Hörspiel Feature Radiokunst Das Feature Herr Sejdic und Herr Finci - Bosnien und Herzegowina und die Rechte der Anderen Autor: Zoran Solomun Regie: Philippe Brühl Redaktion: Christiane Habermalz Produktion: Deutschlandfunk 2023 Erstsendung: Dienstag, 21.05.2024, 19.15 Uhr Es sprachen: Lisa Bihl, Bernt Hahn, Wolfgang Rüter, Hüseyin Michael Cirpici und Jean Paul Baeck Ton und Technik: Hendrik Manook, Oliver Danner und Gunther Rose Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar O-Ton 1 Dervo Sejdic OV-Sprecher 2 Ich frage mich, warum ich laut Friedensabkommen von Dayton zu den "Anderen" gehöre. Meine Urgroßväter wurden hier geboren, ich bin Staatsbürger von Bosnien und Herzegowina, ich habe mir meine Rente in Bosnien und Herzegowina als Beamter und Mitglied einer Spezialeinheit der Polizei verdient. Warum bin ich dann ein "Anderer"? Ist es, weil ich weder Bosniake, Kroate noch Serbe bin, sondern ein Rom? O-Ton 2 Jakob Finci OV-Sprecher 1 Im Jahr 2005 verfasste ich einen Brief an die Zentrale Wahlkommission, in dem ich erklärte, dass ich Jude bin und auf dem Territorium der sogenannten Kroatisch-Bosniakischen Föderation lebe. Ich äußerte mein Interesse, für das Amt des Präsidenten des Landes zu kandidieren. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten: Sie lautete: Nein. Atmo 1 Strassenmusiker in Sarajevo. Zitator: Herr Sejdic und Herr Finci - Bosnien und Herzegowina und die Rechte der Anderen. Ein Feature von Zoran Solomun. Erzähler: Bosnien und Herzegowina - ein kleines und armes Land auf dem Balkan, in dem nationale Konflikte und Hass 1992 zur ersten großen bewaffneten Auseinandersetzung in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg führten. Der Krieg dauerte dreieinhalb Jahre und forderte 100.000 Todesopfer. Das Land hat sich bis jetzt noch nicht von seinem schweren Erbe befreit - manchmal hat man den Eindruck, der Krieg sei erst vor wenigen Monaten und nicht vor fast dreißig Jahren zu Ende gegangen. O-Ton 3 Dervo Sejdic OV-Sprecher 2 Wir haben derzeit keine Schießereien, aber wenn Sie die Sicherheit hier und in den Ländern dieser Region realistisch betrachten, ist das sehr besorgniserregend. Erzähler: Dervo Sejdic, Roma Aktivist. O-Ton 4 Jakob Finci OV Sprecher 1 Bosnien und Herzegowina besteht aus zwei Teilen, hat drei konstituierende Nationen, vier Religionen und hundert Probleme. Erzähler: Jakob Finci, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Bosnien und Herzegowina. O-Ton 5 Dervo Sejdic OV-Sprecher 2 Hier resultiert alle Gewalt aus Hassreden - und diese Hassrede ist national gefärbt. Hassrede führt zu Hassverbrechen. Und bei uns nähert sich die Hassrede dem Siedepunkt. Erzähler: Bosnien und Herzegowina hat seit 2020 den Status eines Beitrittskandidaten der Europäischen Union. Ende März 2024 beschloss der Europäische Rat, mit den Beitrittsverhandlungen zu beginnen. Die überwiegende Mehrheit der Einwohner möchte, dass ihr Land der Europäischen Union beitritt. Gleichzeitig herrscht aber auch Resignation - die meisten gehen davon aus, dass dieser Prozess noch Jahrzehnte dauern wird. Das größte Hindernis zwischen Bosnien und Herzegowina und seiner Mitgliedschaft in der Europäischen Union sind Korruption und schlechte interethnische Beziehungen. O-Ton 6 Jakob Finci OV Sprecher 1 In der Präambel unserer Verfassung heißt es, dass es bei uns drei sogenannte konstitutive Nationen gibt - Serben, Kroaten und Bosniaken. Die Übriggebliebenen gehören zu den "Anderen". Erzähler: Um das Gleichgewicht zwischen den drei konstitutiven Nationen irgendwie aufrechtzuerhalten und möglichen Konflikten vorzubeugen, schreiben die Gesetze vor, dass sie die gesamte politische Macht untereinander aufteilen. Das Präsidium an oberster Stelle des Staates besteht aus einem Kroaten, einem Serben und einem Bosniaken. Das Staatspräsidium wird auf vier Jahre gewählt und der Vorsitz rotiert alle drei Monate. Nur Vertreter der drei konstitutiven Nationen - Bosniaken, Serben und Kroaten - können für eine Position im Präsidentenamt kandidieren oder zum Mitglied des Oberhauses des Parlaments, dem sogenannten Haus der Völker, gewählt werden. Seit fast 20 Jahren kämpfen der Jude Jakob Finci und der Roma Dervo Sejdic gegen dieses diskriminierende Gesetz und für eine Änderung der Verfassung. Eine Verfassung, die dem Land von der internationalen Gemeinschaft nach dem Krieg im Friedensvertrag von Dayton aufgezwungen wurde - und die seitdem von nationalistischen Politikern zum eigenen Machterhalt gehütet wird. O-Ton 7 Jakob Finci OV-Sprecher 1 Natürlich: Alles beginnt mit dem Dayton-Abkommen und der Dayton-Verfassung. Erzähler: Jakob Finci ist ein kleiner, lebhafter 80-Jähriger, schnell in seinen Bewegungen und schnell im Denken. Seit Jahren ist er eine zentrale Figur der jüdischen Gemeinde in Bosnien und Herzegowina, ohne dessen Meinung keine wichtige Entscheidung getroffen wird. Er wurde 1943 auf dem Gelände des italienischen Konzentrationslagers Kampor auf der kroatischen Insel Rab geboren. Seinen Eltern gelang es, zusammen mit anderen Lagerinsassen zu fliehen. Nach dem Krieg kehrte die Familie nach Sarajevo zurück. Finci schloss sein Jurastudium dort ab und arbeitete im Außenhandel. Er verbrachte einige Zeit in Äthiopien und Kenia. O-Ton 8 Jakob Finci OV-Sprecher 1 Als uns im November 1995 die Nachricht erreichte, dass der Krieg beendet war und dass das Dayton-Abkommen endlich unterzeichnet wurde, fragte ich die US-Botschaft nach dem Text. Ich erhielt ein Exemplar mit der Bitte, es nicht länger als zwei Stunden zu behalten. In diesen zwei Stunden musste ich einen Ort finden, an dem es Strom gab, einen Kopierer, Toner und Papier. Da war nichts, der Krieg war gerade vorbei. Erzähler: Jakob Finci verbrachte die gesamte Zeit der Belagerung der Stadt, von April 1992 bis Ende 1995, in Sarajevo. Während dieser Zeit war seine jüdische Organisation "La Benevolencija" die einzige humanitäre Organisation, die Hilfe nicht nur an "die eigenen Leute", sondern an Angehörige aller Nationen verteilte. "La Benevolencija" konnte dank Spenden aus aller Welt die Evakuierung der Alten und Kranken organisieren - auf diese Weise konnten mehr als 2.500 Menschen gerettet werden, davon 1.000 Juden und 1.500 Angehörige anderer ethnischer Gruppen. O-Ton 9 Jakob Finci OV-Sprecher 1 Es gelang mir, das Dayton Dokument zu kopieren, wodurch ich den Text des Anhangs 4, die Verfassung von Bosnien und Herzegowina, in Ruhe lesen konnte. Sofort fiel mir auf, dass dort festgelegt ist, dass lediglich ein Serbe aus der Republika Srpska, ein Kroate und ein Bosniake aus der Föderation in das Präsidium gewählt werden können. Gleiches galt für das Haus der Völker, in dem fünfzehn Sitze vorgesehen waren: fünf für Serben aus der Republika Srpska sowie jeweils fünf für Bosniaken und Kroaten aus der Föderation. Kurz darauf organisierte der Jüdische Weltkongress ein Treffen in Jerusalem, bei dem Vertreter der jüdischen Gemeinden des Balkans dem US-Unterhändler in Dayton, Richard Holbrooke, eine Auszeichnung für sein Engagement zur Beendigung des Krieges überreichten. Während des Mittagessens machte ich ihn darauf aufmerksam, dass ich mich laut Verfassung nicht um das Amt des Präsidenten bewerben kann. Obwohl ich ja eigentlich auf der Suche nach einer ehrlichen Arbeit bin, empfinde ich dennoch, dass es mein Recht sein sollte. (!) "Mein Lieber!", erwiderte er, "Du musst mir glauben, es ist nicht gegen dich gerichtet! Das war das erste, worauf sich Miloševic, Tudman und Izetbegovic einigten: die Macht in drei Teile aufzuteilen." Erzähler: Im Jahr 2008 wurde Jakob Finci als Botschafter von Bosnien und Herzegowina in der Schweiz akkreditiert und verbrachte dort vier Jahre. Er wurde unter anderem mit dem deutschen Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet, seine Organisation "La Benevolencija" erhielt die Carl-von-Ossietzky-Medaille. Die Rolle, die Finci in der jüdischen Gemeinde spielt, hat Dervo Sejdic für die bosnischen Roma inne. Sejdic ist Autor zahlreicher Veröffentlichungen zur Lage der Roma, Initiator von vielen Aktionen sowie Gründer mehrerer Nichtregierungsorganisationen. 2009 beteiligte er sich an der Gründung des Kali Sara Roma Information Centers, dessen stellvertretender Präsident er ist. O-Ton 10 Dervo Sejdic OV-Sprecher 2 Im Jahr 2003 organisierte ich einen Runden Tisch zum Thema Verfassung und Wahlrecht in Bosnien und Herzegowina. Dort erklärte ich, dass ich den Staat vor dem Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg verklagen würde, falls Bosnien und Herzegowina nicht innerhalb eines Jahres die Verfassung und das Wahlgesetz ändert und allen Bürgern erlaubt, für das Präsidium und das Haus der Völker zu kandidieren. Erzähler Dervo Sejdic wurde 1956 als drittes von 15 Kindern einer Hausfrau und eines Eisenbahnarbeiters geboren. Er hat die Grundschule abgeschlossen, was für Roma-Kinder auf dem Balkan keine Selbstverständlichkeit ist. Um seine Ausbildung fortzusetzen, musste er ein Internat besuchen, das seinen Schülern eine kostenlose Unterkunft anbot. Es handelte sich um eine Schule des Innenministeriums. 1975 begann er als Straßenpolizist zu arbeiten. Während des Krieges war Sejdic Mitglied einer Spezialeinheit, die für die Sicherheit mehrerer Kommandeure der Armee von Bosnien und Herzegowina verantwortlich war. O-Ton 11 Dervo Sejdic OV-Sprecher 2 Die Roma in Bosnien und Herzegowina werden erstmals im Jahr 1516 erwähnt, als Sultan Selim ihnen gegen Zahlung von Steuern die Besiedlung und Bewirtschaftung des Landes erlaubte. Damals waren Roma als Handwerker bekannt, meist als Schmiede. Wir sind seit dem 14. und 15. Jahrhundert in dieser Gegend ansässig. Über unsere Kultur und unsere Sprache ist jedoch wenig bekannt. Atmo 2 Strassenmusiker in Sarajevo. Erzähler Roma in Bosnien und Herzegowina sowie in allen Ländern des Westbalkans sind massiver Diskriminierung und Rassismus ausgesetzt. Um eine Wohnung mieten oder einen Job bekommen zu können, geben viele von ihnen bei den Volkszählungen an, einer anderen ethnischen Gruppe anzugehören. So ergab die Volkszählung 2013 dass in Bosnien und Herzegowina nur 10.000 Roma leben, obwohl ihre tatsächliche Zahl etwa 40.000 beträgt. O-Ton 12 Dervo Sejdic OV-Sprecher 2 Nur zwischen drei und fünf Prozent der Roma sind erwerbstätig. Die Hälfte verfügt nicht über angemessene Wohnbedingungen. Niemand vertritt die Interessen der Roma im Parlament. Nur in einigen Kantonen verfügen wir über eigene Vertreter. Roma sind das Problem dieses Staates, von dem er aber nichts wissen will. Erzähler: Roma sind die größte der 17 offiziell anerkannten Minderheiten in Bosnien und Herzegowina. Sie sind hauptsächlich Muslime oder in geringerer Zahl orthodoxe Christen. Atmo 3 Strassenmusiker in Sarajevo, Ende. O-Ton 13 Jakob Finci OV-Sprecher 1 Die Stadt Sarajevo wird oft als "Klein-Jerusalem" bezeichnet, insbesondere unter uns Juden. Nur in Jerusalem und Sarajevo gibt es eine orthodoxe Kirche, eine katholische Kirche, eine Moschee und eine Synagoge im Umkreis von 200 Metern, und das hat niemanden gestört. Bis zu diesem letzten Krieg. Über Bosnien und Herzegowina ist es wichtig zu sagen, dass die Kriege hier nie von innen heraus begonnen haben. Niemals. Die Kriege wurden stets von außen importiert. Erzähler Im März 1991 trafen sich der Serbe Slobodan Miloševic und der Kroate Franjo Tudman - an einem sonnigen Nachmittag im Jagdrevier "Karadordevo" im Norden Serbiens. Zu dieser Zeit existierte das sozialistische Jugoslawien immer noch als gemeinsamer Staat, und die beiden waren Präsidenten der föderativen Teilrepubliken Serbien und Kroatien - zwei Republiken von insgesamt sechs. Nationale Konflikte brodelten bereits in verschiedenen Teilen der Jugoslawischen Föderation und die Führer der Teil-Republiken trafen sich häufig, um diese Probleme zu lösen. Das Treffen in Karadordevo wurde der Öffentlichkeit lediglich als eine dieser Krisenkonsultationen präsentiert. Bei seiner Rückkehr nach Zagreb verbarg Präsident Tudman jedoch nicht vor seinen Mitarbeitern, worüber er tatsächlich mit Miloševic gesprochen hatte - nämlich über die Aufteilung der Teilrepublik Bosnien-Herzegowina zwischen Serbien und Kroatien. Tudman träumte von Großkroatien, Miloševic von Großserbien. Beide Ziele konnten nur auf Kosten des zwischen beiden Ländern liegenden Territoriums von Bosnien-Herzegowina umgesetzt werden. O-Ton 14 Žarko Papic OV-Sprecher 3 Als der Krieg 1992 ausbrach, glaubte die internationale Gemeinschaft meiner Ansicht nach nicht daran, dass ein geeintes Bosnien-Herzegowina überleben würde, sondern vielmehr, dass es tatsächlich geteilt werden könnte. Erzähler Žarko Papic, Jahrgang 1947, ist Ökonom aus Sarajevo, Mitglied der Internationalen Akademie der Wissenschaften und Künste von Bosnien und Herzegowina. O-Ton 15 Žarko Papic OV-Sprecher 3 Sowohl im Osten, in Serbien, als auch im Westen, in Kroatien, gab es einen starken Appetit auf Gebietsgewinne in Bosnien-Herzegowina, dennoch blieb das Land erhalten. Ein beträchtlicher Teil seiner Bevölkerung, hauptsächlich Bosniaken, aber auch andere, kämpfte dafür und widerstand der Aggression. Glücklicherweise griffen dann die Amerikaner ein. Erzähler In Bosnien-Herzegowina leben heute nur etwas mehr als 3 Millionen Menschen. Vor dem Krieg waren es 4,5 Millionen, davon 50 Prozent Bosniaken, 30 Prozent Serben und 15 Prozent Kroaten. Bosniaken sind die bosnisch stämmigen Muslime, also Südslawen, die während der osmanischen Herrschaft den muslimischen Glauben annahmen und über Generationen in dieser Tradition aufwuchsen. Von Sommer 1992 bis Anfang 1994 führten gleichzeitig drei Armeen in Bosnien und Herzegowina gegeneinander Krieg - die der bosnischen Serben, die der bosnischen Kroaten und die der Republik Bosnien und Herzegowina, in der mehrheitlich Bosniaken, Muslime kämpften. Die Kräfteverhältnisse waren äußerst ungleich: Die Serben erhielten Unterstützung von Serbien, die Kroaten von Kroatien, aber der Armee der Republik Bosnien und Herzegowina wurde lange Zeit von niemandem geholfen. Anfang 1994 drängten die USA Bosniaken und Kroaten nicht nur dazu, nicht mehr aufeinander zu schießen - sondern sich auch zu einem gemeinsamen Staat zu vereinen! Nur unter großem Druck unterzeichneten die bisherigen Kriegsgegner das sogenannte "Washingtoner Abkommen", mit dem die "Föderation Bosnien und Herzegowina" gegründet wurde. So wurden Kroaten und Bosniaken unter dem Druck der USA über Nacht von Gegnern zu Verbündeten. Ihre Föderation umfasste die Hälfte des Territoriums von Bosnien und Herzegowina. Seit 1994 also kämpften Bosniaken und Kroaten gemeinsam gegen die Serben, gegen die Armee der Republika Srpska, die die andere Hälfte des Territoriums besetzt hielt. Ein Jahr später beschlossen die USA, zu versuchen endlich alle Kriegshandlungen in Bosnien und Herzegowina zu beenden. Die Präsidenten Serbiens, Kroatiens und Bosnien und Herzegowinas, Slobodan Miloševic, Franjo Tudman und Alija Izetbegovic, wurden auf den Stützpunkt der US Air Force Wright-Patterson Base in der Nähe von Dayton, Ohio, eingeladen. Dort wurde ihnen und ihren Teams jeglicher Kontakt zur Außenwelt verboten. O-Ton 16 Jakob Finci OV-Sprecher 1 Nach einer Reihe von Waffenstillständen, die immer wieder verletzt wurden, begannen am 1. November 1995 die Dayton-Verhandlungen. Erzähler Jakob Finci. O-Ton 17 Jakob Finci OV-Sprecher 1 Es wurde vereinbart, in Bosnien und Herzegowina den aktuellen Stand zu akzeptieren und auch formell zwei Verwaltungseinheiten einzurichten: die Bosniakisch-Kroatische Föderation und die Republika Srpska. In Sarajevo wurde das Friedensabkommen mit großer Erleichterung aufgenommen, weil der Krieg endlich beendet wurde. Der damalige Präsident Alija Izetbegovic erklärte, dass es sich nicht um eine faire Vereinbarung handele, sie jedoch besser sei, als den Krieg fortzusetzen und neue Opfer zu haben. Erzähler Das Dayton-Abkommen, das am 14. Dezember 1995 in Paris schließlich unterzeichnet wurde, ist nicht nur ein Friedensvertrag. Neben dem Haupttext enthält es 11 Anhänge. Der vierte dieser Anhänge wurde vollständig als Verfassung des Staates Bosnien und Herzegowina übernommen. Demnach verfügen zwei sogenannte Entitäten - die Republika Srpska und die Föderation Bosnien und Herzegowina - über eigene Exekutiv- und Gesetzgebungsorgane. Die Republika Srpska ist in Regionen unterteilt, die Föderation Bosnien und Herzegowina setzt sich aus zehn Kantonen zusammen, die über eigene Zuständigkeiten verfügen. Daher hat jeder dieser zehn Kantone ein eigenes Parlament und eine eigene Regierung. Auch die Stadt Brcko im Norden des Landes verfügt aufgrund ihrer strategischen Lage über einen Sonderstatus und hat eine eigene Regierung und ein eigenes Parlament. Wenn man die Minister der Bundesregierung, die Regierungen beider Entitäten, die Regierung der Stadt Brcko und alle zehn Regierungen in den Kantonen zusammenzählt, gibt es in Bosnien und Herzegowina mehr als 150 Minister. Viele Expertinnen und Experten für Staatsrecht haben festgestellt, dass das Staatssystem von Bosnien und Herzegowina das komplizierteste auf diesem Planeten ist. O-Ton 18 Dervo Sejdic OV-Sprecher 2 Das Problem ergibt sich aus der Tatsache, dass nur drei Personen über den Inhalt dieses Vertrags entschieden haben. Erzähler sagt Dervo Sejdic. O-Ton 19 Dervo Sejdic OV-Sprecher 2 Wer waren diese drei? Einer von ihnen wurde später wegen Kriegsverbrechen angeklagt, und die anderen beiden hätten das gleiche Schicksal erlitten, wenn sie nicht gestorben wären. Die drei einigten sich grundsätzlich darauf, die Macht in drei Teile aufzuteilen. Und so haben sie einen Frankenstein-Staat geschaffen. Erzähler Die internationale Gemeinschaft, die das politische System in Bosnien und Herzegowina geschaffen hat, vertraute nicht darauf, dass ihre eigene Schöpfung unabhängig funktionieren könnte. Mit der Resolution 1031 des UN-Sicherheitsrates vom Dezember 1995 wurde ein weiteres Amt für Bosnien und Herzegowina eingerichtet: Der Hohe Repräsentant der internationalen Gemeinschaft. Dieser Diplomat überwacht die Umsetzung des Dayton-Abkommens. Dazu erhielt er weitgehende Vollmachten: Er kann gewählte Amtsträger entlassen, Gesetze erlassen und Behörden schaffen. In Bosnien und Herzegowina wird seine Macht oft mit der Macht eines Monarchen verglichen. O-Ton 20 Christian Schmidt Ich bin weder Zar noch Sultan. Mein Amt ist eine Konsequenz des fürchterlichen Krieges und des Genozids in Bosnien und Herzegowina in der ersten Hälfte der 90er-Jahre, des letzten Jahrhunderts. Erzähler Seit August 2021 ist der Hohe Repräsentant der deutsche Politiker Christian Schmidt, Mitglied der CSU, Jahrgang 1957. O-Ton 21 Christian Schmidt Was habe ich vorgefunden? Ich habe gesehen, dass sich etwas entgegen der Erwartung verfestigt hat. Was? Das ist die ethnische Differenzierung, die von den Autoren des Dayton Vertrages, insbesondere von Richard Holbrooke, gedacht war als ein Ansatz eines fairen Ausgleiches zwischen den Ethnien, aber auch zwischen den Menschen, in der Hoffnung, dass sich dann über den normalen Parlamentarismus sozusagen Ergänzungen zu dieser Verfassung, zu den Gesetzen ergeben, die natürlich auch das Recht des Einzelnen im Sinn haben. Erzähler Im Jahr 2006 reichten Sejdic und Finci unabhängig voneinander Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein. Die beidern Verfahren wurden von der Großen Kammer zu einem zusammengezogen unter dem Titel "Seijdic und Finci gegen Bosnien und Herzegowina". Erzähler Diskriminiert werden nicht nur Minderheiten wie Juden und Roma, sondern auch alle, die sich weigern, sich in eine der ethnischen Kategorisierungen einzuordnen. O-Ton 24 Jakob Finci OV-Sprecher 1 Früher, in Jugoslawien, war die nationale Zugehörigkeit nicht sehr wichtig, aber heute muss man beispielsweise in einigen kroatischen Kantonen bei der Geburt die ethnische Zugehörigkeit und Religion des Kindes angeben. So wird bereits vor der Taufe des Kindes "katholisch" eingetragen. Ich frage mich, kann ein Baby katholisch sein, bevor es getauft wird? (!) Atmo 4 Gottesdienst in der Synagoge. Erzähler In Bosnien und Herzegowina gibt es heute offiziell insgesamt fünf Prozent, die zu den "Anderen" gehören. Unter ihnen befindet sich auch die kleine Gruppe bosnischer Juden. O-Ton 25 Jakob Finci OV-Sprecher 1 Nach ihrer Vertreibung aus Spanien im Jahr 1492 kamen spanische Juden nach Bosnien und Herzegowina. Am Anfang war es eine 100 Prozent sephardische Gemeinschaft. Die erste jüdische Gemeinde in Sarajevo wurde 1565 gegründet. Hier befand sich das Osmanische Reich, und die Juden wurden gut aufgenommen. Da sie zuvor in Andalusien mit Muslimen zusammengelebt hatten, fiel es ihnen nicht schwer, sich anzupassen. Als Bosnien 1878 nach dem Berliner Kongress Teil Österreich-Ungarns wurde, wanderten auch deutsche, aschkenasische Juden ein. In Sarajevo gab es zu Beginn des 20. Jahrhunderts mehr Synagogen als katholische und orthodoxe Kirchen zusammen. Im Zweiten Weltkrieg wurden 9.000 der 12.000 Juden Sarajevos im Holocaust getötet. Während des letzten Krieges verließen etwa 1000 Juden Sarajevo. Unsere Gemeinschaft ist drastisch geschrumpft. Von 1995 bis 2005 wurden in der jüdischen Gemeinde nur zwei Babys geboren. Dann bekamen wir in zwei Jahren 14 Babys. Ein echter Babyboom. (!) Atmo 5 Gottesdienst in der Synagoge. O-Ton 25 weiter Insgesamt gibt es in Sarajevo heute sechs Synagogen, davon fünf sephardische und nur eine aschkenasische - aber diese ist die am besten erhaltene und die einzige, in der wir heute zu Gott beten, wiederum auf eine besondere, bosnische Art - nämlich: nach sephardischem Ritual in der aschkenasischen Synagoge. Atmo 6 Gottesdienst in der Synagoge Ende. O-Ton 26 Slaven Kovacevic OV-Sprecher 4 In der Verfassung von Bosnien und Herzegowina ist die ethnische Zugehörigkeit die wichtigste Kategorie. Es wird nicht nach Nationalität, sondern nach Ethnie unterschieden. Erzähler Slaven Kovacevic, Berater für Außenpolitik des kroatischen Mitglieds des Staatspräsidiums. Jahrgang 1972. O-Ton 27 Slaven Kovacevic OV- Sprecher 4 In den USA leben mehr als hundert ethnische Gemeinschaften - Italiener, Iren, Deutsche, Spanier, Japaner, Chinesen - aber ihrer Nationalität nach sind sie alle Amerikaner. In Europa ist es genauso. Sowohl in Frankreich als auch in Deutschland gibt es verschiedene ethnische und religiöse Gemeinschaften. Aber sie sind alle Franzosen oder Deutsche. Hier in Bosnien und Herzegowina aber gibt es keine bosnisch-herzegowinische Nation. Gott bewahre! Es gibt nur Bosniaken, Serben und Kroaten. Sie sind die sogenannten konstitutiven Völker. Die Kammer der Völker wird im Einvernehmen der politischen Parteien gebildet. Also nicht bei den Wahlen! Obwohl dieser Teil des Parlaments nicht in freien Wahlen gewählt wird, verfügt er über gesetzgebende Gewalt. Er macht Gesetze. Und ich wiederhole: Niemand hat ihn gewählt. So etwas kommt nirgendwo auf der Welt vor. O-Ton 28 Jakob Finci OV-Sprecher 1 Beim Gericht in Straßburg gingen fast gleichzeitig zwei Klagen in derselben Sache ein - von mir und von Herrn Sejdic. Der Entscheid der Großen Kammer ist sofort rechtskräftig und kann nicht angefochten werden. O-Ton 29 Dervo Sejdic OV-Sprecher 2 Nach einer Anhörung zog sich das Gericht zurück und verkündete das Urteil für den 22. Dezember 2009. Außer den Richtern war ich der Einzige im Gerichtssaal. Mein Anwalt war auf Reisen, mein Kollege Finci wurde gerade zum Botschafter in der Schweiz ernannt und konnte nicht kommen, auch seine Anwälte waren beschäftigt. Als also die 19 Richter kamen und das Urteil verlesen wurde, war ich der Einzige, der es anhören konnte. Das Gericht erklärte die Verfassung von Bosnien und Herzegowina natürlich für diskriminierend und ordnete an, sie mit der Europäischen Menschenrechtskonvention in Einklang zu bringen. Es gab keinen glücklicheren Menschen als mich. Ich fühlte mich wie ein Gewinner! Ich erlebte, wie das hohe Richtergremium des Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg das Urteil verlas, in dem ich gegen den Staat Bosnien und Herzegowina gewonnen habe. Ich, ein Zigeuner. O-Ton 30 Jakob Finci OV-Sprecher 1 Mehr als 14 Jahre sind vergangen, und bis heute hat sich nichts geändert. Wir hatten Wahlen in den Jahren 2010, 2014 und 2018. Alle diese Wahlen wurden entgegen der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte durchgeführt. O-Ton 31 Christian Schmidt Ich muss zu meinem Bedauern feststellen, zu meinem großen Bedauern, dass dieses Urteil des europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bis heute leider mit keinem Jota umgesetzt worden ist. Erzähler Christian Schmidt, der Hohe Repräsentant für Bosnien und Herzegowina. O-Ton 32 Das ist unerträglich. Es ist unerträglich, und wir stellen dabei fest, dass bei aller Komplexität der Situation die politische Klasse oder große Teile der politischen Klasse in Bosnien und Herzegowina ihren Auftrag noch nicht richtig verstanden haben. Es geht nicht darum, den Vorteil für seine eigene Volksgruppe zu suchen, sondern es geht darum, die wesentlichen Dinge gemeinsam zu besprechen. O-Ton 33 Jakob Finci OV-Sprecher 1 Das Parlament erklärte, dass es offensichtlich sei, dass sich die Abgeordneten nicht einigen könnten. Und schlug vor, dass sich die Vorsitzenden der Parlamentsparteien, von denen es damals zwischen sechs und acht gab, zusammensetzen und zu einer Einigung kommen sollten. Wenn sich die Vorsitzenden der Parteien einigen würden, sagten die Parlamentarier, würden sie darüber abstimmen, und bestätigen, was ihnen befohlen werde. Und dann hielten die Vorsitzenden der Parteien eine ganze Reihe von Treffen ab. Sie besuchten alle guten Hotels und Restaurants in Bosnien und Herzegowina. Unsere Politiker sind sehr gesellige Leute. (!) Normalerweise nahm auch jemand aus dem Büro des Hohen Repräsentanten an diesen Treffen teil, um zu helfen. Um uns aus der Sackgasse zu befreien, erschien dann auch noch der tschechische Diplomat Štefan Füle, damals EU-Kommissar für Erweiterung, um sich zu engagieren. Daraus wurde ein echtes internationales Treffen in sehr guten Restaurants. (!) Wo immer die Europäische Kommission tagte, gingen auch die Vorsitzenden unserer Parlamentsparteien hin, nach Budapest, nach Athen, nach Warschau. Doch es gelang ihnen nicht, sich zu einigen. O-Ton 34 Dervo Sejdic OV-Sprecher 2 Der erste Fehler bestand darin, dem Parlament von Bosnien und Herzegowina den Vorgang zu entziehen. Denn nur dort hätte diese Diskussion stattfinden sollen. Nicht in Brüssel, nicht in Straßburg und schon gar nicht in Kneipen, sondern im Parlament von Bosnien und Herzegowina. Ein weiterer Fehler von Herrn Füle war, dass er zu den Sitzungen immer und nur Mitglieder der sogenannten Konstituierenden Völker eingeladen hat: Bosniaken, Kroaten und Serben. Er hat uns, Angehörige nationaler Minderheiten, nie in das Gespräch einbezogen. Ich habe diesbezüglich mehrmals der amerikanischen Regierung geschrieben und es im direkten Kontakt mit dem amerikanischen Botschafter hier in Bosnien und Herzegowina zur Sprache gebracht. Also, was ist passiert? Das Ergebnis war, dass der amerikanische Botschafter hier in Sarajevo ein Arbeitsessen mit uns, die wir Bosnien und Herzegowina verklagten, und mit den Vermittlern organisierte. Und es stimmte, was mein Kollege Finci sagte: Ein Arbeitsessen ist, wenn man weder isst noch arbeitet. O-Ton 35 Slaven Kovacevic OV-Sprecher 4 An der Spitze der drei großen ethnischen Gemeinschaften in Bosnien und Herzegowina stehen Führer, die über enorme politische Macht verfügen. Erzähler Slaven Kovacevic. Obwohl er Berater des kroatischen Vertreters im Präsidium von Bosnien und Herzegowina ist, sieht er die Lage sehr kritisch. O-Ton 36 Slaven Kovacevic OV-Sprecher 4 Diese Führer entscheiden über die Besetzung politischer Ämter, über Arbeitsplätze und verwalten die Finanzströme. Sie sind sogar in der Lage, sich selbst gerichtlichen und polizeilichen Schutz zu verschaffen, da sie durch die Besetzung von Positionen direkten Einfluss auf die Justiz und sogar die Polizei nehmen. Würden die Entscheidungen des Straßburger Gerichtshofs umgesetzt, müssten diese Anführer ethnischer Gemeinschaften auf eine enorme Konzentration politischer Macht verzichten. Sie müssten ihre Macht auf ein demokratisch akzeptables Maß reduzieren, dem sie nicht zustimmen werden. Wer könnte von jemandem mit unbegrenzter Macht erwarten, dass er sagt: Jetzt werde ich diese Macht halbieren? Erzähler Bosnien und Herzegowina lag 2023 auf dem Korruptionsindex in Europa auf einem der letzten Plätze - hinter der Ukraine und nur knapp vor der Türkei und Russland. O-Ton 37 Zarko Papic OV- Sprecher 3 Nach dem bewaffneten Konflikt begann eine neue Phase - die der nationalistischen Oligarchien. Für sie dient der Nationalismus vor allem der Kontrolle der eigenen Bevölkerung und deren hemmungsloser Ausbeutung. Deshalb brauchen sie eine ständige Konfliktsituation: Spannungen und Angst der eigenen Leute vor den anderen. Erzähler: Sagt der Ökonom Žarko Papic. Und so sieht es auch Dervo Sejdic. O-Ton 38 Dervo Sejdic OV-Sprecher 2 Ethnonationalistische Rhetorik funktioniert bedauerlicherweise sehr gut in dieser zerrissenen Gesellschaft und ermöglicht es den Führungskräften, an der Macht zu bleiben. Sobald jedoch das Rechtssystem von Bosnien und Herzegowina gemäß den Standards der Europäischen Union funktioniert, werden diese Führer allesamt hinter Gittern sein. Für mich sieht es jetzt so aus, als gäbe es mit den Politikern, die wir haben, nur eine Lösung - die biologische. Wir müssen warten, bis sie aussterben. Erzähler Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg im Fall Sejdic-Finci ermutigte fünf weitere Bürgerinnen und Bürger in Bosnien und Herzegowina, zu klagen. weil die Verfassung sie daran hindere, für ein Amt im Präsidium oder für das Oberhaus des Parlaments zu kandidieren. Alle fünf gewannen ihre Prozesse. Am Ende klagte auch noch Slaven Kovacevic. Erzähler Das Straßburger Gericht verordnete dem Parlament von Bosnien und Herzegowina, die Verfassung zu ändern - was erneut nicht geschah. O-Ton 40 Christian Schmidt Die internationale Gemeinschaft muss und wird natürlich mit der politischen Klasse verhandeln. Der Druck ist schon ausgeübt worden. Der Druck geht ja übrigens auch die Frage an mich, Herr Hoher Repräsentant Schmidt, was haben sie denn getan oder was können sie tun? Und da muss ich in meinen Kompetenzen her manchmal ein klein wenig das einordnen. Enttäuschen fast. Ich kann nicht die Verfassung, die in Dayton geschrieben worden ist, verändern. O-Ton 41 Jakob Finci OV-Sprecher 1 Der Hohe Repräsentant kann sagen: "Sie halten sich nicht an die Vorschriften!" Er kann auch Politiker absetzen. Es gab solche Fälle in der Vergangenheit. Er kann jedoch den Anhang 4, der unsere Verfassung ist, nicht ändern. Das liegt in unserer Hand. Es wurde uns überlassen. Wenn wir uns einigen, können wir schreiben, was wir wollen. Solange wir uns nicht einigen, werden wir die Dayton-Verfassung so beibehalten, wie sie ist.. O-Ton 44 Slaven Kovacevic OV-Sprecher 4 Hier in Bosnien und Herzegowina wurde Dayton nie übersetzt. Im Abkommen steht, dass es ins Bosnische übersetzt werden soll, aber die Politiker konnten sich nicht darauf einigen, ob es nur in diese eine Sprache oder in alle drei übersetzt werden soll. Erzähler Der Streit ist umso absurder, da die Unterschiede zwischen den drei Sprachen Bosnisch, Serbisch und Kroatisch eigentlich minimal sind. Bis 1995 hieß die Sprache noch Serbokroatisch und war offizielle Amtssprache, bis jede Volksgruppe ihre eigene Sprache für sich reklamierte. Auf der Website des Verfassungsgerichts von Bosnien und Herzegowina findet man jetzt eine inoffizielle Übersetzung der Verfassung - und zwar in alle drei Sprachen. In diesen drei "Übersetzungen" wird offensichtlich versucht, künstlich Unterschiede zu schaffen - oft werden für einen Begriff verschiedene Synonyme verwendet, obwohl alle drei ethnischen Gruppen diese Synonyme verwenden. Die Behauptung, dass es sich um drei Sprachen handelt, führt im täglichen Leben zu absurden Blüten: So steht zum Beispiel auf Zigarettenpackungen dreimal der gleiche Satz: Rauchen tötet, Rauchen tötet und Rauchen tötet. Zweimal in der lateinischen und einmal in der kyrillischen Schrift. Jeder oder jede kann frei entscheiden, welcher dieser drei Sätze nun die eigene Muttersprache darstellt. O-Ton 45 Žarko Papic OV-Sprecher 3 Erstens: Der Anhang 4 des Dayton-Friedensabkommens, also die Verfassung von Bosnien und Herzegowina, wurde nie offiziell in eine der lokalen Sprachen übersetzt. Zweitens - und das ist ein noch viel ernsteres Problem: Dieses Abkommen wurde nie vom Parlament von Bosnien und Herzegowina ratifiziert. Das ist, gelinde gesagt, ungewöhnlich. Auf die Frage, warum das so ist, ist es sehr schwer, eine Antwort zu finden. Erzähler Die Rechtsunsicherheit, das Misstrauen gegenüber Institutionen, die Korruption, die Arbeitslosigkeit und die noch immer tiefen Kriegstraumata in Bosnien und Herzegowina kommen den nationalistischen Führern zupass. Jahrzehntelang haben sie sich mit populistischen Parolen und Hassreden an der Macht gehalten. Eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union dagegen ist für die Nationalisten bedrohlich. Deshalb unterstützt etwa Milorad Dodik, der Präsident der Republika Srpska, einer der beiden Entitäten Bosniens, offen Russlands Präsidenten Putin: In diesem Bündnis sieht er die Zukunft seines Landesteils - und seiner Macht. Es liegt also auch in europäischem Interesse, dass Bosnien und Herzegowina bald in die EU integriert wird. Doch ohne Unterstützung wird dieses Land kaum in der Lage sein, der Europäischen Union beizutreten. Die erste sogenannte Beitrittskonferenz soll erst organisiert werden, wenn Bosnien und Herzegowina bislang nicht erfüllte Reformauflagen umgesetzt hat. Ein Teil der Politiker im Land aber blockiert genau diese Reformen. Dazu gehört auch das Urteil im Fall Sejdic und Finci gegen Bosnien und Herzegowina, das seit über einem Jahrzehnt nicht umgesetzt wird. Dervo Sejdic und Jakob Finci wollen dennoch nicht aufgeben. O-Ton 46 Jakob Finci OV Sprecher1 Ich hoffe, dass am Ende dieser attraktive Kuchen namens Europäische Union doch so gut duftet, dass er die notwendigen Veränderungen in diesem Land auslöst. Zitator: Herr Sejdic und Herr Finci - Bosnien und Herzegowina und die Rechte der Anderen. Ein Feature von Zoran Solomun. Es sprachen: Lisa Bihl, Bernt Hahn, Wolfgang Rüter, Hüseyin Michael Cirpici und Jean Paul Baeck. Ton und Technik: Hendrik Manook, Oliver Danner und Gunther Rose Regie: Philippe Brühl Redaktion: Christiane Habermalz Eine Produktion des Deutschlandfunks 2024. 2