Hörspiel Feature Radiokunst Feature Auf der Schuldenbremse Wie viel Schulden verträgt der Staat? Autorin: Vivien Leue Regie: Claudia Kattanek Redaktion: Wolfgang Schiller Produktion: Deutschlandfunk 2024 Erstsendung: Dienstag, 10.09.2024, 19.15 Uhr Es sprachen: Judokus Krämer, Katherina Wolter und die Autorin Ton und Technik: Gunther Rose und Caroline Thon Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - O-Ton 1 Monika Schnitzer Wir sind schon sehr sparsam. O-Ton 2 Jens Südekum Wir drohen wirklich, zurückzufallen im internationalen Vergleich. Wir müssen in unsere Zukunft investieren, sonst geht der Standort hier vor die Hunde. Und da steht die Schuldenbremse uns einfach ganz klar im Weg. O-Ton 3 Lars Feld Ich rate denjenigen, die sich vor allen Dingen an der Schuldenbremse abarbeiten, dass sie doch zunächst einmal den Schritt wagen sollten, auf der Ausgabenseite Prioritäten zu setzen. ********************************* Sprecher Auf der Schuldenbremse - wie viel Schulden verträgt der Staat? Von Vivien Leue. ********************************* Atmo 1 Thyssenkrupp Führung - die gesamte Reportage lang O-Ton 4 Tour-Guide Wenn Sie einmal hinter sich blicken, dann sehen wir die Silhouetten unserer Großhochöfen eins und zwei... Autorin Das Werksgelände von Thyssenkrupp Steel in Duisburg, eines der größten Industriequartiere Deutschlands, fast fünfmal so groß wie das Fürstentum Monaco. Knapp 14.000 Menschen arbeiten hier. O-Ton 5 Tour-Guide Wir haben ja hier auf dem Werksgelände insgesamt vier Hochöfen... Autorin Eine Thyssenkrupp-Mitarbeiterin führt uns Journalisten herum. Wir gehen in das Oxygenstahlwerk 2. Atmo 2 Eintritt Stahlwerk Autorin Mehr als fünf Millionen Tonnen Stahl können allein in dieser Halle pro Jahr produziert werden. O-Ton 6 Tour-Guide Wenn Sie jetzt nach links schauen... Autorin In einer hallenhohen Konstruktion aus Stahl und Stein ist ein riesiger Behälter zu sehen - der Konverter. O-Ton 7 Tour-Guide So, jetzt nähert sich die erste Schrottmulde... Autorin Feuer lodert auf, es zischt und dampft. Hier wird das zuvor erzeugte Roheisen mit Eisenschrott zu Rohstahl geschmolzen. Atmo 3 Laute Produktionsgeräusche Autorin Für den Betrieb der Hochöfen wird klimaschädliche Kokskohle verfeuert. Die Stahlindustrie hat deshalb ein Kohlendioxidproblem - sie stößt zu viel davon aus. Atmo 4 Werksgelände draußen Autorin Wieder draußen zeigt die Thyssenkrupp-Mitarbeiterin in die Zukunft. O-Ton 8 Tour-Guide Wenn sie jetzt zur rechten Seite schauen, zwischen den Gebäuden, da entsteht die erste Direktreduktionsanlage... Autorin Eine Direktreduktionsanlage kommt ohne Kokskohle aus. Sie braucht Erdgas oder später Wasserstoff, um Stahl zu schmelzen. Ende 2026 will Thyssenkrupp die neue Anlage in Betrieb nehmen. Es wäre die erste dieser Art in Deutschland. O-Ton 9 Tour-Guide ... und wir sparen dann, wenn wir grünen Wasserstoff einsetzen zukünftig, bis zu 3,5 Millionen Tonnen CO2 ... Autorin Der Bau der Anlage sowie die Umstellung auf Wasserstoff kosten rund drei Milliarden Euro. Einen großen Teil davon bezahlt der Staat - also der Bund und das Land Nordrhein-Westfalen. Damit die deutsche Stahlindustrie wettbewerbsfähig bleibt und gleichzeitig Klimaziele erreicht werden. Damit wäre allerdings erst einer der vier Hochöfen des größten europäischen Stahl-Standorts ersetzt. Mindestens zwölf Milliarden Euro wären nötig, allein für dieses Werk, schätzt die IG Metall. Atmo 5 Flur vor und Eintritt in Büro Klaus Wittig O-Ton 10 Klaus Wittig Ich würde es auf jeden Fall dramatisch nennen. Autorin Klaus Wittig ist in der IG Metall und Betriebsrat. O-Ton 11 Klaus Wittig Ich bin 64 Jahre alt, mach jetzt im September fünfzigstes Arbeitsjahr voll. Ich habe 25 Jahre davon im Stahlwerk Ox zwei, was wir gerade besichtigt haben, gearbeitet, überwiegend auch am Kran, aber auch beim Konverter und kenne deswegen die Arbeitswelt hier ganz gut. Autorin Stahl ist leicht und formbar - zugleich aber sehr stabil. Er wird für den Hochbau, Brücken, Autos, Panzer oder Windkrafträder gebraucht. O-Ton 13 Klaus Wittig Und wenn man das in diesen Zusammenhängen sieht und sieht, wieviel Stahl zum Umweltschutz , aber auch zur Sicherheit mit beiträgt. Wenn man das alles mit in Betracht zieht, dann müssten eigentlich in der ganzen Republik die Alarmglocken angehen. Autorin Zwei Millionen Arbeitsplätze hängen laut IG Metall an der deutschen Stahlherstellung. O-Ton 14 Autorin Was brauchen Sie für die Zukunft? O-Ton 15 Klaus Wittig Ja, für die Zukunft brauchen wir Geld. ********************************* Autorin Wo soll das Geld herkommen? Die Wirtschaft sagt: Alleine schafft sie die Transformation nicht. Der Staat aber kann solche Summen auch nicht ohne weiteres stemmen. Nicht, weil sich die Regierung kein Geld besorgen könnte - sondern weil es sich der Bundestag verboten hat. Durch die Schuldenbremse. Die Neuverschuldung des Staates ist im Grundgesetz gedeckelt. Sie darf 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts nicht überschreiten. Es gibt nur zwei Ausnahmen im Artikel 115: Sprecher Im Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen, können diese Kreditobergrenzen auf Grund eines Beschlusses der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages überschritten werden. ********************************* Atmo 6 Uni Düsseldorf Autorin An der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf steht ein langer, geschwungener Glasbau: Das Oeconomicum. Drei Stockwerke, direkt an einem kleinen See, gegenüber der großen Universitätsbibliothek. Hier lehrt Jens Südekum, Professor für Internationale Volkswirtschaftslehre am Düsseldorf Institut für Wettbewerbsökonomie. Atmo 7 Begrüßung O-Ton 18 Jens Südekum Wir haben uns über die letzten 20, 30 Jahre so peu a peu kaputtgespart. Es gibt ja Berechnungen: Wie groß ist der öffentliche Kapitalstock, die öffentliche Infrastruktur? Und da sieht man dann eben, dass seit über 20 Jahren wir eine Nettoinvestitionsquote im negativen Bereich haben. Wir haben von der Substanz gelebt und die bröckelnde Infrastruktur, die uns an allen Strecken, an allen Orten auffällt, angefangen bei der Bahn, den Funklöchern, die wir lange Zeit hatten. Das sind dann sozusagen die Dinge, wo es dann der Öffentlichkeit auch auffällt. Autorin Jens Südekum sitzt im wissenschaftlichen Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums. Die Zukunfts-Sorgen der Industrie teilt der Ökonom: O-Ton 17 Jens Südekum Diese Transformation, so etwas hat es in der Wirtschaftsgeschichte eigentlich noch nie gegeben. Und dann ist klar: Da brauchen wir nicht nur die Investitionen wie früher, die man ohnehin immer mal braucht, um alten Kapitalstock zu ersetzen, um auch Erweiterungen zu finanzieren, sondern wir brauchen nochmal extra Mehr, um einfach diese Sonderaufgabe der Transformation überhaupt schaffen zu können. Autorin Der Bundesverband der Deutschen Industrie errechnete jüngst einen zusätzlichen staatlichen Finanzierungsbedarf von bis zu 400 Milliarden Euro für die kommenden zehn Jahre - für Verkehrswege, Klimaschutz, den Wohnungsbau, aber auch für Kitas und Schulen. O-Ton 16 Jens Südekum Wir investieren viel zu wenig in die öffentliche Infrastruktur. Die Unternehmen investieren viel zu wenig in ihren eigenen Kapitalstock, in eigene Technologien. Wir drohen wirklich zurückzufallen im internationalen Vergleich. Wir müssen in unsere Zukunft investieren. Und da steht die Schuldenbremse uns einfach ganz klar im Weg. ********************************* Autorin Für den Bundeshaushalt 2024 teilt das Bundesfinanzministerium auf seiner Webseite mit: Sprecher Der Bundeshaushalt kommt nach vier Jahren wieder ohne Notlagenkredite aus und kehrt zur Einhaltung der regulären Obergrenze für die Nettokreditaufnahme zurück. Sprecherin Die Schuldenbremse wird eingehalten. Neue Notlagenkredite, wie sie zum Beispiel für die Bekämpfung der Coronapandemie aufgenommen wurden, gibt es nicht. ********************************* O-Ton 20 Südekum Die Schuldenbremse, die wir aktuell haben, die im Grundgesetz steht, ist nicht mehr zeitgemäß. Sie hat vielleicht zum Zeitpunkt ihrer Einführung im Jahr 2009 - das war ja kurz nach der Finanzkrise, wo dann durch die Rettungsprogramme des Staates die Schuldenquote extrem in die Höhe geschossen ist - da kann man das vielleicht noch nachvollziehen, wie man damals auf diese Idee kommen konnte. Aber heute haben wir ganz andere Probleme. O-Ton 21 a-d O-Ton Collage Wirtschaftsnachrichten zu Finanzkrise, Wirtschaftsentwicklung, Einführung Schuldenbremse/ evtl. Ton Lars Feld von damals. Autorin Wie war das damals, bei der Einführung der Schuldenbremse Ende der 2000er Jahre? Der Ökonom Lars Feld gilt als einer der Väter und leidenschaftlichsten Verfechter der deutschen Schuldenbremse. Er hat jahrelang in der Schweiz geforscht. Dort gilt eine ähnliche Regel schon seit 2003. Autorin Mittlerweile ist Lars Feld Professor für Wirtschaftspolitik und Ordnungsökonomik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Er ist per Studioleitung aus Freiburg zugeschaltet. O-Ton 25 Autorin Ja... Schuldenbremse... O-Ton 26 Lars Feld Legen wir los. O-Ton 27 Autorin Vielleicht fangen wir mal ganz vorne an: Was sollte die Schuldenbremse denn damals, 2009, leisten und wie kam es überhaupt zu ihr? O-Ton 28 Lars Feld Fiskalregeln ganz allgemein sollen dafür sorgen, dass der Staat eine solide Finanzpolitik betreibt, und zwar, weil man an der Schnittstelle zur Geldpolitik eben häufig in der Vergangenheit festgestellt hat, dass eine unsolide Finanzpolitik mit Inflationstendenzen einhergeht, manchmal auch mit schwierigeren Verhältnissen wie Hyperinflationen. Autorin Unsolide Finanzpolitik, das heißt übersetzt: Der Staat nimmt Schulden auf, um mehr auszugeben, als die Wirtschaft leisten kann. Dann steigen die Preise. Und zusätzlich belasten Zins und Tilgungen den Haushalt. Ein Anreiz für Regierende, die Inflation hoch zu halten. Denn damit verlieren die Schulden real schneller an Wert. Solche Sorgen kursierten spätestens auch ab 2007 in Deutschland. Damals brach die weltweite Finanzkrise aus, Staaten verschuldeten sich stark, um Banken und Finanzinstitute zu retten. Zur selben Zeit setzten Bundestag und Bundesrat die Föderalismuskommission Zwei ein. Sie sollte vorschlagen, wie die Bund-Länder-Finanzbeziehungen modernisiert werden können. Sie erarbeitete dabei auch die Eckpunkte zur Schuldenbremse. O-Ton 29 Lars Feld Es hat die Finanzkrise sicherlich auch als Katalysator. Aber die eigentlichen Gründe liegen darin, dass wir im Zeitablauf seit etwa Mitte der 1970er-Jahre einen Anstieg der Staatsverschuldung von Bund, Ländern, Gemeinden und Sozialversicherungen, also des Gesamtstaates in Prozent des Bruttoinlandsprodukts der jährlichen Wirtschaftsleistung bekommen haben. Das ist ein trendmäßiger Anstieg. Autorin Die deutsche Staatsschuldenquote lag Anfang der 1970er Jahre bei 20 Prozent. 1994 durchbrach die Quote die 50 Prozent-Marke, zehn Jahre später lag sie bei über 60 Prozent - mit weiter steigender Tendenz. Erst mit Einführung der Schuldenbremse, erklärt Lars Feld, sei dieser Trend durchbrochen worden. O-Ton 30 Lars Feld Nun, man muss feststellen, dass Fiskalregeln allgemein, ob sie die nun Schuldenbremse nennen oder wie auch immer, in der Welt in vielen Ländern existieren. Auch im historischen Vergleich sieht man, dass Schuldenregeln jetzt nichts Neues sind. Autorin Schon die Verfassung des Kaiserreichs von 1871 hatte eine Schuldenregel, die Weimarer Republik ebenso. O-Ton 31 Lars Feld ...und die Gründe für diese Schuldenregeln waren immer die gleichen: Zu verhindern, dass es in dem Bundesgebiet, um das mal so auszudrücken auch für das Kaiserreich, irgendwelche Tragfähigkeits-Probleme auftreten, also eine Schuldenkrise entsteht. Das war immer die Sorge, weswegen man Schuldenregeln eingeführt hat. ********************************* Autorin Was bedeutet Schuldentragfähigkeit? Sie drückt aus, ob ein Staat seine Schulden langfristig zurückzahlen und die Zinsen bedienen kann. Eine hohe Schuldenquote galt dabei lange als Zeichen für eine geringe Schuldentragfähigkeit. O-Ton 32 Wolfgang Schäuble Und man muss daran erinnern, dass die US-Ökonomen Rogoff und Reinhart vor kurzem in einer viel beachteten Studie dargelegt haben, dass ab einem bestimmten Verschuldungsgrad der öffentlichen Haushalte das Wirtschaftswachstum durch öffentliche Verschuldung nicht mehr gesteigert, sondern gedämpft wird. Autorin Wolfgang Schäuble, Bundesfinanzminister von 2009 bis 2017. Die US-Ökonomen Kenneth Rogoff und Carmen Reinhart hatten 2010 eine Studie veröffentlicht, zum Zusammenhang von Schulden, Wachstum und Inflation in insgesamt 44 Ländern. Das Fazit der Harvard-Wissenschaftler: Ab einer Schuldenquote von 90 Prozent fällt das Wirtschaftswachstum ab. Die 90 Prozent-Quote galt damit als Kipp-Punkt. Ökonomen, Politiker und Notenbanken zitierten sie. Doch ein paar Jahre später rechnete ein Student die Ergebnisse von Rogoff und Reinhart nach - und entdeckte einen Fehler in einer Excel-Tabelle. Die 90-Prozent-Marke - sie war damit zumindest wissenschaftlich vom Tisch. ********************************* Autorin Auch wenn es keine harte Grenze für die Schuldentragfähigkeit gibt - steigende Zinsbelastungen durch immer höhere Schulden können problematisch werden. Jens Südekum. O-Ton 33 Jens Südekum In der modernen Sichtweise der Volkswirtschaftslehre geht es letztlich um den Vergleich von nominalem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts und der nominalen Zinslast. Autorin Also: wie stark wächst die Wirtschaft und wie stark die Zinsen auf Schulden? Wenn die Wirtschaft stärker wächst als die Zinslast des Staates, ist alles in Ordnung. O-Ton 34 Jens Südekum Das ist quasi noch einmal die notwendige Bedingung, dass Schuldentragfähigkeit gewährleistet ist. Autorin In den letzten Jahren war es leider anders: Die Zinslast stieg stärker als das Wachstum. Die Coronapandemie, der Energiepreisschock und wegen der Inflation ein genereller Anstieg der Zinsen, während zugleich die Wirtschaft in eine Rezession rutschte. O-Ton 35 Lars Feld Wir haben expansive Finanzpolitik in der Corona-Krise gehabt. Autorin Also viel ausgegeben, auch schuldenfinanziert, erklärt Lars Feld. Auf der anderen Seite gab es weniger zu kaufen. Lieferketten waren unterbrochen, viele Stellen unbesetzt. O-Ton 36 Lars Feld Diese Knappheiten wurden nicht behoben und stattdessen hat man die Nachfrage hochgehalten - und das sorgt halt für die Inflation, die wir bekommen haben. Autorin Ein Blick in die USA mache dieses Risiko noch deutlicher: O-Ton 37 Lars Feld In der Tat muss man sagen, dass die in den USA ja noch viel stärker expansive Fiskalpolitik zu Zeiten der Corona-Krise auch eine höhere Inflation verursacht hat. Das ist sicherlich auch auf die Finanzpolitik zurückzuführen. Autorin Hat uns also die Schuldenbremse vor Schlimmerem bewahrt? Jens Südekum hält dagegen: Der US-Wirtschaft gehe es anders als der deutschen weiterhin recht gut. Zugleich baue das Land zukunftsfähige Infrastrukturen auf, treibe die Transformation voran. Und das mit einer weit über 120-prozentigen Schuldenquote. O-Ton 38 Jens Südekum Es gibt mittlerweile eine Reihe von Ländern, die weit oberhalb der 90 Prozent liegen. Großbritannien, die USA vor allem, von Japan, will ich gar nicht reden, die haben 250 Prozent. Und trotzdem ist nirgends so eine Spirale in Gang gekommen, dass man sagt: da ist jetzt alles den Bach runter gegangen, weil die Schuldenquote plötzlich höher als 90 Prozent eines Bruttoinlandsprodukts liegt. ********************************* Autorin Im US-Bundesstaat Indiana, an der Universität von Notre Dame, lehrt der deutsch-amerikanische Ökonom Rüdiger Bachmann. Werden die USA bald sparen müssen? O-Ton 39 Rüdiger Bachmann Die USA ist faktisch der größte Kapitalmarkt der Welt, der liquideste Kapitalmarkt der Welt und die amerikanischen Staatsanleihen sind in dem Sinne dann tatsächlich von ihrer Masse her die sichersten Staatsanleihen der Welt. Autorin Aktuell sind US-Staatsanleihen in Höhe von knapp 25 Billionen Euro im Umlauf. O-Ton 40 Rüdiger Bachmann Man nennt es das exorbitant Privilege der USA. Das heißt also mit anderen Worten: Sie sie stellen eben einen so großen Kapitalmarkt, einen so liquiden und sicheren Kapitalmarkt der Welt als öffentliches Gut bereit sozusagen, dass ... Die Amerikaner sind in der Lage, relativ günstig, immer wieder aus der Welt, sich zu finanzieren. Autorin Auf zehnjährige Staatsanleihen zahlen die USA aktuell 4,5 Prozent Zinsen, Deutschland erhält das Geld günstiger: Zu 2,5 Prozent. Dennoch nehmen die USA fleißig weiter Geld auf. Allein der "Inflation Reduction Act" zur Ankurbelung der Wirtschaft ist mehr als 430 Milliarden US-Dollar schwer. O-Ton 41 Rüdiger Bachmann Geht das unbegrenzt? Nein, natürlich nicht. Auch da muss man sich anschauen, wie sind die Entwicklungen? Und die Entwicklungen in den USA sind in der Tat gar nicht so rosig, weil wir tatsächlich wirklich explodierende - also wenn sich die Politik nicht ändert - explodierende Schuldenstände bekommen werden oder Schuldenquoten bekommen werden. Autorin Eine Schuldenbremse in der Verfassung kennen die USA nicht. Aber es gibt eine gesetzlich festgelegte Schuldenobergrenze. Sie lag zuletzt bei rund 31 Billionen US-Dollar. O-Ton 42 Rüdiger Bachmann Im Grunde ist die USA noch verrückter.... in dem Sinne noch verrückter, dass wir unsere Abgeordneten entscheiden lassen, zunächst einmal in einem Haushaltsgesetz über die Einnahmen - die Steuereinnahmen - und die Ausgaben des Staates. Ja, das ist ein ganz normales Haushaltsgesetz. Und dann wird noch einmal separat abgestimmt über die Schuldenaufnahme, beziehungsweise ob die Schuldenaufnahme, die dafür notwendig ist, um diese Ausgaben - gegeben die Einnahmen - zu finanzieren. Autorin Heißt: Zuerst wird der Bedarf ermittelt und festgelegt - dann darüber abgestimmt, ob dafür auch Schulden aufgenommen werden dürfen. O-Ton 43 Rüdiger Bachmann Da steht dann tatsächlich ein Dollarbetrag, so ... keine Ahnung X Trillionen Dollar oder so steht das im Gesetz, völlig verrückt eigentlich, wenn man sich das so überlegt. Autorin Vor allem dann, wenn diese Schulden die Obergrenze übersteigen würden, die per einfachem Gesetz festgelegt ist. O-Ton 44 Rüdiger Bachmann Wir kriegen dann in den USA so politisches Theater immer mal wieder. So genannte Government Shutdowns. Da gibt es dann mal so 14 Tage... werden dann die Staatsbeamten nach Hause geschickt, weil die Regierung gerade keine Ausgaben Tätigkeit tätigen kann, weil eben diese Schuldenobergrenze doch mal erhöht werden muss, beziehungsweise nicht erhöht wird, weil in Washington politisches Theater gemacht wird. Bisher haben sie dann immer irgendwie sich geeinigt, aber das ist ein typisches politisches Ritual in den USA. Autorin Klar sei das chaotisch, sagt Bachmann. O-Ton 45 Rüdiger Bachmann Allerdings scheint es bisher jedenfalls die Kapitalmärkte und die Geldgeber, die Anleger der Welt, noch nicht zu beunruhigen. Denn wie gesagt: Was ist denn die Alternative? Also wenn ich einen Haufen Sparwünsche habe, wo gehe ich hin? Gehe ich nach China? Kann ich nicht hingehen. Das ist ein Land, dessen Institutionen ich nicht traue. Kann ich nach Europa gehen? Deutschland stellt diese Staatsschulden ja gar nicht zur Verfügung. Wegen der Schuldenbremse. Also wo sollen die Anleger der Welt hingehen? Schweiz ist viel zu klein. Natürlich kann man auch in die Schweiz gehen. Aber wie gesagt, das ist von der Masse her einfach nicht da. Und insofern bleibt am Ende immer noch die USA, immer nur die USA für so eine sichere Anlage. ********************************* Autorin Auch Rüdiger Bachmann sagt: Eine harte Grenze, ab der Staatsverschuldung schädlich ist, existiere nicht. O-Ton 49 Rüdiger Bachmann Insofern kommt es immer wieder drauf an: Eine 200 Prozent-Schuldenquote für Griechenland ist gefährlicher als für USA, Deutschland oder Japan - ist einfach so. Es gibt aber bestimmte Länder, die dieses Privileg haben, weil sie einen großen Kapitalmarkt und guten Kapitalmarkt bereit stellen, dass sie sich höher verschulden können als andere. Das ist aber auch im Privaten so. Wenn sie viele Sicherheiten haben, können Sie sich zum Beispiel mehr verschulden als jemand, der weniger Sicherheiten hat. Und so ähnlich ist es eben auch bei den Staaten. Autorin Und wie steht es um die deutschen Sicherheiten und Kreditwürdigkeit? Bachmann lacht. No problem... O-Ton 50 Rüdiger Bachmann In Deutschland haben wir ja die absurde Situation, dass die Schuldenstandsquote immer weiter nach unten geht und eigentlich nur durch Krisen temporär mal erhöht wird und dann immer weiter nach unten geht. Der deutsche Staat hat einfach einen ganz anderen Spielraum noch. ********************************* Atmo 9 Zinq: Werksgelände O-Ton 51 Lars Baumgürtel ... hier der produzierende Standort mit der Verzinkerei. Dann haben wir da drüben noch das Forschungs- und Entwicklungszentrum. Autorin In Gelsenkirchen sitzt das mittelständische Unternehmen Zinq. 2000 Mitarbeitende hat es in Deutschland, den Benelux-Ländern, Frankreich und Polen. Zinq schützt Stahl vor Korrosion, mittels verschiedener Verfahren und Beschichtungen. Ein Familienunternehmen in vierter Generation. Aktueller Chef ist Lars Baumgürtel. O-Ton 52 Lars Baumgürtel Dann haben wir in NRW sieben Standorte und insgesamt 50... Autorin Der Unternehmenschef läuft in eine der großen Werkshallen. Durch das Dach strömt Tageslicht auf rostbraune Stahllager und silber verzinkte Bauteile. Unter dem hohen Hallendach hängen Schienen, über die der Rohstahl zu den Zinkbädern gebracht wird. O-Ton 53 Lars Baumgürtel Hier wird das Material vorbehandelt, hier ist das Zinkbad ... Autorin Lars Baumgürtel zeigt auf eine im Boden verbaute Wanne. O-Ton 54 Lars Baumgürtel Also das Geld sozusagen liegt hier unter der Erde. Da haben wir die Ofenanlage, das Herzstück, da wo die Wertschöpfung tatsächlich passiert. Und in diesem Ofengebilde, also in dem Kessel, der dann in dem Ofen steht, sind dann etwa 800 Tonnen Zink drin. Autorin Der Ofen muss - ähnlich wie bei Thyssenkrupp - ständig laufen. 24 Stunden, sieben Tage die Woche. Das kostet Energie, die bei Zinq aus Gasquellen kommt - aber hoffentlich bald aus grünem Wasserstoff. Atmo 10 Besprechungsraum Autorin Für das Interview gehen wir in einen Besprechungsraum. O-Ton 55 Lars Baumgürtel Bei uns sind die Investitionen in die Anlagentechnik immer langfristig gedacht. Also wenn wir beispielsweise hier unsere Ofenanlagen für die Prozesswärme wechseln, dann ist der erwartete Horizont für einen Betrieb einer neuen Anlage 40 Jahre oder teilweise sogar mehr. Das ist in anderen Industrien ähnlich, ob das jetzt Glas ist oder Stahl. Insofern ist es übrigens dann auch nicht ganz unwesentlich, dass man weiß zu dem Zeitpunkt der Investitionen: Mit welchem Energieträger zum Beispiel darf man dann zukünftig rechnen? Autorin Zinq hat sich mit anderen lokalen Industrien und Unternehmen zusammengeschlossen, zum Klimahafen Gelsenkirchen. Sie versuchen, gemeinsam das Thema Wasserstoff voran zu bringen. O-Ton 56 Lars Baumgürtel Es ist ganz klar: Wir können uns als Nachfrager aus der Industrie Wasserstoff wünschen, wie wir wollen, wenn die Infrastruktur dazu nicht entsprechend investiert wird, wenn es keine Verknüpfung gibt zwischen Erzeugung, die woanders stattfinden wird aus unserer Sicht und die Nachfrage, dann wird am Ende der Markthochlauf für einen interessanten Energieträger wie Wasserstoff nicht funktionieren. Autorin Der Staat muss die Voraussetzungen dafür schaffen, dass der Wasserstoff demnächst bis nach Gelsenkirchen kommt. Und zwar bald. Neue Investitionen stehen bei vielen Unternehmen derzeit auf Halt. O-Ton 57 Lars Baumgürtel Ich glaube, wenn man klare Signale setzen würde, würde ein erheblicher Teil der Investitionen, die derzeit nicht getätigt werden oder noch schlimmer, dann nicht in Deutschland getätigt werden, die würden dann im Grunde genommen freigegeben werden können. Und dann hätten wir den vielleicht auch derzeit so wichtigen Impuls, wie es letztendlich mit der Wirtschaft und mit der Industrie dann weitergehen könnte. Autorin In Belgien hat Lars Baumgürtel schon entsprechende Verträge geschlossen. O-Ton 58 Lars Baumgürtel Die betreiben ihren Netzausbau auch sehr, sehr schnell und radikal voran. Danach kriegen wir an zwei Standorten 2026 beziehungsweise 2027 ein Angebot an Wasserstoff. Autorin Von Deutschland erwartet der Unternehmer: O-Ton 59 Lars Baumgürtel Eine konkrete Zusage, dass aus meiner Sicht das Recht von energieintensiven Unternehmungen auf Energieversorgung dann auch staatlicherseits unterstützt wird. Das sind tatsächlich Investitionen, die muss der Staat tätigen, und das muss er schnell tun. Autorin Ob das über Schulden passiere oder aus dem laufenden Haushalt, müsse die Politik entscheiden, sagt Baumgürtel. O-Ton 60 Lars Baumgürtel Aber bitte, es sollte dann irgendwann mal entschieden werden, damit man Klarheit hat. ********************************* O-Ton 60a Nachrichten-Sprecher Die Lage in den Hochwassergebieten in Süddeutschland bleibt ernst. O-Ton 60b Nachrichten-Sprecher 2 Auch Erdrutsche gab es, zum Beispiel in Schwäbisch-Gmünd. Hier entgleiste ein ICE, weil er in einen Erdrutsch gefahren ist. O-Ton 60c Auszug aus einem Fernseh-Beitrag Aufgrund von Hochwasserschäden geht auf verschiedenen Strecken gar nichts mehr. Am Morgen musste die Bahn einige Verbindungen nach Süden deshalb komplett streichen. Atmo 11 Zug-Ansage München Autorin An der Ludwigs-Maximilians-Universität München lehrt Monika Schnitzer. Sie ist Professorin für Komparative Wirtschaftsforschung und Chefin des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung - kurz: die Wirtschaftsweisen. Der Interview-Termin mit ihr musste um zwei Wochen verschoben werden, die Überschwemmungen hatten eine Reise nach München unmöglich gemacht. Atmo 12 Jetzt hat es geklappt - gut angekommen... Autorin Monika Schnitzer sitzt in ihrem Büro in einem Altbauflügel der Wirtschaftsfakultät an der Ludwigstraße, nördlich der Innenstadt. O-Ton 61 Monika Schnitzer Ich glaube, das Hochwasser hat erst einmal gezeigt, dass man viel mehr vorsorgen muss. Und da würde für mich erst mal auch dazugehören, dass die Privatleute sich auch absichern, dass es eine Pflichtversicherung gibt. Autorin Damit der Staat nicht einspringen muss. O-Ton 62 Monika Schnitzer Gleichzeitig müsste man natürlich dafür sorgen, dass Vorsorge getroffen wird mit entsprechenden Hochwasserschutzmaßnahmen. Und die Frage ist, wie das jetzt finanziert werden kann. Autorin Im regulären Haushalt sei kein Platz für solche Sondermaßnahmen. O-Ton 63 Monika Schnitzer Das sind ja Maßnahmen, die auch für viele Jahre dann wirken sollen. Das wäre ein klassisches Gebiet, wo man über Schuldenfinanzierung nachdenken sollte, denn es hilft nicht nur der jetzigen Generation. Es hilft dann allen weiteren Generationen. Also hier wäre Schuldenfinanzierung in der Tat sehr überlegenswert. Autorin Die Schuldenbremse in ihrer jetzigen Form lässt das aber nur bedingt zu: O-Ton 64 Monika Schnitzer Unter den aktuellen Vorgaben kann man in einer Notlage die Schuldenbremse aussetzen. Man kann also argumentieren: Das sind jetzt so wichtige und so hohe Probleme, die wir hier zu bewältigen haben, die nicht selbst verschuldet sind - das ist ganz entscheidend! - und die so nicht absehbar waren, dass man tatsächlich die Schuldenbremse aussetzen kann. Ein Problem dabei ist allerdings, dass kann man nur für das laufende Kalenderjahr. Autorin Im Falle der jüngsten Überschwemmungen also für dieses Jahr - 2024. O-Ton 65 Monika Schnitzer Das Problem ist aber: All das, was es aufzubauen gibt, wieder aufzubauen gibt, beziehungsweise was denn wirklich Investition in die Zukunft ist, die ganzen Hochwasserschutzmaßnahmen, die werden ja nicht innerhalb von wenigen Monaten erledigt sein. Es ist allerdings nicht möglich - und das hat das Bundesverfassungsgerichtsurteil ganz klar gemacht - es ist nicht möglich zu sagen: Ja, dann machen wir einen hohen Kredit, und den geben wir dann erst im nächsten Jahr aus. Das geht nicht. Autorin Stattdessen müsste im nächsten Jahr, im neuen Haushalt, wieder mit einer Notlage argumentiert werden. O-Ton 66 Monika Schnitzer Und das wird von Jahr zu Jahr schwieriger. Und das ist genau der Punkt, wo wir als Sachverständigenrat, aber viele andere auch sagen: Da ist die Schuldenbremse falsch ausgestaltet. ********************************* Autorin Das Bundesverfassungsgericht erklärte im November 2023 das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 für nichtig. Es sei nicht vereinbar mit dem Grundgesetz, denn: Sprecher Erstens hat der Gesetzgeber den notwendigen Veranlassungszusammenhang zwischen der festgestellten Notsituation und den ergriffenen Krisenbewältigungsmaßnahmen nicht ausreichend dargelegt. Sprecherin Zweitens widerspricht die zeitliche Entkoppelung der Feststellung einer Notlage [...] vom tatsächlichen Einsatz der Kreditermächtigungen den Verfassungsgeboten der Jährlichkeit und Jährigkeit. Die faktisch unbegrenzte Weiternutzung von notlagenbedingten Kreditermächtigungen in nachfolgenden Haushaltsjahren ohne Anrechnung auf die "Schuldenbremse" bei gleichzeitiger Anrechnung als "Schulden" im Haushaltsjahr 2021 ist demzufolge unzulässig. ********************************* Autorin Dringender denn je brauche es jetzt eine Reform der Schuldenbremse - sagt die Chefin der Wirtschaftsweisen, Monika Schnitzer: O-Ton 67 Monika Schnitzer Wir sollten für Notfälle, wenn die Ausnahmeregel gezogen wird, die nicht auf ein Jahr begrenzen, sondern sollten sagen: Die Folgewirkungen, die gelten ja noch eine Reihe von Jahren, beispielsweise drei Jahre. Und dann würde man sagen: Okay, man kann Kredite für drei Jahre aufnehmen und dann tatsächlich mit der Zeit alle Maßnahmen tätigen, die so begründet sind. Autorin Der Sachverständigenrat hat einen Reformvorschlag vorgelegt - die Mehrjährigkeit von Notfallmaßnahmen ist ein Punkt daraus. Aber auch außerhalb von Notlagen müsse die Schuldenbremse gelockert werden, meinen die Wirtschaftsweisen. Schnitzer hat mit ihrem Team berechnet, wie sich die Schuldenstandsquote Deutschlands entwickelt, sollten wir weiter bei der aktuellen Gesetzeslage bleiben. O-Ton 68 Monika Schnitzer Wir haben festgestellt, selbst wenn es immer wieder mal eine Notlage, eine Ausnahmeregel gibt, auch wenn die Konjunktur mal schlecht läuft, dann wird man trotzdem bei exakter Einhaltung der bisherigen Regel die Schuldenstandsquote immer weiter nach unten treiben. Aktuell liegen wir bei knapp über 60 Prozent. Wir wären in einigen Jahren, Jahrzehnten bei um die 40 Prozent. Das ist viel restriktiver, als wir sein müssen. Autorin Stattdessen schlägt Monika Schnitzer ein Stufenmodell vor. O-Ton 69 Monika Schnitzer Wenn wir unterhalb der 60 Prozent Schuldenstandsquote sind, und das werden wir bald erreichen, dann, um wirklich einen höheren Spielraum zuzulassen von einem Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das wäre also knapp, dreimal so viel, wie wir momentan haben. Und wenn wir dann wirklich über 60 Prozent sind, wie wir es gerade momentan noch erleben, zu sagen, dann 0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, das ist immerhin anderthalb Mal so viel wie wir momentan haben. Erst, wenn wir bei über 90 Prozent der Schuldenstandsquote sind, zu sagen: Wir bleiben so restriktiv wie bisher bei 0,35 Prozent. ********************************* Autorin Auch die Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben eigene Schuldenregeln - die sogenannten Maastricht-Kriterien von 1992. Sie besagen unter anderem: Sprecher Das öffentliche Defizit darf nicht mehr als 3 Prozent des BIP betragen. Sprecherin Der öffentliche Schuldenstand darf nicht mehr als 60 Prozent des BIP betragen. Sprecher Die Inflationsrate darf maximal 1,5 Prozent über jener der drei preisstabilsten Mitgliedstaaten des Vorjahres liegen. O-Ton 70 Monika Schnitzer Wenn man jetzt sich überlegt, wie kam es zu dieser 60 Prozent Schuldenstandsquoten-Regel für die Währungsunion, dann war das ein Wert, den man gegriffen hat, indem man sich angeschaut hat: Wie hoch sind denn die Schuldenstandsquoten zu dem Zeitpunkt gewesen? Und man hat den Durchschnitt davon genommen, hat gesagt: Das ist die Quote, auf die wir uns verständigen wollen. Also das war jetzt nicht wissenschaftlich in irgendeiner Form begründet... Autorin Seit 2020 waren die Regeln wegen der Coronapandemie und später wegen des Ukraine-Krieges ausgesetzt. Eine Rückkehr zu den alten Kriterien schien nun aber nicht mehr sinnvoll. Über die Jahre hatte sich gezeigt, dass sie vor allem in hoch verschuldeten Staaten zu harte Einschnitte forderten und kaum Spielraum für wachstumsfördernde Investitionen zuließen. Außerdem schafften sie es nicht, die Schuldenstände zu reduzieren. Seit April hat die EU deshalb neue Fiskalregeln. Die Defizit- und Schuldenkriterien von drei bzw. 60 Prozent des BIP gelten zwar weiterhin. Die Regeln für den Weg dorthin sind nun allerdings weniger streng und es gibt länderspezifische Abmachungen. ********************************* O-Ton 71 Monika Schnitzer Ich denke, wir sind alle überzeugt davon: Zu viel Schulden ist problematisch. Auch weil, wenn die Zinsen höher sind, das den Staatshaushalt deutlich belastet. Aber gleichzeitig wäre es nicht sinnvoll zu sagen: Ab dieser Schwelle alles schlimm und darunter alles gut. Auch da würde man, glaube ich, sich vertun. Autorin Wahrscheinlich sei der Blick zur Schulden-Höhe aber auch ein Blick in die falsche Richtung. O-Ton 72 Monika Schnitzer Ich glaube, man muss vor allen Dingen erst mal verstehen: Warum hilft eine Schuldenbremse? Wofür hilft sie? Und wofür hilft sie nicht? Denn das ganz Entscheidende ist, wofür das Geld am Ende ausgegeben wird, gar nicht mal so sehr wieviel, sondern wofür? Autorin Das sei nicht allein eine ökonomische Frage, sondern auch ein politökonomisches Problem. O-Ton 73 Monika Schnitzer Man hat es typischerweise mit Politikern, Politikerinnen zu tun, die gerne etwas für ihr aktuelles Wählervolk tun. Und das führt dazu, dass man doch dazu neigt, Kredite aufzunehmen. Denn das belastet die aktuelle Wählerschaft nicht, sondern die nächste Generation, wenn die Kredite zurückbezahlt werden. Man ist aber auch geneigt dazu, Geld auszugeben für Dinge, die den jetzigen Wählern und Wählerinnen zugutekommen, beispielsweise eine Rentenreform, die den aktuellen Rentnerinnen hilft, statt das Geld zu investieren in Straßen, in Brücken, in die Klima-Transformation, alles, was wirklich auch längerfristig eine positive Wirkung hat. ********************************* Autorin Auch wegen dieser Problematik steht Ökonom und Politikberater Lars Feld weiter hinter der Schuldenbremse: O-Ton 74 Lars Feld Es gibt einen kräftigen Einfluss von Interessengruppen in der Politik O-Ton 75 Lars Feld Und es gibt auch die eigenen Interessen der Politiker, die natürlich auf Wiederwahl aus sind. Und das führt dann dazu, dass es schwer ist, ganz bestimmten Interessengruppen zu vermitteln, dass ihre Sondervorteile, die vielleicht irgendwann mal auch vernünftigerweise eingeführt worden sind, heute so nicht mehr fortbestehen können. Denken Sie an die Agrardiesel-Diskussion, die wir Anfang des Jahres gehabt haben. Autorin Vor Kurzem - lange nach den Bauernprotesten mit Dutzenden Traktoren vor dem Bundestag - habe sich herausgestellt, dass die Landwirte in den vergangenen Jahren recht gut verdient haben. O-Ton 76 Lars Feld Und trotzdem gab es diesen Widerstand gegen die Kürzung einer solchen Steuersubvention. Und das ist im Grunde immer wieder das Problem. Wenn dann konsolidiert werden muss, hat jeder irgendeinen Grund zu sagen: Bei mir jetzt nicht. ********************************* O-Ton 77 Georg Wenzelburger Also empirisch zeigt sich natürlich in der Forschung schon, so in der Tendenz, dass wir so etwas sehen wie einen Wahlzyklus. Also, dass vor den nächsten Wahlen tendenziell eher eine expansive Fiskalpolitik betrieben wird. Autorin Georg Wenzelburger ist Professor für Komparative Europaforschung an der Universität des Saarlandes. Wenzelburger hat solche Zyklen untersucht, insbesondere im Hinblick auf Staatsausgaben im sozialen Bereich - der in vielen Ländern den größten Haushaltsposten darstellt. O-Ton 78 Georg Wenzelburger Wir haben geschaut, inwieweit expandieren eigentlich Regierungen vor Wahlen sozialpolitische Leistungen und kürzen dann wieder danach. Und man sieht in der Tat sozusagen so eine U-förmige Dynamik. Direkt nach Wahlen ist es so, dass Regierungen erstmal ihre sozialpolitischen Versprechen - in der Regel sind die expansiv - erfüllen müssen. Dann geht es sozusagen in das U hinunter. Dann sieht man, dass tendenziell in der Mitte der Legislaturperiode sozialpolitische Leistungen gekürzt werden, zurückgenommen werden, um dann wieder vor Wahlen zu expandieren. Autorin Regelungen wie die Schuldenbremse helfen, diesem Phänomen entgegenzuwirken. Wie Staaten ihre Haushalte aufstellen - und konsolidieren - wie sehr sie sparen oder nicht, das sei auch eine kulturelle Frage, sagt der Politikwissenschaftler. O-Ton 79 Georg Wenzelburger Also ich kann mich sehr gut erinnern an meine Forschungen, auch im Vergleich zwischen Frankreich und Deutschland beispielsweise. Wo mir im Interview mit Lionel Jospin relativ deutlich auch gemacht wurde: Naja, wir haben sozusagen eine andere Art, über Verschuldung nachzudenken als in Deutschland. Da kam schon raus, dass er eben Deutschland sieht als ein Land, das geprägt ist von Inflationsangst. Und das das hat sicher was auch damit zu tun, wie man vielleicht auch bestimmte Erfahrungen gemacht hat in der Geschichte. ********************************* Autorin Belastet uns diese historische Hypothek immer noch? O-Ton 80 Monika Schnitzer Wir sind schon sehr sparsam. Autorin Sagt Monika Schnitzer. Wir dürften uns aber durchaus trauen, davon etwas abzurücken. O-Ton 81 Monika Schnitzer Wir sehen in anderen europäischen Staaten viel höhere Schuldenstandsquoten als bei uns. Die sind teilweise über 100 Prozent. Das ist nicht notwendigerweise etwas, was wir anstreben sollten. Ganz sicher nicht. Aber gleichzeitig sehen wir auch, dass das wirklich einen Spielraum aufzeigt, der doch mehr erlauben kann, als wir momentan uns gestatten. Autorin Wichtig sei vor allem, dass Deutschland jetzt verlässlich zeige, wohin es geht - in welche Infrastrukturen und Bereiche langfristig investiert werde. O-Ton 82 Monika Schnitzer Die Investitionen sind eben auch deswegen so kritisch, weil man nicht Investitionen mal einfach an- und dann wieder abschalten kann. Das ist ganz sicher beim Straßenbau so. Wenn ich sage, mal nach Kassenlage, so viel Geld ist übrig. Jetzt investiere ich erst in den Straßenbau. Dann stelle ich fest: Jetzt habe ich Geld. Aber dann sagt die Wirtschaft: Aber wir haben jetzt keine Kapazität. Wir haben gar nicht so viel Leute, so viel Maschinen, um jetzt noch mal eine extra Straße zu bauen. Was dann passiert ist einfach, die Preise gehen nach oben. Und damit ist das Geld zwar ausgegeben, aber eben nicht sinnvoll. Deswegen ist es ganz wichtig, diese Investitionen zu verstetigen, damit die Privatwirtschaft dann auch die notwendigen Kapazitäten bereithält. Autorin Also nicht nach Kassenlage, sondern nach klar formulierten Plänen investieren - wenn nötig auch schuldenfinanziert. O-Ton 83 Monika Schnitzer Insofern braucht es dafür ganz andere Regeln. Die gibt es bisher noch nicht. Darüber denken wir auch viel nach, wie man diese Regeln finden kann. Denn ohne die richtigen Investitionen kommt auch die Wirtschaft nicht in den Gang, haben wir nicht die Infrastruktur, die wir brauchen. Wir belasten dann auf andere Weise die nächste Generation. Die hat dann vielleicht keine Schulden, aber sie hat auch keine Straßen, die funktionieren, keine Eisenbahn, die funktioniert. Die hat nicht für den Klimaschutz Vorsorge getroffen. All das kann auch nicht im Sinne der nächsten Generation sein. Autorin Lars Feld bleibt skeptisch. Zwar plädiert auch er für mehr zielgerichtete Investitionen - aber bitte ohne hohe Schulden. O-Ton 84 Lars Feld Nun sage ich denjenigen, die vor allen Dingen sich an der Schuldenbremse abarbeiten, dass sie doch zunächst einmal den Schritt wagen sollten, auf der Ausgabenseite Prioritäten zu setzen, dann zwischen Ausgaben und Einnahmen Prioritäten zu setzen. Ich glaube, dass ist das Wesentliche, was man jetzt zu leisten hat, für den Bundeshaushalt 2025 und auch für danach. Autorin Priorisierungen seien sinnvoll, sagt auch Jens Südekum - brächten aber bei weitem nicht den finanziellen Spielraum, den es jetzt bräuchte. O-Ton 85 Jens Südekum Die Tragik in der jetzigen Situation ist: Eigentlich ist es klar, dass es so kommen wird und dass die Schuldenbremse reformiert wird. Aber wir schaffen es eben nicht sofort. Wir müssen jetzt quasi erst mal noch einen Sparhaushalt 2025 verabschieden, obwohl eigentlich alle wissen, dass das falsch ist. Aber wir sind so ineinander verkantet, dass es keinen Ausweg gibt. Also wir rennen so gesehen sehenden Auges in die falsche Richtung, weil wir eine Regel einhalten, von der wir auch wissen, dass es sie in ein, zwei Jahren wahrscheinlich nicht mehr geben wird. Eigentlich nicht vernünftig. Aber das ist so ein bisschen die Realität. Sprecher: Auf der Schuldenbremse. Wie viele Schulden verträgt der Staat? Ein Feature von Vivien Leue. Es sprachen: Judokus Krämer, Katherina Wolter und die Autorin Ton und Technik: Gunther Rose und Caroline Thon Regie Claudia Kattanek Redaktion Wolfgang Schiller Eine Produktion des Deutschlandfunks 2024 2