Hörspiel Feature Radiokunst Das Feature Hamburgs Baseballschlägerjahre - Rechte Gewalt in den 1980er-Jahren Autor: Philipp Schnee Regie: Beatrix Ackers Redaktion: Christiane Habermalz Produktion: Deutschlandfunk 2024 Erstsendung: Dienstag, 15.10.2024, 19.15 Uhr Es sprachen: Sigrid Burkholder, Jochen Langner, Doris Plenert und der Autor Ton und Technik: Thomas Widdig und Oliver Dannert Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - O-Ton 1 Vassilis Tsianos Hier oben, wir können damit anfangen, wenn du willst, auf der Oberfläche des Bahnhofs, da hatte ich oft Erfahrungen mit Nazis gehabt. Hier unten zum Beispiel, das ist eine kleine Unterführung, das war ein Ort, wo ich zweimal weggerannt bin, als ich Schwierigkeiten hatte mit den Nazis da oben... ...Und die einzige Möglichkeit, die du hattest, war es, ein bisschen schnell hinaus zu kommen bis zu dieser Ecke, , wo es dann eine Reihe von griechischen und türkischen Läden gab. Und dann war es wieder safe. O-Ton 2 Ünal Zeran Und immer wieder die Ermahnung von Menschen, fallt bloß nicht auf, geht nicht nachts, wenn es dunkel wird, an bestimmte Orte. Insofern war immer klar, es kann jeder Zeit uns allen treffen. Also es war klar, es war nicht so ein entspanntes Leben. O-Ton 3 Krebs die ältere Schwester meiner damaligen Mitbewohnerin, die hat sich morgens die Gastpistole in die Handtasche gesteckt, hat ihre eigenen Kinder und die türkischen Nachbarskinder an die Hand genommen und hat gesagt, ich bringe euch jetzt sicher zur Schule. Das war die Stimmung.... O-Ton 4 Tsiaonos In dem Moment, wo du deinen ersten Nazi zur Flucht zwingst, fühlst du dich anders. Sprecherin Sprecherin Titel Hamburgs Baseballschlägerjahre. Rechte Gewalt in den 1980er-Jahren. Ein Feature von Philipp Schnee. O-Ton 5 Schubert wenn das, was für die 90er Jahre in der ehemaligen DDR beschrieben wird, die Baseballschlägerjahre waren, dann sind die 80er Jahre in Hamburg die Baseballschlägerjahre. Also ohne, dass es jetzt der Baseballschläger als Tatwerkzeug uns relativ oft aufgefallen ist, sondern wir müssten eigentlich von Messerstecherjahren oder Brandanschlagsjahren sprechen, von den Arten, was wir halt gefunden haben... Autor 1 Autor Mindestens 187 Getöteten seit 1990 - viele kennen bestimmt die Statistik, die Zeit Online und der Tagesspiegel erstellt haben. Das Schlagwort "Baseballschlägerjahre" steht seit einigen Jahren für eine Zeit rechter Übergriffe, unzählige verletzte, verängstigte, getötete Menschen in den 1990er Jahren, nach dem Mauerfall - vor allem in Ostdeutschland. 1990 - eine Zäsur rechter Gewalt - so ist es in vielen Köpfen. Aber 1980 schon? Und im Westen? O-Ton 6 Manthe Man sieht in Hamburg vor allem, dass sich diese Veränderung der Gewaltpraktiken, dass die sich schon in den 80ern abzeichneten. . also dieses Rausgehen auf die Straße, nach Opfern suchen und diese ohne jeglichen Skrupel schwer zu verletzen oder zu töten. Atmo ggf. Break Atmo ggf. Break O-Ton 7 Vassilis Tsianos Ich bin Vassilis, Vassilis Tsianos. Ich bin Professor für Soziologie an der Fachhochschule Kiel...Ich bin hier in Harburg geboren..... ich musste hin und her zwischen Deutschland und Griechenland pendeln als Kind, aber einen großen Teil meiner Kindheit habe ich exakt hier verbracht, wo wir gerade sind. Autor 2 Autor Vassilis Tsianos hat sie erlebt, die 80er Jahre in Hamburg. Und sie haben ihn geprägt. Er wurde politisch aktiv, in den 1990er Jahren, sagt er, war er jedes Wochenende wegen antirassistischer Aktionen unterwegs. Später war er einer derjenigen, die zusammen mit dem Schriftsteller Feridun Zaimoglu die Gruppe "Kanak Attak" gründeten. "Kanak Attak" kritisierte die Migrationsdebatte in Deutschland, ironisch und spitz, bewusst ohne Identitätspolitik. Heute ist Tsianos Vorsitzender des wissenschaftlichen "Rats für Migration". Und steht in seinem eleganten Anzug, mit großer Brille, kahlem Kopf und geschliffenen Worten mit mir am S-Bahnhof Hamburg-Harburg. O-Ton 8 Autor/Tsianos Kannst du mir das nochmal beschreiben, was du gerade erzählt hattest? Also, dass sie versucht haben, die Busse zu kontrollieren? Ja, sie haben sich vor den Eingang des Busses gestellt und sie haben gefragt, sie wollten wissen, sie wollten, dass wir sagen, dass wir Ausländer sind, dass wir Kanaken sind, dass wir... Was haben sie gesagt damals? ... dass wir dreckige Affen sind. Was du willst. Und erst danach dürften wir reingehen. Und wenn du den Fehler gemacht hattest, dich auf eine verbale Konfrontation mit denen einzulassen, dann war es eine Initialhandlung für körperliche Gewalt. Dann musstest du die Flucht ergreifen. Hast du selber mal Gewalt erlebt? Also ich bin, hier bin ich sehr oft geschubst und bespuckt. Aber die anstrengendste Form war es, eine Verfolgung. Das war Kellinghusenstraße. Immer wenn ich dort bin, erinnere ich mich an diese Verfolgung. Die war sehr, sehr gefährlich, weil ich musste da um mein Leben laufen. Ich glaube, das Einzige, was mich gerettet hatte, war das Wissen darüber, dass an der Kellinghusen-Station ein Taxistand war. Das wusste ich. Und ich bin deshalb dann extra da ausgestiegen. Die sind mir hinterher gelaufen. Die haben auch Objekte geworfen und alles mögliche. Und es ist mir gelungen. Und Gott sei Dank auch der Taxifahrer hat die Situation richtig eingeschätzt und ist sofort weggegangen. .. Das heißt, du bist ins Taxi gehüpft und er ist weggefahren? Ja, damit bin ich gerettet. Eigentlich, ja. Autor 3 Autor Was Vassilis Tsianos aus eigener Erfahrung berichtet, das haben Felix Krebs und Florian Schubert systematisch recherchiert. "Hamburgs Baseballschlägerjahre" heißt ihr Buch, dass sie gerade schreiben. Die beiden haben mich darauf gebracht, dieses Hamburger Jahrzehnts rechter Gewalt zu erzählen. Felix Krebs: O-Ton 9 Krebs Wir sind auf mindestens acht Tötungsdelikte in den 1980er Jahren gekommen. Es gibt nachweislich mindestens ein Dutzend Brandanschläge mit entsprechenden rassistischen Bekennungen in Form von Parolen oder ähnlichem und ein weiteres Dutzend, wo MigrantInnen oder ihre Strukturen Opfer von Brandanschlägen waren, wo der Hintergrund aber ungeklärt ist. Es gab mindestens 60 schwere Körperverletzungen mit oftmals mehreren Opfern, weil es halt vor allem auch Überfälle auf Gruppen von Personen gewesen sind. Körperverletzungen, die durchaus hätten tödlich ausgehen können, die ausgeführt worden sind mit Hieb- und Stichwaffen. Autor 4 Autor Das allerdings sind nur die Fälle, die es in die Zeitung geschafft haben. Florian Schubert hat für ein Ausstellungsprojekt auch Interviews mit Zeitzeug*innen geführt: O-Ton 10 Schubert in den Erzählungen scheint durch, dass die Gewalt deutlich höher war als das, was wir jetzt eigentlich auch darstellen können.Es gab Verabredungen, um gemeinsam mit S-Bahn zum Beispiel zu fahren, wenn, egal ob man aus Bergedorf, aus Harburg in die Innenstadt nach Hamburg gefahren ist, da gab es Treffpunkte für gemeinsame Fahrten oder es wurde abgesprochen, dass immer die S-Bahn um 10 nach ist die, die man nimmt, damit man nicht alleine fährt. Break ggf. Musikakzent Break ggf. Musikakzent O-Ton 11 Ngu (mit Atmo Stimmengewirr) Ja guten Tag. Ich bin Ngu. Ich bin Vietnamese. Ich bin ein Überlebender des Brandanschlags 1980. O-Ton 12 O-Ton Tagesthemen 3.09.1980 Bei dem Brandanschlag auf dieses Ausländerwohnheim in Hamburg am 22. August kam ein 22-jähriger Vietnamese ums Leben. Ein 18-jähriger Landsmann ist vor drei Tagen an seinen Verletzungen gestorben. Die Täter hatten drei Molotow-Cocktails durch ein Fenster in das Wohnheim geworfen. O-Ton 13 Ngu Und an der Wand steht der Satz: Ausländer raus! Und wir haben auch nicht verstanden. Gar nicht! Wir konnten noch keine Sprache, nix. Und wir hatten auch keine seelische Unterstützung. Gar Nix. Wir sind auf uns alleine gestellt. Keine Hilfe. Es war sehr hart für uns. Autor Autor Th?i Tr?ng Ngu lernt erst Monate später, im Sprachkurs, was dieser Satz - "Ausländer raus!" - bedeutet. Er überlebte im Sommer 1980 den Brandanschlag in der Hamburger Halskestraße. Nguy?n Ng?c Châu und Ð? Anh Lân, die wie er aus Vietnam geflohen waren, überlebten nicht. Sie sind die ersten dokumentierten Opfer eines rassistischen Brandanschlags in der Bundesrepublik. Das ist bewusst vorsichtig formuliert. Châu und Lân sind die ersten, von denen wir, die Öffentlichkeit, gesichert Kenntnis haben. Rechte Gewalt in der Bundesrepublik vor 1990 ist schlecht dokumentiert, weil es damals weder ein großes Bewusstsein noch behördliche Standards gab. Weil Polizei und Justiz sich fast immer weigerten, die Taten als politisch motiviert anzuerkennen. O-Ton 14 Tagesthemen "Inzwischen haben der 49-jährige Werkmeister Raymund Hörnle und die 24-jährige Angestellte Sybille Vorderbrügge gestanden, am Anschlag auf das Asylantenwohnheim in Hamburg beteiligt gewesen zu sein." Autor Die Täter*innen waren Mitglieder der "Deutschen Aktionsgruppen", eines rechtsterroristischen Netzwerkes, das im Jahr 1980 sieben Anschläge verübte: auf eine Holocaust-Ausstellung, eine NS-Gedenkstätte, einen Landrat und dann in Bayern, Baden-Württemberg und Hamburg Anschläge auf Geflüchtetenunterkünfte. Kopf war der Neonazi Manfred Roeder. In den 1970ern waren noch NS-Gedenkstätten oder politische Gegner, Linke, Ziele rechtsextremer Gewalt. Ab den 1980er Jahren - mit der aufkommenden Asyl-Debatte - änderte sich das: jetzt werden immer häufiger Migrant*innen angegriffen. Der Neonazi-Kader Michael Kühnen etabliert mit seiner Aktionsfront Nationaler Sozialisten und der sogenannten "Hansa-Bande" ein neues Auftreten von Neonazis - jung, äußerst radikal und gewaltbereit. Und diese Szene trifft auf neue subkulturelle Jugend-Phänomene: Fußball-Hooligans und Skinheads. Beide Szenen sind gewaltaffin. Fühlen sich von den extrem rechten Männlichkeitsbildern angezogen. Und werden in Hamburg teils auch gezielt von Michael Kühnen und Co. politisiert. Zitat Zeitungsstimmen (2 Sprecher, abwechselnd) "Beim Osterfeuer griffen sie zu Tränengas und Gummiknüppeln" "Jagd auf Türken: Neonazis stürmten Haus der Jugend: Einem jungen Türken schießen sie aus nächster Entfernung mit Gas ins Gesicht." Autor Autor Die Zeitungsausschnitte der frühen 1980er sprechen für sich Zitat Zeitungstimmen (2 Sprecher, abwechselnd) "Nazi-Rocker schlugen Türken im Auto blutig" "Brandanschlag auf Türken" "Täter soll einem 20jährigen Türken aus kürzester Entfernung und ohne Grund mit einem Gasrevolver mindestens zweimal ins Gesicht geschossen haben" "Wie erst jetzt bekannt wurde, griffen am 28.2 gegen 19.15 Uhr etwa 60 Skinheads das Haus der Jugend Hammer Park an. " Hamburg: Neonazis schossen scharf" O-Ton 15 NDR Beitrag Nicht nur Rock gegen Nazis Reporterin Computerspiele mit Nazi-Software kursieren unter der Hand auf Schulhöfen westlich der Elbe. Wer den Anti-Türken-Test besteht, ist ein braver Pimpf. Autor Autor Ausschnitte aus einer NDR-Radioreportage. O-Ton 16 NDR Beitrag Rock gegen Nazis, Hein Pfuhlmann Interview NDR Bergedorf Wir haben am Platz in Bergedorf, wo im Sommer grundsätzlich Sinti und Roma ihre Zelte aufschlagen bzw. ihre Wohnwagen aufschlagen. Die haben also Brandsätze dort geworfen. Da werden die eben dazu angeregt von den Leuten. Autor Autor Der Vorort Bergedorf: Hier im Hamburger Osten war diese Skinheadszene besonders stark. O-Ton 17 Andy Es gab Konzerte, es gab diese ganzen Jugendzentren-Konzerte, die waren ständig sozusagen unter der Gefahr, dass die Nazis auflaufen. Das war Alltag, das war ganz normal. Und man ist da immer hingegangen mit dem Gefühl, oh, hoffentlich gibt es nicht wieder einen Überfall. Autor Autor Andi, so will er hier genannt werden, es ist nicht sein richtiger Name, ist in den 1980er-Jahren in Bergedorf aufgewachsen. O-Ton 18 Andy weiter Also Jugendzentrum Unser Haus e.V., damals Café Flop, war ständig Angriffspunkt. Da sind ständig die Scheiben eingeschmissen worden, da sind ständig Leute verprügelt worden. O-Ton 19 Reportage NDR-Sendung 11.02.1986 Kennzeichen: grüne Bomberjacken, hochgekrempelte Jeans, Schnürstiefel und kurze Haare. Was verbindet sie miteinander? Vor allem Kameradschaft, Nationalgefühl und Ausländerhass. Autor Autor Andi ist damals Punk. Grüne Bomberjacke und Schnürstiefel trägt auch er. Skinheads und Punks, Anfang der 1980er-Jahre, das war damals noch eine Szene. Einige der späteren Täter, Mörder und Totschläger, kennt er aus dieser Zeit, aus dem Jugendtreff, er hat Bier mit ihnen getrunken, die neuesten Platten aus England getauscht, rumgehangen... O-Ton 20 Andy Eine Situation: wir sind in Bergedorf unterwegs und da kommen dann irgendwie drei, vier andere von offensichtlich irgendwie Nicht-Deutschen. Und die Skins gehen sofort auf die los. Und die Skins haben versucht, die im Prinzip fast totzuschlagen. Es gab eine Situation, wo einer dem anderen irgendwie versuchte, also der eine Skin irgendwie dem anderen versuchte eine Wodkaflasche von hinten auf den Kopf zu schlagen. Da bin ich irgendwie mit meiner Hand dazwischen, weil ich das nicht eingesehen habe, dass der den gleich killt. Und so eine Situation gab es viele. Und das waren aber auch so Situationen die mich dann ziemlich schnell dazu gebracht haben zu fragen, mit wem bin ich da eigentlich unterwegs? O-Ton 21 Manthe Das war eine Straßengewalt und eine öffentlich ausgeübte Gewalt, die es so in dem Ausmaß davor nicht gegeben hatte. Jetzt in den 80er Jahren wurde das zum Alltag. Es wurde quasi zum Teil der Lebenswelten der Neonazis, Gewalt auszuüben. Es war nicht mehr so geplant und strategisch eingesetzt, wie es noch in den 70ern gewesen war. Autor Autor Das ist Barbara Manthe, Historikerin an der Universität Bielefeld. Sie forscht seit Jahren intensiv zur Geschichte rechter Gewalt in der Bundesrepublik. O-Ton 22 Schubert Im Laufe des Jahrzehnts wird diese Skinhead-Kultur in Hamburg immer gewalttätiger, immer rechter und die Gewalttaten, die vor allem dann in der zweiten Hälfte der 80er Jahre auftreten, situationsabhängig. Also da sind Migranten, die an Skinheads vorbeilaufen, daraufhin gibt es diese Auseinandersetzung. Auch der Mord an Ramazan Avci ist ja eine Auseinandersetzung, die sich aus einer zufälligen Begegnung entwickelt. Und davon gibt es einfach dann sehr viele. Sound Hamburg Journal O-Ton 23 NDR Hamburg Journal 27.12.85 Unser zweiter Beitrag behandelt das erschreckende Thema Ausländerfeindlichkeit. Wir beleuchten den Totschlag an dem 26-jährigen türkischen Bauarbeiter Ramazan Avci. Er erlag am Heiligen Abend den schweren Kopfverletzungen, die ihn die berüchtigten als rechtsradikal eingestuften Skinheads bei einem brutalen Überfall beigebracht hatten. O-Ton 24 (auch für zweites Übersetzungs-Take) Gülistan Avi - Rede auf Türkisch, Übersetzung Ramazan, saldiridan üç gün sonra Neol arefesinde öldü onu son kez hastanede koma halinde gördüm.... OV-Sprecherin Übersetzung: Ramazan starb drei Tage später am Heiligabend ohne aus dem Koma zu erwachen. Im Krankenhaus habe ich ihn zum letzten Mal gesehen. Ich habe seine Hand gehalten, aber seine Hand glitt weg. Mit der Hand auch das Leben von mir und von meinem Sohn. Autor Autor Gülistan Avci war schwanger als ihr Mann ermordet wurde. Im Januar 2024, 38 Jahre später, sprach sie in einer Rede im Hamburger Rathaus über diese Zeit O-Ton 24 Gülistan Avci - Rede auf Türkisch, Übersetzung OV-Sprecherin Übersetzung: Ramazan war an jenem Samstagabend aus dem Haus gegangen. Er parkte das Auto in der Nähe des Autokinos, um es am nächsten Tag zu verkaufen. Von dem Geld wollten wir für das Kind, das in zehn Tagen kommen sollte, ein Kinderbett kaufen. Er freute sich so sehr auf sein Kind und konnte nicht wissen, dass er sein Kind nie sehen würde. O-Ton 25 Felix Krebs Das Ganze spielte sich ab in einer Gaststätte namens Landwehr am S-Bahnhof Landwehr. Dort fand ein Treffen von ungefähr 40 rechten Skins statt. Autor Autor Felix Krebs hat für sein Buch den Fall und den Prozess zur Ermordung Ramazan Avcis genau untersucht... O-Ton 26 Felix Krebs weiter Es hatte am Abend vorher eine Prügelei in der Kneipe gegeben, wobei unklar ist, wer die Gegner der Skins waren. Aus diesem Grund kamen die Skins zum größten Teil alle bewaffnet in diese Kneipe, wurden teilweise extra von dem damaligen Anführer der Skins noch extra herantelefoniert. O-Ton 27 NDR Hamburg Journal 27.12.85 Vor der Gaststätte attackierten die Skinheads die drei jungen Türken mit abgebrochenen Flaschen. O-Ton 28 Felix Krebs weiter ...und weil diese rechte Gewalt ja relativ alltäglich war, hatte Ramazan Avci Tränengas dabei und hat das dann auch eingesetzt... O-Ton 29 NDR Hamburg Journal 27.12.85 Zwei von ihnen retteten sich in einen abfahrenden Bus. Ramazan schaffte es nicht. Voller Panik rannte er in ein Auto. Auf den Schwerverletzten prügelten die Skinheads noch weiter ein. Mit Knüppeln, Axtstielen und Gymnastikkeulen. O-Ton 30 Felix Krebs weiter Ramazan Avci ist schwerstverletzt ins Krankenhaus gekommen, ist dann drei Tage später am Heiligabend - und auch das hat natürlich sicherlich noch eine Bedeutung - gestorben. Er war gerade dabei, einen Kinderwagen ... jetzt stockt mir so etwas die Stimme... (... Stille...) Er war dabei, einen Kinderwagen zu kaufen, weil seine Frau schwanger war. Das Kind wurde zehn Tage nach dem Tod von Ramazan Avci geboren und trägt seinen Namen. Autor Autor Einer der Täter, die Ramazan Avci ermordert hatten, hatte drei Wochen zuvor mit anderen Skinheads einen 19-jährigen Türken aus einem Bus gezerrt und mit Baseballschlägern an Kopf, Rippen und Händen verletzt. Carsten W., der Anführer der Skins, verletzt eine Woche nach dem Mord an Ramazan Avci, einen schwarzen Briten am selben S-Bahnhof Landwehr schwer. Am 24. Juli 1985 war schon der 19-jährige Mehmet Kaymakçi von drei Skinheads erschlagen worden. Nach einem Streit über Ausländerpolitik in einer Kneipe verfolgten sie ihn auf dem Nachhauseweg, verprügelten ihn und erschlugen ihn mit einer 100 Kilogramm schweren Betonplatte. O-Ton 31 Krebs Und es war auch bei diesem Mord vollkommen klar, dass die Täter alle aus der rechten Szene kamen. Das waren alles Skinheads. Drei von denen gehörten einer festeren Gruppierung namens "Lohbrügge Army" an. Autor Autor Trotzdem: die Polizei, die Behörden, die Politik entpolitisierten den Mord an Ramazan Avci: Hier Peter Rabels, damals Staatsrat der Hamburger Innenbehörde, im Interview mit dem NDR: O-Ton 32 Reportage NDR-Sendung 11.02.1986 Moderator / Staatsrat Rabel Also lassen Sie uns zunächst mal die Begriffe klarkriegen. Neonazis, Rechtsradikale, das sind Bezeichnungen für politische Gruppen mit politischen Programmen, mit politischen Überzeugungen, die ich nicht teile. Skinheads sind überhaupt keine politische Gruppierung in diesem Sinne. Wir sollten Schlägern und Radau-Brüdern nicht die Ehre antun, sie zu politischen Figuren hochzustilisieren. Also für Skinheads beginnt das Ausland bereits bei Werder Bremen. O-Ton 33 Reportage NDR-Sendung 11.02.1986 Reporterin Hier ihr Stammlokal, der Gerstenkrug in Lohbrügge. Autor Autor Wie erschreckend normalisiert und unpolitisch "Ausländerfeindlichkeit" gesehen wurde, wird klar in dieser Reportage des Norddeutschen Rundfunks aus dem Umfeld der Täter: O-Ton 34 Reportage NDR-Sendung 11.02.1986 Reporterin / Anonyme Skins Zwei Skins aus Lohbrügge sprachen mit uns. Vor die Kamera wollten auch sie nicht. Seid ihr denn politisch? - Was heißt denn politisch, eben nur ausländerfeindlich eingestellt, ne... Wie ist denn das mit dir? Bist du politisch? - Nein, mich interessiert Politik überhaupt nicht. Ich habe nur was gegen Ausländer. Jetzt haben ja die Jungs aus eurer Clique den Türken Ramazan Avci erschlagen. Was haltet ihr denn davon? Findet ihr das gut? Es war bestimmt nicht beabsichtigt, dass es soweit kommen sollte.. -Ja tut dir das denn leid? Um den Türken? Nö!! Break Break O-Ton 35 Hamburg Journal Juni 1986 Heute war Urteilsverkündung im Prozess gegen fünf Skinheads, die kurz vor Weihnachten den Türken Ramazan Avci erschlagen haben....Für die Hamburger Behörden war rasch klar, die Täter hatten keinen politischen Hintergrund. Ausländerhass war nicht ihr Motiv. Zehn Jahre Freiheitsstrafe für den Haupttäter... O-Ton 36 Zeran Also, es findet ja immer wieder auch in der Justiz, Polizei eine Täter-Opfer-Umkehr statt, so wie bei Ramazan Avci ja auch. Er hat sich mit Pfefferspray gegen die Nazis gewehrt. Das war dann strafmildernd auf eine Art. Autor Autor Ünal Zeran ist Anwalt in Hamburg und hat die Initiative zum Gedenken an Ramazan Avci mitgegründet... O-Ton 37 Krebs Es wird zwar den Beschuldigten attestiert, dass sie alle ausländerfeindlich sind, aber, und das ist dann dieses wirklich Absurde in dieser Urteilsbegründung, bei der Tat selber hätte das keine Rolle gespielt, weil es sei sozusagen ein neuer Tatbestand dadurch gegeben, dass Ramazan Avci sich gegen diese Angriffe vor der Kneipe mit Tränengengas gewehrt hätte, die Skinheads seien dadurch in ihrer Ehre gekränkt worden. O-Ton 38 Zeran Die sind nicht wegen Mordes angeklagt worden. Einer nur ist verurteilt worden wegen gemeinschaftlichen Totschlags, die anderen wegen gefährlicher Körperverletzung mit Todesfolge und mit der Argumentation: er sei schon bewusstlos geschlagen worden, also konnte er nichts fühlen, daher konnte nicht diese Mordmerkmal "Heimtücke" sein, weil für "Heimtücke" muss das Opfer ein Bewusstsein dafür haben, für einen Angriff. Das hatte er nicht, weil er schon bewusstlos geschlagen wurde. Wie zynisch, so eine Argumentation .... O-Ton 39 Hamburg Journal Juni 1986 Ein ermittelnder Kripobeamter geriet in Verdacht, die Skins zu decken. Sein Sohn ist mit einem der Angeklagten befreundet, verkehrt bei den Skinheads. O-Ton 40 Krebs Es kommt dann raus, dass dieser Sohn in einem weiteren Prozess, der davor stattgefunden hat, auch schon entlastende Aussagen für Skins gemacht hat und dass auch da die Ermittlungen von dem Hans G., dem Polizeiermittler, geführt worden sind. Es stellt sich also ganz schnell die Frage, ob dieser Ermittler nicht befangen ist. O-Ton 41 Krebs Die ganzen Ermittlungen sind darauf ausgelegt, diesen politischen Aspekt des Rassismus rauszuhalten. O-Ton 42 Schubert Das ist das, was real die ganze Zeit passiert. Die Auseinandersetzungen werden als Jugendschlägereien abgetan, als Konflikte zwischen verschiedenen Jugendbanden. O-Ton 43 Atmo Demo Megafon, undeutlich, auch drunter legen "Am 24. Dezember starb Ramazan Avci....Wir trauern um ihn. Und diese Trauer können nur wir Autor Autor Der Mord an Ramazan Avci war eine Zäsur. Er löste etwas aus: Wut. Die migrantischen Communities begannen, sich zu organisieren. Auf Polizei; Politik und Justiz - das war der Eindruck - konnte man nicht vertrauen. O-Ton 44 Tsiaonos Ich erinnere mich, dass wir von Harburg aus viele, viele Leute in die Stadt gegangen sind. Mein Vater ist zum Beispiel mitgekommen und meine Onkels. Meine Schwester auch ist mitgekommen. Das hat man nicht für möglich gehalten, dass sowas passiert. Und man hat auch nicht für möglich gehalten, dass so viele Leute auf die Straße gekommen wären. Das war auch gut. Es war gut gemischt. Es gab viele Deutsche und viele migrantische Leute auf der Straße. Daran erinnere ich. Und sehr viel Polizei. O-Ton 45 Manthe Nach dem Übergriff auf Ramazan Avci gründete sich relativ bald ein spektrenübergreifendes deutsch-türkisches Aktionsbündnis, wo vor allem migrantische und deutsch-migrantische Verbände und Vereine organisiert waren. Und sie riefen zu der Demonstration auf und auch andere Organisationen und Verbände Politiker Parteien griffen diesen Aufruf auf, ... Ja, tatsächlich war diese Demonstration im Januar die erste oder die größte Demonstration explizit gegen rassistische Gewalt in der Bundesrepublik. ... O-Ton 46 Atmo Demo Megafon undeutlich .... es ist das Ergebnis der Verwaltung, der Politik, der Polizei.... O-Ton 47 Rufe Megafon undeutlich "Ramazan ..." "Ramazan..."13 O-Ton 48 Zeran Also es waren auch Leute aus dem Stadtteil, die da hingegangen sind, um zu demonstrieren. Und deshalb war das für mich so prägend, weil ich dachte, ja, jetzt setzen wir uns mit den Sachen auseinander, die hier stattfinden und wir wollen zeigen, dass wir uns das nicht gefallen lassen. Als Jugendlicher ist das ja auch so ein empowerndes Ereignis... O-Ton 49 Atmo Megafon undeutlich "Freundschaft statt Feindschaft" !!! Schluss mit Rassismus!! Autor Autor Für Ünal Zeran ist diese Demonstration wichtig. Wie viele seiner Generation hat er von seinen Eltern eine andere Haltung vorgelebt bekommen O-Ton 50 Zeran Bloß nicht auffallen, weil dann werden sie aufmerksam und greifen dich an, die Haltung, zurückzustecken, also bloß nicht die Aufmerksamkeit von Rassisten auf sich lenken. Nein! Erst recht ihre Aufmerksamkeit auf sich lenken, um zu zeigen, hey, ihr könnt mir nichts, ihr versucht was, ihr kriegt das auch zurück! Und das ist auch das, was dann auch von den damals als so Gangs bezeichneten Jugendlichen, das waren so Wendepunkte in der Migrationsgeschichte in Deutschland. Diese Jugendlichen, die sich schon auch vorher in sogenannten "Gangs" zusammengeschlossen hatten, hatten auch so Politisierungs-Momente dadurch gehabt. Weil sie auch gesagt haben, wir wollen nicht nur diesen amerikanischen Gangstertum nacheifern. Sondern wir wollen auch zugucken, dass unsere Stadtteile geschützt sind. Wir wollen auch Treffpunkte von Nazis angreifen sie vertreiben. Sie sollen Angst kriegen, nicht wir sollen Angst haben. Autor Autor Jetzt ist es an der Zeit, den Anwalt Ünal Zeran richtig vorzustellen: O-Ton 51 Zeran Ich bin Ünal Zeran, 53 Jahre alt und habe in den 80ern und 90ern sehr viel mit Selbstorganisierung von Migrantenbewegungen zu tun gehabt. Und habe seit 2010 mehrere Gedenkinitiativen in Hamburg gegründet, um auf die Morde in den 80ern, die es hier in Hamburg gegeben hat, aufmerksam zu machen und für die einen Ort zu schaffen. Autor Autor Ünal Zeran ist für das, was er angestoßen hat, in der breiteren Öffentlichkeit viel zu unbekannt. Noch vor dem Auffliegen des NSU, des Nationalsozialistischen Untergrunds, noch vor dem gesellschaftlich wichtigen Gedenken an die rassistischen Anschläge in Hanau und Halle hat Ünal Zeran für Ramazan Avci, später auch für Mehmet Kaymakci und andere Opfer rechter Gewalt, Gedenkinitiativen initiiert. Und damit auch die Erinnerung an diese Taten, an Rassismus und rechte Gewalt allgemein, maßgeblich beeinflusst. Er ist im Hamburger Karo-Viertel aufgewachsen. Hat die 80er als Jugendlicher erlebt. O-Ton 52 Zeran Da vorne ist das Verikom. Das war früher das Wir-Zentrum, wo die Menschen nach der Ramazan-Avci-Ermordung so ein Bündnis gegründet haben. ... als das Bündnis, das sich gegründet hat, ist dann die Türkische Gemeinde daraus entstanden. Die türkische Gemeinde Hamburg, die allererste, bevor es den Dachverband in Deutschland gegeben hat. Also es ist so, eigentlich alles so mit der Geschichte von Ramazan Avicii an diesem Ort verknüpft. Autor Autor In einem Spiegel-Artikel kurz nach dem Tod Ramazan Avcis heißt es: Sprecherin Sprecher "Der Schüler Asir Öker berichtet: "Bei uns wird fast jedes Wochenende ein Türke zusammengeschlagen. Die fahren mit dem Auto rum, Nummernschild weiß die Polizei, jeder von uns kennt die Autos. Dann wird angehalten, auf einen los, zusammengeprügelt und weggefahren. Und Anzeige wird gemacht, aber es kommt nichts dabei raus." O-Ton 53 Zeran Kaymakci und Ramazan Avic. Das ist ja, wie ich gesagt habe, in dem Körper und dem Bewusstsein der Leuten vorhanden gewesen und das war jederzeit abrufbar. Und aus dem Karolinenviertel, wo ich ja gewohnt und gelebt habe, aufgewachsen bin, ist auch ein Freund von mir in der U-Bahn von drei Skinheads schwer verletzt worden. Der ist mit einem Messer angegriffen worden. Und er war auch drei Wochen in Wachkoma gelegen. Es war unklar, ob er diesen Angriff überleben wird. Und das ist nicht nur einfach daher gesagt, ja, wir werden jetzt euch angreifen. Das wissen wir genau. Wir sind die Zielscheibe. Zitat Sprecherin Zitate: "Mancher Türke benutzt die öffentlichen Verkehrsmittel nicht mehr, manche Eltern haben immer noch Angst, ihre Kinder zur Schule zu schicken.... Türkische Mädchen "bewaffnen" sich mit Pfeffer, manche lernen Karate." Autor Autor "Manche lernen Karate" lautet der Titel dieses Zeit-Artikels aus dem Jahr 1987 O-Ton 54 Zeran Also es war so, dass man sich nicht auf staatlichen Schutz verlassen konnte oder wollte. Und deshalb war schon richtig, dass Menschen sich in Selbstverteidigungskurse gegangen sind, also sich da körperlich so bereit gemacht haben, dass sie einen Angriff abwehren können. Es gab viele Selbstverteidigungskurse, auch diese ganzen Gangs, Champs und so, die haben alle Selbstverteidigungskurse gemacht oder sich gegenseitig Kampfhandlungen beigebracht. Autor Autor Nach dem Tod Ramazan Avcis entstanden bürgerliche Zusammenschlüsse wie die Türkische Gemeinde, auch Exil-Linke, die aus der Türkei geflohen waren, begannen sich antirassistisch zu organisieren. Was Ünal Zeran und auch Vassilis Tsianos aber betonen, das ist die Rolle der Jugendgangs, migrantische Jugendliche - sie nannten sich Champs, Wilhelmsburger Türken Boys, Bombers. O-Ton 55 Zeran Also die Champs waren im St. Pauli organisiert, hauptsächlich. Die Bombers waren mehr die vielleicht etwas politisch Geprägteren, weil sie eher so Richtung Bergedorf, Lohbrügge, von dort sich rekrutiert hatten, O-Ton 56 Tsiaonos Die trugen auch sowas wie, nicht Bomberjacken, aber so was ähnliches. Die waren auch die Ersten, die ein bisschen mit dem Hip-Hop experimentierten. O-Ton 57 Zeran Also die Jugendgangs haben nicht so wie die Antifas agiert. Lange Recherchen, wer ist welche Person und wieso muss man sich mit jemandem ideologisch auseinandersetzen, sondern es waren eher sehr spontane Aktionen. Da hieß es, da und dort treffen sich Neonazis wir gehen hin, wir schlagen zu. Und das haben die an mehreren Orten gemacht. Weshalb dann eine Kriminalisierung der Jugendgangs stattgefunden hat. Die wurden entpolitisiert, dann wurden einzelne von denen rausgepickt, vor das Gericht gestellt, mit Abschiebung, Ausweisung bedroht. Dann wurden die als Drogendealer, als Kleinkriminelle und so weiter bezeichnet. Aber die gab es sicherlich auch, also das ist unbestritten. Andererseits, diese politische Dimension, warum sich überhaupt Menschen zusammenschließen, um sich zu wehren, das wurde gar nicht thematisiert. Als bewusste politische Aktion wird das gar nicht wahrgenommen. O-Ton 58 Tsioanos Und die waren da in der Tat, die waren da. Die haben dafür gesorgt, dass es gute Laune gab, dass es gute Musik am Bahnhof gab, dass die Nazis sich nicht trauten, da auszusteigen. Und als es anstrengender war, die haben dafür gesorgt, dass die ganze Linie von Harburg bis Hauptbahnhof nazifrei war. Autor Autor Es gäbe hier noch viele Ereignisse zu schildern, z.B. die Fußball-Europameisterschaft 1988 ... O-Ton 59 Krebs Ich war sehr froh im Nachhinein, dass ich diesen Helm auf dem Kopf hatte... Autor Autor ... als mehrere Hundert Skinheads und rechte Hooligans nach dem Spiel Deutschland - Niederlande die besetzten Häuser in der Hafenstraße angreifen. Auch Vassilis Tsianos war dort, O-Ton 60 Tsiaonos Es gab Straßenschlachten, de facto. O-Ton 61 Krebs Und irgendwann flogen dann von unserer Seite Molotow-Cocktails und das führte dann zum Rückzug von den Angreifern. Autor Autor Aber: Der Höhepunkt dieses gewalttätigen Jahrzehnts in Hamburg, zumindest in seiner Symbolkraft: für mich ist es ein anderes Ereignis: O-Ton 62 Krebs Der 100. Geburtstag von Adolf Hitler. Das war halt 20. April 1989. Und es gab ein Flugblatt aus der Neonazi-Szene, was dazu aufgerufen hat, migrantische Einrichtungen an dem Tag anzugreifen. O-Ton 63 Zeran Ja, das erinnere ich sehr gut. Da habe ich mit dem Schulleiter gesprochen und habe davon erzählt, dass es ja so einen Aufruf gibt und wir nicht wissen, ob wir einen sicheren Schulweg haben werden. O-Ton 64 Tsianos Ich rede fast nie darüber, weil ich nicht dazu komme und überhaupt weil ich nicht gern über rassistische Stimmungen auch rede, beziehungsweise mich daran erinnere. Aber als du das gefragt hattest, war alles da, interessanterweise. Ich konnte mich sehr, sehr gut an die ersten Reaktionen, an den Flur, als wir den Briefkasten geöffnet haben und diesen merkwürdigen Brief, den alle gekriegt haben, nur die Migranten.... Autor Autor In dem Brief heißt es: Der 20.04.1989, Hitlers hundertster Geburtstag wird - jetzt wörtlich - "für euch die Zweite Reichskristallnacht sein". Sprecherin Sprecher Zeitungstitel (2 Sprecher, abwechseln "Neonazis - Polizeischutz für Schulen" "Ein Tag der Angst. Leer Straßen und Schulen, geschlossene Läden" O-Ton 65 NDR Hamburg-Journal Moderation Es ist nichts passiert, gestern an diesem denkwürdigen Tag, fast nichts. Die Befürchtungen, dass Skinheads und Neonazis zu großen Gewaltaktionen ausholen würden, haben sich zum Glück nicht bewahrheitet Und dennoch ist etwas passiert. Viele Ausländer nämlich blieben gestern ganz einfach zu Hause und schickten ihre Kinder nicht in die Schule. O-Ton 66 NDR Hamburg-Journal Reportage aus HH-Wilhelmsburg Wie war das Verhältnis gestern? Die Stimmung hier mit Deutschen? - Deutschen und Türken gab es nicht. Wir waren hier allgemein zusammen. Türken, Deutsche, das ist egal. Wir waren gegen die Skinheads. Wir wollten, wenn sie kommen, uns verteidigen. O-Ton 67 Krebs Also die ältere Schwester meiner damaligen Mitbewohnerin, die hat sich morgens die Gastpistole in die Handtasche gesteckt, hat ihre eigenen Kinder und die türkischen Nachbarskinder an die Hand genommen und hat gesagt, ich bringe euch jetzt sicher zur Schule. Es gab türkische Läden, die ihre Fenster verbarrikadiert haben. Das war die Stimmung. Autor Autor Passiert ist an diesem 20.04.1989 nichts. Die befürchteten Angriffe waren - soweit das rekonstruierbar ist - eine Art urbanes Gerücht, das sich verbreitete. Aber - das ist letztlich egal. Allein, dass tausende Menschen es für möglich halten, dass Skinheads und Neonazis großflächig und massiv Schulen und Geschäfte angreifen, allein das sagt viel über die Normalität der Angst, das Gefühl alltäglicher Bedrohung in dieser Zeit aus... O-Ton 68 Tsiaonos Ja, das war der Nachgeschmack, nachdem du dieses Flugblatt gelesen hast. Die waren zu nah zu mir. Ich habe gedacht, die sind sogar bis vor unsere Wohnungstür gekommen. Also das war ein Gefühl der unmittelbaren Begegnung mit einer Quelle der Angst. Autor Autor Nach diesem 20.04.1989 organisierte Vassilis Tsianos in Harburg einen Art Begleitschutz für Eltern und Geschwister O-Ton 69 Tsiaonos Also wir haben spontan, wir haben wirklich spontan sind wir auf die Idee gekommen, dass Menschen aus unseren Familien, die sich lange überlegen, ob sie zur Arbeit gehen oder die Kinder zur Kita bringen oder was du willst, dass wir so mit einer Gruppe von drei, vier Personen, in der Regel Jungs, sie einfach begleiten. Das heißt abholen, hinbringen und abholen. Und das haben wir oft und sichtbar gemacht. Und das hat sich herumgesprochen. Autor Autor Acht getötete Menschen, zahlreiche Schwerverletzte: Und sobald ich ein wenig bohre, stoße ich überall auf weitere Belege für viele größere und kleinere Übergriffe, die Alltäglichkeit des Terrors in der Stadt. Sprecherin Sprecherin Schriftliche Kleine Anfrage Betreff: Brände in türkischen Gemüseläden Autor Autor Ein lokaler SPD-Politiker fragt den Hamburger Senat: Er habe Kenntnisse von 7 Brandanschlägen auf türkische Geschäfte in Wilhelmsburg und Veddel. Ob diese Zahl richtig sei? Die Antwort des Senats am 10. Mai 1988: Nach Kenntnissen der Polizei sei es seit 1987 im Bereich Wilhelmsburg / Veddel zu neun Brandstiftungen in Geschäften türkischer Mitbürger gekommen. Die Motive und Täter wurden nicht ermittelt. Es liegt aber nahe, dass es rechte Täter waren. 9 Brandanschläge in nur anderthalb Jahren in zwei überschaubaren Hamburger Stadtteilen - zusammen haben sie heute knapp 60.000 Einwohner, Kleinstadtgröße. Eine unglaubliche Zahl. Und der Senat schreibt weiter: Sprecherin Sprecherin Einschlägige Straftaten kommen - unregelmäßig und vereinzelt - in allen Stadtteilen vor. Autor Autor In der gesamten Stadt, so geht aus der Antwort des Senats hervor, gibt es immer wieder Brandanschläge. Und manchmal, so zeigt es ein Artikel aus der Tageszeitung taz aus dem März 1986, auch mehrere in einer Nacht: Sprecherin Sprecherin Zitat / unterblenden... "In Heimfeld - einem Zentrum von Skinhead-Aktivitäten gegen Türken - brannte gegen zwei Uhr ein türkisches Lebensmittelgeschäft aus....Nur wenige später ... eine türkische Schneiderwerkstatt in Wandsbek ..." Autor Autor Diese eine Anfrage zeigt nochmals deutlich: Wir kennen nur einen Bruchteil der rassistischen Vorfälle. Wir wissen nur, was dokumentiert ist... vieles bleibt im Dunkeln. Trotzdem - für Vassilis Tsianos ist Vergessen keine Option. Ihm ist es wichtig auch heute sich damit auseinanderzusetzen: O-Ton 70 Tsiaonos Kiel Es ist sehr anstrengend für mich. Das Gefühl, das du danach hast, wenn du mit Rassisten konfrontiert bist, ist so etwas wie eine Kälte. Du willst damit nichts zu tun haben, es ist dir zu nah. Es attackiert allzu stark deine Ich-Integrität. Ich wäre nie in meinem Leben Antirassist gewesen, wenn ich nicht Leute kannte, und die waren alte Juden und auch Überlebende zum Teil oder alte Kommunisten, die mir beigebracht haben, dass es im Faschismus der Widerstand möglich war. Ich glaube, das war eine gigantische Erfahrung, die ich hatte und ein großes Glück mit diesen Menschen. Und ich glaube, das ist das, was man immer mitnehmen kann, wenn man mit Überlebenden vom Rassisten-Terror zu tun hat. Also eine Vergangenheitsbewältigung, die nur der Kritik der Täterschaft adressiert, die hilft weder der Mehrheitsgesellschaft noch den Minderheiten der Mehrheitsgesellschaft. Erst das Gefühl, dass diese Zumutungen behandelt, bewältigt und dass es Alltagsstrategien und auch politische Strategien gab, dass damit offensiv oder auch wenig offensiv auf jeden Fall umgegangen worden ist, dass darin immer Handlungsfähigkeit, also es gibt immer Handlungsfähigkeit. O-Ton 71 Zeran Für die Opfer ist das ungeheuer wichtig, dass ihr Leid gesehen und anerkannt wird. Dass sie das, was sie erlebt haben, dass das auch gesellschaftlich akzeptiert und anerkannt wird. ...und so schreibt sich das in das Gedächtnis einer Stadt ein, auch wenn es an unwirtlichen an unschönen Orten ist, so wie die Chau-und-Lan-Straße ja kein schöner Ort ist. Oder auch der Ramazan-Avci-Platz, ist auch kein schöner Ort, aber darum geht es ja nicht. Es geht darum, dass wenn ich auf die Stadtkarte gucke oder ein Geoportal der Stadt, dass es auftaucht. Und jetzt so jemand wie Gülistan Avci sagt, ich habe hier einen Ort, ich kann mich auf die Bank setzen, ich kann mir den Gedenkstein angucken, ich kann da trauern. Autor Autor Gülistan Avci, die Witwe von Ramazan Avci, in ihrer Gedenkrede 2024: O-Ton 72 Gülistan Avci Konusmami kurtulan yazar Primo Levi nin bir cümlesiyle bitirmek istiyorum.... Übersetzung Übersetzung Ich möchte meine Rede mit einem Satz des Auschwitz-Überlebenden und Schriftstellers Primo Levi beenden. Seine Worte in Gedenken an die Verbrechen der Shoah wurden bei unserer jährlichen Gedenkveranstaltung der Initiative oft als Mahnung zitiert. Zitat: "Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen: Darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben." Sprecherin: Absage Hamburgs Baseballschlägerjahre. Rechte Gewalt in den 1980er-Jahren. Ein Feature von Philipp Schnee Es sprachen: Sigrid Burkholder, Jochen Langner, Doris Plenert und der Autor Ton und Technik: Thomas Widdig und Oliver Dannert Regie: Beatrix Ackers Redaktion: Christiane Habermalz Produktion: Deutschlandfunk 2024 2