Hörspiel Feature Radiokunst Das Feature Ausgesperrt Das andere Russland im Exil Autoren: Anastasia Gorokhova und Erik Albrecht Regie: Dörte Fiedler Redaktion: Wolfgang Schiller Produktion: Deutschlandfunk 2023 Erstsendung: 28.02.2023, 19.15 Uhr Es sprachen: Gregor Höppner, Toni Jessen, Anne Müller, Max Urlacher und die Autor*innen Ton Jan Fraune Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - O-Ton 1 Max Poljakow (russisch) Sprecher 1 Beim Kennenlernen fragen dich die Menschen hier die ganze Zeit, wo du herkommst. Und was antwortest du schon darauf? Du sagst: "Ich komme aus Russland" und schickst innerlich einen Seufzer hinterher: "Ja, ich komme aus Russland." Anastasia Max Poljakow, 38, aus Syktywkar im Norden Russlands. Heute lebt er in Vilnius. O-Ton 2 Ksenia Chlebuschkina (russisch) Sprecherin 1 Es ist furchtbar, wenn Du keine Pläne hast für den Tag. Dann l iest du Nachrichten. Da liest du dann, dass Russen angeblich keine Visa mehr bekommen und machst dir sofort Sorgen. Aber all die ukrainischen Flaggen erinnern dich daran, dass es Leute gibt, die deutlich größere Probleme haben als du. Du hast einfach tagsüber nichts zu tun. Seltsame Probleme sind das. Erik Ksenia Chlebuschkina aus Moskau. Heute lebt sie mit ihrem Mann Jewgenij Spasibo in Warschau. Beide sind 28. O-Ton 3 Jewgenij Spasibo (russisch) Sprecher 2 Es fängt ganz irrational damit an, dass ich mich mitschuldig fühle, weil ich in Russland gearbeitet und Steuern bezahlt habe. Ich habe nicht genug getan, um früher auszuwandern. Ich war zu lange in politischer Apathie, wollte in Ruhe gelassen werden und habe Politik als etwas Dreckiges empfunden, von dem man sich besser fernhält. O-Ton 4 Alchas Selesnjow (russisch) Sprecher 3 Am 24. Februar habe ich geheult. Ich war mir sicher, dass sich Moskau erhebt, dass einfach alle Menschen auf die Straße gehen und dortbleiben. Aber als ich gesehen habe, dass wir nur ein paar verstreute Gestalten waren, dass kaum jemand kam... Damals habe ich das Gefühl bekommen, dass wir das alles wahrscheinlich verdient haben... Anastasia Alchas Selesnjow, 45, aus Moskau. Heute lebt er in Berlin. Sprecherin 2 Ausgesperrt - das andere Russland im Exil Ein Feature von Anastasia Gorokhova und Erik Albrecht Anastasia Ende April 2022 irgendwo im Osten Berlins jenseits des S-Bahn-Rings. Das Konzert ist mehr als ausverkauft. Ich stehe in der Schlange und sehe den Eingang nicht. Alle sprechen Russisch, wir sind umringt von Plattenbauten - ich fühle mich wie in Moskau. Ein seltsames Gefühl. Erik Drinnen ist es so eng, dass das Atmen schwerfällt. Um mich herum drängen sich Menschen, die Putins Regime den Rücken gekehrt haben: Jung, offen, ein wenig Hipster. Es ist das andere Russland, das Russland, das ich früher als Journalist im Moskau der Nuller Jahre kennengelernt habe. Im Saal branden immer wieder Sprechchöre auf: "Ruhm der Ukraine", wechselt mit "Lang lebe Belarus." Und vor allem wird Putin alles erdenklich Schlechte gewünscht. Der russische Rapper Noize MC und die Sängerin Monetotschka schaffen es, dass auch in Kriegszeiten Menschen aus Russland, der Ukraine und Belarus gemeinsam auf ihr Konzert gehen. 40 Euro kosten die Karten, der gesamte Erlös geht an Geflüchtete. Anastasia Heute lebt auch Russlands erfolgreichster Rapper im Exil. Der Kreml hat ihn zum ausländischen Agenten erklärt. Noize MC hat mich durch nahezu alle Protestdemos in Moskau begleitet. Das letzte Mal 2012, als Putin für eine dritte Amtszeit in den Kreml zurückkehrte. Damals demonstrierten mehr als Hunderttausend. Der Protest scheiterte, ich zog nach Berlin. Noize MC blieb und kämpfte bis zuletzt. Monetotschka Kosyrnyj tus Erik Auch Monetotschka gilt dem Kreml als ausländische Agentin. Auch sie hat gleich nach Kriegsbeginn Russland verlassen. In diesem Song erzählt die Sängerin von Bloggern, d ie wegen Posts in sozialen Medien zu langen Haftstrafen verurteilt wurden. "Denk daran, dass hinter dieser Eisentür dasselbe Gefängnis weitergeht", singt sie an einen inhaftierten Blogger gerichtet. "Nur das Strafmaß ist dort ein anderes." Ganz Russland ein Gefängnis. - Monetotschka hat den Song 2016 geschrieben - lange bevor der Kreml Menschen mit bis zu 15 Jahren Haft bedrohte, nur weil sie Putins Krieg gegen die Ukraine "Krieg" nennen. Der Angriff auf die Ukraine, die Auslöschung jeder Opposition - war all das damals schon absehbar? Anastasia Seitdem mein Land Tag für Tag die Ukraine zerstört, treiben viele hier im Saal diese Fragen um: Haben wir wirklich alles getan, um die Katastrophe zu verhindern? Wann genau haben wir versagt? Und wie konnte es überhaupt so weit kommen? Die Suche nach Antworten führt uns nicht mehr nach Moskau. Sie führt uns nach Vilnius, nach Warschau und nach Berlin. Atmo 5 Podcast Jingle Anfang O-Ton 5 Max Poljakow (russisch) Sprecher 1 Hallo, ich bin Maxim Poljakow mit dem Podcast "Der Planungshorizont ist verschüttet" Hier werde ich Geschichten von Menschen erzählen, deren Leben sich nach dem 24. Februar dramatisch verändert hat... Mein Podcast handelt von Menschen, die Russland wegen des Kriegs verlassen haben. Sie haben sich dort für die Gesellschaft engagiert. Aber der Staatsmacht waren sie einfach nur lästig. Denn solche Menschen machen deren Versagen für alle sichtbar: sie decken Korruption auf und Verbrechen; zeigen, dass Beamte in die eigene Tasche wirtschaften. Anastasia Es ist in Russland traurige Tradition, Andersdenkende aus dem Land zu vertreiben. "Kein Mensch, kein Problem", soll der Sowjetdiktator Josef Stalin einmal gesagt haben. Seit dem 24. Februar jagt Russland erneut Intellektuelle, Kritikerinnen und Andersdenkende ins Exil. Vier Millionen Menschen sollen Russland seit Beginn des Krieges verlassen haben. Endpunkte des Exodus sind Zentralasien, der Kaukasus und Europa. Wir alle hatten das Bedürfnis klarzustellen, dass Putin seinen Krieg nicht in unserem Namen führt. Alle unsere Pläne und Hoffnungen wurden unter der Wucht des Krieges verschüttet: [russ. Originaltitel] - "Der Planungshorizont ist verschüttet". Für Max ist sein Podcast deshalb auch eine Art Therapie. O-Ton 8 Max Poljakow (russisch) Sprecher 1 Ich war in so einer düsteren Stimmung. Statt einer Vorstellung von meiner Zukunft habe ich in einen schwarzen Abgrund geschaut - ohne Idee, wie es weitergeht. Da dachte ich, verdammt, ich muss einen Podcast machen. Anastasia Ich laufe mit Max durch die Innenstadt von Vilnius. Max trägt dicke, runde Ohrringe, einen schwarzen Hoodie und eine eckige Brille, auch schwarz. In Vilnius haben vor allem Journalisten und Menschenrechtler Zuflucht gefunden. Auch ein Großteil der Redaktion, für die Max seit über zehn Jahren arbeitet - 7x7: ein Onlinemedium mit Berichterstattung aus elf Regionen Russlands. O-Ton 9 Max Poljakow (russisch) Sprecher 1 Das Büro ist eigentlich einfach eine große Wohnung, die wir gemietet haben.... O-Ton 10 Max Poljakow (russisch) Sprecher 1 Das ist Oleg, mein Chef. Und das ist mein Lieblingssofa, hier halten wir unsere Redaktionssitzungen ab. O-Ton 11 Anastasia Gorokhova (russisch) Anastasia Wie habt ihr das eigentlich juristisch gemacht, seid ihr hier offiziell registriert? O-Ton 12 Oleg (russisch) Sprecher 2 Das erzählen wir aus Sicherheitsgründen lieber nicht öffentlich. O-Ton 13 Max Poljakow (russisch) Sprecher 1 Wir haben es auf jeden Fall geschafft, einen Großteil des Teams rauszubringen. Das ist das Wichtigste. Aber: je weniger der Herr Major weiß, desto besser schlafen wir hier in Vilnius... (alle lachen) Anastasia Anfang März 2022, gleich nach Kriegsbeginn, hat die russische Medienaufsicht die Webseite von 7x7 gesperrt. Nach Monaten fanden die IT-Spezialisten des Webportals dann doch eine Möglichkeit, wie russische Leser wieder Zugriff auf den Content haben können. Auch Max Podcast ist noch innerhalb Russlands zu hören. Ein wichtiger Teil seiner Hörerschaft sitzt aber mittlerweile im Exil: O-Ton 14 Max Poljakow (russisch) Sprecher 1 In Russland stehst du die ganze Zeit unter Strom, bist immer im Verteidigungsmodus. Erst kommt jemand und erzählt dir, wie toll Putin ist, dann schreit dich eine Frau im Krankenhaus an. Und immer und überall kann dich die Polizei festnehmen. Ich habe wie ein Karatekämpfer gelebt, jederzeit bereit, Schläge abzuwehren..." Anastasia Als kritischer Journalist hat Max darüber berichtet, wie das Land mehr und mehr zum Polizei-Staat wurde. Staatliche Propaganda-Sender denunzierten ihn, weil er offen schwul lebt, um die Glaubwürdigkeit von 7x7 zu untergraben. O-Ton 15 Max Poljakow (russisch) Sprecher 1 Wir haben einen Telegramchat für Exilrussen, momentan sind da 300 Leute. Anastasia Meist geht es in dem Chat um Alltägliches: wie findet man eine Wohnung, welche Unterlagen braucht man für den Aufenthaltstitel, wo kaufe ich eine Matratze? O-Ton 16 Max Poljakow (russisch) Sprecher 1 Obwohl wir uns fast alle persönlich kennen, ist eine Regel: "Schreibe nichts, was gegen dich verwendet werden kann". Man weiß nie, ob man da nicht doch einen Spitzel vom russischen Geheimdienst in der Gruppe hat. Anastasia Seit sich ein junger Exilrusse in Georgien als Informant des russischen Geheimdienstes geoutet hat, der Informationen über Geflüchtete sammeln sollte, ist man in Vilnius sogar beim Badminton vorsichtig. O-Ton 17 Max Poljakow (russisch) Sprecher 1 Vor dem Spiel warnte mich einer meiner Freunde: Hey, pass auf, wenn du über die Arbeit sprichst. Da ist so ein komischer Typ, der ist irgendwie verdächtig". Der hat zuvor diesen Freund von mir schon über unseren Redaktionsalltag ausgefragt. Da ist man sofort angespannt. Seitdem sprechen wir überhaupt nicht mehr über unsere Arbeit. Anastasia Max führt mich zu einem modernen Bürogebäude. Dann zeigt er theatralisch auf die Glasfassade. Das "Haus Moskau". Erst auf den zweiten Blick fällt mir auf, dass es nicht ganz fertig ist, und schon ein bisschen verfällt. O-Ton 18 Max Poljakow (russisch) Sprecher 1 Das Gebäude ist schon seit über zehn Jahren eine Ruine, weil der Bau wegen Verstößen gestoppt wurde. Nach der Annexion der Krim wurde der Baustopp politisch und letzten Frühling hat man dann endgültig entschieden, dass Vilnius kein "Haus Moskau" braucht. Anastasia Am "Haus Moskau" war Russlands Bruch mit dem Westen also schon sichtbar, als Deutschland noch neue Gaspipelines baute. Das Grundstück ist umzäunt, die Eingänge sind zugenagelt, aber es gibt ein Schlupfloch, durch das wir klettern können. O-Ton 19 Max Poljakow (russisch) Sprecher 1 Jetzt siehst du gleich, wie supertoll imperial das "Haus Moskau" von innen ist. O-Ton 20 Anastasia (russisch) Anastasia Igitt, hier stinkts total nach Klo. Anastasia Das "Haus Moskau" erinnert mich sofort an unsere ehemalige Heimat - außen Glanz, innen Trostlosigkeit, Scherben überall. Umso schöner, dass eine litauische Künstlerin das Bild einer ukrainischen Frau in traditioneller Kleidung auf die Fassade gemalt und eine Ballerina die Fläche dann zum "Tanzen für den Sieg" genutzt hat. Das ist nicht das einzige Symbol für die ukrainische Willensstärke. O-Ton 21 Max Poljakow (russisch) Sprecher 1 Guck mal, was hier drauf steht, ließ das mal. O-Ton 22 Anastasia (russisch): versucht es zu entziffern, liest begeistert. Russkij wojennij korabl - idi nachuj! Anastasia "Russisches Kriegsschiff, verpiss dich!" Anastasia Oben auf dem Dach schweift mein Blick über die Stadt, die laut Freedomhouse bereits über 10.000 Russen aufgenommen hat. O-Ton 23 Max Poljakow (russisch) Sprecher 1 Wir liberale Journalisten hören ständig, dass wir uns nicht genug angestrengt hätten, um Russland zu verändern. Nach dem Motto, wenn wir mehr getan hätten, wäre der Krieg nicht passiert. Ich sehe da keinen Zusammenhang. Alles hing vom Wahnsinn eines einzelnen Menschen ab. Darauf hatten wir Anastasia Wir sitzen in seiner kleinen Wohnung im Erdgeschoss. Ein Laptop steht auf dem Küchentisch, ein Aufnahmegerät liegt da, Tassen, eine Karaffe mit Wasser. An den Wänden hängen ein paar wenige Bilder, auf dem Fensterbrett steht eine Topfpflanze. O-Ton 24 Max Poljakow (russisch) Sprecher 1 Willst du Kaffee? Anastasia Ich will wissen, wie es für ihn im zweiten Jahr des Kriegs weitergeht. Max zuckt mit den Schultern. Der Planungshorizont sei immer noch verschüttet, meint er und lächelt. Erik Die Geschichte wiederholt sich. Russland zwingt erneut seine liberale Elite zu Millionen aus dem Land. Schon nach der Oktoberrevolution vor über 100 Jahren flohen die Gegner der Bolschewiken in den Westen. Unter ihnen Vladimir Nabokov. Er lebte in den 1920er und 30er Jahren in Berlin. Im Nationalsozialismus zog er weiter in die USA, wo ihn sein Roman Lolita weltberühmt machte. Das Heimweh blieb. Anastasia Auch 2022 sind viele mit hastig gepackten Koffern ausgereist, ohne zu wissen, ob und wann sie überhaupt wieder zurückkommen können. Dennoch gibt es einen Unterschied zur "weißen Emigration" von damals: Heimweh mischt sich mit Schuldgefühlen. Es wäre seltsam, russischen Birken nachzutrauern, während das Nachbarland mit Raketen beschossen wird. Wie kann man sich in dieses Russland zurückwünschen? Erik Nabokovs Berlin zählte mehrere Dutzend russische Zeitungen und Verlage. Sein Vater gab damals die liberale Emigrantenzeitung Rul heraus. Auch heute ist 7x7 (ist) nur eines von unzähligen russischen Onlinemedien im Exil. Fernsehsender, Youtube-Kanäle, Telegram-Gruppen: Während innerhalb Russlands die Propagandisten des Kremls immer lauter schreien, diskutiert das andere Russland frei von jeder Zensur lebhafter denn je. Erik Das "Freie Russland" versteckt sich in einem grauen Vorkriegsbau in einer Seitenstraße des Warschauer Stadtzentrums. ZWR steht auf dem Klingelschild, die polnische Abkürzung für Za Wolna Rosje, Für ein Freies Russland. Die Warschauer NGO hat sich 2014 als Reaktion auf die Krim-Annexion gegründet. O-Ton 25 Ksenia Chlebuschkina (russisch) Sprecherin 1 Ich könnte gerade nicht in Russland arbeiten, weil es dort strenge Zensur gibt und man um der eigenen Sicherheit willen besser schweigt. Aber es ist derzeit unmöglich zu schweigen. Hier kann ich den Krieg "Krieg" nennen. Das ist doch ein grundlegendes Menschenrecht." Erik Ksenia, Ende 20, schwarzes Kleid mit weißem Rüschenkragen, wacht über den Eingang des Freien Russlands. Samstags organisiert die NGO eine Art Kindergarten und Sonntagsschule für die russischsprachige Community Warschaus. Im Tanzsaal üben Fünfjährige ihre Performance für die Weihnachtsfeier. In der Küche bastelt Ksenia mit den Kindern Weihnachtswichtel. Später gibt sie Teenagern Sprachunterricht. Außerdem betreut sie die Bibliothek des Freien Russlands. Ihr sei es wichtig, ihr eigenes Geld zu verdienen, sagt Ksenia. Doch es ist nicht mehr als ein Gelegenheitsjob, den die 28-Jährige hier hat. Ohne das Gehalt ihres Mannes kämen sie nicht über die Runden. Die Bibliothek der NGO besteht nur aus ein paar Regalen mit vergilbten Klassikern aus sowjetischer Produktion. Kein Vergleich mit den St. Petersburger Museen, in denen Ksenia vor dem Krieg als Führerin gearbeitet hat. O-Ton 26 Ksenia Chlebuschkina (russisch) Sprecherin 1 Aber zu Kriegszeiten fragst du dich, warum zur Hölle brauchen wir diese Gemälde? Ich bin froh hier zu sein, weil ich hier etwas Wichtiges tun kann. Gerade kaufen wir Wärmegeneratoren für die Ukraine. Ich bin nicht direkt beteiligt, aber mir gibt es das Gefühl, etwas Gutes zu tun und dass ich damit eine "gute Russin" (lacht nervös) bin. Das klingt ein wenig seltsam, aber mir ist das wichtig. Erik Ksenia und ihr Mann Jewgenij hatten ihre Ausreise schon lange geplant, doch die Visa für Polen erhielten sie erst zu Kriegsbeginn. Mit dem Auto von St. Petersburg nach Warschau, das erschien ihnen zu riskant. Die Flugverbindungen wurden eine nach der anderen gecancelt. Letztendlich fuhren sie mit dem Zug nach Helsinki und flogen von dort nach Warschau. Jewgenij ist Informatiker. Mittlerweile soll jeder vierte IT-Spezialist Russland verlassen haben. O-Ton 27 Polina (russisch) Sprecherin 2 Und das wird dann der Hut für den Zwerg. Erik Sieben Kindergartenkinder rollen ihr Stück Knete zu einer Wurst. Mal geschickter, mal eher tollpatschig. Dann kleben sie daraus eine Wichtelmütze auf ein Stück Pappe in Zwergenform. Ksenia und ihrer Kollegin Polina helfen ihnen dabei. Nur der blonde Junge am Kopf des Tisches spielt lieber mit seiner Lokomotive. Polina, heute in rotem Kleid mit Nikolausmütze, versucht es mit Geduld. O-Ton 28 Polina Sprecherin 2 Alexander, kannst du bitte den Zug wegtun. Der stört doch. Erik Alexander zeigt sich unbeeindruckt. In Russland hätte die Kindergärtnerin dem Jungen den Zug einfach mit Gewalt entrissen, sagt Ksenia. Erik Ich muss an die vielen Videos aus russischen Schulen denken, die derzeit im Netz kursieren. Erik In diesem hier tragen Teenager in Uniform im Stechschritt eine russische Flagge in das Foyer einer Schule. Dann ertönt die Nationalhymne. Die Schüler stehen stramm, den Blick starr nach vorne gerichtet. Wie kleine Soldaten. O-Ton 29 Ksenia Chlebuschkina (russisch) Sprecherin 1 In diesem Geist, der noch aus der Leibeigenschaft stammt, sind viele Generationen erzogen worden. Den Vorgesetzten muss man Respekt entgegenbringen. Sie haben die Macht. Wir müssen uns klein wie Mäuschen machen und Angst und Bewunderung zeigen. Das fängt schon im Kindergarten an. Da wollen kleine Kinder basteln. Und dann ist da so eine Matrone als Erzieherin. Wo hast Du Deine Hände? Und das geht in der Schule so weiter. O-Ton 30 Ksenia Chlebuschkina (russisch) Sprecherin 1 Wir schließen das Freie Russland. O-Ton 31 Alexander Tscherkassow (russisch) Sprecher 3 Alle treibt derzeit die Frage um, warum es in Russland keine Massenproteste gibt. Warum stürzt niemand Putin? Erik Ich habe Ksenia und Jewgenij bei einer Abendveranstaltung des "Freien Russlands" kennengelernt. 30 Leute sind in den kleinen Saal gekommen, um Alexander Tscherkassow zu hören. Der Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation Memorial seziert seit Jahren die Praktiken, mit denen das Putin-Regime seine Kritiker ruhigstellt. Wer an Protesten teilnimmt, wird erst nur verwarnt. Bei wiederholtem Ungehorsam droht man mit langen Haftstrafen. O-Ton 32 Alexander Tscherkassow (russisch) Sprecher 3 Der Vorwurf, dass die Russen nichts gegen Putin unternehmen, wäre nur gerechtfertigt, wenn man außer Acht ließe, dass der Kreml uns per Zeitmaschine in die Breschnew-Ära zurückkatapultiert hat. Wir haben eine große Zahl von Leuten, die schon mit einem Bein im Knast stehen. Erik Das Publikum im Saal wirkt mit seinen Strickpullovern, als sei die russische Menschenrechts-Community der frühen Putin-Jahre ins heutige Warschau verpflanzt worden. Jewgenij und Ksenia erleben sie hier zum ersten Mal. O-Ton 33 Jewgenij Spasibo (russisch) Sprecher 2 Für mich sind das lebende Legenden. Die machen eine so großartige Arbeit. Es ist unglaublich, wie man so mutig gegen die Staatsmacht kämpfen kann. O-Ton 34 Ksenia Chlebuschkina (russisch) Sprecherin 1 Die erzählen hier diese traurige Geschichte und zwei Tage später bekommen sie den Nobelpreis. O-Ton 35 Alexander Tscherkassow (russisch) Sprecher 3 In Russland haben Gutachten längst Zeugen und Beweise ersetzt. Wenn du den passenden Experten findest, dann geht alles. Und das Gutachten gegen uns war bedrohlich. Erik Mit erstaunlicher Leichtigkeit erzählt Alexander Tscherkassow, wie die Staatsmacht Memorial geschlossen hat. Der Kampf mit Beamten von Polizei, Staatsanwaltschaft und Geheimdienst klingt bei ihm wie ein Märchen. O-Ton 36 Alexander Tscherkassow (russisch) Sprecher 3 Dann kommt das nächste Tier: Der böse Wolf. Und der will uns fressen. Was wirft er uns vor? Terrorismus. Doch das Gutachten, auf das er sich stützt, ist über ein Jahr alt. Damals klopften gleich acht Staatsanwälte auf einmal bei uns an und wollten einfach alles beschlagnahmen. Doch was ihnen das Recht dazu gab, konnten sie nicht erklären. Erik Es ist typisch für die russische Opposition - eine Leichtigkeit, die ihr in 20 Jahren Kampf gegen Putins Regime die erlaubt hat, trotz aller Rückschläge weiterzumachen. Heute, da Russland im Krieg ist, wirkt sie realitätsfern, fast selbstgefällig, als ob die Ereignisse sie überrollt hätten. Russlands Menschenrechtler zählen weiter politische Gefangene innerhalb des Landes, während jenseits der Grenze die Armee Tag für Tag Kriegsverbrechen begeht. Atmo 25 Kochen Erik Während Jewgenij das Abendessen zubereitet, führt mich Ksenia durch ihr Bücherregal. Knapp ein Regalbrett, mehr konnten sie nicht nach Polen bringen. O-Ton 37 Ksenia Chlebuschkina (russisch) Sprecherin 1 Ich lese gerade noch einmal Krieg und Frieden. Erik Leo Tolstoi hat seinen Klassiker in vier Bände unterteilt. In den ersten Bänden seien das glamouröse Leben der russischen Aristokratie und der Krieg klar voneinander getrennt. Tatsächlich würden viele die Kapitel über den Krieg einfach überspringen. O-Ton 38 Ksenia Chlebuschkina (russisch) Sprecherin 1 Genauso nehmen wir Politik und Krieg in Russland wahr - egal welchen Krieg. Wir leben unser schönes mondänes Leben und der Krieg ist weit weg, der hat nichts mit uns zu tun. Aber wenn du dann den dritten und vierten Band liest, sind Krieg und Frieden sehr eng verwoben. Als ich nach Warschau kam, wurde mir klar: genauso ist es. Hier wo so viele Geflüchtete aus der Ukraine leben und alles auf Ukrainisch geschrieben ist, spürt man das. Erik Beim Abendessen lassen wir die Putin-Ära Revue passieren. Als er das erste Mal in den Kreml einzog, waren die beiden sechs. O-Ton 39 Ksenia Chlebuschkina (russisch) Sprecherin 1 Du gehst in die Schule und im Büro des Direktors hängt ein Porträt Putins, dann gehst du zur Musikschule und da hängt wieder ein Putin-Porträt. Dann gehst du zum Tanzen und da hängt ein Putin-Porträt. Überall hängen Putin-Porträts und das wirkt auf dein Unterbewusstsein. Erik Parallel zum Ölpreis wuchs in Putins ersten Jahren der Wohlstand. Für viele Russen war das Grund genug, ihm freie Hand zu lassen. O-Ton 40 Ksenia Chlebuschkina (russisch) Sprecherin 1 Für uns war Politik etwas, was erwachsene Männer regeln. Unsere Kultur ist so. Die da oben machen ihr Ding. Das ist ihre Arbeit und wir halten still. O-Ton 41 Jewgenij Spasibo (russisch) Sprecher 2 Über Politik zu reden, war zwar nicht tabu, aber irgendwie unanständig. Erik Das änderte sich für beide 2012. Putin tauschte mit dem von ihm installierten Übergangspräsidenten Medwedew einfach die Posten. Die Arroganz dieser Rochade trieb Hunderttausend in Moskau auf die Straße. Ksenia und Jewgenij stritten mit ihren teilnahmslosen Eltern. O-Ton 42 Jewgenij Spasibo (russisch) Sprecher 2 Damals ist uns klar geworden, dass diese Dinge nicht gottgegeben sind, sondern von Menschen gemacht. Du musst dich einmischen, wenn Du willst, dass sich die Dinge ändern. Erik Sie begannen, Geld für unabhängige Medien zu spenden, unterschrieben politische Petitionen im Internet. O-Ton 43 Jewgenij Spasibo (russisch) Sprecher 2 Protestieren war schwieriger. In St. Petersburg haben wir im Zentrum gewohnt und gesehen, wie die Polizei immer wieder den Newski Prospekt abgeriegelt hat. Das war beängstigend. O-Ton 44 Ksenia Chlebuschkina (russisch) Sprecherin 1 Die sind von Kopf bis Fuß in Montur. Wenn die mit dem Finger schnippen, ist es aus mit Dir. Ist es wirklich Mut, sich von ihren Schlagstöcken verprügeln zu lassen? Ich bin das einzige Kind in der Familie. O-Ton 45 Jewgenij Spasibo (russisch) Sprecher 2 Und da kommen wir wieder zurück zur Schuldfrage. Auf der einen Seite will man alles tun, was möglich ist. Auf der anderen Seite waren wir nicht bereit, unsere eigene Sicherheit dafür zu opfern. Auf diese Frage suchen wir jeden Tag eine Antwort. Auch darauf, was wir von hier aus tun können. O-Ton 46 Ksenia Chlebuschkina (russisch) Sprecherin 1 Es ist auch die Frage, was wir geändert hätten. Es gibt so viel Polizei in Russland. Welchen Nutzen hat es, im Gefängnis zu sitzen? Keinen. Erik Die Annexion der Krim, der Mord am Oppositionspolitiker Boris Nemzow, die Schließung unabhängiger Medien - jedes Anziehen der Daumenschrauben bestärkte Ksenia und Jewgenij in ihrem Entschluss auszuwandern. Nach der Vergiftung und späteren Verurteilung des Kremlgegners Alexej Nawalny war es so weit. O-Ton 47 Jewgenij Spasibo (russisch) Sprecher 2 Da wurde noch nicht mal eine Art Rechtsstaatlichkeit vorge gaukelt. Das alles war ganz klar eine Farce. Der Mann wurde direkt vom Flughafen ins Gericht gefahren und weggesperrt. Das war reine Willkür. Damals sind wir in St. Petersburg auch auf die Straße gegangen. Das war angsteinflößend. Es gab Polizei, Sprechchöre. Die Stimmung war apokalyptisch. Erik Wenig später bekam Jewgenij das Angebot, als IT-Spezialist in Polen zu arbeiten. O-Ton 48 Ksenia Chlebuschkina (russisch) Sprecherin 1 Wir haben keine Pläne, nach Russland zurückzukehren. Und nicht, weil es da kein McDonald's und Ikea mehr gibt. Wir wollten schon lange auswandern. Ich kann nicht in Russland leben. Dort war alles ein Kampf, hier fühlt sich das anders an. Anastasia Alchas, ein gut gebauter, nicht besonders großer Mann mit kahl rasiertem Kopf und einem üppigen Bart mit ersten grauen Strähnen, sitzt am Schreibtisch und lernt deutsche Vokabeln. Auf dem Tisch liegen Hefte, Lehrbücher und Karteikarten. Polina, eine Frau mit blonden Locken kommt mit einem Stapel Papiere ins Zimmer - Anmeldeformulare. Sie müssen sich ummelden, schon wieder. Es ist die dritte Wohnung in drei Monaten in der sie - wieder temporär - untergekommen sind. Vor einem Monat hat das russische Paar Polinas über 80jährige Großtante aus dem ukrainischen Charkiw zu sich geholt - es war der vierte Versuch. Erst mit der Hilfe eines polnischen Arbeitskollegen von Polina hat es geklappt. Nun sitzt Tatjana Sergejewna mit Alchas und Polina ausgerechnet in Charlottenburg. Vor 100 Jahren war der Bezirk das Zentrum der russischen Emigration, damals im Volksmund Charlottengrad genannt. Alle drei fühlen sich hier verloren. O-Ton 50 Alchas Selesnjow (russisch) Sprecher 3 Ich male jetzt Bilder, um aus meiner Depression rauszukommen. Das war eine Idee unserer Vermieterin Sabine. Sie hat mir zehn Worte auf Deutsch gegeben und ich male zu jedem ein Bild mit Pastell - die Brücke, Sonne, warm...Ich hab ja keine Arbeit mehr... O-Ton 51 Anastasia (russisch) Anastasia Alchas, wann hast du das erste Mal daran gedacht, dass es Zeit wird, aus Russland abzuhauen? O-Ton 52 Alchas Selesnjow (russisch) Sprecher 3 Als die Polizei vor meiner Tür stand. Anastasia Im Sommer 2019 hat Alchas mit vielen anderen in der Moskauer Innenstadt demonstriert, weil der Kreml alle unabhängigen Kandidaten von den Wahlen zum Stadtparlament ausgeschlossen hatte. Die Einsatzpolizei OMON löste die Proteste auf O-Ton 53 Alchas Selesnjow (russisch) Sprecher 3 Wir waren wie Insekten für die Polizisten. Die wirken einfach gewaltig in ihrer Montur und mit dem Helm. Mich hat einer von denen gefragt: Willst du das hier alles so wird, wie in der Ukraine? Und ich habe gesagt: Ja. Genau das will ich: Wahlen wie in der Ukraine. Anastasia Alchas verbrachte zwei Nächte in Haft, immer mit dem Song des regimekritischen Rocksängers Egor Letov aus den Neunzigern im Ohr "Wir sind das Eis unter den Stiefeln des Majors" Es folgte ein Prozess im Schnellverfahren. Ein Rechtsanwalt riet Alchas zu sagen, er wäre nur zufällig auf dem Platz gewesen. Alchas erklärte das Gegenteil. Sein Schlussplädoyer dauerte zwölf Minuten. O-Ton 54 Alchas Selesnjow (russisch) Sprecher 3 Ich bin schwach und feige und habe mich früher nie engagiert. Aber meine Meinung wird nirgendwo gehört: Nicht in der Regierung, nicht im Parlament und jetzt wird mir sogar die Möglichkeit genommen, meine Kandidaten ins Stadtparlament zu wählen. Anastasia Das Gericht setzte eine Strafe von 10.000 Rubel fest, knapp 200 Euro. Wichtiger jedoch: Seitdem stand Alchas unter Beobachtung. Die Polizei fing ihn mehrmals in seinem Hof ab, um ein "prophylaktisches Gespräch" zu führen - auch das eine alte Methode des früheren sowjetischen Geheimdienstes KGB. O-Ton 55 Alchas Selesnjow (russisch) Sprecher 3 Seit Beginn des Krieges haben sie dann jede Woche auf der Straße auf mich gewartet. Anastasia Alchas ging trotzdem weiter zu Antikriegsdemonstrationen. Als er sich eines Tages mit einer befreundeten Hundebesitzerin im Hof unterhielt. fing ihn die Polizei ab O-Ton 56 Alchas Selesnjow (russisch) Sprecher 3 Die kommen näher und fragen: "Alchas Selesnjow?" Die Frau schaut mich nur an und sagt: "Ich bin dann mal weg!" Ich sage: Ich hab die Schnauze voll von Euch! Was wollt ihr? "Sie müssen verstehen, dass wir gerade inmitten einer Spezialoperation sind. Ihre Aktivitäten können jetzt als Verbrechen gesehen werden, als Verbrechen gegen ihre Heimat. Sie sind ein Staatsfeind!" "Kurzum: wir wollen ihnen hiermit mitteilen, dass es im Falle einer Festnahme auf einer Protestaktion Konsequenzen für sie geben wird. Bis hin zu einem Strafverfahren." Und ich sage denen so: Wollt ihr mich vielleicht lieber gleich hier erschießen? Und der Polizist: Solch einen Befehl haben wir bislang noch nicht erhalten. Anastasia Es ist ein sonniger Tag um den Jahreswechsel. Ein warmer Wind weht über den St. Matthäus Friedhof in Schöneberg. Alchas ist sportlich gekleidet, trägt einen neongelben Fahrradhelm in der Hand. Seine Berliner Spaziergänge führen ihn häufig auf Friedhöfe. O-Ton 60 Alchas Selesnjow (russisch) Sprecher 3 Schau mal, die Menschen hier sind tot, die können nicht mehr handeln. Lebendige Menschen nehmen manchmal ihren eigenen Tod vorweg, und weigern sich zu handeln. O-Ton 61 Anastasia (russisch) Anastasia Ist es das, was auch mit Russland passiert ist? O-Ton 62 Alchas Selesnjow (russisch) Sprecher 3 Ja, Russland ist in gewisser Weise auch gestorben. Oft erscheint mir das Land als ein großer Friedhof. O-Ton 63 Alchas Selesnjow (russisch) Sprecher 3 Oh, sind das Gräber Gefallener des Ersten Weltkriegs? O-Ton 64 Anastasia (russisch) Anastasia Hier steht: den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft gewidmet. O-Ton 65 Alchas Selesnjow (russisch) Sprecher 3 Das ist für mich das Unverständlichste in Russland... Wir hatten den Ersten Weltkrieg, die Revolution, den Bürgerkrieg. O-Ton 66 Anastasia Anastasia Dann den Stalinterror... O-Ton 67 Alchas Selesnjow (russisch) Sprecher 3 Ja, ständig nur Gewalt und Gewaltherrschaft. Von diesem Schmerz hat sich Russland noch nicht befreit, aber trotzdem schon den nächsten Krieg angezettelt. Anastasia Wir sprechen darüber, dass jeder die Wahl hat, auf welche Seite er sich stellt: ob man geht oder bleibt, kämpft oder eben nicht. Ich habe meine Wahl vor zehn Jahren getroffen. Alchas seine vor ein paar Monaten. O-Ton 68 Alchas Selesnjow (russisch) Sprecher 3 Es gibt immer eine Wahl: zu sterben oder weiterzuleben. Du kannst weiterleben und nicht fürs Vaterland sterben, nicht für Stalin, nicht für Putin und nicht für seine Paläste. Du kannst dich dem Krieg verweigern und nicht hingehen. Anastasia Alchas und ich haben ein Ziel - wir suchen zwischen all den Gräbern den Gedenkstein an die Widerstandskämpfer des Attentats auf Hitler vom 20. Juli 1944. O-Ton 69 Anastasia Anastasia Vielleicht ist es ein Zeichen, dass wir genau jetzt das Grab nicht finden? O-Ton 70 Alchas Selesnjow (russisch) Sprecher 3 Warte! Also, wenn jetzt alles davon abhängen sollte, ob wir das Grab finden oder nicht, dann lass es uns lieber finden! O-Ton 71 Alchas Selesnjow (russisch) Sprecher 3 Wie findest du die Idee: Den Diktator zu töten? O-Ton 72 Anastasia Anastasia Find ich total super. Also, wenn wir jetzt konkret über Putin sprechen, dann würde ich es gerade wirklich begrüßen, dass man ihn endlich erledigt - und zwar hoffentlich bald. Und du? Was denkst du? O-Ton 73 Alchas Selesnjow (russisch) Sprecher 3 Oh, ich weiß nicht, ich weiß nicht... Ich glaube, es wäre besser, ihn vor Gericht zu stellen. Kein einziger russischer Diktator oder Despot - und andere Führer hatten wir ja nicht - musste sich je für seine Taten verantworten. Es wäre doch toll, wenn Putin der Erste wäre. Das könnte der Anfang einer langen Therapie für Russland werden. Atmo 33 Anastasia auf Russisch: Oh, da ist er! O-Ton 74 Alchas Selesnjow (russisch) Sprecher 3 1944... Cool, dass sie es versucht haben. Aber das war ja auch ziemlich spät. Anastasia Schweigend stehen wir vor dem Gedenkstein. O-Ton 75 Alchas Selesnjow (russisch) Sprecher 3 In Russland haben die Menschen die Einstellung: nur nichts riskieren, aus Angst vor Konsequenzen. Und aus Angst vor Konsequenzen lassen die alles mit sich machen. Die Geschichte Russlands ist für mich wie ein großer Teppich mit dem Porträt des Führers drauf. Diese Teppiche sind überall: auf dem Boden, an den Wänden. Und wenn man dahinter schaut, sehen wir getrocknetes Blut und stumme Schreie. Erik Schriftsteller, Schauspielerinnen, Regisseure - selbst Alla Pugatschowa, die Grande Dame des russischen Chansons und Dauergast der Musiksendungen im Staatsfernsehen musste das Land verlassen. Russische Kultur findet heute im Ausland statt. Anastasia Was mich aber wütend macht: Man sitzt in Sicherheit bei einem Weinglas umringt von Gleichgesinnten und trauert darüber, dass das eigene Land einen verstoßen hat, oder man die Eigentumswohnung in Moskau verlieren könnte. Zeitgleich legt die russische Armee die Ukraine in Schutt und Asche. Erik In Russland ist Schwanensee mehr als ein Ballett. Im sowjetischen Fernsehen lief die Verfilmung aus dem Bolschoi-Theater immer dann, wenn es im Kreml ein Machtvakuum gab - beim Tod eines Sowjetführers oder beim Putsch gegen Michail Gorbatschow 1991. Anastasia Noize MC geht hart mit uns Russen ins Gericht. Zu viele hätten geklatscht, als sich Russland, wie es die Propaganda formulierte, "von den Knien erhob". Zu viele würden später jede Verantwortung von sich weisen. Im Refrain singt er: "Und wo wart ihr all die acht Jahre, ihr scheiß Unmenschen? Ich will Ballett sehen, lasst die Schwäne tanzen!" Erik Acht Jahre - so lange dauerte der Krieg in der Ukraine bereits, bevor Putin seine Truppen im Februar vergangenen Jahres in Richtung Kiew marschieren ließ. Acht Jahre lang hat auch Deutschland nur zu gerne weggeschaut. Am Ende des Kriegsjahres ist die russische Armee erschöpft und verheizt gnadenlos die Jugend des Landes. Die Wirtschaft ächzt unter den Sanktionen. Und doch scheint Putin weiter unangefochten zu herrschen. O-Ton 76 Ksenia Chlebuschkina (russisch) Sprecherin 1 Ich will niemanden beleidigen, aber wenn Leute aus Mitteleuropa, die eine gefestigte Demokratie haben, sagen, ihr müsst euch erheben, euch gegen Putin auflehnen, dann ist das einfach nur ein Witz. Für Proteste braucht man Kraft. Man muss eine Zeit lang in Russland gelebt haben, um zu verstehen, dass selbst der Alltag schon unheimlich viel Kraft kostet. O-Ton 77 Alchas Selesnjow (russisch) Sprecher 3 Was die Ukrainer in Kiew auf dem Maidan erreicht haben - das ist ein Sieg gewesen und sie siegen auch jetzt, während wir parallel dazu einfach nur konsequent verloren haben und weiter verlieren. O-Ton 78 Max Poljakow (russisch) Sprecher 1 In heute demokratischen Ländern, wie Frankreich, Großbritannien oder den USA hat man für seine Freiheit und seine Rechte einst gekämpft. In den USA gab es den Bürgerkrieg, in Frankreich die Revolution. Auch Russland wird irgendwann mal ein tolles Land werden, und zwar dann, wenn auch wir für unsere Rechte kämpfen, die dann auch wertgeschätzt werden. Ich glaube aber nicht, dass das in naher Zukunft passiert. Nicht zu unseren Lebenszeiten. O-Ton 79 Jewgenij Spasibo (russisch) Sprecher 2 Wahrscheinlich denken die meisten, dass sie Russland nicht für immer verlassen haben. Alle sitzen im Ausland und warten, bis alles vorbei ist. Aber die Geschichte von vor 100 Jahren kann sich leicht wiederholen. Nabokov wollte auch nur den Bürgerkrieg aussitzen und ist doch nie zurückgekehrt. Musik 35 Tschaikowsky Sprecherin 2 Ausgesperrt - Das andere Russland im Exil Ein Feature von Anastasia Gorokhova und Erik Albrecht Es sprachen: Gregor Höppner, Toni Jessen, Anne Müller, Max Urlacher und die Autor*innen Ton Jan Fraune Regie Dörte Fiedler Redaktion Wolfgang Schiller Eine Produktion des Deutschlandfunks 2023 2