Hörspiel Feature Radiokunst Das Feature "Die Heiligen sind wir" Harald Poelchau - Gefängnispfarrer in Tegel und Plötzensee 1933 -1945 Autorin: Anna Panknin Regie: Thomas Wolfertz Redaktion: Marcus Heumann, Wolfgang Schiller Produktion: Deutschlandfunk 2022 Erstsendung: Dienstag, 20.07.2004, 19.15 Uhr Wiederholung: Dienstag, 23.07.2024, 19.15 Uhr Es sprachen: Daniel Berger, Gregor Höppner, Elenor Holder, Sibylle Kuhne, Volker Risch und Ilse Strambowski Ton und Technik: Ingeborg Kiepert und Jutta Stein Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Sprecher Poelchau: Die Hinrichtung geschah am 8. August 1944. Ich war gegen den Willen des Volksgerichtshofs erschienen. Es ging so plötzlich, dass man nicht Zeit fand, mich zu entfernen. So konnte ich an diesem Tage die Verurteilten noch rasch sprechen. Um die hohen Offiziere zu demütigen, hatte man sie mit alten Strickjacken und Zuchthaushosen bekleidet. Ich sehe noch Generalfeldmarschall von Witzleben vor mir, der sich Mühe geben musste, seine viel zu weiten Hosen mit den gefesselten Händen festzuhalten. O-Ton Poelchau: Nach der ersten Hinrichtungswoche wurde den Geistlichen der Zutritt bei den Angehörigen des 20. Juli versagt. Ich habe also von meinen Freunden nur noch den Grafen Peter Yorck zum Tode begleiten können. Und fand ihn als einen aufrechten, gefassten, noch bis in die letzten Minuten kann man sagen, nicht Stunden, sondern Minuten vor dem Tod um seine Freunde besorgten ein Mann, der mir noch da die entscheidenden Weisungen gab, zuflüsterte mit gefesselten Händen, die ich rechtzeitig weitergeben konnte. Sprecher Poelchau: An einer Stelle des Neuen Testaments ist mir immer besonders deutlich geworden, dass Jesu Worte kein literarisches Produkt und keine Theorie sind, sondern praktisch gewonnen und durchdacht. Wenn es in Matth. 25 heißt: "Ich bin hungrig gewesen und ihr habt mich gespeist, durstig und ihr habt mich getränkt, nackend und ihr habt mich bekleidet", dann fährt er nicht fort: "Ich bin gefangen gewesen, und ihr habt mich befreit", sondern er ist realistisch genug fortzufahren: "Ihr habt mich besucht." Ansage: "Die Heiligen sind wir." Harald Poelchau, Gefängnispfarrer in Tegel und Plötzensee 1933 - 1945 Ein Feature von Anna Panknin Zitator Moltke (Helmuth James von Moltke an Freya von Moltke): Berlin, den 25.5.1943 - Gestern Abend mit Poelchau war es nett. Er ist riesig beschäftigt mit seinen Hilfsaktionen und hat auch neu um Unterstützung für seine Pfleglinge gebeten. Ich habe ihm gesagt, wir würden ihm sicherlich einen größeren Posten Erbsen schicken. Willst du das, bitte, feststellen und ihm, wenn es geht, einen Ctr. schicken? Seine Adresse ist: Pfarrer Poelchau, Berlin Nord 65, Afrikanischestr. 140 B. (Dass er den Sack sofort zurückschicken muss, weiß er. Außerdem habe ich ihn und seine Frau verabredungsgemäß zu einem Sommeraufenthalt nach Kreisau eingeladen.) Sprecherin: Standort: Afrikanische Straße 140 b (Wedding) Verkehrsanbindung Bus 221 bis Nachtigallplatz, U 6 bis Afrikanische Straße Inschrift: BERLINER GEDENKTAFEL / Hier lebte von 1933 bis 1945 / HARALD POELCHAU / 5.10.1903 - 29.4.1972 Gefängnispfarrer in den Strafanstalten / Tegel und Plötzensee / Religiöser Sozialist Mitglied des Kreisauer Kreises / Er unterstützte die von den Nazis Verfolgten / und deren Familien. Technische Daten: weiße Porzellantafel mit blauer Aufschrift und dem blauen Zepter, Signet der Königlichen Porzellan Manufaktur, 60 cm x 43 cm Einweihung 17.11.1988 O-Ton Poelchau Ich hatte mich schon früher, schon vor 32, sehr für das Gefängniswesen interessiert, hatte ursprünglich mich bemüht, in Thüringen als akademischer Fürsorger - das gab es dort - an einem Gefängnis Anstellung zu finden, wurde aber damals abgelehnt dort, weil ich Kirchenmann war, ich Theologe war, bewarb mich dann '32 hier in Preußen um diese Stelle, nicht ahnend, was ich damit tat; ich glaubte, also einfach in die soziale Arbeit an denen einsteigen zu können, die nun besonders gefährdet und auch besonders gesellschaftsgeschädigt waren. Sprecher Poelchau: Ich bin auf dem Lande aufgewachsen. Mein Vater war Pastor in Brauchitschdorf in Schlesien, einem Heidedorf von 600 Einwohnern. Mit 18 Jahren begann ich das Theologiestudium - zunächst in Bethel, später in Tübingen. Der entscheidende Funke fiel erst in Marburg durch die Begegnung mit Paul Tillich und dem religiösen Sozialismus. Wir gingen davon aus, dass es soziale Bedingungen gibt, die dem Menschen sein Menschsein oder - anders ausgedrückt - seine Möglichkeit zu glauben unmöglich machen. Es ging um den Kampf für den Menschen als Person gegen seine Dingwerdung. O-Ton Poelchau: Am 1. April 1933 wurde ich angestellt, auch da wusste ich im Grunde noch nicht genau, was es bedeutete, ich wusste aber dieses: Dass ich bei meiner politischen Einstellung in einem anderen Zweig, einem anderen Ort als in der Kirche überhaupt nicht mehr arbeiten konnte. Sprecher Poelchau: Auf dem Gefängnishof stand ein Altar mit Kerzen und einem Kruzifix. Es war sechs Uhr früh, kühl, die Kerzen flackerten im Morgenwind. Vor dem Altar standen ein Vertreter des Gerichtes im Richtertalar und zwei Beisitzer. Der Anstaltsdirektor und der Anstaltsarzt waren zugegen. Der leitende Scharfrichter im schwarzen Cut und die Henkersknechte in schwarzen Anzügen hielten sich bereit. Willi K., wegen Raubmordes verurteilt, wurde von zwei Beamten vorgeführt. Er war mit Hose und Holzpantoffeln bekleidet, über seinen nackten Oberkörper hatte man eine Jacke geworfen, die Hände waren auf dem Rücken gefesselt. Er hielt sich gut, obgleich die Verlesung des Urteils durch den aufgeregten und unsicheren Gerichtsvertreter langsam und stockend vor sich ging. Dann wurde der Verurteilte von den Wachtmeistern dem Scharfrichter übergeben. Die Henkersknechte warfen ihn blitzschnell zu Boden, drückten ihn über den Block, und der Scharfrichter enthauptete ihn mit dem Handbeil. Ich sah nicht hin. Eine starke Übelkeit überfiel mich. Wenn man mir damals gesagt hätte, dies sei nur der Auftakt für eine ungeheure Zahl von Hinrichtungen - ich hätte wahrscheinlich versagt und mein Amt niedergelegt. O-Ton Poelchau: Aber als dann die Arbeit begann, (...) da merkte ich immer mehr, wie richtig diese Entscheidung, die über mich gefällt worden war, war, dass ich eben mehr als nur den Kriminellen helfen konnte, sondern auch den Politischen zur Seite stehen. Sprecher Poelchau: Tegel war meine "Mutteranstalt". Ich gehörte ihr als Beamter bis zum Zusammenbruch 1945 an. Doch hatte ich auch in anderen Gefängnissen zu tun, so in Plötzensee, als der dortige Pfarrer im Kriege eingezogen wurde. In Plötzensee waren Zuchthaus-, Gefängnis- und Untersuchungsgefangene untergebracht. Als 1944 der Pfarrer von Brandenburg-Görden erkrankte, kam ich zu den Hinrichtungen auch nach Brandenburg. 1944 übernahm ich noch die Frauenabteilung Moabit. Es war für mich wichtig, Zugang dorthin zu haben. In Moabit saßen die Frauen der in den Wehrmachtsgefängnissen und in Tegel Inhaftierten. Ich hatte so die beste Möglichkeit, unbemerkt und unmittelbar zwischen den Angehörigen zu vermitteln. So spielte sich meine Arbeit als Gefängnispfarrer in den Jahren des "Dritten Reiches" zwischen Tegel, Plötzensee, Moabit, den Wehrmachtsgefängnissen und dem Zuchthaus Brandenburg-Görden ab. Ich kam mit vielen Angehörigen der deutschen und ausländischen Widerstandsbewegung in Berührung. Ich durfte ihnen während ihrer langen Untersuchungshaft und in den letzten Stunden beistehen. Ich wurde Zeuge von etwa tausend Hinrichtungen. Sprecherin: Helmuth James von Moltke an Freya von Moltke: Zitator Moltke Berlin, den 24. 9. 41 - Gestern Abend hatte ich eine sehr interessante Unterhaltung mit Einsiedel & Poelchau. P. hat mir sehr gut gefallen: jung, aufgeschlossen und einsatzfähig. Wie ein Mann, der Woche um Woche vielen Hinrichtungen beiwohnt, seine seelische Eindrucksfähigkeit und seine Nerven behalten und dann noch gut gelaunt sein kann, ist mir ein Rätsel. - Er berichtete recht aufschlussreich und für mich auch neu, über die Stimmung in der Arbeiterschaft, mit der er offenbar einen ganz engen Konnex hält. O-Ton Poelchau: Es war ja so, dass in den ersten Jahren auch wichtige höhere politische führende Gegner noch ins Gefängnis kamen. Deswegen habe ich gerade in meinem Gefängnis Tegel im Jahr '33 und '34 eine ganze Reihe verantwortlicher Sozialdemokraten und Kommunisten im Gefängnis gehabt. Das wurde dann etwas anders von '35, '36, '37 ab, wo die Strafen immer härter wurden. Es gab immer schon eine ganze Reihe Todesurteile, aber diese große Welle setzte eigentlich erst mit Kriegsbeginn an. Dann habe ich sie wiedergesehen - dann nicht im Gefängnis Tegel, sondern in Plötzensee, wenn ich beordert wurde, bei den Hinrichtungen teilzunehmen. Sprecher Poelchau: Man möge sich den riesigen Bau des Gefängnisses vorstellen, in dem 600 Menschen in halberleuchteten Zellen nachts schlafen sollen. Das hatte etwas Unheimliches und Triebhaftes, wie ein großes Tier, das im unruhigen Halbschlaf zusammengeduckt liegt. Es war nicht so, als herrschte dort Totenstille, sondern man spürte, wie hinter jeder dieser verriegelten Eisentüren ein Mensch mit aller Inbrunst um sein Leben und sein Recht rang. Ich fühlte das fast körperlich, wenn ich in den Nächten einen Verurteilten zu betreuen hatte und durch die matt erleuchteten, hallenden, langen Korridore des Gefängnisses schritt. O-Ton Poelchau: Mir hat zum Beispiel Walter Husemann großen Eindruck gemacht, der ein führender, ein linientreuer Kommunist gewesen ist, ein junger Mann, aus einer alten sozialistischen Familie stammend, der völlig ungebrochen monatelang in Plötzensee lag. Ich habe ihn deshalb sehr genau kennen gelernt. Er hielt immer noch Verbindung mit draußen und war unverwüstlich, hat nachher einen Brief an seinen Vater geschrieben - in dem er nur drin schrieb: "Bleibt hart!" Zitator Husemann Ich sterbe leicht, weil ich weiß, warum ich sterben muss. Die mich töten, werden in nicht so langer Zeit einen schwereren Tod haben. Das ist meine Überzeugung. Hart bleiben, Vater! Hart! Nicht nachgeben! Denk in jeder schwachen Stunde an diese letzte Forderung Deines Sohnes. Walter. Zitator Moltke (Brief an Freya Moltke): Berlin, den 9.10.41 - ... Poelchau war wieder sehr nett und für mich belehrend. Es war insofern eindrucksvoll, als er gerade benachrichtigt worden war, daß 5 von seinen Schützlingen um 7 Uhr abends eröffnet werden sollte, daß sie am heutigen Morgen um 5 Uhr hingerichtet werden würden. Er sitzt dann von 7 bis 5 bei ihnen. Ich habe mir diese Nacht beschreiben lassen: Sie ist grauenvoll und doch irgendwie erhaben. O-Ton Poelchau: In den letzten Stunden, in der letzten Nacht. Da kann man helfen. Nicht vom Tode, aber zur Reifung, dass der einzelne bereit wird, Abschied zu nehmen von dem, was ihm hier auf Erden lebenswert und eine Bindung war: Von den Kindern, von der Frau und in unserem Falle nun auch besonders von dem, wofür er sein Leben eingesetzt hat: vom Vaterland. Zitator Moltke (Brief an Freya von Moltke) Welch eine Leistung eine solche Nacht bedeutet. Es ist grauenhaft und schrecklich; aber es wirft doch Fragen auf, die in dieser Unbedingtheit, Nacktheit und Absolutheit sonst nicht auftreten. Er bietet nie das Abendmahl an, aber 50 % der von ihm Betreuten verlangen es aus eigenem Antrieb. O-Ton Poelchau: Graf Moltke war ja ein alter Freund von mir aus der Freiheit, er war ja das Haupt des Kreisauer Kreises und hatte mich dazu gezogen, nachdem er gemerkt hatte, dass ich vielleicht auf dem Rahmen der Kirche das zu leisten vermochte, was er sich erwartete für eine künftige Kirche. Die Kreisauer haben ja nicht unmittelbar Attentatspläne gepflegt, sondern sie haben Pläne gemacht für das, was nach dem Zusammenbruch passieren sollte, damit dann nicht das Volk vor leeren Schubladen stehen müsste. Und da haben wir also Gedanken uns auch gemacht über das Verhältnis von Staat und Kirche und Kirche und Schule und Schule und Staat in dem Sektor, in dem ich war, das heißt in dem innenpolitischen Sektor. Sprecher Poelchau: Den geistigen Mittelpunkt bildeten Helmuth von Moltke und Peter Yorck von Wartenburg. Aus der Diplomatie kamen die Legationsräte Hans-Bernd von Haeften (sein Bruder Werner von Haeften war ein Freund Stauffenbergs) und Adam von Trott zu Solz, die die Verbindung zu den älteren Angehörigen des Auswärtigen Amtes, wie dem Botschafter Ulrich von Hassel, herstellten. O-Ton Poelchau: Das Interessante an diesem Kreis war ja dieses: Dass er sich zusammensetzte aus Menschen von ganz verschiedener politischen Herkunft. Denken Sie etwa an Julius Leber, diesen führenden Mann der Sozialdemokratie. Oder an Adolf Reichwein, den großen Pädagogen, oder an Carlo Mierendorff, den Sozialisten. Auf der anderen Seite gehörten wir zu diesem Kreis, Männer, denen es um die politische Auswirkung des Protestantismus ging, (...) Eugen Gerstenmaier und ich persönlich. Oder von katholischer Seite: der Jesuitenpater Delp. Zitatorin Freya von Moltke: Das erste Wochenende in Kreisau fand Pfingsten 1942, vom 22. bis 25. Mai, statt. Helmuth hätte seine Mitarbeiter zu einem langen Wochenende eingeladen, hieß es. Unser Haus war voller Kinder, und es gab ja noch uns Frauen, so sah das Ganze wie ein normales, großes, gastliches Wochenende aus. Keiner der Kreisauer Zusammenkünfte war eine reine Arbeitstagung. Es gab zwischendurch in kleinen Gruppen die schönsten Spaziergänge. Es herrschte an diesem ersten Wochenende in Kreisau eine ganz gelöste Atmosphäre. Es wurde auch viel gelacht. Ich denke dann gleich an Harald Poelchau. Er war ein fröhlicher, ich möchte sagen ein mozartischer Mensch. Er half nicht nur den politischen Gefangenen, sondern er half auch, versteckte Juden in Berlin zu ernähren. Jedenfalls schickten wir ihm mehrmals Säcke mit getrockneten Erbsen, die unsere Landwirtschaft erzeugte und die er dann verteilte. Sprecherin: Freya von Moltke, "Erinnerungen an Kreisau" Zitator Moltke (Brief an Freya von Moltke): Berlin, der 1.10.42 - Gestern Nachmittag war auch Poelchau da. Er erzählte, daß Löbell sehr gerne in Kreisau gewesen ist, obwohl ihn die Arbeit sehr mitgenommen habe. Das freute mich zu hören. Sonst berichtete er unerfreuliche Sachen, Neuigkeiten über Polizei, Schule und Judenfrage. In den nächsten Tagen werden 14 Norweger hier in Berlin erschossen, an deren Rettung allerhand gelegen hätte. O-Ton Poelchau: Das Bild, was ich von den einzelnen bekommen habe, das ist teilweise in einer sehr langen Zeit entstanden. Ich habe ja Angeklagte gehabt, die haben ein ganzes Jahr in Plötzensee gelegen, und ich hab sie regelmäßig dort besucht, zum Beispiel Dietrich Bonhoeffer, der hat ein ganzes Jahr in Tegel gelegen, und die kannte ich dann ganz genau, wenn es zum Tode ging. Andere habe ich zwei Stunden vorher gesehen. Die Gruppe um Schulze-Boysen, die sogenannte "Rote Kapelle", Arvid Harnack, Schulze-Boysen und andere, die habe ich erst in der letzten Nacht kennen gelernt. Sprecher Poelchau: Nur durch meine Beziehungen zu den Beamten des Gefängnisses Plötzensee erfuhr ich rechtzeitig, dass für den Nachmittag des 22. Dezember 1942 eine Gruppe "hochpolitischer Verurteilter" zu erwarten sei. Ich kam gerade zurecht, als die Gefangenen aus dem Wagen des Reichskriegsgerichts ausgeladen und in die Todeszellen Plötzensees überführt wurden. Da ich in der Anstalt auch sonst aus und ein ging, fiel ich nicht weiter auf. Ich besuchte die Verurteilten sofort und war den ganzen Nachmittag bis zum Abend bei ihnen. Die Vollstreckung sollte abends stattfinden. Die "Rote Kapelle" war eine Widerstandsgruppe von nicht durchweg parteimäßig kommunistisch gebundenen Mitgliedern, die die Befreiung von der Hitlerherrschaft nicht durch die Hilfe des Westens, sondern von Russland her erstrebte und vorbereitete. Die Kreise, die sie trugen, reichten weit in kulturell bedeutende bürgerliche Schichten hinein. Wissenschaftler wie Arvid und Mildred Harnack, Offiziere wie Schulze-Boysen, Ärzte wie John Rittmeister, Künstler wie Kurt und Elisabeth Schumacher gehörten dazu, aber natürlich auch Studenten und Arbeiter. O-Ton Poelchau: Sie haben wahrscheinlich auch (vor einigen Monaten) in der "Welt" die Artikelserie von Wilfried Martini gelesen, in der eine Gruppe wie die "Rote Kapelle" doch so behandelt wird, dass man der menschlichen und sittlichen Qualität und dem starken ethischen Pathos, das diese Menschen gehabt haben, einfach nicht gerecht wird. Sie werden da nach der berühmten Manier zu Landesverrätern abgestempelt, die beinahe für Geld ihre Gesinnung verkauft hätten. Und das ist eben einfach falsch. Ich habe die Männer der "Roten Kapelle", wenigstens die wichtigsten Männer, fast alle gekannt. Und das sind alles Leute von genauso hoher sittlicher und geistiger Qualität gewesen wie die berühmten Männer des 20. Juli, die immerfort zitiert werden. Sprecher Poelchau: Ich bin überzeugt, dass diese Gruppe sich mit den Männern des 20. Juli zusammengefunden hätte, trotz ihrer östlichen Orientierung, wenn sie nicht in ihrem Entstehen schon vernichtet worden wäre. Sie sind zum größten Teil den Tod am Strang gestorben. Für sie wurde auf Befehl des Justizministers Thierack im Schuppen von Plötzensee ein großer T-Träger an der Decke entlanggezogen, an dem auf Rollen acht "Fleischerhaken" liefen. Mit außerordentlicher Eile wurde diese Arbeit als "kriegswichtig" und "vordringlich" in Angriff genommen. O-Ton Poelchau: Bei diesen Männern der "Roten Kapelle" fiel mir das so besonders auf, wie sehr sie bedauerten, jetzt abtreten zu müssen. Wo sie mit Recht der Meinung waren, dass sie noch mal ganz, ganz nötig gebraucht wurden. Schultze-Boysen sagte mir, sie werden uns mit Nägeln aus den Särgen kratzen wollen, wenn wir längst tot sind. Zitator Schulze-Boysen (aus Abschiedsbrief 22. 12. 42): Geliebte Eltern! Es ist nun so weit. In wenigen Stunden werde ich aus diesem Ich aussteigen. Ich bin vollkommen ruhig und bitte Euch, es auch gefasst aufzunehmen. Es geht heute auf der ganzen Welt um so wichtige Dinge, da ist ein Leben, das erlischt, nicht sehr viel. Dieser Tod passt zu mir. Irgendwie habe ich immer um ihn gewusst. Es ist "mein eigener Tod", wie es einmal bei Rilke heißt! Wenn ihr hier wäret, unsichtbar seid Ihr's: Ihr würdet mich lachen sehen angesichts des Todes, ich habe ihn längst überwunden. In Europa ist es einmal so üblich, dass geistig gesät wird mit Blut. Mag sein, dass wir nur ein paar Narren waren, aber so kurz vor Toresschluss hat man wohl das Recht auf ein bisschen ganz persönliche historische Illusion. Ja, und nun gebe ich Euch allen die Hand und setze nachher eine Träne hier als Siegel und Pfand meiner Liebe. Euer Harro. Sprecher Poelchau: So gingen zwei Tage vor dem Heiligen Abend 1942 die ersten elf Verurteilten der "Roten Kapelle" in den Tod. Nach dieser Hinrichtung lieferte die Gestapo eine ganze Reihe von Gefangenen - es werden wohl etwa achtzig Personen gewesen sein - in Plötzensee ein. Es waren Männer und Frauen, die mit Schulze-Boysen und Harnack zusammen gearbeitet hatten. Sie galten zunächst als Untersuchungsgefangene, wurden aber zum größten Teil zum Tode verurteilt und im Laufe der Zeit hingerichtet. O-Ton Poelchau: Ja, die anderen, die ich ein ganzes Jahr lang besuchte, die hab ich durch manche Krisen mit begleitet. Es ist nicht leicht, in der Todesabteilung zu sitzen und immer wieder - zunächst jeden Freitag, später an noch viel mehr Tagen in der Woche - zu hören, wie die Schritte kommen, wie weit gehen sie, gehen sie bis zu mir, gehen sie bis zur nächsten Zelle, diesmal gehen sie noch vorbei. Schrecklich. Dass da Menschen Nervenzusammenbrüche bekamen und ganz stark getröstet und angefasst werden mussten, war ganz selbstverständlich. Sprecher Poelchau: Es gab Menschen, die kaum ein Wort sprachen und in tiefe Gedanken versanken. Es gab andere, die mir ihre persönlichsten Geheimnisse anvertrauten. Sie taten mir in diesen Stunden ihre Seele auf. Sie ließen mich teilhaben an ihrem Lebensweg. Sie wussten, dass sie mir vertrauen durften. Hier lag meine wahre Aufgabe. Denn kaum jemand wird mit gleicher Verschwiegenheit und Offenheit die Beichte eines Menschen entgegennehmen wie ein Seelsorger. O-Ton Poelchau: Das Entscheidende konnte ich natürlich nicht tun: Ich konnte sie nicht rauslassen. (...) Ich habe darunter gelitten, dass mir das versagt war, aber ich konnte natürlich doch in meiner Weise helfen: Ich konnte in äußerlichen Dingen helfen. Ich konnte ab und zu mal einen Brief vermitteln.(...) Ich konnte manches Gespräch vermitteln. Und ich konnte auch austauschen zwischen den einzelnen Gefangenen derselben Gruppe, die natürlich sehr daran interessiert waren zu hören: Wie hält sich der andere? Insofern war die Arbeit doch eine sehr befriedigende, weil man doch wirklich helfen konnte." Zitatorin Ruth Andreas-Friedrich: Berlin, Freitag, 1. Oktober 1943 - "Sie kennen Doktor Tegel nicht?", staunt Konrad Bauer. "Den Wundertäter von Berlin? Dann wird es höchste Zeit, dass Sie ihn kennen lernen." Der Weg führt weit hinaus bis in entlegenes Vorstadtgebiet. Doktor Tegel ist Gefängnispfarrer. Sein "Laden", wie er sich auszudrücken pflegt, liegt hinter vergitterten Fenstern und verriegelten Türen. Sprecherin: Ruth Andreas-Friedrich, Mitglied der Widerstandsgruppe "Onkel Emil" - in ihren Tagebuchaufzeichnungen 1938 - 1945. Sprecher Poelchau: Mein Sprechzimmer (im Gefängnis Tegel) lag etwa 300 Meter von der Pforte entfernt in einem Innengebäude des großen Komplexes, also völlig gesichert durch verschlossene Türen und Gitter. Besser konnte man es sich nicht wünschen. Um mich selbst zu sichern, hatte ich meinen illegalen Freunden einen Decknamen gesagt, so dass ich mich am Telefon nur als "Tegel" zu melden brauchte, ein auch für den etwa innerhalb der Anstalt Abhörenden unverfängliches Wort. Zitatorin Ruth Andreas-Friedrich: Er begrüßt uns, als wären wir alte Bekannte. "Drei Milchkarten können wir in diesem Monat abgeben, Marken für fünf Brote und - vielleicht etwas Fett. Wissen Sie eine Stellung für ein jüdisches Waisenmädchen? Sie hat Laborantin gelernt, versteht sich aber auf den Haushalt. Auch ein geflüchteter Schlosser ist unterzubringen." Nach zehn Minuten des Zusammenseins sind wir mitten in der Arbeit. Marken austauschen, Ausweise entwerfen, Wohnmöglichkeiten prüfen, Stellen besetzen. Es bedarf keiner Umschweife. Wer spürt, dass er mit dem anderen am gleichen Strange zieht, versteht sich auch ohne Erläuterungen. Dr. Tegel gehört zu uns. Und es wird uns eine Ehre sein, wenn wir uns rühmen dürfen, zu ihm zu gehören. Sprecher Poelchau: Man fragte mich manchmal, ob ich denn nicht Angst gehabt hätte, belastet als Mitglied des Kreisauer Kreises und durch mancherlei illegale Hilfe und offene Sympathie gefährdet. Ja, ich hatte Angst, wusste mich aber viel stärker gefährdet durch meine Aktionen außerhalb des Gefängnisses als durch die im Rahmen meines Dienstes. Es war die Zeit, in der die Verfolgten "tauchen" mussten, wenn sie ihr Leben retten wollten. Konnte man sie von der Tür weisen, wenn sie um Aufnahme baten? Wenn sie mit einer guten, zuverlässigen Empfehlung kamen, hatte ich keine Bedenken, sie zu beraten. Aber wie, wenn sie Spitzel der Gestapo waren, die durch irgendeinen Fehler Wind davon bekommen haben konnten, dass ich half, wo ich konnte? So war es mir gar nicht recht behaglich, als eines Abends eine kleine, lebhafte jüdische Frau mit Wiener Dialekt in meine Wohnung kam und diese Frage stellte. Sie berief sich dabei auf irgendeinen Namen - nur kannte ich ihn leider nicht. Aber sie brachte ihr kleines Mädchen mit, Rita, acht Jahre alt, sehr verängstigt. Für diese Nacht waren sie zunächst einmal bei uns sicher. Aber wie sollte es weitergehen, wie Arbeit - denn Arbeit bedeutete Lebensmittel - und wie Unterkunft beschaffen? Ich hatte einen großen Kreis von Freunden in Berlin, die mit mir der Meinung waren, dass den unschuldig Verfolgten auf alle Weise geholfen werden müsse. Wir waren uns auch alle darüber klar, dass diese Hilfe für den Helfer Lebensgefahr bedeutete. O-Ton Poelchau: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die mehr bürgerlichen Christen meist nicht die Nerven hatten, Menschen zu verstecken. Die konnten dann nachts einfach nicht schlafen und kamen nach ein paar Tagen und sagten: "Um Gottes Willen, nimm ihn mir wieder ab, ich halt's nicht aus." Die Gefahr, die ja wirklich damit verbunden war. Während die Sozialisten durch die Kämpfe härter und abgebrühter waren und mir da viel mit der Unterbringung geholfen haben; die Christen haben mir mehr mit Geld und Lebensmitteln geholfen. Sprecher Poelchau: Wir hatten in unserem Bekanntenkreis ein Mädchen, das ungefähr ihrem Alter entsprach und das im glücklichen Besitz arischer Eltern und entsprechender Papiere war. Sie hieß also von heute ab Tina Weiss. Tina sollte in den nächsten Tagen bei uns bleiben, da wir ihr ja vieles beizubringen hatten, ehe sie ins "normale arische Leben" hineintauchen konnte. (Sie war nicht eigentlich verängstigt, ein gutmütiges, dickes kleines Pummelchen mit Mutterwitz.) Die Dinge, die die Erwachsenen um sie täglich erzählt hatten, waren ihr nicht zum Schrecken, sondern zur Selbstverständlichkeit geworden. Als bei uns zu Hause den anderen Kindern Märchen erzählt wurden und sie vernahm, dass der alte König starb, fragte sie lebhaft: "Tante, wie haben sie ihn denn umgebracht, haben sie ihn vergast oder hat er sich selbst das Leben genommen?" Nach vierzehn Tagen glaubten wir, sie doch nicht mehr ganz schützen zu können vor der Neugier der Nachbarn und gaben sie vom Berliner Norden aus, in dem wir wohnten, ganz in den Süden nach Lankwitz, wo sie vier Wochen bei Freunden sein sollte. Wir hatten noch keine Papiere für sie und konnten sie deshalb nicht zur Schule schicken. Ein Kind, das vier Wochen lang nicht zur Schule ging, fiel auf. Und nun erklärte sich Vater Kranz bereit, sie zu nehmen, Willi Kranz, der die Kantine des Gefängnisses Plötzensee versorgte: Ich lernte ihn kennen, als er mich bat, ich möchte doch darauf achten, dass die Verurteilten auch wirklich die Brote und die Wurst bekämen, die er für sie zurecht geschnitten hätte. Vater Kranz wachte eifersüchtig darüber, dass nichts verloren ging und steckte den Verurteilten, so oft er konnte, unbemerkt Nahrungsmittel zu. Er hatte nur das eine Bedenken, dass das Kind in der Klosterstraße, wo er sein Warenlager hatte, nicht genügend Licht und Luft haben würde. Aber sie war auch so gut versteckt in dem großen, alten, verbauten Haus, dass ihr gar nichts mehr geschehen konnte. Zitator Moltke (Brief an Freya Moltke): Berlin, den 6. August 1943 - Gestern Mittag war Poelchau da. Nett wie immer. Seine Berichte über Nord-Berlin recht interessant: vollständige Lethargie, die Leute bemühten sich nicht einmal, irgendwelche Sachen zu sichern, geschweige denn, Frau und Kinder wegzuschicken. Er meinte, es sei so weit, daß sie wahrscheinlich kaum noch löschen würden, wenn es brennte. Es gäbe nur einen Gedanken: Frieden und dann "alle Viere von sich strecken". Seine Erzählungen über sein Amt so wie immer, nur quantitativ erheblich gesteigert. Gestern waren 13 Frauen dran. Sprecher Poelchau: Marie Terwiel starb am 5. August 1943. An diesem Tag wurden auch noch andere Frauen und Mädchen der "Roten Kapelle" hingerichtet: Hilde Coppi , die im November '42 ein Kind im Gefängnis bekommen hatte, die junge Tänzerin Oda Schottmüller, die zarte neunzehnjährige Studentin Liane Berkowitz, die Keramikerin Cato Bontjes van Beek und die zweiundzwanzigjährige frische, lebensfrohe Studentin Eva-Maria Buch. Zitatorin Ruth Andreas-Friedrich: Berlin, 30. März 1944 - "Ich muss Sie dringend sprechen", sagt Hinrichs am Telefon. "Es handelt sich um unseren Freund M." Sollte das Moltke sein? Es ist Moltke. Ende Januar hat man ihn verhaftet. Angeblich des Versuches wegen, den Generalkonsul Kiep über eine ihm drohende Gefahr vorzeitig zu verständigen. "Ich kenne die Sache nur vom Hörensagen", berichtet Hinrichs. "Denunziationen pflegt man nicht amtlich bekannt zu geben." O-Ton Poelchau: Er wurde ja zunächst schon deswegen verhaftet, weil er einen Freund nicht verraten wollte, der in Gefahr geraten war. Dadurch wurden die Behörden aufmerksam darauf, dass er wohl doch mit einem größeren Kreis auf den Umsturz hin arbeitete. Sprecher Poelchau: Die Frage des Attentats wurde Ende 1943 und im Frühjahr 1944 immer stärker diskutiert. Sie war für die Kreisauer nicht nur eine politische, sondern auch eine ethische und religiöse Frage. Helmuth von Moltke vertrat die Ansicht, eine gewaltsame Beseitigung Hitlers könne nichts nützen. O-Ton Poelchau: Er ist ein Mann gewesen, der der Meinung war, dass man nicht mit Gewalt ein Übel beseitigen könne, was tiefer sitzt als bloße Gewalt. Sprecher Poelchau: Erst nach Moltkes Verhaftung entschied sich Peter Yorck von Wartenburg, der jetzt den "Kreisauer Kreis" führte, für eine gewaltsame Lösung. Er stand in enger Verbindung zu seinem Vetter Stauffenberg. Peter Yorck versuchte dann die übrigen Mitglieder des Kreises von der Notwendigkeit des Attentats zu überzeugen. O-Ton Poelchau: Diese Gruppe vom 20. Juli, so wie sie mir in Tegel entgegentrat, die setzte sich ja aus einer ganzen Reihe von verschiedenen Gruppen zusammen. Die eine Gruppe: die Bürgerlichen, diese führenden tragenden bürgerlichen Gruppen, die sich um den früheren Leipziger Oberbürgermeister Dr. Goerdeler gesammelt hatten. Die zweite Gruppe, das wäre die eigentliche Offiziersverschwörung. Und die dritte Gruppe ist die Gruppe, der ich selber angehört habe: der Kreisauer Kreis. Das war für mich eine sehr schmerzliche Erfahrung, gerade nun im Gefängnis eine Reihe der alten Freunde wieder zu treffen. Sprecher Poelchau: Ich kam mit etwa achtzig Teilnehmern des 20. Juli in nähere Berührung. Sie hatten im Gefängnis Lehrter Straße 3 gesessen und mussten es plötzlich räumen. Bei den starken Fliegerangriffen erschien das Gefängnis nicht mehr ausbruchsicher. Die achtzig Mann wurden zunächst - Mitte September 1944 - für vierzehn Tage nach Tegel verlegt. Sie alle galten zu jener Zeit als Untersuchungsgefangene des Volksgerichtshofes. Zitatorin Freya von Moltke: In Berlin ging ich sofort zum Gefängnis Lehrter Straße. "Ah, der Lange", sagte der wachhabende SS-Mann zu mir, "der ist nach Tegel gekommen." Das zu hören machte mich für einen Augenblick ganz glücklich. Tegel, das war Harald Poelchaus Gefängnis. Das bedeutete die Möglichkeit der Verbindung mit Helmuth. O-Ton Freya von Moltke Und dieser große Freund hat dann täglich die Briefe meines Mannes mir gebracht, und ich habe weiter geschrieben, und in diesen Monaten von September bis Januar, wo sein Fall dann vor Gericht kam, haben wir täglich korrespondiert, und da hat er mir diesen langen Bericht geschrieben vom 10. Januar 1945: Zitator Moltke "Denk mal, wie schön, dass ich noch einmal hier nach Tegel zurückgebracht worden bin, dass die Würfel, deren Fall schon genau feststeht, sozusagen auf der Kante noch einmal halten. So kann ich noch in Frieden einen Bericht schreiben. Erst mal den Schluss vorweg: Um drei Uhr etwa verlas Schulze, der keinen üblen Eindruck macht, die Anträge. Moltke: Tod und Vermögenseinziehung, Delp: desgleichen, Gerstenmaier: Tod, Reisert und Sperr: desgleichen, Fugger: drei Jahre Zuchthaus, Steltzer und Haubach: abgetrennt. O-Ton Poelchau: Und nun traf ich ihn im Gefängnis wieder. Den langen, zwei Meter langen, schmalen, etwas asthenischen, gebeugten, jungen Mann, er war ja ein junger Mann. Gefesselt. Und trotzdem mit einer inneren Heiterkeit und der Liebenswürdigkeit, die er immer hatte. Ich hatte erst, wenn ich ihn in Kreisau traf, den Eindruck, diese Liebenswürdigkeit wäre gesellschaftlich oder konventionell und merkte dann in der Zelle, dass sie echt war, dass er einen wirklichen Anteil nahm an den Menschen, an mir, an den anderen, an den Wachtmeistern und natürlich an den Mitgefangenen, an seinem Zellennachbar Gerstenmaier und Pater Delp. Diese echte Anteilnahme am Menschen, das ist eigentlich das Motiv für seinen Eintritt in den Widerstand. Zitator Moltke: Die Verhandlung spielte sich so ab: Freisler, den Hercher sehr richtig beschrieben hat: begabt, genial und nicht klug, und zwar alles dreies in Potenz, erzählt den Lebenslauf, man bejaht oder ergänzt, und dann kommen diejenigen Tatfragen, die ihn interessieren. Bei Delp fing es damit an, wie er Peter und mich kennengelernt hat, was zuerst in Berlin besprochen ist, und dann kam Kreisau Herbst 42 dran: Auch hier die Form: Vortrag von Freisler, in den man Antworten, Einreden, eventuell neue Tatsachen einbauen kann; besteht aber die Möglichkeit, dass man dadurch den Duktus stören könnte, so wird er ungeduldig, zeigt an, dass er es doch nicht glaubt, oder brüllt einen an. Bemerkenswert in der ganzen Vernehmung, dass in jedem zweiten Satz von Freisler irgendwie vorkam "der Moltke-Kreis", "Moltkes Pläne", "gehört auch zu Moltke" und so weiter. O-Ton Poelchau: Dadurch haben wir uns kennen gelernt, dass er aufgerufen wurde, sich für die Geiseln einzusetzen, die zu Unrecht erschossen wurden, dass er sich an mich wandte, dass er sagte: "Das sind völlig unschuldige Leute, und ich bin Völkerrechtler, habe jetzt hier die Funktion des Völkerrechtlers zu vertreten im Oberkommando der Wehrmacht. Was kann ich da tun?" Das war der Anfang unserer Beziehungen. Und dann ging das weiter für alle möglichen anderen Gebiete, von denen ich nichts weiß, im Außenpolitischen, im Innenpolitischen, im Juristischen, bis eben die Formel entstand, die dann so oft zitiert worden ist über den Kreisauer Kreis: Das Bild des Menschen muss wiederhergestellt werden. Und das trifft Moltke eigentlich am allerbesten. Dieses, dass es ihm geht, um das Bild des geschändeten und geknechteten Menschen in Europa - nicht nur in Deutschland. Zitator Moltke: Als Rechtsgrundsätze wurden verkündet: "Der Volksgerichtshof steht auf dem Standpunkt, dass eine Verratstat schon der begeht, der es unterlässt, solche defätistischen Äußerungen wie die von Moltke, wenn sie von einem Mann seines Ansehens und seiner Stellung geäußert werden, anzuzeigen." - "Vorbereitung zum Hochverrat begeht schon der, der hochpolitische Fragen mit Leuten erörtert, die in keiner Weise dafür kompetent sind, insbesondere die nicht mindestens irgendwie tätig der Partei angehören." - "Vorbereitung zum Hochverrat begeht jeder, der sich irgendein Urteil über eine Angelegenheit anmaßt, die der Führer zu entscheiden hat." - "Vorbereitung zum Hochverrat begeht, der zwar selbst jede Gewalthandlung ablehnt, aber Vorbereitungen für den Fall trifft, dass ein anderer, nämlich der Feind, die Regierung mit Gewalt beseitigt, dann rechnet er eben mit der Gewalt des Feindes." Und so ging es immer weiter. Daraus gibt es nur einen Schluss: Hochverrat begeht, der dem Herrn Freisler nicht passt. Sprecher Poelchau: Ein Teil der Angehörigen war frei. Die Frauen der Hauptbeteiligten aber waren in Sippenhaft genommen worden und saßen in Moabit. Als ich lange überlegt hatte, wie ich sie aufsuchen könnte, ohne aufzufallen, kam mir ein Zufall zur Hilfe. Der zuständige Pfarrer hatte aus Versehen seine Schlüssel in einer Zelle liegen lassen, der Gefangene entfloh, und der Pfarrer musste sich pensionieren lassen, um einer Bestrafung zu entgehen. Ich bot mich an, ihn zu vertreten, und bekam so Zugang zu den Frauen. O-Ton Marion Yorck: Und plötzlich, an einem Mittwoch, (...) da öffnete sich die Türe, und er guckte so lächelnd herein. Und ich hatte das Gefühl, als ob wirklich irgendeine Engelsgestalt, denn er lächelte und hatte, er war überhaupt frei von jedem Pathos, das war so schön. Er hatte eine protestantische Nüchternheit, sogar mit dem Bedürfnis zum Understatement, zur Untertreibung, und hatte sehr viel Humor. Sprecherin: Marion Yorck von Wartenburg. O-Ton Marion Yorck: Und er guckte da herein, und von da an kam er jeden Mittwoch, hatte aufgeblähte Jackentaschen, in denen Honigsemmeln aus Kreisau, die hatte Freya, die in Freiheit noch war, geschickt oder Kandiszucker oder rohe Mohrrüben. Und so verteilte er an die Frauen all das, was er hatte, aber er sprach auch ernste Worte mit ihnen. Und zu mir, eigentlich bei einem der ersten Besuche, sagte er: "Ist dir übrigens klar, dass das vielleicht dein letzter Aufenthaltsort auf dieser Erde ist?" Und dann habe ich ihm gesagt: "Ja." Sprecher Poelchau: Ich besuchte im Oktober 1944 etwa 30 Frauen in Moabit. Fast in allen Fällen hatte man die Kinder verschleppt. Immer wieder musste ich die Frauen vom Tod ihrer Männer unterrichten. Selbst die furchtbarste Wahrheit war in der Regel besser zu ertragen als die quälende Ungewissheit. O-Ton Clarita Trott: Für mich und wahrscheinlich für die anderen auch, war das Wichtige, dass da jemand war, der uns Halt gab. Sprecherin: Clarita von Trott zu Solz. O-Ton Clarita Trott: Als er mir den Tod meines Mannes mitteilen musste und ich ihn fragte: Wie kann Gott es zulassen, dass alle Besten uns genommen werden? Da sagte er: Wenn Gott nur müde alte Männer genommen hätte, dann hätte das keine Saat abgegeben, aus der also eine reiche neue Ernte hätte wachsen können. Mindestens spürte man, da ist jemand, der fühlt die Frage wie wir und der fühlt, wie schwer das ist, und der sieht noch einen Sinn. Sprecher Poelchau: Von den Männern waren 19 im Gefängnis Tegel geblieben, die ich fast alle bis zu ihrem Tode besuchen konnte. Diese jede Woche kleiner werdende Zahl hielt gute Gemeinschaft. Der Jesuitenpater Delp, der evangelische Theologe Gerstenmaier, Graf Helmuth von Moltke, Theodor Haubach, alles Angehörige des Kreisauer Kreises, arbeiteten intensiv geistig weiter, schrieben mit ihren gefesselten Händen und tauschten sich gegenseitig, zum Teil durch meine Vermittlung, aus. Trotz der Nähe des Todes war die Atmosphäre nicht gedrückt, sondern von hoher geistiger Intensität. O-Ton Freya von Moltke Aber dann kam die Verhandlung, am 10. und 11. Januar 1945 kam er mit einigen seiner Freunde vor Freisler im Volksgerichtshof. Es war ja üblich damals, dass die, die zum Tode verurteilt waren, sofort am selben Tage noch hingerichtet wurden, das ist sehr vielen dieser Männer ist das so geschehen, aber das war dann bei meinem Mann nicht der Fall, am Ende der Verhandlung kam er wieder zurück nach Tegel. Zitatorin Ruth Andreas-Friedrich: Berlin. Dienstag, 10. Januar 1945 - Am frühen Abend wird Graf Helmuth von Moltke mit dem Polizeiauto in die Strafanstalt Tegel zurückgebracht. Es steht schlecht um den Grafen Moltke. Aber als er vom Volksgerichtshof zurückkehrt in seine Zelle, setzt er sich hin und schreibt: sechs Seiten, sieben Seiten, acht Seiten. Wort für Wort den Verlauf der Verhandlung. Doktor Tegel schmuggelt den Brief heraus. Freya Moltke tippt ihn ab. Mit vielen Durchschlägen. Und in der gleichen Nacht backt jede Frau oder Braut der auf den Tod Verklagten einen kleinen Kuchen. Der Brief steckt in den Kuchen. Der Brief und alles, was darin steht. Am 11. früh trägt Doktor Tegel die Kuchen in die Gefängniszellen zu acht Männern, die an diesem Tag ihr Urteil erwarten. Nun wissen sie, was sie sagen dürfen. Nun wissen sie, was die anderen gesagt haben. Zitator Moltke: Nun kommt der zweite Tag. Da fing es mit mir an. In mildem Ton ging es los. Sehr schnell, sozusagen rapid. Gott sei Dank, dass ich flink bin und Freislers Tempo spielend mitmachte. Das machte übrigens sichtlich uns beiden Freude. Aber wenn er das bei einem Mann exerziert, der nicht ganz schnell ist, so ist der verurteilt, ehe er bemerkt hat, dass Freisler die Personalien hinter sich gelassen hat. Ergebnis dieser Vernehmung "gegen mich", denn zu sagen, "meiner Vernehmung" wäre Quatsch: Ganz Kreisau und jede dazugehörige Teilunterhaltung ist Vorbereitung zum Hochverrat. Sprecher Poelchau: Ich bin der einzige, der nicht in der Anklageschrift des Kreisauer Kreises genannt worden ist. Eine Reihe von Mitgliedern wurde genannt; sie sind aber nicht verhaftet worden. Ich aber stand nicht auf der Liste, wahrscheinlich weil - wie Helmuth von Moltke in seiner humorvollen Art zu sagen pflegte - sich alle durch meine Erhaltung eine Rückendeckung für ihren Gefängnisaufenthalt schaffen wollten. Zitator Moltke: Mich fragte er: "Sehen Sie ein, dass Sie schuldig sind?" Ich sagte: "Im Wesentlichen nein." Darauf Freisler: "Sehen Sie! Wenn Sie das immer noch nicht erkennen, wenn Sie immer noch darüber belehrt werden müssen, dann zeigt das eben, dass Sie anders denken und damit sich selbst aus der kämpfenden Volksgemeinschaft ausgeschlossen haben." Das Schöne an dem so aufgezogenen Urteil ist folgendes: Wir haben keine Gewalt anwenden wollen - ist festgestellt. (...) Wir haben keinen einzigen organisatorischen Schritt unternommen, mit keinem einzigen Mann über die Frage gesprochen, ob er einen Posten übernehmen wolle - ist festgestellt. In der Anklage stand es anders. Wir haben nur gedacht - und zwar eigentlich nur Delp, Gerstenmaier und ich - die anderen galten als Mitläufer und Peter und Adam als Verbindungsleute zu Schulenburg etc., und vor den Gedanken dieser drei einsamen Männer, den bloßen Gedanken, hat der Nationalsozialismus eine solche Angst, dass er alles, was damit infiziert worden ist, ausrotten will. Wenn das nicht ein Kompliment ist. Wir sind nach dieser Verhandlung aus dem Goerdeler-Mist raus, wir sind aus jeder praktischen Handlung heraus. Wir werden gehenkt, weil wir zusammen gedacht haben: Freisler hat Recht, tausendmal Recht, und wenn wir schon umkommen müssen, dann bin ich allerdings dafür, dass wir über dieses Thema fallen. Womit kann im Chaos das Christentum ein Rettungsanker sein? Dieser eine einzige Gedanke fordert morgen wahrscheinlich fünf Köpfe und später noch die von Steltzer und Haubach und wohl auch Husen. ... Aber dadurch, dass keiner dabei ist, der irgendein weltliches Interesse betreute; dadurch dass festgestellt ist, dass ich großgrundbesitzfeindlich war, keine Standesinteressen, überhaupt keine eigenen Interessen, ja, nicht einmal die meines Landes vertrat, sondern menschheitliche, dadurch hat Freisler uns unbewusst einen großen Dienst getan, sofern es gelingt, die Geschichte zu verbreiten und auszunutzen, und zwar meines Erachtens im Inland und draußen. Ich berede das morgen noch mit Poelchau. Kommt es raus, dass du diesen Brief empfangen und weitergegeben hast, wirst du auch umgebracht. Gib dies Exemplar nicht aus der Hand, sondern nur eine Abschrift. Zitatorin Ruth Andreas-Friedrich Berlin. Freitag, 26. Januar 1945 - Gestern Nachmittag haben sie den Grafen Moltke zur Hinrichtung geholt. Zur selben Stunde, in der Himmlers Adjutant das Gnadengesuch las. Um vier Uhr war er tot. Alles geschah überraschend und plötzlich. Am Vormittag verließ Doktor Tegel seine Zelle. "Also dann, bis morgen!", sagte er. Kurz darauf führte man sie weg: Helmuth von Moltke und etliche andere. "Zur Verhandlung in Plötzensee" hieß es lakonisch. O-Ton Poelchau: Natürlich hat mich jeder einzelne Tod bewegt; man kann nicht einen Menschen einfach sterben sehen, besonders kann man ihn nicht sterben sehen, so einfach, wenn man Monate, manchmal über ein Jahr lang mit ihm zusammen gewesen ist im Gefängnis. Ich habe ja Freundschaften, ganz echte Freundschaften geschlossen mit vielen. Und ich habe es mit gelitten; ich habe ja meine grauen Haare dadurch gekriegt. Und trotzdem kann man wohl sagen, dass das Bewusstsein des Tragenden im Christentum mich gehalten hat. (...) Ich habe ein sehr lustiges Erlebnis gehabt, als ich in London war, beim BBC sprach, und gleich hinterher rief ein Ingenieur, ein Flugingenieur, an, der Bomben auf Berlin geworfen hatte, und bat, er möchte mich doch sprechen können. Wir verabredeten uns, und er sah mich dann, und wir unterhielten uns, und dann brach er in den Ruf aus: "You look so happy!" Er konnte es gar nicht verstehen, dass ein Mann, der so viel Leid und so viel Tod gesehen hat, im Grunde doch heiter und ausgeglichen und fröhlich war. Und das ist ein Gottesgeschenk, mehr kann ich nicht sagen, dass ich diese Fröhlichkeit behalten habe, und ich hoffe, sie auch noch eine Weile zu behalten. Absage: "Die Heiligen sind wir." Harald Poelchau - Gefängnispfarrer in Tegel und Plötzensee 1933 - 1945 Ein Feature von Anna Panknin Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks Es sprachen: Daniel Berger, Gregor Höppner, Elenor Holder, Sibylle Kuhne, Volker Risch und Ilse Strambowski Ton und Technik: Ingeborg Kiepert und Jutta Stein Regie: Thomas Wolfertz Redaktion: Marcus Heumann 23