Hörspiel Feature Radiokunst Das Feature Frau, Mutter, Mörderin - Die Kriminalisierung der Abtreibung in Polen Autorinnen: Maike Jebens und Agnieszka Pröfrock Regie: Dörte Fiedler Redaktion: Christiane Habermalz Produktion: Deutschlandfunk 2024 Erstsendung: Dienstag, 23.04.2024, 19.15 Uhr Es sprachen: Bettina Kurth, Rike Schuberty, Anne Müller, Anastasia Gubareva, Lea Ostrovskiy, Toni Jessen, Timo Weisschnur Ton: Jan Fraune und Andreas Stoffels Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - O-Ton 01 Joanna (polnisch) OV Sprecherin 01 Ich bin nicht in der Lage, ein zweites Mal 20 Jahre mit einem behinderten Kind zu leben. Das schaffe ich nicht. Um die Ungewissheit auszuhalten, hatte ich mir einen Notausgang geschaffen. Dieser Notausgang sah so aus: Wenn ich ein behindertes Kind zur Welt bringe, nehme ich das Baby in den Arm und werfe mich mit ihm vor den Zug. O-Ton 02 Magda (polnisch) OV Sprecherin 02 Für polnische Ärzte bin ich kein Mensch. Ich bin "Die, die noch nicht geboren hat". So stand es auf meiner Krankenkarte am Bett: "Nierodka". Das heißt: Die, die noch keine Kinder bekommen hat. Das bedeutet: dass wir ihr niemals die Gebärmutter und die Eierstöcke entfernen werden, selbst wenn es ihr Leben gefährden würde. Darum geht es. Zitator Frau, Mutter, Mörderin. Die Kriminalisierung der Abtreibung in Polen. Ein Feature von Maike Jebens und Agnieszka Pröfrock. Autorin 1 (Agn.) Izabela aus Pszczyna, einer Kleinstadt in Schlesien, im September 2021. Eine junge Frau, Mutter einer kleinen Tochter. Izabela ist in der 22. Schwangerschaftswoche, als ihre Fruchtblase platzt. Zu früh, der Fötus in ihrem Bauch ist noch nicht lebensfähig. Sie kommt ins Krankenhaus. Am nächsten Tag ist sie tot. Gestorben an einem septischen Schock. Aus dem Krankenhaus schrieb sie noch eine SMS an ihre Mutter. Zitatorin Wegen des Abtreibungsgesetzes muss ich mich vorerst hinlegen. Sie sagen, sie können nichts tun. Sie werden warten, bis es stirbt oder eine Fehlgeburt einsetzt, und wenn nicht, muss ich mit einer Sepsis rechnen. Autorin 1 Izabela geht es immer schlechter, sie bekommt hohes Fieber. Wenn die Fruchtblase platzt, können Keime in die Gebärmutter eindringen und eine Infektion verursachen.Doch die Ärzte zögern, wagen es offenbar nicht, die Schwangerschaft abzubrechen, um ihr Leben zu retten. So zumindest sehen es Frauenrechtlerinnen und Zehntausende Frauen, die nach Izabelas Tod auf die Straße gehen. "Das Abtreibungsgesetzt tötet Frauen", skandieren sie, und: "Keine einzige mehr!" Atmo 03 Protest Izabela, Sprechchöre "ani jednej wiecej" Atmo 04 Stimmen auf Demonstrationen OV Sprecherin 03 Iza war eine Mutter, eine Tochter, eine Ehefrau, eine Schwester, eine Freundin. Sie war eine von uns. O-Ton 03 Demonstrantin OV Sprecherin 04 Die Hauptverantwortung liegt bei der PIS Partei. Es ist dieses dramatische, es ist dieses schreckliche, skandalöse, unmenschliche Gesetz, und sie, die dafür verantwortlich sind, tragen auch die volle Verantwortung für das, was mit den Frauen geschieht. Autorin 2 (Maike) Nach acht Jahren Regierungszeit der rechtskonservativen Partei "Recht und Gerechtigkeit", "Prawo i Sprawiedliwos´c´", kurz PIS, hat Polen eines der restriktivsten Abtreibungsgesetze Europas. Einzig bei Gefahr für die Gesundheit und das Leben der Frau oder nach einer Vergewaltigung darf eine Schwangerschaft abgebrochen werden, letzteres auch nur bis zur 12. Woche. Ärzten, die illegale Abtreibungen vornehmen, drohen bis zu drei Jahre Haft. Erst 2020, ein Jahr vor Izabelas Tod, hatte das polnische Verfassungsgericht entschieden, dass eine Abtreibung selbst bei kranken oder missgebildeten Föten, die bis dahin noch erlaubt, war, gegen das Recht auf Leben und somit gegen die Verfassung verstoße. Seitdem müssen Frauen auch schwerst geschädigte und nicht überlebensfähige Babys zur Welt bringen. Denn, so der Vorsitzende der Regierungspartei PIS, Jaroslaw Kaczynsky: dann könnten diese Kinder wenigstens noch katholisch getauft und beerdigt werden. Ein Verfassungsgericht, deren Richter alle, bis auf einen, von der PIS-Partei berufen worden sind. Atmo 05 Proteste nach dem Urteil Es war mitten in der Pandemie, die Regierung rechnete nicht mit großen Protesten gegen die Entscheidung. Doch Hunderttausende gingen damals in ganz Polen gegen die Verschärfung des Abtreibungsgesetzes auf die Strasse. Es kam zu tumultartigen Szenen im Parlament zwischen Abgeordneten der Opposition und der Regierungsbank. Kirchenaustritte häuften sich, Frauen belagerten den Sejm, das Parlamentsgebäude. Kaczynski sah angesichts der Proteste Kirche und Vaterland in Gefahr. O-Ton 04 Kaczynski OV Sprecher 01 Ich rufe alle Mitglieder der Partei Recht und Gerechtigkeit und alle, die uns unterstützen, auf, sich an der Verteidigung der Kirche zu beteiligen. Zur Verteidigung dessen, was heute angegriffen wird. Dieser Angriff ist ein Angriff zur Zerstörung Polens, ein Angriff, der zum Triumph von Kräften führen soll, deren Macht im Wesentlichen die Geschichte der polnischen Nation beenden wird. Autorin 2 Nach dem Fall Izabela werden weitere Fälle von Schwangeren bekannt, die an einer unbehandelten Sepsis starben. Ihre Namen: Justyna, Marta, Agnieszka, Anna, Dorota. Kaczynski und die PIS Partei sehen keinen Zusammenhang zwischen den Todesfällen und der Gesetzesänderung. Ursache sei ärztliches Versagen. O-Ton 05 Kaczynski OV Sprecher 01 Das Urteil des Verfassungsgerichts ändert nichts amSchutz des Lebens und der Gesundheit der Frau. Diese Behauptung ist ein propagandistischer Missbrauch. Autorin 2 Dann, im Oktober 2023 geschah das Unerwartete. Die PiS verlor in einem knappen Rennen die Parlamentswahlen. Oppositionsführer Donald Tusk erhielt zwar weniger Stimmen, doch gemeinsam mit der Linken und dem christlich-konservativen Bündnis: "Der Dritte Weg" errang er die Mehrheit. O-Ton 06 Tusk: OV Sprecher 02 Ich war noch nie in meinem Leben so glücklich über diesen vermeintlichen zweiten Platz. Polen hat gewonnen, die Demokratie hat gewonnen. Wir haben ihnen ihre Macht entzogen. Autorin 2 Den Sieg hatte das Oppositionsbündnis vor allem den Frauen zu verdanken. Die Liberalisierung der Abtreibung war eines seiner zentralen Wahlkampfversprechen. Die Wahlbeteiligung war mit 74,4% so hoch wie schon seit über 30 Jahren nicht mehr. 74,7% der Frauen gaben ihre Stimme ab, mehr als je zuvor. Der Großteil der Neu-WählerInnen wählte die Links-Partei, die mit dem klarsten Legalisierungsversprechen beim Thema Abtreibung angetreten war. O-Ton 07 Wiktoria OV Sprecherin 05 Ich möchte in einem Land leben, in dem ich ein Kind sicher abtreiben kann und mich später nicht schuldig fühlen und einem Arzt erklären muss, warum ich es getan habe. Wo ich entscheiden kann, ob mein Leben oder das des nicht geborenen Kindes wichtiger ist. Autorin 2 Doch erste Dämpfer für die Hoffnungen der Frauen lassen nicht lange auf sich warten. Der amtierende Präsident und PIS Sympathisant Andrej Duda blockiert lange die Regierungsbildung. Als die neue Regierung schließlich antreten kann, kommt im Koalitionsvertrag das Thema Abtreibung nicht vor, die Koalitionspartner konnten sich auf kein Vorgehen einigen. Das konservative Bündnis "Der Dritte Weg" bremst. Für die Frauen ändert sich erst einmal - nichts. Musikakzent O-Ton 08 Ewa (polnisch) OV Sprecherin 06 Seit einem Jahr sind wir verheiratet. Nach der Hochzeit wollten wir ein zweites Kind und nach neun Monaten hatten wir im Juni Erfolg. Wir waren froh, dass es endlich geklappt hatte. Autorin 1 Ewa. Wir treffen sie und ihren Mann Mirek in einem Hotelzimmer in Breslau. Das sind die Namen, die wir ihnen gegeben haben. Sie sind vorsichtig, haben Angst, wegen ihrer Abtreibungsgeschichte denunziert zu werden. Sie leben in einer Kleinstadt in der Nähe, da wird schnell geredet. Darum kommen sie zum Gespräch mit uns lieber an einen neutralen Ort. Sie sind Ende 20 und haben eine dreijährige Tochter. Sie freuen sich auf ein Leben zu viert. In der 12. Woche geht Ewa zu einer Routineuntersuchung bei einem Kassenarzt. O-Ton 09 Ewa (polnisch) OV Sprecherin 06 Der Arzt sagte, dass in diesem Stadium alles in Ordnung ist. Noch vor der Untersuchung fragte er mich, ob ich einen Termin für einen pränatalen Test gemacht hätte? Als er von mir hörte, dass ich einen Termin hatte, sagte er nur, dass es sich lohnt, diese Tests zu machen. Und, na ja, dann ging er weiter zu diesem Ultraschall. Und das war das Ende des Termins. Autorin 1 Vier Tage später gehen sie zusammen zu einem Privatarzt. Sie möchten einen genaueren Ultraschall und ein Drei-D Bild von ihrem Kind haben. Der Arzt schaut kurz auf den Monitor und fragt sofort wann ihre letzte Untersuchung war. O- Ton 10 Ewa (polnisch) OV Sprecherin 06 Ich antworte, vor vier Tagen. Und dann sagte er uns, dass unser Baby eine Reihe von Auffa¨lligkeiten habe. Autorin 2 Nachdem Ewa und Mirek von den Defekten ihres Kindes erfahren haben, fragen sie als erstes nach Heilungsmo¨glichkeiten. Gibt es irgendetwas, was man tun kann, um das Kind zu retten? O-Ton 11 Ewa (polnisch) OV Sprecherin 06 Er sagte uns, dass es nicht heilbar ist. Es ist ein genetischer Defekt. Und dass das Kind entweder wa¨hrend der Schwangerschaft oder direkt nach der Geburt stirbt. Aber die schlimmere Situation wäre, wenn es im Bauch sterben würde. Denn dann kann es zu einer Sepsis kommen, die schlicht und einfach mein Leben bedrohen kann. Autorin 1 Sie haben Angst. Der Privatarzt erklärt ihnen, dass in Polen eine Abtreibung aus gesundheitlichen Gründen, die laut Gesetz legal ist, auch bei psychischen Problemen der Mutter möglich sei. Dafür bräuchten sie ein psychiatrisches Attest. Und es gäbe natürlich die Möglichkeit einer Abtreibung im Ausland. Am nächsten Tag gehen sie zu einem dritten Arzt in einem Krankenhaus in Breslau. O-Ton 12 Ewa (polnisch) OV Sprecherin 06 Er sagte, wir sollen zuerst zu einem Genetiker gehen und einen Test machen, um herauszufinden, warum es diese Mängel gibt. Ich habe gefragt: "In welcher Woche finden diese Tests statt?" Er sagt: "In der fünfzehnten Schwangerschaftswoche." Ich: "Bis zu welcher Woche kann man im Ausland eine Abtreibung durchführen lassen?" "Äh", sagt er, "wahrscheinlich bis zur fünfzehnten." Jetzt ging in meinem Kopf ein rotes Licht an. Worüber reden wir? Was passiert hier in diesem Gespräch? Autorin 1 Ewa fragt ihn nach der Abtreibung aus Gründen der psychischen Gesundheit. Er meint, dass ein Psychiater, der so ein Attest ausstellt, sich wahrscheinlich vor einem Ärzterat erklären müsse. Bei ihnen im Krankenhaus würden sie solche Eingriffe jedenfalls nicht vornehmen. O-Ton 13 Ewa (polnisch) OV Sprecherin 06 Nach diesem Besuch fühlte ich mich, als ob alles auseinandergefallen ist. Ich bin auseinandergefallen in diesem Moment. Wir waren damit alleine gelassen worden. Wie sollten wir das bewältigen? Anstatt zu trauern, weil das Kind, das wir schon so lange erwartet hatten, nicht bei uns sein wird, mussten wir gegen das System ankämpfen. (stilles Weinen) Autorin 2 Abtreibung aus Gründen der psychischen Gesundheit der Mutter ist bis zur 12. Schwangerschaftswoche mit entsprechendem Attest erlaubt. Dennoch akzeptieren viele Krankenhäuser diese Atteste nicht. Sie lassen die Frauen zu mehreren Psychiatern gehen. Fordern Bestätigungen von höheren Instanzen. Und verweigern die Abtreibung dann trotzdem. Der Druck aus Kirchenkreisen, Politik und anderen konservativen Kräften ist enorm. Autorin 1 Nach der Begegnung mit dem dritten Arzt haben Ewa und Mirek Zweifel, dass ihnen in Polen noch geholfen werden wird. Sie misstrauen den Ärzten. Haben Angst, dass die Ärzte im Zweifel das Leben des ungeborenen Fötus über das von Ewa stellen würden. Dass ihr das Gleiche zustoßen könnte wie Izabela. Sie recherchieren im Internet und fahren schließlich nach Deutschland für eine Abtreibung. Nach drei Minuten ist der Eingriff vorbei. O-Ton 16 Ewa OV Sprecherin 06 Abgesehen von der Erleichterung nach dem Eingriff, hatte ich das Gefühl, dass ich endlich um dieses Kind trauern konnte. Denn für mich war es nicht nur ein Fötus, wie es die Mediziner ausdrücken. Sondern für mich, für uns, war es ein Kind. Ein Wunschkind. Ja, so kam dann eine Zeit der Trauer. O-Ton 17 Aleksandra Margryta (polnisch) OV Sprecherin 08 Nach der Entscheidung, dass Abtreibungen aus embryopathologischen Gründen illegal sind, sind unglaublich viele Frauen zu uns gekommen. Jeden Tag erhalten wir unzählige Anrufe. Wir bearbeiten mehrere Tausend Fälle pro Jahr. Autorin 2 Aleksandra Margryta arbeitet bei der Stiftung "Federacji na Rzecz Kobiet i Planowania Rodziny", kurz FEDERA. Die FEDERA unterstützt und berät Frauen bei der Familienplanung und Verhütung, wo der Staat nur einseitig oder gar nicht informiert. Wie Ewa und Mirek suchen viele verzweifelte Polinnen Hilfe im Ausland. Es gibt keine offiziellen Zahlen, aber "Abortion without boarders", ein Zusammenschluss feministischer Organisationen, berichten von weit über 5000 Abtreibungen im Ausland, die allein mit ihrem Hilfsnetzwerk zugänglich gemacht wurden. Demgegenüber beläuft sich die Zahl legaler Abtreibungen in polnischen Krankenhäusern auf wenige hundert. O-Ton 18 Aleksandra Margryta (polnisch) OV Sprecherin 08 Generell gilt in Polen immer noch ein großes Tabu, wenn es um einen Schwangerschaftsabbruch geht. Einige der Frauen, die uns anrufen, trauen sich nicht einmal das Wort "Abtreibung" auszusprechen. Aus Angst, dass die Polizei, das Telefon abho¨rt und an die Tu¨r klopft. O-Ton 19 Aleksandra Margryta (polnisch) OV Sprecherin 08 Die Frauen haben seitens des Staates keinen Zugang zu sachlichen und wahren Informationen u¨ber den Schwangerschaftsabbruch. Schließlich ist beispielsweise die Selbstabtreibung mit Pillen zu Hause in Polen eine legale Methode; u¨ber die das Gesundheitsministerium aber nicht schreibt. Auch wenn die Weltgesundheitsorganisation seit Jahren wiederholt, dass es eine sichere Methode sei und empfohlen werde. Autorin 2 Ein selbst herbeigeführter Schwangerschaftsabbruch ist in Polen bis zur 22. Schwangerschaftswoche für die Mutter nicht strafbar. Die Beihilfe dagegen schon. Das einzige, was Hilfsorganisationen wie FEDERA daher legal tun können, ist informieren. Das Vertreiben der Pillen ist illegal in Polen. Wer sie an Frauen verkauft, sie ihnen besorgt, oder ihnen auch nur bei der Einnahme beisteht kann, laut Artikel 152 Strafgesetzbuch, wegen Beihilfe zur Abtreibung, mit bis zu drei Jahren Haft bestraft werden. Und so müssen sich die Frauen der Situation alleine stellen. Atmo 06 Begrüßung Agnieszka, Maike, Oliwia (deutsch) A: Agnieszka M: Maike O: Hallo Maike M: Hallo, freut mich A: und das ist (Poln) O: Möchten Sie Kaffee, Tee? M: Kaffee gern Autorin 1 Oliwia. Wir treffen sie in einer Wohnblocksiedlung am Breslauer Stadtrand. Es ist nicht leicht für sie, es ist erst das zweite Mal, dass sie über ihre Abtreibung spricht. Oliwia war in der fünften Woche. Die A¨rzte hatten ihr gesagt, sie ko¨nne keine Kinder bekommen. Sie hatte gerade eine Trennung hinter sich und es ging ihr nicht gut. Plo¨tzlich war sie schwanger. Nach einem One Night Stand. Mit ihrer Familie über ihre Situation, überhaupt über körperliche Dinge oder Sex zu sprechen, war unmöglich. O-Ton 20 Oliwia (polnisch) OV Sprecherin 09 Ich hatte nicht viele Freunde oder genug soziales Vertrauen, um jemanden direkt um Hilfe zu bitten. Ich habe einen Beitrag auf Facebook gepostet, in dem ich so getan habe, als wu¨rde ich im Namen einer jungen Freundin schreiben. Weil ich Angst hatte, verurteilt zu werden. Autorin 1 Über Facebook findet Oliwia schließlich eine entfernte Bekannte, die Abtreibungspillen für ihre angebliche Freundin hat. Als Oliwia sie trifft, um die Pillen abzuholen, vertraut sie ihr schließlich doch an, dass sie für sie selbst sind. Die Frau ra¨t ihr, sie nicht alleine einzunehmen. Sie bietet Oliwia an, bei ihr zu bleiben, bis das Schlimmste vorbei ist. O-Ton 22 Oliwia (polnisch) OV Sprecherin 09 Ich war auf das, was passieren wu¨rde, überhaupt nicht vorbereitet. Ihre Wohnung war furchtbar dreckig und roch sehr schlecht. Ihre beiden Söhne waren auch da. Und viele Tiere. Also: Stell dir vor, du bist allein in einem engen, schmutzigen, muffigen Badezimmer, irgendwo weit weg von zu Hause. Du hast Durchfall, musst dich sta¨ndig u¨bergeben und blutest. Du schwitzt sehr stark (Pause, Schlucken, zitteriger Atem). Es gab Momente, in denen ich all diese Symptome gleichzeitig und so intensiv hatte, dass ich mich fragte, ob ich einen Krankenwagen rufen soll. Aber ich tat es nicht. Weil da jemand war, der wusste, dass das alles normal war. Es fühlte sich an, als ob ich immer wieder kleine Stu¨ckchen Leber geba¨ren wu¨rde, die zu lange in der Sonne lagen. Es war eine traumatische und widerliche Erfahrung. (Pause, Atmen) O-Ton 23 Oliwia (polnisch) OV Sprecherin 09 Und es dauerte ein paar Stunden. Außer meiner Gebärmutter bluteten auch mein Gehirn und mein Herz. Ich weiß immer noch nicht, ob das eine gute Entscheidung war. Ich habe immer noch ein moralisches Dilemma. Was, wenn das die einzige Möglichkeit war, dass ich im Leben nicht allein und einsam bin. Ich fühlte mich, wie in einer emotionalen und physischen Jauchegrube. Autorin 1 Die Frau gibt ihr Wechselkleidung und Hygieneartikel. Fa¨hrt sie am nächsten Tag nach Hause. Oliwia steigt aus dem Auto, blutet immer noch. Spu¨rt, wie ihr ein kleines Stu¨ckchen Gewebe am Bein entlang hinabrutscht. Sie sagte uns später: mit diesem Stu¨ckchen Gewebe, rutschte ihr letztes bisschen Wu¨rde an ihr herab auf die Strasse. Musik O-Ton 24 Czarnek OV Sprecher 03 "Der erste grundlegende Zweck und die Funktion der Familie ist die Fortpflanzung. Die Tiere wissen das, die Wildschweine in den Büschen wissen es, und wir wissen es nicht. Wir haben den Selbsterhaltungstrieb als Spezies verloren, um nicht zu sagen als Christen. Und vor allem die Frauen haben ihn verloren. Autorin 2 Der PiS-Politiker und spätere Bildungsminister Przemyslaw Czarnek fand 2020 deutliche Worte. Für die sinkende Geburtenrate machte er die Emanzipationsbestrebungen der polnischen Frauen verantwortlich. O-Ton 25 Czarnek OV Sprecher 03 Erst die Karriere, dann vielleicht ein Kind. Das sind die Folgen, wenn man einer Frau erklärt, dass sie nicht das tun muss, wozu Gott sie berufen hat" Autorin 2 Denn die Frauen weigern sich offensichtlich, die ihr von PiS und Kirche zugedachte Rolle anzunehmen. Die Geburtenrate in Polen ist so niedrig, wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Laut Statistischem Zentralamt ist in den letzten sechs Jahren die Anzahl der Geburten um 30% gesunken. Polinnen entscheiden sich immer später oder gar nicht für Kinder. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Die wirtschaftliche Situation und persönliche Freiheit spielen eine Rolle. Aber immer stärker auch die Angst der Frauen vor kranken Babys und schlecht betreuten Schwangerschaften, die Angst ums eigene Leben. Der Vorsitzende der Regierungspartei PIS, Jaroslaw Kaczynski hat eine eigene Erklärung. O-Ton 26 Kaczinsky OV Sprecher 01 Ob Frauen sich entscheiden, Kinder zu bekommen oder nicht, hängt in hohem Maße von materiellen Faktoren ab, aber auch von kulturellen Faktoren. Und hier muss man mal ein wenig offen über einige bittere Dinge sprechen. Wenn Frauen unter 25 Jahren so viel saufen wie ihre männlichen Kollegen, wird es keine Kinder geben. O-Ton 28 Magda (polnisch) OV Sprecherin 02 Frauen haben in Polen keine Rechte. Keine. Es ist, als sei die Gebärmutter für Frauen in Polen zum Fluch geworden. Ihr gesamtes Leben wird von diesem einen Organ bestimmt. Sogar mein Vater stellte mir, als ich ihm sagte, dass ich keine Kinder haben wollte, die Frage: Warum lebst du dann überhaupt? Ich sagte: Papa, sag nicht sowas, was würdest du machen, wenn sich herausstellt, dass ich keine Kinder bekommen kann? Autorin 1 Magda. Sie ist eine Kämpferin und Aktivistin der ersten Stunde. Mit ihrem kleinen weißen Dacia Sandero hat sie uns mit aufs Land genommen. Hier lebt sie zur Zeit, nach einer schwierigen Trennung, notgedrungen bei ihrem Vater. Er ist PIS-Anhänger. Wir sitzen auf der Terrasse, es ist heiß. Ihr Vater, in einem weißen Feinrippunterhemd, beäugt unser Gespräch aus der Ferne. Auf Magdas pinkem T-Shirt steht: Milos´c´, wolnos´c´, ro´wnos´c´, Liebe, Freiheit, Gleichheit. O-Ton 29 Magda (polnisch) OV Sprecherin 02 Die Tatsache, dass wir in Polen keine legale Abtreibung haben ko¨nnen, ist eine Sache, aber wir haben hier auch keine reproduktiven Rechte. Selbst wenn eine lebensbedrohliche Krankheit vorliegt, und es eine Frau retten wu¨rde, wenn ihre Periode unterbunden würde. Die Ärzte entscheiden sich, es nicht zu tun. Autorin 1 Magda leidet unter Endometriose. Bei dieser Krankheit wuchert die Gebärmutterschleimhaut auch außerhalb der Gebärmutterhöhle. Kann zyklisch an und abschwellen und bluten. Betroffene leiden häufig unter starken Schmerzen, besonders während ihrer Periode. O-Ton 30 Magda (polnisch) OV Sprecherin 02 Schon als junges Mädchen hörte niemand auf mich. Dass ich stechende Schmerzen verspüre, als hätte mir jemand eine dicke Nadel in den Nabel gesteckt. Ich habe mich furchtbar geschämt. Von Gynäkologen hörte ich: Deiner Mutter tat es weh, also wird es auch Dir weh tun. Autorin 1 Regelschmerzen hätten schließlich alle. "Taka Twoja Uroda" sagt man im Polnischen. "Das ist deine Scho¨nheit". Jahrelang ka¨mpfte sie um medizinische Hilfe. Als die Krankheit endlich diagnostiziert wird, wird ihr empfohlen, ein Kind zu bekommen. Das helfe bei Endometriose. Immer wieder wird Magda ausgeschabt und operiert. Immer wieder breitet sich das Gewebe aus. Verzweifelt fragt sie einen der operierenden A¨rzte nach Optionen. O-Ton 31 Magda (polnisch) OV Sprecherin 02 "Was kann man tun, damit ich mich nicht jedes Jahr einer Operation unterziehen muss? Wu¨rde mir die Entfernung der Eiersto¨cke helfen, oder der Geba¨rmutter? Ich habe mich gerade angezogen, und er sagt zu mir, "Bitte verlassen Sie den Raum". Ich war total perplex. Er sagte: "Sie stellen mir Fragen, die mir zehn Jahre einbringen wu¨rden." Das ist nicht wahr, ihm drohen nicht zehn Jahre, wenn er mein Leben rettet. Autorin 1 Die Fortpflanzungsorgane der Frauen, sagt Magda, seien in Polen fremdbestimmt. O-Ton 32 Magda (polnisch) OV Sprecherin 02 Auch Sterilisation ist in Polen nicht erlaubt. Weil wir nicht Eigentu¨mer unserer Geba¨rmutter sind. Wir ko¨nnen nicht entscheiden. Aber jeder Mann kann sich einer Vasektomie unterziehen. In jeder Klinik. An jeder Ecke gibt es eine Vasektomie. Zitator Artikel 156 des Strafgesetzbuches § 1: Jeder, der eine schwere Beeintra¨chtigung der Gesundheit verursacht, namentlich der Zeugungsfa¨higkeit einer Person, ist mit einer Freiheitsstrafe von mindestens einem bis zu zehn Jahren zu bestrafen. Autorin 2 Dieser Artikel findet allerdings nur in Bezug auf die weibliche Zeugungsfa¨higkeit Anwendung. Ma¨nner ko¨nnen ihre Fruchtbarkeit jederzeit unterbinden. Sterilisationen dagegen werden von Gyna¨kologen vermieden oder gar verweigert. Auch hier bleibt vielen Frauen nur der Weg ins Ausland. Zum Beispiel ins brandenburgischen Prenzlau, zu Dr. Maria Kubisa. O-Ton 33 Kubisa (deutsch) Ja, aber selbstverständlich. Es sind Frauen, die zum Beispiel nach 3 Kaiserschnitten sind und jede nächste Schwangerschaft kann eine Lebensbedrohung bedeuten, und die dürfen das in Polen nicht machen. Deshalb kommen die zu mir. Viele kommen ganz früh nach einer Entbindung, sich sterilisieren lassen. Aber es kommen auch Frauen, die gar keine Kinder haben und die sagen, in dem Land wollen wir auch keine haben. Gestern war auch eine 25 jährige. Autorin 2 Die Gynäkologin Maria Kubisa ist gebürtige Polin und arbeitet drei Tage die Woche in Prenzlau, als leitende Ärztin der Gynäkologie im dortigen Kreiskrankenhaus. Zusätzlich betreibt sie Montags, nur eine Autostunde entfernt im polnischen Stettin, eine kleine private Frauenarztpraxis. Viele polnische Frauen reisen zu ihr nach Prenzlau, um dort Eingriffe vornehmen zu lassen, die ihnen in Polen verwehrt werden. Auch Abbrüche bis zur 14. Schwangerschaftswoche führt sie durch. In den letzten drei Jahren fühlt sie sich in Stettin regelrecht verfolgt. Kreuze und Rosenkränze vor der Tür. Drohungen, anonyme Denunziationen. O-Ton 34 Kubisa Mein Kollege, mit dem ich in Prenzlau arbeite, der will die Schwangerschaftsabbrüche gar nicht machen, weil er Angst hat. (..) er wohnt in Stettin. Er hat zwar keine Praxis, aber er wohnt hier und er hat wirklich Angst. Sie können ihn fragen. M: Er hat Angst, dass er, wenn er in Prenzlau Abtreibungen durchführt, hier in Stettin unter Druck gesetzt wird? K: Ja. Klar, Autorin 2 Pro life Organisationen üben Druck auf Ärzte und Krankenhäuser aus, mit der Rückendeckung von Politik und Kirche. Sie ziehen auch gegen Verhütungsmittel zu Felde. In einem Land, in dem schon die Spirale von der Kirche als "permanente Abtreibung" gebrandmarkt wird, wird die "Pille danach" erst recht verdammt. In einem Webinar erklärt Wojciech Zieba von der "Polnischen Vereinigung der Verteidiger des menschlichen Lebens": O-Ton 35 Wojciech Zieba OV Sprecher 04 "Welche Folgen hätte die Einführung der "Pille danach" ohne Rezept? Zunächst einmal wird das Alter der sexuellen Initiation gesenkt. Eine Zunahme von Gelegenheitssex und sexuell übertragbaren Krankheiten. Zunahme von Sexualdelikten an Kindern und Erleichterung von deren Vertuschung. Gesundheitliche Probleme für Tausende von Mädchen, weil sie diese Pillen wie Drops schlucken werden. Glauben Sie, dass ein junges Mädchen die Pille nur einmal im Monat schlucken wird? Ich habe ernsthafte Bedenken. Ich denke, eher nach jedem Geschlechtsverkehr." Autorin 2 Ein großes Problem ist laut FEDERA die sogenannte "Gewissensklausel". Die Klausel ermächtigt den Arzt, Gesundheitsleistungen zu unterlassen, die nicht mit seinem Gewissen vereinbar sind. Immer wieder beziehen Ärzte sich darauf. Zum Beispiel, um das Ausstellen eines Rezepts für hormonelle Verhütung zu verweigern. So haben schon Erwachsene in Polen Probleme, Zugang zu Verhütungsmitteln zu bekommen, ganz zu schweigen von Teenagern. Autorin 1 Verhüten ist schwer. Abtreiben noch schwerer. Nach dem Willen des Staates sollen Familien mit zum Teil schwer behinderten und ungewollten Kindern leben. Wie werden sie vom Staat unterstützt, fragen wir Aleksandra Magryta von FEDERA. O-Ton 36 Aleksandra Magryta OV Sprecherin 08 Ich kenne viele solcher Beispiele, in denen Familien mit behindertem Kind auf sich allein gestellt sind. Sie bekommen eine Unterstützung, aber nur wenige Hundert Zloty. Es besteht auch die Möglichkeit, dass ein Elternteil nicht arbeitet und dann für die Betreuung des erkrankten Kindes knapp über 2.000 Zloty, also etwa 500 Euro, erhält, was so wenig ist, dass es gegen alle Standards verstößt. Auch müssen diese Familien sehr lange auf medizinische Unterstützung warten. Autorin 1 Außerdem gäbe es zu wenig Einrichtungen, zu wenige Familienassistenten, zu wenig in allen Bereichen. Auch Priester Tomasz Kancelarczyk von der Pro-Life Stiftung "Fundacja Malych Stopek", "Stiftung kleine Füße", die sich gegen Abtreibung engagiert, sind diese Probleme bekannt. O-Ton 37 Tomasz Kancelarczyk (polnisch) OV Sprecher 05 Ich sage nie, wenn man ein Kind zur Welt bringt, erst recht nicht, wenn es zum Beispiel krank ist, dass es einfach wird. Ich sage, dass es sehr schwierig sein wird. Dass es etwas Hartes sein wird. Aber man wird es nie bereuen! O-Ton 38 Priester Kancelarczyk OV Sprecher 05 Deutschland kann die wenigen Überlebenden gut behandeln. Aber auf der anderen Seite tötet es behinderte Menschen, damit ihm keine Kosten entstehen. Ich denke, es ist gut, dass wir in Polen nicht töten dürfen. Aber leider ist Polen, ich möchte nicht sagen, es ist arm. Wir haben nicht die gleichen finanziellen Möglichkeiten. O-Ton 39 Joanna (polnisch) OV Sprecherin 01 Wir geben vor, dass etwas getan wird, aber es wird nichts getan. Wir würden es als Gesellschaft am liebsten sehen, dass behinderte Menschen nicht rausgehen. Dann ruinieren sie nicht unsere Instagram-Bilder. Das ist meine Überzeugung. Zugang zu Medizin, zu Rehabilitation, zu einem würdigen Leben, zu Bewegungsmöglichkeiten, zu Mobilität. Das alles spielt keine Rolle. Diese Menschen haben nur ein formales Recht da zu sein. Nur auf dem Papier. Punkt. Mehr nicht. Autorin 2 Joanna. Sie trifft ein hartes Urteil über die Behindertenfreundlichkeit des polnischen Staates. Wir treffen sie in Klodzko, einer malerischen Bergstadt in Niederschlesien. Joanna ist mit einem schwer behinderten Bruder aufgewachsen. Ihr Mutter war mit der Pflege überfordert, der Vater Alkoholiker. Unterstützung gab es kaum. Joanna und ihre Schwester waren zwölf und neun Jahre alt, als sie die Pflege für Ihren Bruder übernehmen mussten. Ihn füttern und wickeln. Seine epileptischen Anfälle überwachen. Ihn mehr als einmal wiederbeleben. Autorin 2 Als er mit 23 stirbt, hat Joanna bereits eine eigene Familie. Ihre Tochter ist 12. Zwei Jahre später bringt sie noch ein Mädchen zur Welt. Sie wird keine Stunde alt. Die Ärzte haben ihre Missbildungen bei den Vorsorgeuntersuchungen nicht bemerkt. Erfolglos versuchen die Ärzte zu intubieren. Milanas Luftröhre ist mit der Speiseröhre verwachsen. Sie erstickt. Vier Jahre später, als Joanna eigentlich keine weiteren Kinder will, wird sie zum dritten Mal schwanger. Erste Untersuchungen zeigen Auffälligkeiten. O-Ton 41 Joanna OV Sprecherin 01 Ich hatte schreckliche Angst. Ich hatte niemanden, dem ich vertrauen kann. Die Ärzte sagen, es sei alles in Ordnung, und ich sage: Leck mich doch, damals war es auch in Ordnung. Ich sage: Herr Gott, hilf mir. Aber du hast mir dieses Kreuz gegeben. Wer soll mir sagen, dass alles gut wird? Autorin 2 Sie denkt an ihren Bruder, ihre tote Tochter. Sie fühlt sich nicht in der Lage, das noch einmal durchzumachen, noch einmal mit einem behinderten Kind zu leben. Darum entscheidet sie sich für einen Plan B, ihren Notausgang. O-Ton 42 Joanna OV Sprecherin 01 Dieser Notausgang sah so aus: Wenn ich ein behindertes Kind zur Welt bringe, nehme ich das Baby in den Arm und werfe mich mit ihm vor den Zug. Es ist so ein Gefa¨ngnis, es ist die Ho¨lle. Ich kann es einfach nicht. Ich fahre lieber in die Ho¨lle, aber zu meinen eigenen Bedingungen. Autorin 2 Joanna ist gläubige Katholikin, dennoch beteiligt sie sich an den Aktionen des Nationale Frauenstreiks "Strajk Kobiet". Seit acht Jahren mobilisieren sie und ihre Mitstreiterinnen Protestmärsche für die Rechte der Frauen. O-Ton 43 Joanna OV Sprecherin 01 Ich bin keine Befürworterin der Abtreibung und meine Kolleginnen vom Frauenstreik wissen das, weil ich es nie verheimlicht habe. Warum beteilige ich mich also an solchen Streiks? Weil ich daran glaube und zutiefst davon überzeugt bin und möchte, dass es ein allgemeingültiges Gesetz ist, dass Frauen wissen, was sie tun. Autorin 2 Auch Magda geht für das Recht aller Frauen auf Selbstbestimmung auf die Straße. Sie war von Anfang an dabei. Regelmäßig sind die Frauen dabei den Repressionen der Polizei ausgesetzt. O-Ton 44 Magda (polnisch) OV Sprecherin 02 Die Polizei ist sehr aktiv. Im Internet gibt es Aufnahmen, in denen Polizisten in Zivil mit Gummiknüppeln in eine Gruppe von Frauen stürmen und sie verprügeln. Das sind schreckliche Szenen. Sie setzen auch Gas ein. Oder sie haben Frauen von der Straße mitgenommen und auf eine Wache am anderen Ende der Stadt gebracht. Sie hatten keine Möglichkeit zu telefonieren. Der Slogan "Zieh deine Uniform aus, entschuldige dich bei deiner Mutter" kam nicht von Ungefähr. Autorin 2 Der staatliche Kampf gegen die Abtreibung nehme mittlerweile krankhafte Züge an, erzählt Magda. O-Ton 45 Magda OV Sprecherin 02 Eine Frau erleidet eine Fehlgeburt auf der Toilette, während ihr Kind vor der Tür weint und versucht, reinzukommen. Sie schneidet die Nabelschnur mit einer Schere durch, die sie im Badezimmer hat. Sie steht selbst unter Schock, aber sie will nicht, dass das Kind etwas sieht. Sie hat die Nabelschnur durchtrennt, aber die Plazenta ist noch nicht abgegangen, also ruft sie den Krankenwagen. Die Staatsanwältin ordnet den Stadtreinigungsdienst an, die Klärgrube zu entleeren und zu suchen, was in die Toilette gefallen ist. Als sie nichts finden, verlangt sie, den Inhalt durch ein Sieb zu pumpen, um zu sehen, ob sich Überreste finden. Aber die Stadtreinigung weigerte sich. Autorin 2 Die Frau, Ola, war in der 18. Schwangerschaftswoche. Eine Rettungssanitäterin hat den Fall der Polizei gemeldet. Noch während sie im Krankenhaus ist, werden Beweise gesammelt und ihr Mann verhört, um herauszufinden, ob er sie illegal zu einer Abtreibung überredet hat und ob es Helfer gab, die ihnen etwa die Tabletten besorgten. Obwohl nichts gefunden wird, wird ein Verfahren eingeleitet. Ola und ihr Mann werden wie Kriminelle behandelt, nachdem sie ein Kind verloren haben. Erst fünf Monate später wird das Verfahren aus Mangel an Beweisen eingestellt. Atmo 07 Handyaufnahme von den Protesten vor dem KH OV Sprecher 06 Im Bezirkskrankenhaus in Olesnica ermorden Ärzte Kinder mit Down-Syndrom! Sie morden aufgrund sogenannter psychiatrischer Indikation der Mutter! Autorin 1 Olesnica. Eine ruhige, kleine, sehr grüne Stadt. 30 km hinter Breslau. "Die Stadt der tausend Türme". Das Bezirkskrankenhaus, ein schlichter Plattenbau, steht im Fokus von Pro-Life-Aktivisten, weil hier legale Abtreibungen durchgeführt werden. O-Ton 46 Jagielska (polnisch) OV Sprecherin 09 Abtreibung ist nur ein Bruchteil dessen, was wir hier auf unserer Station tun. Frauen kommen für viele Dinge zu uns, die ihnen anderswo verweigert werden. Autorin 1 Gizela Jagielska ist Gynäkologin, ihr Mann Leiter der gynäkologischen Abteilung in Olesnica. Sie legen hier Wert auf moderne Geburtshilfe und selbstbestimmte Geburt. Auch bei Abtreibungen versuchen die Ärzte in Olesnica den medizinischen Standard zu heben. Denn moderne Absauggeräte, wie sie etwa in Deutschland verwendet werden, sind in Polen nicht erhältlich. Außerdem fehle das medizinische Wissen. O-Ton 47 Jagielska (polnisch) OV Sprecherin 09 Das wurde uns einfach nicht beigebracht. Ich hatte es weder während meines Studiums, noch wurde es mir während meiner Spezialisierung an einer Universitätsklinik beigebracht - eine solche Tradition gab es in Polen nicht. Über Abtreibung wurde überhaupt nie gesprochen. Autorin 1 Ungefähr 1800 Geburten werden sie dieses Jahr betreuen und ca. 120 Abtreibungen. Einmal pro Woche stehen die Abtreibungsgegner vor dem Krankenhaus mit riesigen Bannern. Darauf grausige Bilder von zerrissenen Fo¨ten. Acht Stunden lang to¨nt es aus Lautsprechern. Dr. Gizela Jagielska, spielt uns eine Aufnahme davon auf ihrem Handy vor. Atmo 08 Handyaufnahme Agnieszka darüber: "Die A¨rztin Gizela Jagielska gibt zu, dass auf der Station Babys ins Herz injiziert wird, damit sie nicht lebend zur Welt kommen!", skandieren die Menschen. Und: "Abtreibung ist Mord, To¨te nicht!" Autorin 1 Die Ärztin Gizela Jagielska steht im Zentrum dieser Anfeindungen. Auf riesigen Billboards an der Stadteinfahrt wurde sie namentlich als Abtreiberin angeprangert. O-Ton 48 Gizela Jagielska (polnisch) OV Sprecherin 09 Vor etwa drei Wochen war es so heiß, dass es nicht mehr auszuhalten war. Wir mussten das Fenster öffnen. Als sie das Soundsystem einschalteten, hat es mich sehr irritiert. Ich ging zu meinem Auto und spielte Musik vom Radio, um es zu u¨berto¨nen. Sie riefen die Polizei. Die kam und stellte einen Antrag, mich fu¨r die Sto¨rung einer legalen Demonstration zu bestrafen. Ich musste als Angeklagte zur Verhandlung gehen. Autorin 1 Ist das der Grund, warum so viele andere Krankenha¨user keine Abtreibungen mehr durchfu¨hren, selbst wenn sie rechtlich zulässig wären? Zuviel Druck der Abtreibungsgegner, zu wenig juristische Unterstu¨tzung? O-Ton 49 Gizela Jagielska (polnisch) OV Sprecherin 09 Zum Teil liegt es an der Gewissensklausel. Teils liegt es am Druck der Oberärzte, teils am Druck der Krankenhausleitung. Oft liegt es auch daran, dass in Polen viele Krankenha¨user einen Träger haben, zum Beispiel das Kreisamt, daher kommt der Druck. Es ist kompliziert. Einige Ärzte haben jetzt noch mehr Angst und wollen mit den pro LIFE-Organisationen nichts zu tun haben. Sie mo¨chten zum Beispiel nicht so eine Situation wie wir sie jetzt hier haben. Atmo 10 Handyaufnahme (Wiederholung) Autorin 2 Im Januar 2023 bekommt auch die Ärztin Maria Kubisa in Stettin überraschend Besuch. Ihre kleine Privatpraxis liegt in einer ruhigen Wohngegend. Sie hält Sprechstunde, wie jeden Montag. Ein paar Frauen sind im Wartezimmer. Plötzlich stürmen bewaffnete Beamte des Antikorruptionsbu¨ros an den wartenden Frauen vorbei in ihren Behandlungsraum. Der Schock ist der Ärztin noch 9 Monate später anzumerken. Atmo 10 In der Praxis Kubisa: (...) auf einmal kamen die Ma¨nner und zwei Frauen und ging auf mich los, (...) Und da stand der eine, der eine hier vor mir (...) dass ich die Unterlagen geben soll. Computer und mein Handy und alles ne und ich war so schockiert. (...) die waren alle bewaffnet Autorin 2 6000 Patientenakten, ihr Laptop, ihr Handy, ihr Notizbuch mit Passwörtern und Telefonnummern, alles wird in Sa¨cke gestopft und mitgenommen. Atmo 11 In der Praxis Kubisa: (...) Ich hab das noch nicht alles in Ordnung gebracht, weil ich, ich bin so wirklich, ich weiß nicht ob ich hier weiter arbeiten werde oder nicht, das kann man nicht wissen was mit mir weiter ist. Autorin 2 Eine Ihrer langjährigen Patientinnen wird sofort aktiv, als sie von dem Vorfall erfährt. Sie mobilisiert andere Patientinnen, postet auf Social Media, organisiert Demonstrationen. Es dauert nicht lange, bis der Fall Kubisa durch die Medien geht. Als Reaktion darauf bekommt Kubisa zumindest die Patientenakten zuru¨ck. Allerdings nicht vom Antikorruptionsbüro, das sie beschlagnahmt hat, sondern von der Polizei. Durch wessen Ha¨nde gingen die vertraulichen Dokumente? Wer schaute sich auf seinem Handy Fotos von ihren Patientinnen auf WhatsApp an? Wo bleiben die Patientenrechte? Der Datenschutz? Die a¨rztliche Schweigepflicht? O-Ton 50 Kubisa (deutsch) Und ich weiß auch nicht, ob ich alles zurück bekam. Manchmal kommen Patienten, Frauen auch und fragen, wo ist meine Krankenakte (...) Und die sind jetzt besorgt, dass das irgendwie gegen sie verwendet wird. Autorin 2 Angegriffen wurde sie in Stettin, doch sie vermutet, dass ihre Arbeit im Prenzlauer Krankenhaus der eigentliche Grund für die Durchsuchung war. O-Ton 51 Maria Kubisa (deutsch) Bin mir sicher, dass die auch an die Akten der Patienten kommen wollten, die ich in Prenzlau untersucht habe und operiert habe. Und das, dieses Heft haben die mir auch weggenommen. Atmo 12 Bei Magda. Nachrichten laufen. Autorin 1 Ende Februar 2024 besuchen wir Magda noch einmal. Sie wohnt jetzt in einem kleinen Häuschen auf dem Grundstück ihres Vaters. Vier Monate sind seit dem Regierungswechsel in Warschau vergangen. Ununterbrochen laufen die Nachrichten. Sie ist überarbeitet. Und wütend. O-Ton 53 Magda (polnisch) OV Sprecherin 02 Nach den Wahlen hat sich absolut nichts an der Situation der Frauen geändert. Abtreibung ist immer noch verboten. Wir haben keinen Zugang zu Notfallverhütungsmitteln. Nur eins hat sich verändert, die Finanzierung der In-vitro-Befruchtung wurde eingeführt. Autorin 1 Sie kommt nicht zur Ruhe. Wie auch FEDERA und andere Frauenrechtsorganisationen. Alle haben das Gefühl: Jetzt ist der Zeitpunkt, jetzt müssen sie die Veränderung bewirken. O-Ton 54 Magda (polnisch) OV Sprecherin 02 Frauen mit toten Schwangerschaften oder solchen, bei denen es keine Chance auf eine gesunde Geburt gibt, werden weiter abgewiesen. Wenn jetzt eine Schwangere im Krankenhaus stirbt, ist es nicht die Schuld der PiS. Jetzt ist die neue Regierung schuld. Autorin 1 Die Koalition hat mit den Stimmen der Frauen die Wahlen gewonnen. Mehr als die Hälfte der polnischen Bevölkerung möchte rezeptfreie Notfallverhütung und die Legalisierung der Abtreibung. Doch der Dritte im Bunde der Koalition, das konservative Bündnis "Der Dritte Weg", will allenfalls die Abtreibung bei Defekten des Fötus wieder zulassen. Und der amtierende Präsident Duda, ehemaliges PIS- Mitglied, blockiert ohnehin alles mit seinem Veto. Bis 2025 ist er noch im Amt. O-Ton 55 Magda (polnisch) OV Sprecherin 02 Sowohl Holownia als auch Kamysz vom Dritten Weg sind erklärte Katholiken. Sie werden also im Einklang mit ihren religiösen Überzeugungen handeln. Außerdem sind in Polen die Männer der Meinung, dass sie besser Bescheid wissen als die Frauen. Auch was Geburt, Vergewaltigung oder Abtreibung betrifft. Das Patriarchat und die Vermischung von Religion und Staat sind tief in der polnischen Mentalität verankert. Autorin 1 Noch immer ist der umstrittene Artikel 152 in Kraft, der Beihilfe zur Abtreibung unter Strafe stellt. Und damit Ehemänner, Freunde, Familienmitglieder, Frauenrechtsorganisationen und auch Ärzte kriminalisiert, die versuchen, Frauen, die eine Abtreibung wünschen, beizustehen. Schließlich wurde auch Dr. Kubisa, nach Artikel 152 Strafgesetzbuch der Hilfe zum Schwangerschaftsabbruch in sechs Fällen angeklagt. O-Ton Kubisa (polnisch) OV Sprecherin 10 Wir haben bisher nur schriftliche Aussagen von Patientinnen erhalten, die illegal vorgeladen wurden. Sie wurden mit den Nummern aus meinem Notizbuch angerufen. Sie wurden eingeschüchtert. Keine der Patientinnen erhielt eine schriftliche Aufforderung, um keine Spuren zu hinterlassen. Das ist also tatsächlich eine Verfolgung von Frauen, ich weiß nicht, in welchem Ausmaß. Autorin 1 Die Frauen werden von der neuen Regierung hingehalten. Immer sind andere Themen dringlicher. Die Politik will die nächsten Kommunalwahlen abwarten. Aber die Frauenrechtsbewegungen werden ungeduldig. O-Ton 56 Magda (polnisch) OV Sprecherin 02 Wir fangen wieder an wütend zu werden. Und wir werden wieder auf die Strasse gehen. Die Wochen, die wir der Regierung gegeben haben, um sich zurechtzufinden und die Abtreibung einzuführen, sind vorbei. Sie haben uns im Stich gelassen. Sie haben uns verärgert. Und sie werden unseren Ärger zu spüren bekommen! 3