolle der Vorsehung in diesen Dingen oder dem Plan zu fragen, den der liebe Gott mit dem verfolgt, was er auf dieser Welt geschehen lässt. Doch als ich die Gerste wachsen sah - in einem Klima, das, wie ich wusste, dafür gänzlich ungeeignet war, vor allem aber ohne dass ich hätte sagen können, wie sie dorthin gekommen war -, war ich eigentümlich ergriffen, und in mir reifte die Überzeugung, dass Gott das Getreide auf wundersame Weise hatte wachsen lassen, ohne dass ein Saatkorn ausgesät worden wäre, einzig um an diesem öden und elenden Ort meine Ernährung sicherzustellen. Erzähler: Sünde, Reue, Vergebung - diese drei zentralen religiösen Begriffe spielen in ROBINSON CRUSOE eine wichtige Rolle. Dazu noch einmal der Anglist Christoph Houswitschka. O-TON: CHRISTOPH HOUSWITSCHKA Was ist Sünde, was ist Reue und was ist redemption, Erlösung? Denn das ist der Prozess, der den Weg von Robinson auf der Insel beschreibt. Und es sind gleichzeitig Kategorien, die den heutigen Menschen vielleicht oft etwas fern sind. Aber wenn man diese Entwicklung genauer betrachtet, dann wird die Sünde von Robinson eigentlich auch wieder sehr aktuell. Denn was tut er? Er widerspricht dem Vater. Er leistet Widerstand gegen den Vater und sagt: "Nein, ich werde nicht das tun, was Du willst! Ich werde nicht ein Rechtsgelehrter. Ich werde nicht Recht studieren, sondern ich mache etwas anderes. Ich will in die weite Welt." Erzähler: Christoph Houswitschka glaubt: Die Sünde Robinsons - also sein Ungehorsam gegenüber dem Vater und damit auch gegenüber Gott - weist selbst dreihundert Jahre später durchaus noch aktuelle Bezüge auf. O-TON: CHRISTOPH HOUSWITSCHKA Damit haben wir natürlich eine Fragestellung, die heute gerade junge Leute wieder beschäftigt: Darf ich mich gegen die bestehende Ordnung auflehnen? Muss ich das tun, was mir die Väter sagen oder muss der ganze Laden mal ein bisschen anders organisiert werden? Also, dieses Recht des Jugendlichen, sich gegen die bestehende Ordnung, die ihm korrupt erscheint, zu stellen. Das ist auch im ROBINSON CRUSOE drin, und das sollte man sehr ernst nehmen, wenn man von diesen rein religiösen Kategorien, die vor allem dem europäischen Leser jetzt nicht viel sagen, wegkommt und den ökonomischen, den individualistischen Sinn dahinter verstehen möchte. Erzähler: Laut Bibel darf jeder Mensch auf die Vergebung seiner Sünden hoffen - und damit auf Gottes Gnade. Voraussetzung dafür ist die eigene Reue - auch im Fall von Robinson Crusoe. O-TON: CHRISTOPH HOUSWITSCHKA Die Reue drückt sich dadurch aus, dass er - auf die Insel geworfen in eine Existenz, die lebensfeindlich ist, die ihn bedroht - den Weg zu Gott zurückfindet und Reue zeigt. Und das ist im Roman ganz klar entwickelt, dass das ein wichtiger Schritt ist, um als Individuum, als sich selbst reflektierendes Individuum, Fortschritte zu machen. Denn am Anfang wäre er dazu nicht in der Lage gewesen. Dazu ist tatsächlich diese Selbstbesinnung nach dem Ungehorsam und nach der Bestrafung notwendig. Erzähler: Hinter der göttlichen Vergebung, die Robinson Crusoe am Ende des Buches durch seine Rettung erfährt, verbirgt sich gleichzeitig noch eine ganz andere Denkart - und zwar eine stark ökonomische. Noch einmal der Übersetzer Nikolaus Stingl aus Kiel. O-TON: NIKOLAUS STINGL Anfang des 18. Jahrhunderts, da war ein großer gesellschaftlicher Wandel in Gange, in England. Und es gab innerhalb des Kapitals, wenn man so will, auch einen Interessen- Gegensatz. Es gab eine Fraktion innerhalb des Kapitals, die war restriktiv, die war auf die Bewahrung des Besitzstandes ausgerichtet. Das waren die Großgrundbesitzer. Und es gab ein expansives, auf Eroberung, auf Erweiterung des ökonomisch kontrollierten Raumes gerichtetes Finanzkapital. Und manche Interpreten lesen ROBINSON CRUSOE so, dass es gewissermaßen die Parabel dieser zweiten Fraktion war: Man begibt sich in fremde Länder, man geht Risiken ein, man gerät auch in Gefahr - aber man muss es tun, um sich eben Fremdes anzueignen und dem eigenen Herrschafts- und Einflussbereich zu unterwerfen. Erzähler: ROBINSON CRUSOE ist also weitaus mehr als nur ein Abenteuerroman oder die spirituell angehauchte Biografie einer fiktiven Figur. Bei dem Roman handelt es sich auch um eine Art Wirtschaftslektüre des frühen 18. Jahrhunderts. O-TON: NIKOLAUS STINGL Das ist stilistisch dem kaufmännischen Journal verpflichtet, das Buch. Das häufigste Stilmittel ist die Aufzählung und das Ziehen von Bilanzen. Und das gilt sogar bei Ereignissen, wo es eigentlich gar nicht passt. Er findet unter anderem auf diesem Schiffswrack, was ihm dann die vielen Werkzeuge liefert für seine Existenz, findet er auch drei Bibeln. Und die kommen dann in der Schilderung vor als "drei sehr gute Bibeln". Und es ist klar, dass mit "sehr gut" einfach äußerliche Merkmale gemeint sind - nämlich der Einband oder die Bindung, irgendein Qualitätsmerkmal. Also ganz nüchterne, materielle Dinge bei einer Sache von höchster spiritueller Bedeutung. Und er findet noch katholische Gebetbücher, die für ihn als Puritaner der anglikanischen Kirche eigentlich überhaupt keinerlei Bedeutung haben dürfen. Eigentlich müsste er sie sogar wegwerfen, weil's Teufelszeug ist. Aber er behält sie und fügt sie dem Warenbestand zu, weil: Man kann ja nicht wissen - es bringt ja vielleicht irgendwann nochmal was. Erzähler: Im Vorwort seines angeblichen Tatsachenberichts schreibt Daniel Defoe, er wolle die Leser gleichermaßen unterhalten wie belehren. Dazu bemerkt der Anglist Dieter Petzold: Zitator: Dabei beansprucht die zweite Absicht, die der Belehrung, zweifellos den höheren Stellenwert. Der Bericht der Abenteuer erhält seine tiefere Rechtfertigung erst dadurch, dass er zugleich lehrreich ist; und da es um religiöse Belehrung geht, ist auch die Introspektion Robinsons nötig, ja noch wichtiger als der Bericht über Robinsons Handlungen. Robinsons Ich-Zentriertheit ist von daher legitimiert, ja unvermeidlich: Robinson versteht sich selbst als exemplarisch - nicht im Sinne eines leuchtenden Vorbilds, sondern eher im Sinne des mittelalterlichen Exemplums. Aus dem Beispiel eines individuellen Lebens lassen sich allgemeine Grundsätze ableiten, und nur auf diese kommt es letzten Endes an. Immer wieder vollzieht Robinson daher beim Erzählen einen didaktischen Dreierschritt: von der Beschreibung einer Handlung oder einer Beobachtung über die Introspektion zu einer verallgemeinernden Reflexion. Um aus zahllosen Beispielen eines herauszugreifen: Robinson beobachtet vom sicheren Versteck aus die von den Meuterern gefangenen Seeleute; die sichtliche Verzweiflung der Seeleute erinnert ihn an seine eigene Situation nach dem Schiffbruch; in der darauffolgenden Reflexion zieht er den verallgemeinernden Schluss, dass der Mensch sein Schicksal niemals kenne und daher immer auf Gottes schützende Hand vertrauen müsse. Erzähler: Der Dissenter Daniel Defoe und der Schiffbrüchige Robinson Crusoe entsprechen also beide recht stark unserem eigenen, modernen Menschenbild. Denn beide verkörpern ein Individuum, welches sich seiner eigenen Existenz bewusst ist - und darüber sinniert, was es aus sich machen kann. Der reale Defoe wie der fiktive Robinson waren jeweils in der Lage, ihr eigenes Dasein zu reflektieren - so, wie wir es heute auch immer wieder tun. Noch einmal Christoph Houswitschka. O-TON: CHRISTOPH HOUSWITSCHKA Was kann ich mit meinem Leben anfangen? Wie kann ich den Widrigkeiten in einer Welt, die keine Ordnung hat, in der jede Ordnung jederzeit wieder auseinanderfällt, in der ich bedroht bin, existenziell bedroht bin - wie kann ich mein Leben hier am besten gestalten? Und da steht die Frage, die moralinsaure Frage, danach was erlaubt ist und was nicht erlaubt ist, nicht unbedingt im Vordergrund. Sondern tatsächlich manchmal das Überleben. Diese Ausgangsposition, dass wir hier, beim ROBINSON CRUSOE, ein politisches Experiment haben - eines Homo Oeconomicus, der wie ein Buchhalter seine Situation auf der Insel genau nach Für und Wider reflektiert -, das ist eine Ausgangssituation, die den, wenn man will, prototypischen modernen Menschen beschreibt - in einer Abenteuergeschichte des Alleinseins. Und damit ist eigentlich schon umrissen, was diesen Roman zu diesem unglaublichen Erfolg geführt hat. Denn Robinson Crusoe, in gewisser Weise, ist dieser moderne Mensch. Erzähler: Ein moderner Mensch, der übrigens durchaus auch eine Portion Kapitalismuskritik äußert. Zitator Robinson Crusoe: Ich hatte alles, was ich zu meinem Unterhalt brauchte. Ich war Herr über Grund und Boden, und wenn mir danach war, konnte ich mich König oder Kaiser des ganzen Landes nennen, das ich in Besitz genommen hatte. Weit und breit gab es keinen Rivalen, keinen Konkurrenten, niemanden, der mir Macht und Herrschaft hätte streitig machen können. Ich hätte ganze Schiffsladungen an Getreide heranziehen können, doch weil ich damit nichts anfangen konnte, ließ ich gerade so viel wachsen, wie ich für meine Zwecke brauchte. Ich hatte Schildkröten im Überfluss, doch für mehr als dann und wann eine wusste ich keine Verwendung. Ich hatte Holz genug, um eine ganze Flotte auf Kiel zu legen, und Trauben genug, um Wein oder Rosinen daraus zu machen und die Flotte, wenn sie denn gebaut war, damit zu beladen. Doch wirklich etwas anfangen konnte ich nur mit den Dingen, die einen Nutzen für mich hatten. Ich hatte genug zu essen und um meine Bedürfnisse zu befriedigen. Was sollte ich mit dem ganzen Rest? Wenn ich mehr Tiere schoss, als ich essen konnte, musste ich sie an den Hund oder an die Würmer verfüttern. Wenn ich mehr Korn säte, als ich essen konnte, verdarb es. Die Bäume, die ich fällte, verrotteten auf dem Boden. Ich konnte sie allenfalls als Feuerholz verwenden, doch da ran hatte ich nur Bedarf, wenn ich kochen wollte. In einem Wort, die Eigenart der Dinge und der Umgang mit ihnen nötigten mir die Einsicht ab, dass all die schönen Dinge auf der Welt nur insoweit von Wert sind, als sie einen Nutzen für uns haben, und dass wir, was immer wir auch anhäufen mögen - und sei es, um es anderen zu geben -, da ran nur so viel Freude haben, wie wir Nutzen daraus ziehen, nicht mehr. Selbst der größte und knurrigste Geizhals der Welt wäre von seinem Laster kuriert, wäre er an meiner statt gewesen, denn ich besaß unendlich viel mehr, als ich gebrauchen konnte. Mir blieb nicht einmal mehr etwas zu wünschen, außer vielleicht Dinge, die ich nicht hatte, und das waren nur Kleinigkeiten, auch wenn sie großen Nutzen für mich gehabt hätten. Wie erwähnt, besaß ich einen Haufen Geld, dazu Gold und Silber, insgesamt circa sechsunddreißig Pfund Sterling wert. Aber ach! Da lag das widerwärtige, schäbige und wertlose Zeug; ich hatte keine Verwendung dafür, und oft kam mir der Gedanke, dass ich eine Handvoll davon gegen zwölf Dutzend Tabakspfeifen oder eine Handmühle eingetauscht hätte, mit der ich das Korn hätte mahlen können. Mehr noch: Alles hätte ich hergegeben für etwas Rüben- und Möhrensamen aus England, kaum einen Sixpence wert, für eine Handvoll Erbsen und Bohnen und ein Fläschchen Tinte. Denn wie die Dinge standen, konnte ich mit dem Geld nichts anfangen, es lag in einer Schublade und schimmelte vor sich hin, weil die Luft in der Höhle zur Regenzeit so feucht war. Wäre die Schublade voller Diamanten gewesen, hätte ich nicht anders gedacht, denn da sie keinen Nutzen für mich gehabt hätten, hätten sie auch keinen Wert gehabt. MUSIK Erzähler: Bisher haben wir im Laufe unserer Langen Nacht über ROBINSON CRUSOE fast nur Positives gehört. So zum Beispiel, dass es sich um ein durchaus vielschichtiges Buch handelt, das - trotz seiner komplexen Grammatik - durchaus auch eine gewisse Prise Humor aufweist. Doch gibt es an dem Roman auch so manche Kritik. Noch einmal der Londoner Marinehistoriker Andrew Lambert. O-TON: ANDREW LAMBERT The book doesn't quite work. It has some amazingly defunct plot lines. VOICE OVER: Es gibt darin eine Vielzahl von Fehlern. An diesen merkt man, dass Defoe das Buch in sehr kurzer Zeit geschrieben haben muss. So tauchen manche Figuren auf und verschwinden plötzlich wieder - ohne, dass es dafür eine logische Erklärung gibt. Ereignisse finden mitunter nicht in einer logischen, aufeinander aufbauenden Reihenfolge statt. Das Manuskript ist vor der Veröffentlichung ganz offensichtlich weder vom Autor gegengelesen worden, noch von einem Lektor. Es ist zwar ein tolles Buch, aber im Grunde eher ein Rohentwurf. Ich vermute, Defoe hat es nach dem Schreiben sofort in Druck gegeben. Man erkennt auch, dass er dafür diverse Einzelteile aus verschiedenen Quellen zusammengetragen und verarbeitet hat. Genau darum verliert Defoe auch manchmal den Überblick über seine Erzählstränge. This is a complex narrative, built up from many different sources, and just occasionally Defoe loses control of the narrative. Erzähler: Einige der Quellen, die Daniel Defoe beim Schreiben von ROBINSON CRUSOE heranzog, benennt der Anglist Dieter Petzold. Demnach bediente sich Defoe durchaus auch früherer Werke aus eigener Feder. Zitator: Für die Beschreibung der Stürme, denen Robinson vor Hull ausgesetzt ist, verwendete er einen Bericht, den er schon 1704 anlässlich eines wirklichen Sturmes veröffentlicht hatte. Die Episode der Winterreise durch die Pyrenäen gegen Ende des Romans, die wohl von jedem wachen Leser als Fremdkörper empfunden wird, fußt auf einem Bericht, den er am 4. Januar 1718 in "Mists Weekly Journal" veröffentlicht hatte. Selbst Freitag hat einen Vorläufer in einem Sklaven namens Toby, der in "The Family Instructor"von 1715 vorkommt. Das Verwirrspiel schließlich, mit dem Robinson die englischen Meuterer hinters Licht führt, ist auch nicht ganz originell: Es erinnert auffallend an die geheime Regieführung Prosperos in Shakespeares "Sturm". Erzähler: Heutzutage mag man darüber milde lächeln. Doch erscheint eine andere, immer wieder zu vernehmende Kritik dafür aus heutiger Sicht umso stärker nachvollziehbar. O-TON: SUSAN ARNDT Für mich liest sich Daniel Defoes ROBINSON CRUSOE eigentlich wie so'n Handbuch: "Wie kolonisiere ich", einschließlich der Frage "Wie versklave ich und wie mache ich versklavte Menschen gefügig genug, um mir tatsächlich ihre Arbeitskraft zu geben?" Erzähler: ... sagt Susan Arndt, Professorin für englische Literaturwissenschaft an der Universität Bayreuth. Aus ihrer Sicht gibt es in ROBINSON CRUSOE diverse Passagen, die für moderne, aufgeklärte Leser extrem anstößig klingen müssen. So zum Beispiel, als Robinson darüber nachdenkt, was es wohl mit jenem Eiland auf sich haben könnte, welches er von seiner einsamen Insel aus in einigen Meilen Entfernung sehen kann. Zitator: Ich malte mir aus, dass es sich um Festland und bewohntes Gebiet handelte und es mir auf die eine oder andere Weise gelingen könnte, mich ins Hinterland durchzuschlagen und vielleicht zu guter Letzt Mittel und Wege zu finden, meiner Gefangenschaft zu entrinnen. An die Gefahren, die damit verbunden waren, verschwendete ich einstweilen keinen Gedanken, etwa dass ich leicht in die Hände von Wilden fallen könnte, möglicherweise sogar solchen, von denen ich mit gutem Grund annehmen konnte, dass sie noch schlimmer waren als die Löwen und Tiger Afrikas. Wäre ich erst einmal in ihrer Gewalt, dann läge das Risiko, getötet und womöglich verspeist zu werden, bei etwa tausend zu eins, denn ich hatte gehört, dass die Bewohner der karibischen Küste Kannibalen, also Menschenfresser, waren, und da ich wusste, auf welchem Breitengrad ich mich befand, wusste ich auch, dass ich nicht weit von dieser Küste entfernt sein konnte. Und selbst wenn es keine Kannibalen waren, blieb die Gefahr, dass sie mich töteten wie so viele Europäer, die ihnen in die Hände gefallen waren, selbst wenn es zehn oder zwanzig waren. Ich aber war allein und konnte mich kaum oder gar nicht verteidigen. Keiner dieser Punkte, die ich hätte bedenken sollen und später bei meinen Überlegungen auch in Anschlag brachte, streifte, wie ich zugebe, anfangs auch nur meine Gedanken, weil mein Kopf mit nichts anderem als der Frage beschäftigt war, wie ich ans andere Ufer kommen konnte. O-TON: SUSAN ARNDT Also, hier wird dieser Mythos des Kannibalismus aufgerufen, was erst mal sehr problematisch ist. Weil es natürlich diese Kannibalen nicht gab. Das war ein kolonialistisches Narrativ, das eben legitimieren sollte, dass sie die guten Menschen sind. Denn Menschen, die einander essen, sind keine wirklichen Menschen - also können kolonisiert, enteignet, versklavt werden. Das ist so der Duktus, in dem er da also auch Friday begegnet. Erzähler: Friday - auf Deutsch: "Freitag" - ist ebenfalls ein Kannibale. Er landet eines Tages mit anderen Kannibalen am Strand der Robinson-Crusoe-Insel. Als Robinson sieht, dass Freitag von den anderen getötet werden soll, greift er ein und tötet die anderen Kannibalen mit einem Gewehr. O-TON: SUSAN ARNDT Und in der nächsten Szene legt sich Friday also auf den Boden, er legt seinen Kopf auf den Boden. Und Robinson Crusoe geht hin und stellt seinen Fuß auf den Kopf von Friday - und denkt sich in dem Moment: "Aha - das war sein Zeichen dafür, dass er mir für immer dienen will." Das Problem ist, das wir natürlich in diesem ganzen Roman - bis auf zwei, drei Sätze - nur die Stimme von Robinson Crusoe hören. Das ist eine monologische Erzählung, wir können eigentlich nur ihn hören. Wir wissen gar nicht, was Friday in diesem Moment denkt. Es wäre natürlich logisch - oder auch möglich zumindest -, dass Friday sich aus Angst auf den Boden legt. Also, wenn eine Feuerwaffe jemanden im Hintergrund erschießt, hat er natürlich Angst, legt seinen Kopf auf den Boden. Robinson nimmt das als selbstverständlich, es wird an keiner Stelle kritisch reflektiert. "Er möchte mein Sklave sein. Er möchte mir dienen." Das geht auch ein bisschen so durcheinander: Slave, servant. Manchmal nennt er ihn auch "my friend" - ein bisschen, sozusagen, auch mit so einer Kind-Erwachsenen- Attitüde: "Er ist eben das kleine Kind und wir können uns anfreunden, so lange er die Hierarchie akzeptiert." Zitator Robinson Crusoe: Er war ein hübscher und ansehnlicher Bursche, von edler Statur, mit kräftigen, nicht zu langen Gliedmaßen, groß gewachsen, wohlgeformt und, wie ich schätzte, etwa sechsundzwanzig Jahre alt. Sein Gesichtsausdruck war sanft und ohne jeden Anflug von Schärfe oder Boshaftigkeit, strahlte aber etwas sehr Männliches aus, das gleichwohl mit der Sanftheit und Anmut eines Europäers gepaart war, vor allem wenn er lächelte. Sein Haar war lang und schwarz, nicht so kraus wie Wolle, seine Stirn hoch und breit, und aus seinen Augen blitzten Lebhaftigkeit und Aufgewecktheit. Die Farbe seiner Haut war nicht schwarz, sondern eher lohfarben, aber nicht in jenes widerliche Gelb tendierend wie bei den Brasilianern, Virginiern und anderen Eingeborenen Amerikas, sondern zu einem satten dunklen Oliv, das etwas sehr Einnehmendes an sich hatte, jedoch nicht leicht zu beschreiben ist. Sein Gesicht war rund und füllig, die Nase klein, wenn auch nicht so flach wie bei Schwarzen, der Mund fein gezeichnet, mit schmalen Lippen und prächtigen Zähnen, die weiß wie Elfenbein waren. Als er mich sah, kam er angelaufen und warf sich mit allen erdenklichen Zeichen von Demut und Dankbarkeit, die er mit grotesken Gesten auszudrücken versuchte, vor mir auf den Boden. Schließlich legte er unmittelbar vor mir den Kopf flach auf den Boden und setzte wie zuvor meinen Fuß da rauf, dieses Mal jedoch den anderen. Daran schlossen sich alle nur erdenklichen Gesten der Unterwerfung, der Demut und des Gehorsams an, durch die er mich wissen lassen wollte, dass er mir dienen würde, solange er lebte. Das meiste, was er mir sagen wollte, verstand ich, und ich machte ihm meinerseits deutlich, dass ich es zufrieden war. Schon nach kurzer Zeit begann ich mit ihm zu sprechen und brachte ihm bei, mit mir zu sprechen. Als Erstes erklärte ich ihm, dass er künftig Freitag heißen würde, weil ich ihm an diesem Tag das Leben gerettet hatte, und in Erinnerung da ran gab ich ihm diesen Namen. Ich brachte ihm auch bei, Herr zu sagen und mich so zu nennen, und erklärte ihm die Worte Ja und Nein und was sie bedeuten. O-TON: SUSAN ARNDT Er versklavt eben dann Friday, was eben so ein bisschen untergeht, dadurch, dass er das auch ein bisschen so süffisant erzählt, als sei es ja - er würde ihn retten, und als würde sich daraus eine Freundschaft entwickeln. Genaugenommen missioniert er ihn und er bringt ihn dazu, für sich zu arbeiten, für seine eigenen Interessen zu arbeiten. Nach und nach kommen dann - also, das ist dann schon weiter fortgeschritten - auch andere people of color auf dieser Insel an, die er dann auch versklavt. Und am Ende sagt er dann so: "Jetzt war meine Insel bevölkert, jetzt konnte ich prosperieren. So ist es, wie ich eben letztlich eine Kolonie aufbauen würde." Er ist da auch sehr explizit. Und dieser genau ökonomische Duktus, der wird zum Beispiel auch an einer Stelle deutlich, als er also zusammen mit Friday gegen andere people of color - also, er nennt sie Kannibalen und alle möglichen rassistischen Wörter - kämpft. Und wir denken ja immer: "Das ist ein Abenteuerroman, super spannend!" Aber tatsächlich macht er eine Rechnung auf. Also, man muss sich so eine bürokratische Rechnung vorstellen: Zitator Robinson Crusoe: Drei mit der ersten Salve vom Baum aus getötet, zwei mit der nächsten Salve getötet, zwei von Freitag im Boot getötet, zwei von denen, die zuvor verletzt worden waren, ebenfalls von Freitag getötet, einer von Freitag im Wäldchen getötet, drei vom Spanier getötet, vier getroffen, da oder dort zusammengebrochen und ihren Verletzungen erlegen beziehungsweise von Freitag auf der Flucht getötet, vier im Boot entkommen; einer von ihnen verletzt oder sogar tot. Einundzwanzig insgesamt. O-TON: SUSAN ARNDT Also, das wird überhaupt nicht spannend erzählt, das ist gar nicht sein Anliegen, irgendwie eine Abenteuergeschichte zu erzählen. Sondern eher, wirklich sozusagen, die ökonomischen Kontexte mal zu erzählen - darzustellen, wie so eine Kolonisierung erfolgen kann. Erzähler: Dass Robinson Crusoe seinen Schützling mit dem Namen Freitag versieht, ist für Susan Arndt bereits ein Zeichen für unverhohlenen Rassismus. Denn, so sagt sie, Robinson nehme damit seine eigene Zeitrechnung als Grundlage, um sie einer Person aus einem anderen Kulturkreis gewissermaßen überzustülpen. O-TON: SUSAN ARNDT Er fragt nicht: "Wie heißt Du? Welche Sprache sprichst Du? Wo kommst Du her? Was möchtest Du?" Sondern er sagt: "Your name shall be Friday. Und ich bin dein Master." Also, er nennt sich auch nicht Robinson, sondern er nennt sich Master. Das heißt: Er kategorisiert die beiden sofort in dieser Sklave-Herrscher-Dynamik - und bringt ihm dann im Zuge dann auch Englisch bei. Drei, vier Sätze werden, wie gesagt, von Friday gesprochen. Die sind alle in total radebrechendem Englisch, womit er seine Überlegenheit dann natürlich auch noch einmal zeigt - also, dass Friday eben nicht sprechen kann, nicht Englisch sprechen kann. Erzähler: Noch im selben Jahr, in dem ROBINSON CRUSOE erschien, veröffentlichte auch der Autor Charles Gildon ein kleines Büchlein. Darin stellten Robinson Crusoe und Freitag Daniel Defoe gewissermaßen persönlich zur Rede. Unter anderem beschwerte sich Freitag bei Defoe darüber, dass dieser ihn in dem berühmten Roman allzu primitiv dargestellt habe. Zitator: Du mich verletzt, du mich großen Dummkopf gemacht, mit viel Widerspruch: Nach ein oder zwei Monaten bisschen gut Englisch sprechen können und zwölf Jahre später nicht besser. Erzähler: Susan Arndts Kollege, Christoph Houswitschka aus Bamberg, findet: Dass Daniel Defoe in ROBINSON CRUSOE Kannibalen auftreten lässt, habe keineswegs nur etwas mit Rassismus zu tun. Im Gegenteil: Seiner Meinung nach nutze Defoe das abstoßend erscheinende Verhalten der Kannibalen sogar als Mittel zur Selbstreflexion. O-TON: CHRISTOPH HOUSWITSCHKA Kannibalismus war im 18. Jahrhundert durchaus ein Thema, was immer wieder aufgegriffen wurde, zum Beispiel bei Voltaire im "Candide". Aber das Interessante hier ist, dass bei der ersten Begegnung mit den Kannibalen und das ist ja hier Natur, auch - er nicht angreift. Er interveniert nicht. Er sagt, dass diese Sünde - sich gegenseitig hier umzubringen und sogar aufzuessen -, das ist eine Sünde, die muss Gott bestrafen. Das kann ich nicht tun. Und das ist natürlich was sehr Interessantes. Das modifiziert auch wieder Robinson als Kolonisator. Er weiß, wo er eingreifen kann - und wo er es nicht tun soll. Und diese Vorstellung, dass es Kulturen gibt, die sogar Kannibalismus zulassen, die geht wiederum zurück auf ein Essay von Montaigne - also viel früher geschrieben. Und ist sozusagen die Wurzel für einen gewissen Kulturrelativismus: es gibt uns, es gibt die anderen. Und die Begegnung mit dem anderen ist eine, die eine Krise für mich bedeutet. Denn wenn ich den anderen sehe, dann werden meine eigenen Vorstellungen über mich grundsätzlich in Frage gestellt. Zitator Robinson Crusoe: Mit welchem Recht ernannte ich mich zum Richter und Henker dieser Männer und erklärte sie zu Verbrechern, obwohl der Himmel sie über Generationen ungestraft hatte walten lassen und, wie es schien, darin eingewilligt hatte, dass sie an einander seinen Willen vollstreckten? Was hatten sie mir getan, und woher nahm ich das Recht, mich in ihren Streit einzumischen, selbst wenn dabei wahllos Blut vergossen wurde? Oft war ich mit mir selbst uneins, so auch über die Frage, wie ich wissen konnte, wie Gott in diesem speziellen Fall urteilen würde, denn offenbar sehen diese Menschen ihre Taten nicht als Verbrechen an, und sie verstoßen so auch nicht gegen ihr Gewissen oder haben Anlass, sich Vorwürfe zu machen. Sie wissen nicht einmal, dass es eine Sünde ist, und sind daher auch weit davon entfernt, sich über die göttliche Gerechtigkeit zu erheben, wie wir es mit allen Sünden tun, die wir begehen. Einen im Kampf Gefangenen zu töten oder Menschenfleisch zu essen ist für sie so wenig ein Verbrechen wie für uns, einen Ochsen zu töten oder Hammelfleisch zu essen. Nachdem ich eine Weile darüber nachgedacht hatte, kam ich zu dem Schluss, dass es nicht richtig war, diese Menschen als Mörder anzusehen, jedenfalls nicht in dem Sinne, wie ich es getan hatte, denn sie sind ebenso sehr oder wenig Mörder wie jene Christen, die Gefangene, die ihnen in einer Schlacht in die Hände fallen, hinrichten oder, was häufig und bei vielen Gelegenheiten geschieht, ganze Truppenteile gnadenlos über die Klinge springen lassen, auch wenn sie längst die Waffen niedergelegt und sich ergeben haben. O-TON: CHRISTOPH HOUSWITSCHKA Auch hier kommt wieder die Modernität von Robinson ins Spiel. Defoe war für Migration. Er war für eine diverse, vielseitige Gesellschaft. Aber auch er sieht - und bei Robinson und den Kannibalen wird das klar -: Ich werde im anderen mit Dingen konfrontiert, die mich selbst in Frage stellen, die mich überfordern. Und das hat ja zum Beispiel Emmanuel Levinas gesagt in seiner Philosophie, die den Konstruktivismus stark beeinflusst hat: Face to face, Gesicht zu Gesicht, muss ich mich dem anderen stellen. Ich werde es nie verstehen - aber der andere bin letztlich ich. Und diese existenzielle Auseinandersetzung mit dem anderen, die findet man in dem Buch in der Begegnung mit den Kannibalen. Erzähler: 1810 - also gut neunzig Jahre, nachdem ROBINSON CRUSOE erstmals erschienen war - verfasste der spätere IVANHOE-Autor Sir Walter Scott die Einleitung zu einer Defoe-Neuausgabe. Laut Dieter Petzold beschäftigte sich Scott in diesem Zusammenhang auch mit der Frage, was die Romane Defoes über alle Zeiten hinweg so attraktiv erscheinen ließe - trotz ihrer offensichtlichen Schwächen in Aufbau und sprachlichen Gestaltung. Allen voran ROBINSON CRUSOE. Petzold fasst Scotts damalige Antwort so zusammen: Zitator: Es ist die Wahrscheinlichkeit der beschriebenen Sachverhalte, die gerade durch die Kunstlosigkeit der Darstellung ihren fiktionalen Charakter zu verlieren scheinen. Defoes Figuren seien so überzeugend, weil sie Teile ihres Autors seien. Ohne seine eigenen Denkweisen aufzugeben, gelinge es Defoe, sich in seine fiktiven Personen hineinzuversetzen und sie auf diese Weise konsistent zu machen. So entspricht zum Beispiel Defoes Detailfreudigkeit seinem eigenen Wesen; gleichzeitig ist sie aber gerade einem nüchternen Seemann wie Robinson angemessen. Erzähler: Was den Inhalt des Romans und seine Botschaften zwischen den Zeilen anbelangt, wollen wir es damit bewenden lassen. In der dritten und letzten Stunde unserer Langen Nacht werden wir uns zunächst mit so genannten Robinsonaden beschäftigen. Und uns dann auch noch einer ganz anderen Frage widmen - nämlich der, wie es eigentlich heutzutage auf jener Insel aussieht, die inzwischen sogar den Namen des berühmten Schiffbrüchigen trägt. Folgen Sie uns also nach den Nachrichten auf Robinson Crusoe Island - 670 Kilometer westlich der chilenischen Küste. Musik 3. Stunde MUSIK: HARRY BELAFONTE -ISLAND IN THE SUN Geht über in ATMO: MEERESRAUSCHEN Zitator Robinson Crusoe: Als ich die Insel schließlich verließ, nahm ich zum Andenken die große Mütze aus Ziegenfell, die ich selbst gemacht hatte, den Schirm und den Papagei mit aufs Schiff. Ich vergaß auch nicht, das Geld einzustecken, von dem ich erzählt habe, das so lange nutzlos herumgelegen hatte, dass es rostig geworden oder zumindest angelaufen und kaum mehr als Silber erkennbar war, bis ich es ein wenig abgerieben und gereinigt hatte. Auch das Geld, das ich an Bord des spanischen Schiffes gefunden hatte, nahm ich mit. Und so verließ ich, wie ich dem Logbuch des Schiffes entnahm, am 19. Dezember 1686 die Insel, auf der ich achtundzwanzig Jahre, zwei Monate und neunzehn Tage verbracht hatte. Erzähler: Eigentlich, so sollte man annehmen, könnte Daniel Defoes ROBINSON CRUSOE mit der Rettung von der einsamen Insel enden. Aber nein: Stattdessen hat man als Leser des Romans von da an noch immerhin weitere vierzig Seiten Lektüre vor sich - wenn man die insgesamt 400 Seiten starke, vollständige deutsche Übersetzung zugrunde legt. Auf diesen kehrt Robinson zunächst zurück ins heimische London, anschließend dann auf seine Zucker- und Tabakplantagen in Brasilien. Wirklich abgeschlossen war die Robinson-Saga aber auch damit noch lange nicht. Denn der Roman hatte sich seit seiner Veröffentlichung im Frühjahr 1719 auf Anhieb derart gut verkauft, dass Daniel Defoe schon kurze Zeit später gleich noch einen zweiten Band hinterherschob. Dieser trug den Titel THE FARTHER ADVENTURES OF ROBINSON CRUSOE - "Die weiteren Abenteuer des Robinson Crusoe". Walter Wehner aus Iserlohn, den wir ganz am Anfang unserer Langen Nacht schon einmal kurz gehört haben, erklärt, worum es in dieser Fortsetzung geht. O-TON: WALTER WEHNER Er ist in England. Er kehrt wieder zurück und gründet, wenn man so will, einen kleinen Staat auf der Insel, weil er dann das Leben in London und in England - in dem Fall schon Großbritannien - vergleicht mit dem Leben auf seiner Insel. Und zu der Entscheidung kommt: Das Leben auf der Insel war eigentlich besser. Ich war ein freier Mensch, keine staatliche Obrigkeit, keine Gesetze - außer die, die ich selber mache. Kein geregelter, von fremd bestimmter Arbeitsalltag, sondern ich bestimme meinen Arbeitsalltag. Ob ich nun am Strand liege oder das nächste Boot baue, ob ich die Ziege melke oder nicht melke. Das führt dazu, dass er im zweiten Teil diese Utopie aufgreift: Ich will auf dieser Insel einen Kleinstaat gründen. Und da lebt man dann nach meinen Gesetzen. Erzähler: Zwar verkaufte sich die Fortsetzung deutlich schlechter als der erste Band. Doch das konnte Daniel Defoe nicht davon abhalten, im August 1720 sogar noch einen dritten Teil zu veröffentlichen. Bei diesem handelte es sich jedoch insgesamt um eine eher krude Ansammlung philosophisch-religiöser Thesen. Darum verschwand das Werk schon bald in der literarischen Versenkung. Was aus heutiger Sicht geradezu tragisch erscheint: Viele ROBINSON CRUSOE-Ausgaben wurden vor allem im achtzehnten Jahrhundert als illegale Raubdrucke vertrieben. Darum blieb Daniel Defoe - trotz insgesamt enormer Verkaufszahlen - ein durchschlagender finanzieller Erfolg letztlich versagt. Und nicht nur das: Gegen Ende seines Lebens wurde der Autor plötzlich auch noch mit Schulden aus der Vergangenheit konfrontiert. So kam es, dass Daniel Defoe die Jahre vor seinem Tod am 24. April 1731 in finanziell recht bescheidenen Verhältnissen verbrachte. Zumindest das literarische Echo des berühmten Romans aber sollte lange Zeit nachhallen - sogar bis heute. O-TON: KATJA SCHOLTZ Jeder Mensch, jeder Leser, assoziiert irgendetwas mit ihm. Es hat sich ja auch ein ganzes Genre begründet, die Robinsonade. Erzähler: Sagt Katja Scholtz vom Hamburger mare Verlag. Sie war als Lektorin mit dafür verantwortlich, dass der erste Band des ROBINSON CRUSOE zum 300. Jahrestag im Frühjahr 2019 neu übersetzt wurde - und endlich auch vollständig auf Deutsch erschienen ist. O-TON: KATJA SCHOLTZ Das Thema Robinsonade ist insofern ein beliebtes, als dass es so eine geeignete Versuchsanordnung ist. Das kann ich auch nachvollziehen, aus Perspektive der Autoren, dass man sich vornimmt: Man setzt ein Individuum irgendwo in der Einsamkeit aus. Und seit Robinson hat sich nichts daran geändert, dass diese Frage unglaublich spannend ist - und attraktiv, auch für einen Erzähler. Und man kann die auf so unterschiedlich und vielfältige Art und Weise beantworten. Erzähler: Kein Wunder also, dass die allererste deutsche ROBINSON CRUSOE-Übersetzung nicht lange auf sich warten ließ. Sie kam schon 1720 auf den Markt - und damit nur ein Jahr nach dem englischsprachigen Original. Im Laufe der darauffolgenden Jahrzehnte wurden weltweit auch noch unzählige Nachahmer des Stoffes unter das Lese-Volk gestreut. Schon bald hatte sich für derartige Werke der Begriff "Robinsonade" etabliert. Bezeichnet wurden damit fortan literarische Beschreibungen robinsonartiger Schicksale in allen möglichen Regionen der Erde. Dazu noch einmal Walter Wehner aus Iserlohn. O-TON: WALTER WEHNER Also, in Deutschland kann man verfolgen, dass es eigentlich kein Land und keinen Landesteil gab - Europa, auch darüber hinaus -, was nicht seine Robinsonade gekriegt hat: der schlesische, der böhmische, der bayrische...der schleswig- holsteinische, den gab's dann auch noch., den holsteinischen. Man hat das dann neu geschrieben, aber für andere Personen. Das 19. Jahrhundert - da explodieren die Robinsonaden regelrecht. Wenn man die Namen und die Zahlen sich anguckt, auch die Auflagenstärken - erhöhen sich immens. Es werden immer neue, neue, neue geschrieben - besonders im Trivialbereich. Das hat sich durch's ganze 18. Jahrhundert gezogen - mit einem Klassiker. Das war Schnabels INSEL FELSENBURG. Erzähler: Der Roman INSEL FELSENBURG von Johann Gottfried Schnabel erschien ursprünglich zwischen 1731 und 1743 in vier Bänden. Er umfasste insgesamt rund 2500 Druckseiten. Einer breiten Öffentlichkeit bekannt wurde Schnabels Werk aber erst Jahrzehnte später durch eine stark gekürzte Fassung. Diese kam 1828 heraus - also gut einhundert Jahre nach dem Ur-Robinson. Darin erhielt der Ich-Erzähler einen geheimnisvollen Brief, der von einer Insel im Südmeer berichtete: der Insel Felsenburg. Dort, so hieß es, sei ein 97-jähriger Verwandter des Erzählers mit Namen Albert Julius einst gestrandet. Im Laufe der Jahre habe Julius weitere Schiffbrüchige um sich geschart, mit denen er inzwischen angeblich ein paradiesisches Inselleben führe. Neugierig geworden, machte sich der Protagonist des Romans daraufhin auf den Weg. Begleitet wurde er dabei unter anderem von einem erfahrenen Kapitän sowie rund einem Dutzend weiterer Personen. Nach diversen Zwischenfällen hatten sie ihr Ziel, die Insel Felsenburg, schließlich erreicht - und kamen vor Ort aus dem Staunen kaum heraus. Zitator: Es ist unmöglich dem geneigten Leser auf einmal alles ausführlich zu beschreiben, was vor Annehmlichkeiten uns um und um in die Augen fielen. Ich gebe dem geneigten Leser zu vernehmen: dass wir fast eine Meilwegs lang zwischen einer Allee, von den ansehnlichsten und fruchtbarsten Bäumen, die recht nach der Schnur gesetzt waren, fortgingen, welche sich unten an dem ziemlich hoch erhabenen Hügel endigte, worauf des Alberti Schloss stund. Doch etwa dreißig Schritte lang vor dem Ausgange der Allee, waren die Bäume dermaßen zusammengezogen, dass sie oben ein rechtes europäisches Kirchengewölbe formierten, und anstatt der schönsten Sommerlaube dieneten. Unter dieses ungemein propre und natürlich kostbare Verdeck hatte sich der alte Greis, Albertus Julius, von seiner ordentlichen Behausung herab, uns entgegenbringen lassen, denn er konnte damals wegen eines geschwollenen Fußes nicht gut fortkommen. Ich erstaunete über sein ehrwürdiges Ansehen, und venerablen weißen Bart, der ihm fast bis auf dem Gürtel herabreichte, zu seinen beiden Seiten waren noch fünf ebenfalls sehr alt scheinende Greise, nebst etlichen andern, die zwar etwas jünger, doch auch fünfzig bis sechzig Jahr alt aussahen. Ich wüsste nicht Worte genug zu ersinnen, wenn ich die zärtliche Bewillkommung, und das innige Vergnügen des Albert Julii und der Seinigen vorstellen sollte. Mich drückte der ehrliche Alte aus getreuem Herzen dermaßen fest an seine Brust, dass ich die Regungen des aufrichtigen Geblüts sattsam spürte, und eine lange Weile in seinen Armen eingeschlossen bleiben musste. Hierauf stellete er mich als ein Kind zwischen seinen Schoß, und ließ alle Gegenwärtigen, sowohl klein als groß herzurufen, welche mit Freuden kamen und den Bewillkommungskuss auf meinen Mund und Hand drückten. Wir wurden zwar nicht fürstlich, doch in der Tat auch nicht schlecht traktieret, weiln nebst den vier recht schmackhaften Gerichten, die in Fleisch, Fischen, gebratenen Vögeln, und einem raren Zugemüse bestunden, die delikatesten Weine, so auf dieser Insul gewachsen waren, aufgetragen wurden. Bei Tische wurde sehr wenig geredet, mein alter Vetter Albert Julius aber, dem ich zur Seite sitzen musste, legte mir stets die allerbesten Bissen vor, und konnte, wie er sagte, vor übermäßiger Freude, itzo nicht den vierten Teil soviel, als gewöhnlich essen. Nach diesen spaziereten wir um das von festen Steinen erbauete Haus, auf dem Hügel herum, allwo wir beinahe das ganze innere Teil der Insul übersehen konnten, und des Merkwürdigsten auf derselben belehret wurden. Von dar ließ sich Albert Julius auf einem Tragsessel in seinen angelegten großen Garten tragen, wohin wir ingesamt nachfolgeten, und uns über dessen annehmliche, nützliche und künstliche Anlegung nicht wenig verwunderten. Denn diesen Garten, der ohngefähr eine vierteils teutsche Meile lang, auch ebenso breit war, hatte er durch einen Kreuzweg in vier gleiche Teile abgeteilet, in dem ersten Quartier nach Osten zu, waren die auserlesensten fruchtbaren Bäume, von mehr als hundert Sorten, das zweite Quartier gegen Süden, hegte vielerlei schöne Weinstöcke, welche teils rote, grüne, blaue, weiße und anders gefärbte extraordinär große Trauben und Beeren trugen. Das dritte Quartier, nach Norden zu, zeigte unzählige Sorten von Blumengewächsen, und in dem vierten Quartiere, dessen Ecke auf Westen stieß, waren die allernützlichsten und delikatesten Küchenkräuter und Wurzeln zu finden. O-TON: WALTER WEHNER Schnabels Robinsonade ist eine andere Robinsonade als Defoes. Es geht nicht um eine Einzelperson, sondern es geht nach und nach um Gruppen. Und dann sogar um einen Staat, der auf dieser Insel - als Alternative, sage ich mal, zu den absolutistischen Staaten in Europa sich Schnabel ausgedacht hat. Also, ein selbstregierter, nach eigener Religion, wenn man so will...also, sehr christlich, eigenen Geboten und Gesetzen organisierter Staat, der besser sein soll als der, den man in Europa kennen gelernt hat. Das ist dann gleichzeitig ein Modell als Alternative zu dem, was man als Leser persönlich erlebt und in dem man lebt. Das muss die Leute auch fasziniert haben - in Alternativen plötzlich zu denken und zu sagen: Das was ist, muss nicht sein, es könnte auch so sein. Erzähler: Mara Stuhlfauth-Trabert ist wissenschaftliche Mitarbeiterin für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität. 2011 hat sie eine Abhandlung über moderne Robinsonaden veröffentlicht. Darin beschreibt die Germanistin bestimmte Grundmuster, die für diese literarische Gattung stilprägend sind - vom Ur-Robinson bis heute. O-TON: MARA STUHLFAUTH Das erste und sicherlich wichtigste Grundmuster ist die Isolation. Sie ist die notwendige Bedingung für eine Robinson-Handlung. Also: Der Protagonist - oder eine kleine Gruppe; je nachdem, ob wir es mit einer Einzel- oder Gruppenrobinsonade zu tun haben -, die sind in einem räumlich begrenzten Areal auf sich ganz alleine gestellt. Erzähler: Egal, worum es sich handelt - um den Schiffbrüchigen auf einer einsamen Insel, den letzten Bewohner der Erde überhaupt oder auch um einen Astronauten, der auf einem fernen Planeten gestrandet ist: Die jeweiligen Protagonisten werden in der Regel schon bald mit dem zweiten Grundmuster konfrontiert, das Mara Stuhlfauth-Trabert als Grundlage einer Robinsonade ausgemacht hat: den physischen Überlebensbemühungen. O-TON: MARA STUHLFAUTH Bei diesen Überlebensbemühungen physischer Art geht es erstmal um die Sorge der Nahrungsbeschaffung, sich einen sicheren Schlafplatz zu organisieren, Vorräte anzulegen - also zu schauen: Wie kann ich die nächsten Tage in dieser Isolation überhaupt überstehen? Und, abstrakter formuliert, ist das Interessante, dass die Robinson-Figur aus einem arbeitsteiligen Gesellschaftssystem kommt und nun alles selbst erledigen muss - und das teilweise, gerade ja auch was unsere moderne Gesellschaft betrifft, gar nicht mehr kann, unbedingt. Erzähler: Wie eine solche physische Überlebensbemühung im Raumfahrt-Zeitalter aussehen kann, schildert der US-amerikanische Autor Andy Weir in seinem Roman DER MARSIANER. In dem 2014 auf Deutsch erschienenen Buch bleibt ein Astronaut nach einem Sandsturm allein auf dem Mars zurück. Die Kollegen haben ihn irrtümlich für tot gehalten und sind daher ohne ihn zur Erde zurückgekehrt. Zum Glück handelt es sich bei dem Protagonisten um einen gelernten Botaniker. Und der weiß sich, trotz seiner zunächst aussichtslos erscheinenden Lage, durchaus zu helfen. Zitator: Ich besaß zwölf Kartoffeln, mit denen ich arbeiten konnte. Es ist ein unglaublicher Glücksfall, dass sie nicht gefriergetrocknet oder gemulcht sind. Warum hat die NASA zwölf ganze Kartoffeln gekühlt, aber nicht tiefgefroren mitgeschickt? Und warum wurden die Kartoffeln unter normalen Druckverhältnissen zusammen mit uns verladen statt mit den übrigen Vorräten für die Wohnkuppel in einer Kiste? Weil Thanksgiving in die Zeit unserer Bodenoperationen fiel und die Eierköpfe bei der NASA dachten, es sei doch eine schöne Sache, wenn wir zusammen kochten. Wir sollten nicht nur zusammen essen, sondern das Mahl gemeinsam zubereiten. Irgendwo gibt es dahinter bestimmt eine gewisse Logik, aber wen kümmert's? Ich schnitt jede Kartoffel in vier Teile und achtete darauf, dass jedes Stück mindestens zwei Augen hatte. Die Augen sind die Stellen, aus denen die Pflanzen keimen. Ich ließ sie ein paar Stunden liegen, damit sie etwas hart wurden, und pflanzte sie in der Ecke in ausreichendem Abstand ein. Alles Gute, ihr kleinen Erdäpfel. Mein Leben hängt von euch ab. Normalerweise dauert es mindestens 90 Tage, bis Kartoffeln zu normaler Größe heranwachsen, aber so lange kann ich nicht warten. Ich muss die Kartoffeln aus dieser Ernte erneut zerschneiden, um das ganze Feld zu besetzen. Wenn ich die Temperatur in der Wohnkuppel auf 25,5 Grad einstelle, wachsen die Pflanzen schneller. Außerdem liefert die interne Beleuchtung genügend künstliches Sonnenlicht, und ich sorge dafür, dass es immer feucht genug ist (sobald ich mir ausgedacht habe, woher ich das Wasser bekomme). Es gibt hier kein schlechtes Wetter und keine Parasiten, die den Pflanzen zusetzen, auch kein Unkraut, das mit ihnen um Erde und Nährstoffe konkurriert. Da es für sie so gut läuft, sollte ich binnen vierzig Tagen gesunde, keimfähige Kartoffeln erhalten. Erzähler: Selbstverständlich befindet sich DER MARSIANER auch in der Sammlung des Germanisten Walter Wehner aus Iserlohn. Diese umfasst mittlerweile rund dreitausend Robinsonaden aus der ganzen Welt. Beeindruckend ist dabei allein die Liste mit Werken berühmter Autoren, die sich durch Daniel Defoes ROBINSON im Laufe der Jahrhunderte haben inspirieren lassen. So beschrieb zum Beispiel der legendäre Tarzan-Erfinder Edgar Rice Burroughs in seinem Roman CAPRONA - IM REICH DER DINOSAURIER ein im wahrsten Sinne fantastisches Inselabenteuer. Darin entdeckte die Besatzung eines U-Bootes das auf keiner Karte verzeichnete, magnetische Inselreich mit Namen Caprona. Bevölkert wurde dieses von Dinosauriern und eierlegenden Menschen. Der als Theaterautor bekannt gewordene Gerhart Hauptmann wiederum schilderte in dem Roman DIE INSEL DER GROSSEN MUTTER von 1924 das Schicksal einer Frauenrepublik. Gegründet worden war diese von über einhundert Frauen aus ganz Europa. Sie waren eines Tages auf einer unbewohnten Südsee-Insel gelandet. Und auch Arno Schmidt schrieb mit seiner Erzählung SCHWARZE SPIEGEL eine Robinsonade: In der 1951 veröffentlichten Geschichte durchstreifte der letzte Überlebende des dritten Weltkriegs die durch Atomwaffen verwüstete Lüneburger Heide. Der Vielfalt einer Robinsonade scheinen also keinerlei Grenzen gesetzt - von den Varianten in Form unzähliger Filme, Hörspiele oder Theaterstücke einmal ganz abgesehen. O-TON: WALTER WEHNER Es gibt nicht nur einen Robinson, es gibt ganze Gruppen. Jules Verne hat gleich tausend Leute auf die Falkland-Inseln gesetzt. Es gibt den Robinson auf der Eisscholle, in der Wüste, im Dschungel, auf einem anderen Stern - also, die Variationsbreite war unendlich. Und auch die Lösungen für die Robinsonade, hat sich gezeigt, sind nicht eindimensional. Man hat sich auch immer wieder neue Lösungen vorgestellt. Und ich glaube, auf der anderen Seite für den Leser: Es animierte stark dazu, sich zu fragen: Wie würde ich handeln? Wie würde ich mich verhalten, wenn mir das passieren würde? Würde ich das auch überleben? Erzähler: Eines scheint klar: Die Faszination von Robinsonaden hält bis heute an - bei Autoren ebenso wie auf Seiten der Leser. Wie aber steht es um die Bewertung einer robinson- artigen Erfahrung für den Menschen? Handelt es sich bei einer solchen in jedem Fall um ein schreckliches Schicksal, dem es um jeden Preis zu entkommen gilt? Oder vielleicht eher um eine einmalige Chance, die alltäglichen Belastungen unserer modernen Zeit hinter sich zu lassen? Die Meinungen der vielen verschiedenen Robinsonaden-Autoren in dieser Frage gehen seit jeher weit auseinander. So verweist Walter Wehner beispielsweise auf einen Science-Fiction-Roman der US- amerikanischen Autorin Joanna Ross. Dieser, ursprünglich veröffentlicht 1977, trug auf Deutsch den Titel WIR, DIE WIR GEWEIHT SIND. Erzählt wird darin die Geschichte eines Raumschiffs, das auf einem unerforschten Planeten zerschmettert. Die Überlebenden des Unglücks - eine Frau und vier Männer - sehen einem baldigen Tod entgegen. O-TON: WALTER WEHNER Und die Frau möchte nicht, dass die Männer jetzt was mit ihr anfangen. Die Männer aber bestehen auf Fortpflanzung, um dort einen neuen Staat zu gründen - auch, wenn die Lebensbedingungen katastrophal sind und das Überleben eigentlich aussichtlos ist. Und die Frau wehrt sich dadurch auch, dass sie die anderen alle umnietet. Die müssen alle sterben. Und sie sitzt dann zum Schluss dort auf ihrem Stern, auf ihrem Planeten, und wird eins mit der Natur. Und ist damit auch zufrieden: dass damit Schluss ist. Erzähler: Weniger radikal-feministische Naturen dürften dagegen wohl eher zur zweiten These neigen. Demnach sollte der Mensch möglichst alles daransetzen, einem erlittenen Robinson-Schicksal zu entkommen. Vertreten wird diese Meinung unter anderem von Jule Verne in seinem Roman DIE KINDER DES KAPITÄN GRANT aus dem Jahre 1867. Einer der Protagonisten, die es auf eine einsame Insel verschlagen hat, äußerst sich folgendermaßen: Zitator: Der Mensch ist zur Geselligkeit, nicht zur Einsamkeit geschaffen. Die Einsamkeit kann nur die Verzweiflung erzeugen. Es ist das übrigens eine Frage der Zeit. Wohl mögen die Sorgen um das materielle Leben, die Bedürfnisse für seine Existenz, den kaum vom Wellentode geretteten Unglücklichen zerstreuen, und die Not der Gegenwart ihm die drohende Zukunft verschleiern; das ist wohl möglich! Dann aber, wenn er sich allein fühlt, fern von Seinesgleichen, ohne Hoffnung, sein Vaterland und seine Lieben wiederzusehen, was muss er dann denken, was muss er leiden? Sein Eiland ist ihm die ganze Welt; die ganze Menschheit stellt nur er da, und dann, wenn der Tod ihn antritt, der schreckliche Tod in der Verlassenheit, dann steht er da wie der letzte Mensch am jüngsten Tage. Glauben Sie mir: Es ist doch besser, dieser Letzte nicht zu sein!" MUSIK Erzähler: Wie wir inzwischen wissen, befindet sich das reale Vorbild von Robinson Crusoes Insel rund 670 Kilometer westlich der chilenischen Küste. 1966 wurde das Eiland in Erinnerung an den Roman - und wahrscheinlich auch, um Touristen anzulocken - sogar in Isla Robinson Crusoe umbenannt. O-TON: ANDREAS MIETH Ja, wir hatten natürlich dann schon nachgelesen: Warum heißt die Insel Robinson Crusoe? Hatten über einen gewissen Alexander Selkirk gelesen, dass das das Vorbild für den berühmten Roman gewesen sein soll. Aber die Geschichten, die wir lasen, die hörten sich doch zum großen Teil sehr oberflächlich an. Erzähler: Andreas Mieth, Wissenschaftler am Institut für Ökosystemforschung Kiel mit dem Forschungsschwerpunkt "Inseln im Pazifischen Ozean". O-TON: ANDREAS MIETH Da gibt es eine Höhle, die nach ihm benannt ist, einen Ausguck, oben auf der Insel, der nach ihm benannt ist. Aber wenn man dann ins Detail gehen wollte, fand man eigentlich wenig Informationen. Erzähler: Gemeinsam mit seinem Kollegen, Hans-Rudolf Bork, hat Andreas Mieth die Isla Robinson Crusoe zum ersten Mal im Jahre 2002 besucht. Die beiden Kieler Wissenschaftler sollen uns zum Abschluss dieser Langen Nacht eine spannende Frage beantworten: Wie sieht es auf der sagenumwobenen Robinson-Insel eigentlich heute aus - über dreihundert Jahre, nachdem der schottische Seefahrer Alexander Selkirk immerhin 52 Monate seines Lebens dort verbracht hatte? O-TON: ANDREAS MIETH Und uns hatte das schon gereizt, auch etwas mehr in die Tiefe zu gehen. Und wir erhofften uns dann eben, auf der Insel etwas mehr an Spuren zu finden aber auch ganz andere Fragen zu beantworten, die nicht unbedingt mit Alexander Selkirk oder Robinson Crusoe selbst zusammenhingen. Denn wir hatten gelesen: Es gibt dort massive Veränderungen der Ökosysteme auf der Insel, es gab seit der europäischen Entdeckung dramatische Veränderungen der Insellandschaft. Aber über die Gründe, über die Ursachen, las man wenig. Also, das schien uns doch ein sehr interessantes Forschungsobjekt zu sein. Und das wurde es dann auch. Erzähler: Was ihre mehrfachen Reisen nach Südamerika für die beiden Kieler Forscher von Beginn an so interessant machte: Inseln zeigen wie unter einem Brennglas, welche Auswirkungen es hat, wenn Menschen zuvor unberührte, intakte Ökosysteme nutzen und besiedeln. Um dies verstehen zu können, empfiehlt sich zunächst ein Blick in die Vergangenheit - und zwar zurück bis zum 22. November 1574. Denn an diesem Tag wurde die Insel erstmals von Menschen besucht. Der spanische Seefahrer Juan Fernández war damals unterwegs an der Westküste Südamerikas, von Peru nach Chile. Bis dahin hatte eine solche Fahrt mit dem Schiff in südlicher Richtung immer rund neunzig Tage gedauert. Dazu Hans-Rudolf Bork. O-TON: HANS-RUDOLF BORK Die Reise von Cajao im heutigen Peru nach Valpaiso in Mittel-Chile geht in südlicher Richtung genau entgegen dem Humboldt-Strom. Das heißt: Man hat gegen den Strom anzukämpfen. Und Juan Fernandez wurde im November 1574 abgetrieben, von Ostwinden, in ein anderes Stromsystem, das ihn schnell voranbrachte. Außerdem hatten sie sehr günstige Winde, so dass sie tatsächlich, trotz der längeren Strecke, nur ein Drittel der üblichen Zeit brauchten. Das hat so viel Aufregung verursacht, dass sich auch die Inquisition intensiv mit diesem Fall auseinandergesetzt hat. Erzähler: Die Autorin Diana Souhami schreibt in ihrem Buch SELKIRKS INSEL über Juan Fernández: Zitator: Niemand glaubte ihm, als er behauptete, die Strecke von Lima hierher in lediglich einem Monat geschafft zu haben. Er wurde bezichtigt, sich der Hexerei bedient zu haben, um Winde und Strömungen umzukehren, und musste sich vor der Inquisition rechtfertigen. Als aber andere Seefahrer seine Route bestätigten, wurde er wegen des erwiesenen Dienstes für den König von Spanien mit einem Landgut und dem Titel "Oberlotse der Südsee" belohnt. Erzähler: 17 Jahre später, 1591, fand dann ein erster Versuch statt, die Insel zu besiedeln. O-TON: HANS-RUDOLF BORK Eine Gruppe von einem guten Dutzend Menschen ist aus Südamerika auf die Insel, um dort dauerhaft zu wohnen. Und sie haben sich Samen mitgebracht, andere Früchte, Tiere. Der Siedlungsversuch ist aber gescheitert. Denn das Klima, das Wetter auf der Insel ist sehr, sehr unwirtlich. Und die Vegetationszeit, wo Pflanzen wachsen, ist ausgesprochen kurz. Das heißt: Das Getreide ist nicht reif geworden. Nach vier Jahren, 1595, ist dieser Versuch gescheitert. Die Menschen sind zurückgekehrt. Aber einige Ziegen sind ausgebüxt. Und ohne natürliche Feinde haben die sich in den Jahrzehnten danach massenhaft vermehrt. Und es gab ideale Lebensbedingungen: Im Süden der Insel, wo es etwas trockener ist, waren die Wälder nicht sehr hoch. Und Ziegen lieben es, oben in die Bäume zu klettern und die möglichst frischen Blätter zu fressen. Dabei sind die Wälder so kahlgefressen worden, dass sie abgestorben sind und danach Starkregen dort Erosionen verursachen konnten, die fruchtbaren Böden abgespült wurden. Erzähler: Ein zeitgenössischer Bericht über Alexander Selkirks Schicksal schilderte unter anderem auch, wie der schottische Seefahrer auf der Insel Ziegen jagte. Und wie er dabei einmal fast ums Leben kam. Zitator: Er jagte einer Ziege mit so großem Eifer nach, dass er sie am Rande eines Abgrunds zu fassen bekam, von dem er allerdings nichts ahnte, da Gesträuch ihn vor seinen Augen verbarg, so dass er mit der Ziege in besagten Schlund stürzte und sehr tief fiel und so betäubt und zerschunden war von dem Sturz, dass er nur knapp dem Tod entrann, und als er wieder zu sich kam, die Ziege tot unter sich fand. Drei Tage lang lag er besinnungslos da und war dann kaum im Stande, sich zu seiner Hütte zu schleppen, die ungefähr eine Meile entfernt war, oder danach zehn Tage lang sein Lager zu verlassen. Erzähler: Soweit die Realität. Daniel Defoe dürfte diesen Bericht aus dem Jahre 1712 mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gekannt und auch als Inspirationsquelle für seinen ROBINSON CRUSOE genutzt haben. Diese Vermutung liegt zumindest nahe, wenn man jene Zeilen liest, in denen Robinson erstmals den Ziegen begegnen. Zitator Robinson Crusoe: Schon bei meinem ersten Spaziergang stellte ich fest, dass es Ziegen auf der Insel gab, was mich natürlich freute, auch wenn es einen Haken an der Sache gab: Die Ziegen waren so scheu, so gewitzt und so flink auf den Beinen, dass es nahezu unmöglich war, an sie heranzukommen. Doch ich ließ mich nicht entmutigen, denn ich zweifelte nicht daran, dass ich hin und wieder ein Tier würde schießen können; so kam es auch schon bald, denn kaum hatte ich herausgefunden, wo sie sich am liebsten aufhielten, legte ich mich nach folgender Methode auf die Lauer: Ich stellte fest, dass sie, sobald sie mich unten im Tal sahen, während sie sich auf den Felsen aufhielten, in großer Angst davonliefen; doch wenn sie unten im Tal grasten und ich auf einem der Felsen war, nahmen sie keinerlei Notiz von mir, woraus ich schlussfolgerte, dass ihr Blick aufgrund der Stellung ihrer Augen abwärtsgerichtet war, sodass sie Objekte, die über ihnen waren, nur sehr eingeschränkt sehen konnten. Also hielt ich es fortan so, dass ich auf einen der Felsen kletterte, um mich oberhalb der Ziegen zu befinden, und hatte dann meist ein leichtes Ziel. Mit dem ersten Schuss, den ich auf die Tiere abgab, tötete ich ausgerechnet eine Geiß, die ein Zicklein bei sich hatte, das sie säugte, was mich zutiefst betrübte. Doch als das Muttertier fiel, blieb das Jungtier stocksteif neben ihm stehen, bis ich kam und seine Mutter aufhob; doch damit nicht genug, denn als ich die Geiß auf meinen Schultern forttrug, folgte mir das Zicklein bis vor meine Unterkunft, wo ich die Geiß ablegte, das Kitz in die Arme nahm und es in der Hoffnung über die Umzäunung trug, es als Haustier halten zu können. Es wollte aber partout nicht fressen, sodass ich mich gezwungen sah, es zu töten und aufzuessen. Erzähler: Nachdem Juan Fernández die Insel 1574 entdeckt hatte, begannen sich selbstverständlich auch andere für das Eiland zu interessieren. Vor allem Piraten, die vor den Küsten Südamerikas spanische Schiffe kapern wollten, machten fortan gerne hier Halt. Inzwischen trug die Insel sogar den Namen seines spanischen Entdeckers. O-TON: HANS-RUDOLF BORK Sie haben sich dort von der schweren Überfahrt erholt und fanden Wasser und reichlich Fleisch, Ziegenfleisch, vor. Die Spanier versuchten die Ziegen auszurotten, um die Ernährungsgrundlage für die Piraten zu zerstören. Damit die also nicht das gute Fleisch vorfinden. Es gab so viele, Zehntausende von Ziegen, dass es leicht war für die Piraten, welche zu erlegen. Und die konnten quasi in Saus und Braus dort leben - bestes Süßwasser und eben reichlich Fleisch. Deswegen haben die Spanier die Windhunde ausgesetzt. Aber das war ein Fehlschlag. Erzähler: Zum Glück für Alexander Selkirk, muss man wohl sagen. Denn als dieser 130 Jahre später allein auf Juan Fernández zurückblieb, fand er tausende von Ziegen vor. Diese hatten im Laufe der Zeit sogar eine eigene Rasse herausgebildet. Die Tiere mit braunem Fell waren kleiner als die ursprünglich ausgesetzten Exemplare und bekamen sogar eine eigene Bezeichnung. Man nannte sie Juan-Fernández-Ziegen. O-TON: ANDREAS MIETH Hätte es die Ziegen auf der Insel nicht gegeben, wäre das Überleben für Alexander Selkirk sicher sehr schwierig gewesen. In der Tat waren die Ziegen, das Fleisch der Ziegen, für ihn sicherlich eine Hauptnahrung. Weil: Kulturpflanzen hat er sicherlich nur noch sehr wenige gefunden - die Reste vielleicht, die noch von den ersten spanischen Siedlern dort übrig waren. Aber die Ziegen waren eben eine Ressource, die sich in den ersten über hundert Jahren seit der Entdeckung der Insel und der ersten Besiedlung der Insel massiv vermehrt hatten. Also: Ziegen waren überreichlich da. Erste Inselkarten, die gezeichnet wurden von den ersten englischen Freibeutern, die auf der Insel waren, zeigen ja, wie massiv die Ziegen dort schon vorhanden waren. Die halbe Insel war in dieser Zeit - einhundert Jahre nach der Entdeckung - schon devastiert. Auf Karten finden wir geografische Bezeichnungen wie "Goat Hills" oder "Goat Quarters", also "Ziegen-Insel" oder "Ziegen-Gebirge", "Ziegen-Hügel". Ziegen sind manchmal auf den alten Karten eingezeichnet, als Symbole. Das zeigt, wie reichlich die Ziegen da schon gewesen sein müssen. Ihre Zahl muss in die viele Tausende gegangen sein. Und Alexander von Selkirk hat es offensichtlich geschafft, nach und nach Techniken zu entwickeln, eben die Ziegen nicht nur zu schießen, sondern auch zu fangen, in Fallen zu locken. Er hatte ja nicht viel Munition, nur wenige Schuss Munition mitbekommen, als er ausgesetzt wurde, musste andere Fangtechniken entwickeln. Aber die Ziegen waren für ihn eben die Überlebensgrundlage - nicht nur das Fleisch zum Essen, sondern auch die Felle, die ihn dann kleideten. Jedenfalls, wenn man den alten Aufzeichnungen Glauben schenken darf. Also: Für ihn waren sie sicherlich ein Segen - neben dem noch reichlich vorhandenen Holz auf der Insel - und vielleicht auch einigen Pflanzen, die er essen konnte. Erzähler: Im Jahre 1877 - die Insel stand inzwischen unter chilenischer Verwaltung - begann der zweite Versuch, das Eiland fest zu besiedeln. Initiator war diesmal ein Schweizer Baron: Alfred von Rodt, stammte aus einer Berner Aristokratenfamilie und war im Alter von 34 Jahren nach Chile ausgewandert. Er hatte zuvor von einem Landsmann erfahren, dass die dortige Regierung insgesamt drei Pazifik-Inseln verpachten wollte - darunter auch die Juan Fernández Insel. Die Bewerbung des Barons war erfolgreich. Von Rodt wurde zum "Unter-Präfekt" der Inseln ernannt. Im Juni 1877 schrieb er in einem Brief an seine Eltern: Zitator: Seit einem Monat bin ich nun - nach dem Herrgott und der Republik Chile - unumschränkter Gebieter über die Inseln mit circa 60 Einwohnern, 100 Stück Kühen, 60 Pferden, circa 7000 Ziegen, samt Seehunden, Hummern und Fischen, welche massenhaft vorkommen. An den Staat habe ich jährlich die Summe von 1500 Dollar zu zahlen, welche ich allein aus dem Ertrag der Ziegen bestreiten kann. Das Holz bringt jährlich circa 3000 Dollar, die Seehunde je von 1500 bis 3000 Dollar, Fische und Hummer ungefähr dasselbe, und in einigen Jahren, wenn ich meine 1.000 Stück Vieh beieinander habe, kann ich auf eine jährliche Einnahme von circa 20.000 Dollar hoffen. Erzähler: Reich wurde der Schweizer Baron trotzdem nicht. So verstarb Alfred von Rodt 1905, im Alter von 62 Jahren, in recht bescheideneren Verhältnissen. Insgesamt 28 Jahre seines Lebens hatte er bis dahin auf der Insel verbracht - und damit kurioserweise genauso viele wie Robinson Crusoe in Daniel Defoes Roman. MUSIK: GRUPPO DRESDEN Erzähler: Die Musik, die hier zu hören ist, hat Hans-Rudolf Bork höchstpersönlich von der Isla Robinson Crusoe mit zurück nach Deutschland gebracht. Gespielt wird sie von einer Band mit Namen "Gruppo Dresden". Der Name ist tatsächlich auf die sächsische Landeshauptstadt zurückzuführen. Allerdings bezieht er sich weniger auf die Stadt selbst, sondern vielmehr auf ein deutsches Schlachtschiff gleichen Namens. O-TON: HANS-RUDOLF BORK Im Jahr 1915, während des Ersten Weltkrieges, gab es eine Schlacht in der Nähe der Falkland Inseln, östlich vom südamerikanischen Kontinent, an dem (sic!) deutsche und britische Schiffe beteiligt waren. Ein deutsches Schiff ist danach geflüchtet - die "Dresden" -, hat sich dann eine Zeit zwischen Kontinent und Feuerland, am Biegelkanal, versteckt. Und ist dann weiter geflüchtet, zur Robinson-Crusoe-Insel, und hat dort, in der einzigen Bucht, geankert - der Cumberland-Bucht, in der Nähe des einzigen Dorfes. Und die britischen Schiffe haben sie dort gefunden. Und die Briten behaupten, sie haben die "Dresden" versenkt. Die Besatzung der "Dresden" hat behauptet, sie haben sich selbst versenkt. Möglicherweise war es eine Wirkung von beidem. Jedenfalls liegt seiner Majestäts Schiff "Dresden" dort, in einer Tiefe von einigen Zehner-Metern, in der Cumberland Bay. Und dieses Ereignis war Anlass dafür, dass ein Kindergarten, ein kleiner Supermarkt, eine Straße, nach der "Dresden" benannt wurde - und auch eine kleine Musikgruppe, die ganz lokal-typische Musik entwickelt hat: Die "Gruppo Dresden" hat sich nach diesem Ereignis benannt. Erzähler: Die "Dresden" liegt nach wie vor in der Cumberland Bay auf Grund. Wer die Robinson-Insel heutzutage besucht, kann vor Ort also nach ihr tauchen. Der ökologische Raubbau an dem Eiland sollte sich übrigens auch nach dem Untergang der "Dresden" weiter fortsetzen. O-TON: HANS-RUDOLF BORK 1935 ist ein wichtiger Zeitpunkt. Die Insel wurde zum Nationalpark erklärt - und ein Deutsch-Chilene hat anlässlich der Feier sechs Kaninchenpaare aussetzen lassen. Während die Ziegen die Wälder zerstört haben, haben die Kaninchen durch ihren Fraß Gräser und Kräuter auch beseitigt. Und die Erosion hat die Böden so stark zerstört, dass in den tieferen Lagen der Insel heute eine Wüste vorliegt, wo wir eigentlich feuchte Regenwälder hätten - eine hoch dramatische Veränderung der Umwelt in kaum einem halben Jahrtausend. Eine so starke, wie es kaum in anderen Gebieten der Erde es noch einmal so gibt. Erzähler: Der Autor Tim Severin schreibt in seinem 2004 auf Deutsch erschienenen Buch AUF DER SUCHE NACH ROBINSON CRUSOE: Zitator: Selkirk würde heute keine Ziegen mehr vorfinden. Sie waren zwar vierhundert Jahre lang die erfolgreichsten Bewohner der Insel des Robinson Crusoe, aber sie sind jetzt von dort verschwunden. Sie wurden von den Rangers der chilenischen Parkverwaltung abgeschossen, nachdem die Insel 1977 in das so genannte "World Reserve Biosphere" aufgenommen wurde, weil sie das empfindliche Ökosystem bedrohten. Erzähler: Womit wir in der Gegenwart angelangt wären - und damit bei der Frage: Wie erreicht man die legendäre Insel eigentlich im 21. Jahrhundert, falls man auf Robinson Crusoes Spuren wandeln möchte? Etwa per Schiff - so, wie vor hunderten von Jahren Juan Fernández oder Alexander Selkirk? Das sei durchaus möglich, bestätigt Andreas Mieth. Schneller ginge es aber natürlich mit dem Flugzeug. O-TON: ANDREAS MIETH Man muss wissen: Es gibt keine regelmäßigen Linienflüge. Flüge starten auch nicht vom internationalen Flughafen in Santiago de Chile, sondern von einem kleinen Stadtflughafen. Also, an einen Flug dorthin zu kommen, das war schon nicht ganz einfach. Na, ja - und dann steigt man in so eine kleine - ich glaube achtsitzige - Maschine, wird anderthalb Stunden kräftig durchgerüttelt in der Luft, bis man dann unter sich diese winzige, gebirgige Insel sieht. Und man überlegt sich dann schon, wenn man aus dem Fenster schaut: Wo kann man da überhaupt landen? Man sieht vulkanische Gipfel aus dem Meer aufragen. Na, ja - und dann zwängt sich das Flugzeug so auf eine kleine Landepiste, eingezwängt zwischen steile Kliffs, die ans Meer runterragen, wird ausgesetzt dann irgendwo im Nirgendwo, im völlig kahlen Süden der Insel, muss sein Gepäck schnappen, zu Fuß runtergehen an den Strand, wo dann kleine Fischerboote warten. Man lädt das Gepäck dann in diese kleinen Fischerboote um und fährt nochmal ein, zwei Stunden, entlang der Steilküste, um die halbe Insel herum - bis man dann im einzigen Dorf landet. Also, alleine die Anreise ist schon ein Abenteuer. Und man fühlt sich da wirklich schon wie in einer Robinsonade, könnte man sagen. Also, man wird so richtig auf dieses Robinson- Gefühl eingestimmt. Zitator Robinson Crusoe: Unschwer erkennen konnte ich, dass die Insel öde und unwirtlich und nur von wilden Tieren bewohnt war, wie ich anzunehmen gute Gründe hatte, auch wenn ich keines sehen konnte. Dafür sah ich eine Fülle von Federvieh, von dem ich allerdings nicht wusste, welcher Rasse es angehörte, sodass ich auch nicht sagen konnte, welches, so ich denn ein Tier erlegen könnte, genießbar wäre und welches nicht. Auf dem Rückweg schoss ich einen großen Vogel, den ich auf einem Baum am Rande eines großen Waldes sitzen sah. Ich glaube, es war der erste Schuss, der hier seit der Erschaffung der Welt abgegeben wurde, denn kaum hatte ich geschossen, flatterten aus dem Wald unzählige Vögel unterschiedlichster Arten, die ein lautes Gezeter anstimmten, wobei jede Art in der ihr eigenen Sprache schrie und ich doch keine einzige erkannte. Das Tier, das ich geschossen hatte, schien der Farbe und der Form seines Schnabels nach eine Art Habicht zu sein; doch seine Klauen oder Krallen waren nicht besonders ausgeprägt, das Fleisch schmeckte faulig und war ungenießbar. Erzähler: Konkreter als Robinson Crusoe in der fiktiven Geschichte wird Andreas Mieth, wenn es um die Tierwelt auf der Insel geht - und zwar um die reale. Man kann sogar behaupten: Wenn der Biologe aus Kiel erst einmal damit begonnen hat, von seinen Besuchen auf dem Pazifik-Eiland zu erzählen, dann gerät er geradezu ins Schwärmen. O-TON: ANDREAS MIETH Die Robinson-Crusoe-Insel ist ja nicht sehr groß, gerade 48 Quadratkilometer - also eigentlich eine kleine Insel. Und trotzdem ist sie unglaublich reich an Tier- und Pflanzenarten, die es weltweit nur hier, auf dieser Insel, gibt. Man zählt noch heute mehr als 130 Pflanzenarten alleine, die nur auf dieser Insel vorkommen. Und man muss vermuten, dass es früher noch mehr dieser einmaligen Arten gewesen sind, die man als endemische Arten bezeichnet. Ja, man kann sagen: Die Insel Robinson Crusoe ist so etwas wie ein biologischer Tresor von einmaligen Arten, mit sehr, sehr kleinen Populationen, zum Teil - Arten, deren Bestand zum Teil nur noch einige Dutzend Exemplare zählt. Erzähler: Etwas ganz Besonderes, sagt Andreas Mieth, sei zum Beispiel auch der so genannte Juan-Fernández-Kolibri. Mit seinem roten Gefieder sei das Kolibri-Männchen wunderschön anzuschauen - unter anderem dann, wenn es durch die Wälder schwirre und auf einem Kohlbaum Platz nehme. Denn nur an dessen Blüten, erklärt der Biologe, finde der Juan-Fernández-Kolibri seine Nahrung. Diese ganz besondere Lebensgemeinschaft sei heutzutage allerdings stark bedroht. Denn von der Gattung des Kohlbaumes - seine nächsten biologischen Verwandte sind übrigens kontinentale Gänseblümchen - gebe es auf der Insel nur noch wenige Exemplare. O-TON: ANDREAS MIETH Die Wälder, die es dort heute noch gibt, sind etwas ganz Besonderes. Wenn man sich dort in den Wäldern bewegt, wirkt das wie ein Garten Eden auf einen. Es gibt dort ein Mammut-Blatt, das es nur auf der Insel gibt. Es gibt eine besondere Palmenart, die mit wenigen Exemplaren in einer bestimmten Höhe des Inselgebirges nur noch wächst. Es gibt Pflanzen, Lebensformen, die einmalig sind. So sind zum Beispiel in der Evolution auf dieser Insel aus kleinen, krautigen Pflanzen des Kontinents baumartige Pflanzen geworden. Da gibt es zum Beispiel einen Baumwegerich - in der Evolution über Jahrmillionen entstanden aus einem kleinen, krautigen Wegerich. Hier, auf der Insel, ist es zu einem Baum geworden. Erzähler: Eine seltene Sandelholzbaumart, die einst nur auf der Isla Robinson Crusoe wuchs, gilt laut Andreas Mieth inzwischen als ausgestorben. Und zwar vor allem deshalb, weil das entsprechende Holz nach Asien exportiert wurde, um es dort zu Ess-Stäbchen zu verarbeiten. Aus der ebenfalls sehr seltenen Chonta- oder Pfirsichpalme wiederum wurde Holzkohle gemacht. Von ihr sind heutzutage vor Ort nur noch wenige Exemplare erhalten. O-TON: ANDREAS MIETH An der Küste trifft man dann auf eine besondere Robbenart, den Juan-Fernandez- Seebären. Zitator: Von diesen Tieren gab es so viele - einer Berechnung von 1793 zufolge wenigstens drei Millionen -, dass es schwierig war, an der Küste entlangzulaufen und durch die herumliegenden Tierkörper zu kommen. Erzähler: .... schreibt Tim Severin und zitiert aus dem zeitgenössischen Bericht eines Seefahrers. Zitator: Sie lagen scharenweise umher wie Schafe, die Jungen blökten wie die Lämmer. Einige der Seelöwen waren so groß wie unsere englischen Ochsen und brüllten wie Löwen. Robben und Seelöwen waren so zahlreich an der Küste, dass wir gezwungen waren, sie zu vertreiben, ehe wir landen konnten; ihre Zahl war so groß, dass jeder, der es nicht gesehen hat, es kaum glauben kann. Erzähler: Über Alexander Selkirk, den die Tiere wegen ihrer Größe und ihres lauten Geheules zunächst ganz schön eingeschüchtert hatten, heißt es in dem Bericht: Zitator: Er tötete sie mit leichter Hand. Die Kiefer dieser Tiere und ihr Schwanz sind zwar angsteinflößend, zumal diese Tiere so mächtig sind. Aber es fällt ihnen schwer, sich zu wenden. Er brauchte sich nur vor ihnen aufzustellen, so nahe heranzugehen wie möglich und dann konnte er sie mit einem Beil einfach töten. Erzähler: Alexander Selkirk war aber keineswegs der Einzige, der Jagd auf die Robben machte. Auch amerikanische und englische Pelzjäger schlugen im 18. und 19. Jahrhundert erbarmungslos zu. O-TON: ANDREAS MIETH Dann galt diese Robbenart schon als ausgestorben. Und erst in den 1960er Jahren hat man sie wiederentdeckt. Offenbar konnten sich einige Tiere in Höhlen zurückziehen, haben diese Ausbeutung überlebt - heute eine Robbenart, die stark geschützt ist und sich in ihrem Bestand wieder erholen konnte. Es ist ganz toll, wenn man dort an der Küste unterwegs ist, die Kolonien dieser einmaligen Robbenart zu beobachten. Also: Robinson Crusoe ist auch in dieser Hinsicht etwas ganz Besonderes - nicht nur in geschichtlicher Hinsicht, sondern auch in biologischer Hinsicht. Erzähler: Manch einer von denen, die Daniel Defoes Roman gelesen und auch von Alexander Selkirks Schicksal gehört haben, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten schließlich selbst aufgemacht zu der sagenumwobenen Insel. Im Gegensatz zu Andreas Mieth und Hans-Rudolf Bork aber wohl weniger aus beruflichen Gründen, sondern eher aus persönlicher Neugierde und Abenteuerlust. Interessant ist dabei, wie sich offenbar im Bewusstsein vieler dieser Besucher Fiktion und Realität miteinander vermischen. So schrieb Daniel Defoe in seinem Roman über Robinsons Behausung: Zitator Robinson Crusoe: Meine Unterkunft bestand aus einem Zelt an der Flanke eines Felsens, umgeben von einer stabilen Umzäunung aus Pfählen und Tauen. Die aber sollte ich besser einen Wall nennen, denn auf der Außenseite schichtete ich eine circa zwei Fuß breite Wandung aus Grassoden auf, und eine gewisse Zeit später legte ich Dachsparren darauf, die bis zum Felsen reichten, und bedeckte sie mit Zweigen und dergleichen Dingen, die ich fand, um so den Regen abzuhalten, der zu manchen Jahreszeiten sehr stark werden konnte. Beschrieben habe ich schon, wie ich meine Habe hinter die Palisade und in die Höhle gebracht habe, die ich hinter dem Zelt gebaut hatte. Hinzufügen muss ich jedoch, dass dort ein ziemliches Durcheinander herrschte, weil ich die Sachen nicht sortiert hatte und sie so viel Platz einnahmen, dass ich mich kaum umdrehen konnte. Also machte ich mich da ran, die Höhle zu vergrößern und mich tiefer ins Erdreich vorzuarbeiten, denn das Gestein war weich und locker und leistete nicht viel Widerstand. Und da ich glaubte, vor Raubtieren sicher zu sein, grub ich seitlich nach rechts weiter, dann wieder nach rechts und aus dem Felsen heraus. Die Öffnung verschloss ich mit einer Tür, durch die ich auf die andere Seite der Palisade oder Einfriedung gelangen konnte. Erzähler: Tatsächlich befindet sich auch auf der nach Robinson Crusoe benannten Insel heutzutage eine Höhle. Sie liegt in etwa achtzig Meter Entfernung vom Meer - am Fuße einer Anhöhe, die zum Strand hin abfällt. Ihr Eingang zeigt in Richtung Nordosten. Im Inneren ist die Höhle immerhin so hoch, dass ein erwachsener Mann bequem in ihr stehen kann. Robinsons Höhle im Roman lag, im Vergleich zur realen Höhle, deutlich weiter vom Meer entfernt. Trotzdem stellen sich neugierige Touristen immer wieder eine Frage: Könnte es nicht sein, dass Robinson Crusoes reales Vorbild hier einst Unterschlupf fand? O-TON: HANS-RUDOLF BORK Die meisten Menschen auf der Insel glauben, dass Selkirk in einer kleinen Höhle lebte - in einer kleinen Bucht, etwas südlich oder westlich, südwestlich, vom Haupt-Ort. Allerdings: Wenn man sich diese Höhle genauer anschaut, dann sieht man am Außenrand, dass sie erst in allerjüngster Zeit überhaupt aufgebrochen und zugänglich geworden ist. Das heißt: Da wo man annimmt, dass Selkirk gelebt hat - diesen Raum gab es zu seiner Zeit gar noch nicht als zugänglich von außen, für Menschen. Erzähler: Tim Severin in seinem Buch AUF DER SUCHE NACH ROBINSON CRUSOE: Zitator: Selkirk hat sich nie eine Höhle gegraben oder in einer gelebt. Die Seeleute, die Selkirk retteten, erwähnten nirgendwo eine Höhle. Die Höhlen-Wohnung beschränkt sich einzig und allein auf die erfundene Erzählung von Defoes Roman. Aber Defoes Fiktion ist so überzeugend, dass die Fiktion Selkirks tatsächliche Geschichte verändern kann. Heute unternehmen Reisende mit dem Boot einen zwanzig Minuten dauernden Ausflug, um "Robinsons Höhle" aufzusuchen. Wenn Alexander Selkirk der richtige Robinson Crusoe war, nehmen sie an, dann muss Robinsons Welt auf Juan Fernández gewesen sein. Erzähler: Überzeugt davon, dass es sich bei der Höhle auf keinen Fall um Alexander Selkirks Behausung gehandelt haben konnte, wollten es Andreas Mieth und Hans-Rudolf Bork endlich genauer wissen. Aufzeichnungen aus dem 18. Jahrhundert zufolge, die die beiden studierten, musste die Unterkunft des schottischen Seefahrers an einem küstennahen, hinter einem flachen Felsrücken verborgenen Standort gelegen haben. Außerdem wuchsen dort angeblich helle, weiße Gräser. O-TON: HANS-RUDOLF BORK Es gibt dort, im Norden der Insel, nur sehr wenige Standorte heute noch, wo das zutrifft. Und einen haben wir entdeckt, da könnte durchaus Alexander Selkirk gelebt haben. Wenn man dort mit dem Spaten gräbt, findet man in Tiefen von wenigen Zentimetern Holzkohle. Also, es hat dort kleine, lokale Feuer gegeben. Es ist also durchaus möglich, dass Alexander Selkirk dort eine gewisse Zeit gelebt hat - eindeutig beweisen können wir das heute nicht. Es stimmt nur mit seinen Aufzeichnungen recht gut überein. Erzähler: Als seien Flora und Fauna auf der Robinson-Insel in den rund 450 Jahren seit ihrer Entdeckung durch Menschen noch nicht genug in Mitleidenschaft gezogen worden, kam es am 27. Februar 2010 zur bislang größten Naturkatastrophe vor Ort überhaupt: Um drei Uhr morgens desselben Tages brach eine Monsterwelle, ein so genannter Tsunami, über das Eiland herein. Ausgelöst worden war dieser durch ein Erdbeben in Mittel-Chile. Die meisten der rund 600 Inselbewohner, die größtenteils in der Ortschaft San Juan Bautista leben, wurden im Schlaf überrascht. O-TON: HANS-RUDOLF BORK Zuvor gab es schon eine kleine Warnung: Eine junge Frau ist nachts wach geworden, weil plötzlich die Wellen, die Brandung, nicht mehr zu hören waren. Eigentlich ist die Brandung immer zu hören, im Dorf. Und wenn ein Tsunami kommt, läuft erst das Wasser ab, ehe die Welle mehrfach hineinbricht in das Land. Und die junge Frau hat gewarnt. Deswegen konnten viele flüchten. Manche haben es nicht geschafft. Pedro Nejada, der mit seiner Frau und den beiden Kindern in einem gerade frisch fertig gewordenen, ganz schicken Holzhaus wohnte, ist mit dem Haus und Familie, mit der Welle, hinausgerissen worden. Und Pedro war so geistesgegenwärtig, aus dem Fenster zu springen. Und in dem Moment - man mag es kaum glauben - trieb ein kleines, leeres Fischerboot vorbei. Er ist hineingesprungen zum Haus zurückgerudert, hat seine Frau und die beiden Kinder gerettet. Neunzehn andere haben es nicht geschafft. Einige sind bis heute nicht gefunden worden. Erzähler: Das Resultat des Tsunami war verheerend: Alle küstennahen Gebäude wurden zerstört - darunter sämtliche Verwaltungsgebäude, die Schule, eine winzige Poststelle sowie kleine Einkaufsläden. Das einzigartige Inselmuseum war durch die Monsterwelle für immer verloren. Viele Bewohner von Juan Bautista waren durch die Katastrophe derart frustriert und deprimiert, dass sie für immer auf das chilenische Festland flüchteten - vor allem jene, die zuvor noch nicht allzu lange auf der Insel gelebt hatten. Erst nach und nach sollte auf Isla Robinson Crusoe wieder so etwas wie Normalität einkehren. MUSIK Erzähler: Wir wollen die Lange Nacht über ROBINSON CRUSOE aber nicht zu traurig ausklingen lassen. Darum soll am Ende der Sendung ein Zitat stehen, welches dem Vorwort des Romans entnommen ist. Nach dem Anhören der vergangenen drei Stunden können Sie Daniel Defoes abschließenden Worten ja vielleicht zustimmen - und bekommen Lust, ROBINSON CRUSOE entweder erstmals oder auch völlig neu für sich zu entdecken. Wir würden uns jedenfalls darüber freuen! Zitator Robinson Crusoe: Wenn ein Bericht über die Abenteuer eines einzelnen Menschen es je wert war, öffentlich gemacht zu werden, und bei seinem Erscheinen auf eine interessierte Leserschaft hoffen durfte, dann, so die Überzeugung des Herausgebers, ist es dieser. Die wundersamen Wendungen im Leben dieses Mannes übersteigen alles bisher Dagewesene; abwechslungsreicher kann das Leben eines einzelnen Menschen kaum sein. Gleich ob wahr oder erfunden, ist derlei Lektüre für den Augenblick gedacht, weshalb die Erbauung, die Zerstreuung und die Belehrung, die der Leser daraus zieht, in beiden Fällen die gleiche ist. Und so ist der Herausgeber davon überzeugt, der Welt mit der Veröffentlichung des Berichts, ohne ihn weiter anpreisen zu müssen, einen großen Dienst zu erweisen. Musik Absage Musik Musikliste 1. Stunde Titel: Soften Länge: 01:00 Interpret: Mats Eilertsen Trio Komponist: Harmen Fraanje Label: ECM-Records Best.-Nr: 2619 Titel: Lachrimae Tristes Länge: 00:50 Interpret: The Dowland Project Komponist: John Dowland Label: ECM-Records Best.-Nr: 1697 Titel: Sowing Wind Länge: 01:00 Interpret und Komponist: Stephan Micus Label: ECM-Records Best.-Nr: 2569 Titel: Fjordene Länge: 02:30 Interpret: Ensemble Supersonus Komponist: Wolf Janscha Label: ECM-Records Best.-Nr: 2497 Titel: Then comes the night Länge: 05:00 Interpret: Mats Eilertsen Trio Komponist: Harmen Fraanje, Mats Eilertsen, Thomas Stronen Label: ECM-Records Best.-Nr: 2619 2. Stunde Titel: Ritus Länge: 01:30 Interpret: Ensemble Supersonus Komponist: Wolf Janscha Label: ECM-Records Best.-Nr: 2497 Titel: Haze Länge: 01:20 Interpret und Komponist: Stephan Micus Label: ECM-Records Best.-Nr: 2569 Titel: The Void Länge: 04:00 Interpret: Eilertsen Trio Komponist: Mats Eilertsen Label: ECM-Records Best.-Nr: 2619 3. Stunde Titel: The Tea Club Barrovian Society Länge: 01:20 Interpret: Guo Gan / Loup Barrow Komponist: Loup Barrow Label: FELMAY Best.-Nr: fy 8228 Titel: Under the Chinar Trees Länge: 05:00 Interpret und Komponist: Stephan Micus Label: ECM-Records Best.-Nr: 2409 VG Wort Autor: Daniel Defoe Titel: Robinson Crusoe Übersetzer: Rudolf Mast mare Verlag, Hamburg, 2019 14´50 min Autor: Heiko Postma Titel: Projektemacher & Geheimagent, Publizist & Romancier JMB Verlag, Hannover 2010 3´45 min Autor: Wolfgang Riehle Titel: Daniel Defoe Rowohlt, Reinbek 2002 2´05 min Autor: Diana Souhami Titel: Selkirks Insel Übersetzer: Giovanni Bandini Goldmann, München 2002 4´05 min Autor: Nikolaus Stingl Titel: Der wahre Robinson oder Das Walten der Vorsehung Robinson Verlag, Frankfurt/Main 1985 0´25 min Autor: Dieter Petzold Titel: Daniel Defoe, Robinson Crusoe UTB, Stuttgart 1986 3´10 min Autor: Charles Gildon Titel: Gegen Defoe Übersetzer: Rolf Schönlau Friedenauer Presse, Berlin 2019 0´10 min Autor: Peter Weir Titel: Der Marsianer Übersetzer: Jürgen Langowski Heyne, München 2015 1´20 min Autor: Tim Severin Titel: Auf der Suche nach Robinson Crusoe Übersetzer: Manfred Vasold Magnus Verlag, Essen 2004 1´25 min Die törichte Neigung, in der Welt herumzuschweifen Eine Lange Nacht über Robinson Crusoe Seite 69