Hörspiel Feature Radiokunst Das Feature "Halts Maul, du lügst" Verdingkinder in der Schweiz Autor: Charly Kowalczyk Redaktion: Karin Beindorff, Wolfgang Schiller Produktion: Deutschlandfunk/HR/SWR/WDR 2013 Erstsendung: Dienstag, 12.03.2013, 19.15 Uhr Wiederholung: Dienstag, 29.10.2013, 19.15 Uhr Wiederholung: Dienstag, 11.07.2023, 19.15 Uhr Es sprach: Bernhard Schütz Ton und Technik: Alexander Brennecke Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Atmo: Schöne Naturatmosphäre Musik Ansage: "Halts Maul, du lügst" Verdingkinder in der Schweiz Ein Feature von Charly Kowalczyk Erzähler Ich sammle seit Jahren Biografien von Kindern, die nicht mehr bei ihren Eltern leben können und schreibe darüber. 2004, nach einer Lesung in Freiburg im Breisgau, kam ein alter Schweizer auf mich zu. Er erzählte mir von seiner Kindheit im Kanton Basel-Land. Als Vierjähriger sei er, als Kind armer Eltern, zu einer Bauernfamilie als "Verdingbub" gebracht worden. Dort habe er von morgens bis abends schuften müssen. Als er dann Ende der 90er-Jahre gewagt habe, anderen über seine Erlebnisse zu erzählen, wollte es niemand wahrhaben. "Halts Maul, du lügst" habe er sich immer wieder anhören müssen. Musik Erzähler Über den 2008 gegründeten Verein "netzwerk-verdingt" lernte ich ehemalige Verdingkinder kennen. Mit Dora Stettler bin ich vor der Mietwohnung verabredet, in der sie mit ihren Eltern und zwei Geschwistern die ersten Lebensjahre verbracht hatte. Das dreistöckige Haus liegt im Nordosten der Hauptstadt Bern, in einer Reihenhaussiedlung des früheren Arbeiterquartiers "Breitenrain". O-Ton Dora Stettler Da im Parterre haben wir gewohnt, hier rechts, und auf der anderen Seite sind die zwei Zimmer. Das Schlafzimmer von den Eltern ein ganz gewöhnliches Schlafzimmer mit zwei Betten und zwei Nachttischen, ein Schrank. Und wir hatten das andere Zimmer. Eine Couch und ein großes Bett und noch ein Gitterbett, das war mein Bett. Mehr hatte ja nicht Platz... Erzähler Dora Stettlers Vater arbeitete im Stadtteil als Schreiner, ihre Mutter verdiente mit Nähen und manchmal als Verkäuferin im nahe gelegenen Einkaufszentrum dazu. Bis heute geht die 85-Jährige in "Breitenrain" zum Arzt, zur Pediküre und auch zum Frisör - obwohl sie jetzt in Muri lebt, am Stadtrand von Bern. Atmo: Spaziergang Erzähler Auf unserem Spaziergang in "Breitenrain" erinnert sich Dora Stettler: "Hier war der Schuster, dort der Bäcker, da gingen wir bei der "Salzhexe" Salz kaufen." Wenn sie im Stadtteil unterwegs ist, sagt sie, käme unvermeidlich ihre Vergangenheit hoch. Sie war gerade sieben Jahre alt, als ihre Kindheit zuende ging: O-Ton Dora Stettler Ich weiß nicht mehr genau, was drum ging, aber er hat die Mutter angeschrien am Tisch und da hab ich mich zwischen die Mutter und den Vater gestellt, irgendwie als Vorsorge... Ich hatte Angst um die Mutter, ich wusste nicht, ob er nicht dreinschlägt. Autor: Aber ihr Vater hat nicht geschlagen? O-Ton Dora Stettler Ein einziges Mal hat er die Mutter geschlagen. Das war dann damals, als sie ihm den Koffer im Gang bereitgestellt hat. Und als er am Abend kam, um den Koffer zu holen, hat er sie gestoßen und sie ist gefallen... Aber ich begreife das. Man hat ihm die Kinder genommen, die Frau ist weg und so einfach das ganze Heim genommen. Erzähler Einige Monate nach der Trennung der Eltern, erzählt sie mir, versprach die Mutter ihren Kindern einen Ausflug ins Berner Oberland. Sie freuten sich darauf. Auch Karl, der neue Freund der Mutter, sei dabei gewesen. O-Ton Dora Stettler Sie hat uns die Kleider bereit gelegt, die Sonntagskleider und... die Mutter hat uns immer die Kleider zurechtgelegt, drum ist es mir nicht aufgefallen... Sie kam in das Zimmer und sagte, jetzt machen wir eine Reise, macht Euch reisefertig! ... Da gingen wir auf die Bahn nach Oberdiessbach und in Oberdiessbach war das Postauto bis nach Heimenschwand. Und dort sind wir ausgestiegen und dann haben wir das Panorama bewundert und habe mich auch gewundert, dass da die schwarz gekleidete Frau gestanden ist. Und mein Bruder hat genau das Gleiche geschaut. Ich hab ihn beobachtet, er hat sie angeschaut und dann hat er mich angeschaut und hatte ... so mit dem Kinn so komisch gemacht. Wie wenn er wollte sagen, was will die eigentlich? Wir haben irgendetwas gespürt und dann kam sie zu uns, hat sich vorgestellt und ist mit uns auf den Bauernhof gegangen. Erzähler Die Mutter hatte alles vorher geplant, sagt Dora Stettler. Der amtliche Vormund trennte die Geschwister, später wurde die zwei Jahre ältere Schwester auf demselben Bauernhof wie Dora untergebracht. Ihren elfjähriger Bruder verdingten die Behörden auf einem Nachbarhof. O-Ton Dora Stettler Das frag ich mich heute immer, warum hat sie die Kinder weggeben können? Aber die hatte nur Augen für ihren Karl. Sie war richtig verschossen und verliebt in diesen Mann. Und da war ihr alles andere egal... Jetzt sind wir die Hermann-Goofen los hat sie auf dem Bauernhof zu ihrem Karl gesagt und mein Bruder hat das gehört. Das war furchtbar. Autor: Hermann hieß ihr Vater... O-Ton Dora Stettler Hermann ja, das war unser Familienname: Er hieß Johann Hermann. Jetzt sind wir die Hermann-Goofen los, hat sie gesagt. Erzähler Die Bauern bekamen Kostgeld für das Mädchen. In den 30er und 40er-Jahren waren das in manchen Gemeinden oder Kantonen monatlich 35 bis 45 Franken: damals, viel Geld. O-Ton Dora Stettler Und wir mussten ja arbeiten, immer etwas machen, immer etwas tun. In der Küche helfen, abwaschen helfen oder auf dem Feld helfen, Kartoffeln auflesen... Oder beim Grasen helfen, den Rechen ziehen und mit der Heugabel das Gras aufladen. Ich war ja noch viel zu klein, um das richtig zu machen... Sie wussten schon, dass das noch nicht geht, aber sie haben mich nachgezogen für das zu machen. Erzähler Die Bäuerin habe den Schwestern mit Schlägen gedroht, sollten sie anderen erzählen, wie es ihnen geht. Also schwiegen sie: Auch vor der Fürsorgerin und der Mutter. Kam die zu Besuch, durften die Mädchen ihre Sonntagskleider anziehen und mussten nicht arbeiten. O-Ton Dora Stettler Irgendwie war die Frau überreizt und sie hatte ja auch noch ihren Sohn verloren... und da ging sie oft auf den Friedhof und wenn sie zurückkam, war sie sehr aufgeregt und böse und zornig, weil sie ihren Sohn nicht hatte, sondern fremde Kinder haben musste... Wenn z. B. der kleine Bub gespielt hat und wir arbeiten sollten, da wurde sie zornig und hat ihn weggerissen und ging mit ihm in die Stube und hat ihn durchgepeitscht. Autor: Sind Sie auch geschlagen worden? O-Ton Dora Stettler Ja viel, an den Haaren gerissen hat sie viel ja, fast alle Tage und hat mich geohrfeigt, und da hatte ich Spinat im Teller, und das hat mich erinnert an die schöne Wiese auf der Höh, und da hab ich´s etwas gehalten, so dass das Licht einfallen konnte und da hat sie mich geohrfeigt und gesagt, man spielt nicht mit dem Essen, und sie hat mich auf die Kante geschlagen und das Auge hat den Schaden genommen. So ist es gewesen. Vorne musste ich aufpassen, dass ich der Bäuerin alles recht machte und hinter dem Haus oder auf dem Feld musste ich aufpassen, dass ich nicht zu nahe bei ihm war... Der wollte uns immer unter den Rock greifen... Einmal hat er mich auf den Arm genommen und hat versucht mich zu betasten und da habe ich mich gewehrt und gezappelt, bis ich runtergerutscht bin wieder. Musik Erzähler Ich gehe in ein Restaurant. In der Gaststube lassen die Menschen den Tag ausklingen. Kellnerinnen scherzen mit den Gästen, am Nebentisch wird über den Alltag geredet, viele lesen Zeitung. Alles wirkt harmonisch, zufrieden mit der Welt. Ich stelle mir Fragen. Warum mussten die Kinder von Amts wegen so viel Leid erfahren? Warum war das in einem zivilisierten Rechtsstaat wie der Schweiz möglich? O-Ton Thomas Huonker Es sind jedes Jahr mehrere Zehntausend gewesen. Über die Jahrhunderte muss man ja sagen Hunderttausende, das heißt ein beträchtlicher Anteil der schweizerischen Unterschichten durchlief dieses System. Erzähler Thomas Huonker ist Historiker an der Universität in Zürich. O-Ton Thomas Huonker Wenn in einer vermögenden Familie ein Elternteil ausfiel, dann konnte er durch Einstellung von Personal oder durch Verwandtschaftshilfe durchaus seine Kinder behalten... Wenn aber das in armen Kreisen geschah, dann tat sich da sofort ein Loch auf... Es gab nicht die Sozialfürsorge, die da einspringen würde. Sondern die Sozialfürsorge, die hieß auch so, aber sie wurde anders gehandhabt, die bestand darin, dass man eben diese Familien auflöste. O-Ton Jacqueline Fehr Armut war sicher eine Schande, auch in einem gewissen religiösen Kontext oder protestantischen Kontext ein Verbrechen. Man hat sich eben nicht genügend bemüht. Insofern ist es stark ein persönliches, individuelles Versagen, im Empfinden dieser Menschen oder im damaligen Werteempfinden und auch im Empfinden heutiger Menschen noch. Und die fehlende Armutspolitik ist der Grundstein dieser Verdingkind-Politik. Erzähler Jacqueline Fehr lebt in Winterthur. Sie ist Mitglied des Nationalen Parlaments und Vizepräsidentin der Sozialdemokratischen Partei in der Schweiz. Hier gibt es viele Opfer von fürsorgerischen Zwangsmaßnahmen, auch noch bis fast zum Ende des 20. Jahrhunderts, sagt die Nationalrätin: Heimkinder, Zwangsadoptierte, Zwangssterilisierte. Bis in die 1980er-Jahre hinein konnten Frauen und Männer gegen ihren Willen sterilisiert oder kastriert werden. Schon eine uneheliche Schwangerschaft oder der Verdacht auf sogenannte ‚Geistesschwäche' konnten zu dieser staatlichen Maßnahme führen. Bis 1981 sperrten Behörden Jugendliche und Erwachsene ohne Gerichtsurteil auf unbestimmte Zeit ein. Die Einschätzung: "lasterhafter Lebenswandel", "liederlich" oder "arbeitsscheu" genügte. Atmo: Autofahrt nach Heimenschwand Erzähler Dora Stettler fährt mit mir nach Heimenschwand, zu dem Bauernhof, auf dem sie 1935 verdingt wurde. Atmo: Auf wie viel Meter geht´s da hoch nach Heimenschwand? Bis 1000 Meter. 1000 Meter... Ja, ja, man muss schon aufpassen... Da kommt einer schnell, viel zu schnell. Jetzt geht´s noch höher. Ja. Erzähler Wir fahren an alten Bauernhäusern vorbei: die Balkone mit Geranien geschmückt. Bäume und Wiesen schotten die Höfe voneinander ab. Vor uns das Berner Oberland. Einsame Orte. Unbeobachtete Höfe. Eine Kulisse ländlicher Idylle. Atmo: Autofahrt Musik Erzähler In Heimenschwand zeigt mir Dora Stettler den Hof. Von oben blicken wir auf das Wohnhaus, den Stall, die Scheune. Näher heran will sie nicht. Das Auto parkt sie lieber vor der ehemaligen Schule. Atmo im Auto Da haben wir mit der Lehrerin Ringelreihen gespielt und gesungen mit den Kleinen, das war aber nett mit uns, war gut... Da sieht man die Gantrisch Kette... Und hinter den Bäumen wäre noch der Niesen, der bei Thun Spiez und das ganze Oberland... (bleibt darunter) Erzähler Die Lehrerin behandelte mich gut, sagt Dora. Das Mädchen war aufgeweckter als die Bauernkinder. Das half ihr. Auch die Treue ihres Vaters stärkte sie. Doras Mutter wollte ihm nicht die Erziehung der Kinder überlassen. Sie schaltete die Vormundschaftsbehörde ein, um das Sorgerecht zu behalten. Doch der Vater ließ nicht locker. Er besuchte seine Kinder regelmäßig, manchmal kam er unangemeldet. O-Ton Dora Stettler Aber einmal als der Vater kam, da konnte meine Schwester nicht mehr schweigen, da hat sie geweint und dann haben wir geklagt, und da hat der Vater sehr geschumpfen und geschrien mit den Bölkis. Das war eine richtige Komödie. Und die Bölki hat geweint... Mein Vater hat gesagt: "Tasten Sie meine Kinder nicht noch einmal an, sonst werden Sie mich noch anders kennenlernen!"... Aber dann waren wir nicht mehr lange dort. Wir wurden weggeholt. Erzähler Die Dora musste mit acht Jahren allein reisen, erzählt sie, ihre Schwester war schon vorgefahren zu den neuen Pflegeeltern, der Bruder blieb in Heimenschwand zurück. O-Ton Dora Stettler Der Bauer hat die Koffer in den Schubkarren gelegt und den Schlitten und alles was uns gehörte in den Schubkarren und dann haben sie mir noch die Puppe in den Arm gelegt und gesagt, so jetzt geht´s los, aufs Postauto hinauf. Ich wusste nicht wohin. Aber ich hatte einen langen Zettel, war etwas draufgeschrieben und den haben sie mir in den Mantelsack geschoben. Das war das Billet, handgeschriebenes Billet... Ich habe ihm nicht die Hand gegeben. Ich bin einfach eingestiegen und habe nicht mehr zurückgeschaut. So ist der Abschied gewesen. Erzähler Als das kleine Mädchen in Zäziwill im Emmental ankam, stand die neue Pflegemutter sie am Bahnhof. O-Ton Dora Stettler Ja ich bin jetzt deine neue Mutter, hat sie gesagt, ja das war schon ein Aufsteller...(lacht!) Atmo: Bauernhof Erzähler Aber es sei nicht besser geworden für die beiden Mädchen, sagt Dora. Bei Tisch aßen sich die Pflegeeltern und ihre Kinder am guten Fleisch satt. Für die Mädchen blieben die Knochen und das, was die Familie übrig ließ. Und immer wieder gab es grundlos Schläge. O-Ton Dora Stettler Wir mussten immer wieder sie küssen, wenn sie uns einen Klopfer gegeben hatte und sagen... Es tut mir leid Mutti, ich will es nicht mehr machen... Aber ich wüsste nicht, was ich nicht mehr machen musste. Musste einfach diesen Satz sagen... Die Mutter hat uns gesagt, wehe wenn ihr etwas sagt Eurem Vater wie ihr es bei den Bölkis gesagt habt, dann schlage ich Euch dumm und krumm... Der Chaib von Bern, der holt mir die Kinder weg, der ist imstande und holt mir die Kinder weg, hat sie gesagt. Erzähler Dann heiratete der Chaib, also der Vater, wieder. Er klagte gegen die Vormundschaftsbehörde, gewann den Prozess und holte seine Kinder nach Hause zurück. Dora wurde Technische Zeichnerin, heiratete und bekam eine Tochter. Heute ist sie zweifache Urgroßmutter. O-Ton Dora Stettler Man ist gezeichnet, und man darf nichts sagen, und man ist scheu, und man ist geduckt. Und man macht alles, was die Leute sagen und ja keinen Fehler. Und ja nicht auffallen... Da war da so eine Episode. Da habe ich Autofahren gelernt... und da kam ich an die Kreuzung und da war grün für mich... Da hat der Fahrlehrer gesagt, so jetzt können Sie gehen, ist jetzt an Ihnen... Da habe ich gedacht, jetzt habe ich die gleichen Rechte wie alle anderen, mit dem Autofahren komme ich auch dran und nicht zuletzt. Musik: Switzerland´s Stolen Generation von Walti O-Ton Andrea Weik Damals reichte es eigentlich, dass sie in ihrer Gemeinde gesagt haben, sie möchten ein Kind bei sich aufnehmen. Und es gab ja auch einen großen Überschuss von Kindern... weil die Eltern... eben arm waren oder einen Lebenswandel führten, der als liederlich bezeichnet wurde. Sie hatten also gute Chancen da sehr schnell zu einem Kind zu kommen, ohne dass sie gewährleisten mussten, dass sie auch gut zu dem Kind schauen. Erzähler Andrea Weik, die Jugendamtsleiterin des Kantons Bern, bat mich, ihr meine Fragen vor dem Gespräch mitzuteilen. Das Thema sei brenzlig, sie wolle nichts Falsches sagen. Vormundschafts- und Fürsorgebehörden von Kantonen und Gemeinden in der Schweiz hätten jahrzehntelang versagt. Heute sei es besser. Zum 1. Januar 2013 trete das neue Kindes- und Erwachsenenschutzrecht in Kraft, das anstelle der Milizlaienbehörden professionelle Fachbehörden vorschreibt. Niemals mehr solle sich wiederholen, was man Verdingkindern und deren Eltern angetan habe. O-Ton Andrea Weik Ich bin froh, dass der Schleier des Verschweigens gelüftet wurde. Ich bin froh, dass die Betroffenen jetzt darüber reden können. Ich bin froh, dass auch die politischen Behörden jetzt zuhören. Ich bin froh, dass die ganze Geschichte aufgearbeitet wird, eine der dunkelsten Kapitel der Schweizer Sozialgeschichte... Es ist ein Appell auch an uns Behörde, dass wir das bestmögliche auch heute vorsehen, dass Kinder, die nicht bei ihren Eltern aufwachsen können, die fremd platziert werden müssen, dass die allen Schutz, und alle Begleitung, alle Fürsorge bekommen, die sie eben brauchen. Atmo: Kühe grasen, Kuhglocken, Dorf von Lisa Mattis Erzähler Lisa Mattis wohnt in einem kleinen Dorf im Kanton Fribourg. Sie kam 1965 zur Welt. O-Ton Lisa Mattis Die Ehe, die war sehr glücklich. Meine Mutter, die liebte aber Musik über alles... Und ja in ´64 hat sie dann auch wieder in Zürich so ein Konzert besucht. Das war ein Franzose, der dort seinen Auftritt hatte und meine Mutter, die wollte natürlich auch immer ein Autogramm mit Foto.Immer am Schluss war sie dann so in Backstage und hat gewartet, bis die Musiker kommen und konnte so auch immer die Autogramme ergattern. Und ihr Mann, der war aber dann müde und sagte... ich geh nach Hause, du kommst nachher mit dem Zug... Sie hat dann diesen Musiker, irgendwie haben sie sich auf Anhieb verstanden. Die gingen dann noch auf ein Nachtessen. War Wein und interessante Diskussion, und noch mehr Wein und am Schluss war halt eben meine Mutter ein bisschen betrunken... Und da hieß es, ja sie komme diese Nacht in das Hotelzimmer... Ja und dann passierte es halt. Da wurde ich gemacht. Erzähler Mit ihrem Mann hatte sie bereits drei Söhne. Nun war er tief gekränkt und trennte sich von Lisas Mutter. O-Ton Lisa Mattis Die drei Buben, die kamen natürlich zum Vater, weil von diesem Tag an war sie wieder abgestempelt als Italienerin, obschon sie und ihre Eltern hatten den Schweizer Pass. Sie waren eingebürgert... und die Vormundschaftsbehörde von St. Gallen, wo sie ja wohnte, hat beschlossen, das Kind, das da kommt, könne man ja nicht mehr abtreiben. Das sei nun zu lange her diese Zeit, dass das einfach für die Adoption frei gegeben wird. Und das wollte meine Mutter aber nicht. Sie hat gesagt, wenn mir jetzt schon meine drei Buben weggenommen wurden, dann behalte ich aber dieses Kind... Und sie ist dann von St. Gallen eigentlich nach Kanton Bern geflohen, nach Schwarzenburg, und hatte dort auch das Glück. Dort war der Gastwirt vom Restaurant Bahnhof... der hat ihr Unterkunft gegeben... und sie hatten das Abkommen, dass sie, wenn ich dann auf der Welt bin, dass sie eigentlich dann auch dort arbeiten darf. Damit sie ihr Leben finanzieren kann und mich auch. Erzähler Auch das vierte Kind wurde Lisas Mutter weggenommen. Obwohl sie es hätte ernähren können. Sie wollte Lisa nicht zu Adoption freigeben. Vor 12 Jahren hat Lisa ihre Mutter zum ersten Mal getroffen. Von ihren Brüdern erzählt die Mutter ihr nichts, auch nicht, dass sie seit 47 Jahren nach ihnen sucht. Als Lisa dann 2012 durch ihren Anwalt davon erfuhr, wurde sie wütend auf ihre Mutter - und wollte den Kontakt zu ihr abbrechen. Doch der Anwalt überzeugte Lisa, sie noch einmal zu treffen. Endlich erzählte sie ihrer Tochter die ganze Geschichte. Aus Scham habe sie nicht sprechen können - aus Scham, eine ‚Ehebrecherin' zu sein. Musik Erzähler Lisa Mattis streitet mit den Behörden, geht vor Gericht, will mehr über ihre Kindheit erfahren. Als sie ihrer Mutter weggenommen wurde, bekam sie einen anderen Namen. Wie ihre Halbbrüder, sollte sie von den Eltern nicht gefunden werden. Die heute 47-Jährige zeigt mir Dokumente. Mithilfe eines Journalisten fand Lisa Mattis den Notar, der damals den Vormund für sie bestellte. O-Ton Lisa Mattis Ich muss vielleicht so sagen: Zur früheren Zeit war es eben so, dass eine fremdgegangene Frau, eine ledige Frau überhaupt kein Recht in der Schweiz hatte. Und wenn sie eben halt das Kind nicht mehr abtreiben konnte, das man es wegnahm. Erzähler Ob sie Kontakt zu ihrem französischen Vater habe, frage ich Lisa Mattis. "Erst seit ein paar Wochen", antwortet sie. Ihr Anwalt hatte die Adresse ausfindig gemacht. O-Ton Lisa Mattis Er wusste nicht, wo meine Mutter ist, er wusste nicht wie ich heiße, weil er hat ja angefragt. Er hat auch etliche Male... mein Geburtsort, hat er hingeschrieben und gebeten, wenn er ja schon bezahlen müsste, ob man ihm nicht mal ein Foto senden könnte oder ob er mich mal sehen könnte... Er hat Briefe bekommen mit Antworten, das wäre nicht möglich: Meine Mutter möchte das nicht haben. Aber er sei verpflichtet als leiblichen Vater für den Unterhalt aufzukommen. Und er hat natürlich nicht gewusst, dass ich nicht bei meiner Mutter bin... und das kann er dokumentieren. Er hat jeden Abschnitt aufbewahrt... Mein leiblicher Vater hat die Berner Vormundschaftsbehörde gebeten, dass man seiner Frau nichts sagen würde. Die Berner Vormundschaftsbehörde hat einen persönlichen Brief an seine Frau gesendet, dass er in der Schweiz eine uneheliche Tochter hat. 1967 haben sie das gemacht. Diesen Brief hat er noch... Da hat sie - er hat eine Tochter und einen Sohn - ... hat sie die genommen und war ausgezogen. Erzähler Der Vater wurde Alkoholiker, die Mutter bekam früh ein Herzleiden, sagt Lisa. Zerstörte Ehen, traumatisierte und verschwundene Kinder, gekränkte Partner... Und gefühlskalte Beamte mit Doppelmoral. Und Lisa? O-Ton Lisa Mattis Da muss ich ehrlich sein, ich mag mich nicht erinnern bis 1970... und schade ist, wir können das auch nicht mehr konstruieren. Ich hatte vom November an einen Vormund in Schwarzenburg. Der hat mich platziert, aber dieser Vormund ist gestorben. Und sein Sohn wusste nicht, was mit diesen Akten anzufangen. Der hat das leider vernichtet... Erzähler Lisas Vormund verschob sie von Ort zu Ort, "platzierte sie fremd", wie es offiziell heißt. Sie musste einem Weinbauern bei der Ernte helfen, da war sie fünf. Danach kam sie in ein Heim, dann in eine Pflegefamilie, später zu einer anderen Familie, in der noch viele andere angenommene Kinder lebten. Dort blieb sie. O-Ton Lisa Mattis Die Pflegemutter brauchte den Teppichklopfer... und da schlug sie immer so lange, man konnte nicht mehr hocken, das ging nicht mehr... Ihre Gründe waren einfach darin, also ich war der Tschink sowieso dort, deswegen das muss man austreiben, ein Tschink ist nichts Gutes... Autor: Tschink steht für Italiener... O-Ton Lisa Mattis Das steht für Italiener ja... Oder die sperrte sie in die Besenkammer ein und da war man stundenlang dort ohne Licht, obschon ich muss sagen, die Besenkammer, die liebte ich. Da musste man nicht arbeiten. Die liebte ich. (lacht) Musik O-Ton Lisa Mattis Wir haben auch niemandem was gesagt, weil uns glaubte ja niemand. Ich bin 100%ig sicher, die haben das gewusst, aber wir mussten ja bei denen auch die Haushaltung putzen. Erzähler Die Pflegemutter nahm Geld von den Nachbarn, zu denen sie Lisa putzen schickte. In den Sommerferien brachte sie das Mädchen bei einem Bauern unter. Jahrelang, jeden Sommer. Dort habe sie Schlimmes erlebt, sagt Lisa: sexuellen Missbrauch, Ausbeutung, Gewalt... Manchmal behauptete die Tochter der Familie, Lisa habe ihr etwas weggenommen. Der Bauer strafte. Er sperrte Lisa in das Bienenhaus ein. Ihr Körper zerschunden, zerstochen, eine einzige Wunde. Der Arzt, zu dem man sie brachte, schwieg. Diese Kinder hatten Lehrer, Ärzte, Nachbarn, einen Vormund - sie alle sahen weg. Lisas Pflegemutter war eine angesehene Bürgerin der Stadt Thun. O-Ton Lisa Mattis Also ich zieh prinzipiell eben aus diesem Grund um, ich fliehe. ... Jedes Jahr, jedes Jahr, ich hab´s immer so auf Sommerferien... Ich stelle mich nicht der Aufgabe. Aber eben ich war von dem her egoistisch und hab gar nicht an die Familie gedacht. Die mussten wirklich mitziehen. Meine Kinder, die würden für mich alles machen. Die lieben mich, sie sagen mir das auch, aber es ist mir jetzt erst grad letztes Jahr passiert, da wurde meine Größere volljährig und da hat sie mir gesagt: "Mami, Du bist die liebste Mutter der Welt, aber Liebe hast Du uns nie gegeben." Und solches tut weh, das schmerzt. Erzähler Nirgendwo ist registriert, wie viele Schweizer Kinder im 19. und 20. Jahrhundert auf Bauernhöfen verdingt wurden. Und wie reagieren die Bauernfamilien? Über sie finde ich nichts in den Zeitungen, vergeblich suche ich nach biografischen Dokumenten, persönlichen Geschichten oder historischen Studien. Warum eigentlich? Und warum schweigen die Nachfahren? Sie sind nicht verantwortlich für das Verhalten ihrer Eltern oder Großeltern, allerdings profitierten sie davon. Nach Berechnungen eines früheren Chef-Ökonomen der Schweizer Großbank UBS - er möchte anonym bleiben - hat die Landwirtschaft Gratisarbeit in Höhe von 20 bis 65 Milliarden Franken erhalten - von Verdingkindern. Musik Erzähler Ich bin auf dem Weg nach Sumiswald im Emmental. Auf den sanften Hügeln stehen restaurierte Bauernhöfe und modernisierte Käsereien, in den Tälern sind die Dörfer herausgeputzt. Noch nicht lange her, da war das Emmental arm. Die Bauern brauchten viele Hände zum Arbeiten. Ich bat um ein Interview mit dem Vormundschaftssekretär in Sumiswald. Sein Mitarbeiter sagte mir: "Nach dem Spielfilm "Der Verdingbub" von Markus Imboden ist doch alles aufgearbeitet. Aber wenn Sie darauf bestehen?!" Hans Ulrich Schär wäre zu einem Interview bereit. Bevor ich ihn treffe, wandere ich ein wenig im Emmental herum, frage in Bauernhöfen nach, ob ihre Eltern oder Großeltern Verdingkinder aufgenommen hätten. Ob sie mit mir darüber reden würden. "Na ja, wir hatten es damals alle schwer. Lassen Sie es gut sein!" Hier haben viele Familien mit Verdingkindern gelebt. Auch die Großeltern von Hans Ulrich Schär. O-Ton Hans Ulrich Schär Also ich weiß, meine Großeltern waren sehr gut zu ihnen, auch zu der Magd, die wir dann noch lange hatten. Das kann ich wirklich bezeugen, das war gut (lacht). Die haben es gut gehabt bei uns... Ja, vielleicht ist es eine Frage der Einstellung, dass man nicht gerne zurückschaut, man spricht auch nicht gerne über den Krieg. Ich spreche vor allem von meinem Verwandten- und Bekanntenkreis, dass man ein bisschen die Einstellung hat, ja das ist von früher, das ist abgehakt. Erzähler Der Vormundschaftssekretär verschweigt nicht, dass Verdingkinder Unrecht erfahren haben. Zweifellos, ja, das tue ihm leid. Dennoch hätten die Kollegen damals ihre Arbeit mit bestem Gewissen gemacht. Deshalb könne er sie nicht kritisieren. Atmo: Fahrt nach Lyss, kurz frei, dann darunter Erzähler Ich bin auf dem Weg zu Hugo Zingg. Er wohnt mit seiner Lebensgefährtin in Lyss, einer Kleinstadt zwischen Bern und Biel. Nach der Geburt kam er ins Heim. Als Sechsjähriger wurde er auf einem Bauernhof verdingt. Atmo Erzähler Der 76-Jährige holt mich vom Bahnhof ab. Ein kurzer Fußweg nur zu seiner Wohnung. Dort zeigt er mir ein Köfferchen. O-Ton Hugo Zingg Das ist der Koffer vom Knecht als er auszog vom Bauernhof, mit 20 Jahren etwa und da ging er im Winter in eine Holzkooperation, also zum Holzfällen auf einen Berg, um Akkordarbeiten vorzunehmen. Und das Köfferle hat der mitgenommen, wo er sein Hab und Gut hatte, also Schuhe, Kleider - alles hatte da in diesem Köfferchen Platz. Atmo: Alm Erzähler Vor 63 Jahren erbte Hugo Zingg das Köfferchen. Fritz, der Knecht, und er, der Verdingbub, mussten hart arbeiten. Abends blieb die Bauernstube für sie versperrt. Auch im Winter. Ihnen wies man den Stall zu. O-Ton Hugo Zingg Das war... im Jahre 1950 am Neujahrstag ist der Knecht etwa morgens um 7 Uhr, es hat langsam angefangen zu tagen, kam er um die Ecke... so jetzt gehe ich mich erschießen. Ich hinten nach... und ich wusste, er hatte die Armeewaffe... Dann hab ich den Schaft geöffnet, wir hatten zusammen einen schmalen Schaft, hab den Karabiner rausgenommen... "Fritz das ist das Beste für Dich, wenn´s das Du machen kannst." "Ja meinst?" Ich sage: "Ja für Dich ist das das Beste." Dann bin ich gegangen in Stall... um halb 9 hörte man eben im kleinen Wäldchen ein Knall... Ich war irgendwie froh... Ich wusste, jetzt muss er nicht mehr in schlechten Schuhen, zerrissenen Kleidern muss er im Winter in den Schnee hinaus, in den Wald und so und immer nur Schimpfen und zu wenig Essen... Und irgendwie sah ich mich da als Lebensretter, aber im umgekehrten Sinn. Und ich stehe dazu heute. Ich kann´s verantworten. Erzähler Im Dorf ging das Leben nach dem Selbstmord weiter, als sei nichts geschehen. Alle kannten Fritz. Der Knecht war schon als "Verdingbub" auf den Hof gekommen. Niemand interessierte sich dafür, warum er sich das Leben nahm. Auch die Polizei stellte keine Nachforschungen an. "Tiere wurden gehätschelt, gefüttert, geliebt.", sagt Hugo Zingg. "Wir waren eben weniger wert als die Kuh." Zehn Jahre blieb er dort. Musik Erzähler Der kleine Hugo musste von früh morgens bis spät abends arbeiten. Zwischendurch hetzte er den Weg ins Dorf hinunter zur Schule, nach dem Unterricht den steilen Pfad wieder hinauf: zwei Mal am Tag, den Berg runter und wieder rauf. Dafür brauchte er Stunden. Wenn er zu spät zum Unterricht kam, gab es Ärger. Wenn er nicht schnell genug wieder oben war, wartete auf dem Bauernhof der Lederriemen. O-Ton Hugo Zingg Das interessierte niemand, ob ich, wie viel Zeit oder was. Nichts, nichts, Schablone, die Zeitschablone von da bis da Schule, von da bis da bist du zu Hause, was zwischendurch ist interessiert niemand...Hopp, hopp, hopp, und immer eingeduckt, mach ich´s recht, mach ich´s recht. Ja, das glaubst du nicht, du willst nicht, hast du das und das...nur so. Erzähler Niemand interessierte sich für Hugo, sagt er. Wenn sein amtlicher Vormund zum Bauern kam, aß der sich satt, fragte nichts, sein Mündel wollte er nicht einmal sehen. Auch der Pfarrer und der Lehrer wurden vom Bauern versorgt. Alle im Dorf hätten gewusst, dass er gequält wurde, besonders von der Pflegemutter. Atmo: Autofahrt, Dialog Zingg / Lebensgefährtin Erzähler Hugo Zingg und seine Lebensgefährtin fahren mit mir nach Wattenwil, einem Dorf zwischen Bern und Thun, im Gürbetal. Hier sei er immer auf der Suche nach seiner verlorenen Kindheit, erzählt er mir. Wir schauen uns seine alte Schule an. Dort waren damals mindestens ein Drittel aller Schüler Verding- oder Heimkinder. Ein Blick in die Kirche, im Gasthof essen wir zu Mittag, Hugo Zingg geht offensiv mit seiner Vergangenheit um. Dann zum Bauernhof. Wir bleiben im Auto vor dem Haus stehen, steigen nicht aus. Die Bäuerin sei so bösartig gewesen, erzählt Hugo Zingg, dass sich nicht nur der Knecht das Leben nahm, auch mehrere Familienmitglieder. O-Ton Hugo Zingg (im Auto) Vor zwei Jahren bin ich hier... spazieren gegangen, weil ich nach oben wollte und da hat man den Bauernhof nicht mehr gesehen da von der Straße. War so Wildwuchs meterhoch... Das Dach ist eingestürzt und alles, ist alles verlottert. Jetzt haben sie das Dach machen müssen. Sonst hätten sie das Haus gesperrt zum Bewohnen... Und der Grund ist nur, weil eine Person es fertig brachte, eine, zwei, drei Generationen zu vernichten moralisch, psychologisch und so. Erzähler Lange hält es Hugo Zingg nicht vor dem Bauernhof aus. Also weiterfahren, bis ganz nach oben, auf neunhundert Meter Höhe. Hier habe er schon als Junge gearbeitet. Saftige Wiesen, grasende Kühe, der Ausblick auf eine grandiose Berglandschaft. Plötzlich taucht der Eigentümer des Grundstücks auf. Er ist verwandt mit Hugos Pflegefamilie. O-Ton Dialog Bauer/Autor Bauer steigt aus dem Auto und spricht uns auf Berner-Deutsch an... Erzähler Hugo Zingg erschrickt. Weicht einen Schritt zurück. Wirkt plötzlich geduckt... Autor: Verstehe Sie nicht, akustisch...hochdeutsch... Bauer: Er sollte sich überlegen, was aus ihm gegeben hätte, hätte es die Institution Verdingkind nicht gegeben. Das sollte er sich überlegen mal. Autor: Sie denken, dass er eigentlich dankbar sein sollte... Bauer: Ich kenne ja die Zeit von daher. Ich war Jahrgang 45. Ich kenne die Zeit wo dagewesen ist bei Landwirtschaft. Das meine ich. Autor: Dass die Verdingkinder froh sein konnten, dass sie hier auf den Höfen... Bauer: Sie hatten zu essen und wie das genau gegangen ist, weiß ich nicht, aber auf jeden Fall sollten sie dankbar sein. Das glaube ich. Autor: Ärgern Sie sich, dass das so riesig zum Thema gemacht wird? Bauer: Ganz sicher, ganz sicher. Die Generation war damals, die damals Landwirtschaft betrieben hat, die sind alle tot, die sind alle weg oder? Die sind nicht mehr da. Also ich kann nicht über die heutigen, mit der heutigen Generation, die in Dreck ziehen. Bauer: Merci. Autor: Ebenfalls...Auto fährt weg... Musik: Switzerland´s Stolen Generation von Walti Erzähler Mit 16 verließ Hugo den Bauernhof. Niemand wollte ihm Arbeit geben, wegen seiner Vergangenheit als "Verdingbub". Jahre später stellte er die Bäuerin zur Rede: O-Ton Hugo Zingg "Du sag mir jetzt, wieso hast du mich immer so geprügelt... wegen jeder Kleinigkeit und so." "Ja weißt du Hugo, das ist doch ganz einfach. Du warst doch niemand. Deine Eltern waren Vagabunden und Kriminelle und so, das mussten wir machen." "Wer hat das gesagt?" "Ja das haben wir machen müssen." Aber wer, ob´s jemand gesagt hat oder befohlen hat, das konnte sie nicht sagen. Oder ein Personalchef, ein Bruder von einem damaligen Bundesrat... hab ich auch um Arbeit bemüht und da hat der das auch angeschaut und hat er gesagt: "Aber Sie Herr Zingg, wenn Sie nicht schon im Mutterleib kriminell geworden wären, wären Sie nie in solches Fahrwasser gekommen." Musik Erzähler Als junger Erwachsener fragte sich Hugo, warum er nicht zuhause bei seinen Eltern bleiben durfte. Er begab sich auf die Suche, fand sie in Bern. O-Ton Hugo Zingg Aber das war eine Enttäuschung, Katastrophe für sich... der Vater ist dann aus dem Haus gegangen, aus der Wohnung und hat geflucht... hat gesagt, die Sau, die Sauhünd... die Lumpenchaibe. Wir hatten ja nichts zu sagen damals, und die Mutter hat geweint und geweint und geweint, und ich nach einer Viertelstunde, halben Stunde bin ich wieder gegangen. Hab einen zweiten Anlauf genommen später und das war immer das gleiche... mit der Zeit bekam ich heraus: Wie viele Geschwister ich eigentlich hatte! Und sie haben gesagt, sie wissen es nicht genau, ob es fünf oder sieben sind. Inzwischen weiß ich, dass es fünf sind also mit mir sechs. Und wie wir wegkamen hab ich nicht herausgefunden. Erzähler Hugo Zingg blieb misstrauisch gegenüber Behörden. Als er eine alleinstehende Frau mit zwei Kindern kennenlernte, bot er ihr an, sie zu heiraten. Nicht aus Liebe. Er wollte verhindern, dass man ihr die Kinder wegnahm. Als die erwachsen waren, verließ er die Frau. Immer wieder packte ihn die Verzweiflung: Wegen seiner Vergangenheit als Verdingkind fand er keine Arbeit. Dann riet ihm ein Bekannter, seinen Lebenslauf umzuschreiben. Nur so hätte er in der Schweizer Gesellschaft eine Chance. Hugo Zingg nahm den Rat an. Erfand sich eine bessere Kindheit, bekam eine Anstellung und blieb dort bis zur Rente. Musik Erzähler Noch Generationen werden unter dem Verdingkinderwesen leiden. Oft haben die Betroffenen die Gewalt, die sie in den Pflegefamilien erleben mussten, in den eigenen Familien weitergegeben. Warum tut sich die Schweiz so schwer? Warum entschuldigt sie sich nicht bei den Verdingkindern?, frage ich die sozialdemokratische Nationalrätin Jacqueline Fehr: O-Ton Jacqueline Fehr In der Schweiz gibt es einen Mythos, der sich irgendwo um die These rankt, dass bei uns immer alles richtig und gut war. Und entsprechend schwierig sind dann die Konfrontationen mit Ereignissen, Geschehnissen, die eben nicht richtig waren... alles, was mit Vergangenheit zu tun hat, wird von einer gewissen Gruppe von Menschen in diesem Lande generell abgelehnt, wenn es negativ ist. Und auch das innenpolitische, das Sozialstaatliche, das sich am Verdingkinderwesen am Krassesten manifestiert, auch das wird abgelehnt und verdrängt, weil man am Mythos festhalten will, dass in diesem Lande immer alles richtig war. O-Ton Hugo Zingg Und sind viele um die 20 herum, sind in fremde Armeen gegangen, sprich Fremdenlegion, Frankreich und sind total versoffen. Kann man auf gut deutsch sagen, sind untergegangen, moralisch und ethisch, alles. Sind zum Trinker geworden oder Schläger oder Mörder vielleicht sogar. Und sind so verschwunden. Erzähler Hugo Zingg liest viel. Hält Vorträge über seine Zeit als Verdingkind. Trifft sich mit Historikern. Tut sich zusammen mit anderen Betroffenen. Der Pensionär widmet sich mit Haut und Haaren der Aufklärung des Verdingkinderwesens. Die Schweiz solle sich endlich bei den Betroffenen entschuldigen. Aber der Bundesrat drückt sich seit Jahren davor, die politische Verantwortung zu übernehmen. Fürchtet sich die reiche Schweiz vor Entschädigungsforderungen? Am 11. April 2013 soll endlich "ein Gedenkanlass für die Opfer von fürsorgerischen Zwangsmaßnahmen stattfinden", teilt das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement mit. 35 Jahre nach der endgültigen Abschaffung des Verdingkinderwesen, 1978. O-Ton Hugo Zingg Was ich möchte heute oder was ich sehe, ist einfach, erstens, die Anerkennung von der heutigen Gesellschaft, dass wir auch Menschen waren und dass wir auch eine Seele hätten oder eine Recht gehabt hätten und dass die das zur Kenntnis nimmt und sagt: Jawohl es ist so... Es ist für mich wichtig... dass der Bundesrat, wenn er sich entschuldigt, dass er es anerkennt, dass es so war... Und dazu wäre eben noch gut, wenn man doch noch etwas Finanzielles könnte aufwerfen für die Aufklärung der ganzen Sache, für die Geschichte, für die Universitäten... dann wär ich zufrieden. Und dann könnten ganz sicher noch Überlebende, wo noch sind vielleicht 20 000..., dass sie der heutigen Gesellschaft die Hand reichen könnten, sagen, jetzt schließen wir Frieden. Absage: "Halts Maul, du lügst" Verdingkinder in der Schweiz Ein Feature von Charly Kowalczyk Sie hörten eine Co-Produktion des Deutschlandfunks mit dem Westdeutschen Rundfunk, dem Hessischen Rundfunk und dem Südwestrundfunk 2013. Es sprach: Bernhard Schütz Ton und Technik: Alexander Brennecke Regie: Heide Schwochow Redaktion: Karin Beindorff 2