Hörspiel Feature Radiokunst Das Feature Vier alte Freunde und der Krieg Kolumbiens gespaltene Gesellschaft Autor: Raul Zelik Regie: Philippe Brühl Redaktion: Christiane Habermalz Produktion: Deutschlandfunk 2023 Erstsendung: Dienstag, 14.11.2023, 19.15 Uhr Es sprachen: David Vormweg, Hüseyin Michael Cirpici, Justine Hauer, Sigrid Burkholder, Nicole Engeln, Volker Niederfahrenhorst, Susanne Reuter und der Autor Ton und Technik: Gunther Rose und Marcell Christmann Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Atmo 1 ab 0.50 ... Salsa, Demonstration, Parolen Autor Kolumbien. Ein Jahr nach dem Wahlsieg von Präsident Gustavo Petro. Atmo 1 ab 0.53 ... Regierungsanhänger, Parolen O-Ton 1 Redner El triunfo de Gustavo Petro ... indígenas y campesinos OV-Sprecher 1 Der Triumph von Gustavo Petro und Francia Márquez ist das Ergebnis der Kämpfe eines ganzen Volkes, aller gesellschaftlichen Kräfte. Der Künstler, Jugendlichen, Rentner, Indigenen und Bauern. Autor Zum ersten Mal in seiner Geschichte hat das südamerikanische Land eine linksgerichtete Regierung. O-Ton 2 Demonstrationsteilnehmerin Esto no lo podemos sostener ni un minuto más... de la delincuencia de este país. OV-Sprecherin 1 Wir dürfen das nicht länger hinnehmen. Die Diktatur von Petro muss beendet werden! Wir dürfen nicht tolerieren, dass ein Guerillero unser Land zerstört. Das ist eine Regierung aus Kriminellen, für Kriminelle! Sie hat uns Bürgern den totalen Krieg erklärt, aber dem organisierten Verbrechen macht sie Geschenke! Atmo 3 (oder 2?) evtl. Numerierungsfehler, Original 230215_001, ab 0.02 Menschenmenge, Opposition Autor Anhänger und Gegner des neuen Präsidenten sind auf der Straße. Zitator Vier alte Freunde und der Krieg. Kolumbiens gespaltene Gesellschaft. Ein Feature von Raul Zelik. Autor Bis 2013 habe ich mehrere Jahre in Kolumbien gelebt. Polarisiert war das südamerikanische Land schon damals - in reich und arm, in Täter und Opfer der Gewalt, in Befürworter und Kritiker einer strammen Law-and-Order-Politik. Doch zuletzt hat sich die Situation noch einmal grundlegend geändert. Während der Corona-Pandemie 2021 kam es zu einem Armutsaufstand, den die damalige Regierung blutig niederschlagen ließ. Als die Protestmärsche auch Reichenviertel erreichten, gründeten wohlhabende Anwohner in einigen Städten bewaffnete Gruppen und schossen auf die Demonstrierenden. Mehr als hundert Menschen starben in diesen Wochen. Ein Jahr später gewann mit Gustavo Petro erstmals ein Politiker der Linken die Wahlen. Die aus ärmsten Verhältnissen stammende Afrokolumbianerin Francia Márquez wurde Vizepräsidentin. O-Ton 3 Gustavo Petro Se trata de que el servicio de saludo ... Porque entonces dónde queda el derecho a la vida? OV-Sprecher 1 Es geht darum, dass das Gesundheitssystem allen die gleichen Lebensperspektiven bietet - denjenigen, die Geld haben, genauso wie denen, die arm sind. Es kann nicht sein, dass der Zugang zur Gesundheit vom Markt geregelt wird. Denn was ist dann mit dem Recht auf Leben? Autor Die neue Regierung hat sich viel vorgenommen. Gesundheits- und Rentensystem sollen wieder in die öffentliche Hand überführt werden. Eine Landreform soll für eine Umverteilung des Bodens sorgen, der Regenwald vor wirtschaftlicher Ausbeutung geschützt werden. Mit neuen Friedensverhandlungen will man den seit Jahrzehnten schwelenden bewaffneten Konflikt endlich beenden. Denn auch der historische Friedensschluss zwischen der Regierung und der FARC-Guerilla 2016 hat der Gewalt kein Ende bereitet. Und in den ersten Monaten lief es auch nicht schlecht für die Regierung Petro. Mit großem Geschick brachte sie eine - moderate - Anhebung der Vermögens- und Unternehmenssteuern durchs Parlament. Doch schon an der zweiten großen Reform, dem Ausbau des öffentlichen Gesundheitswesens, entzündeten sich heftiger Widerstand. Für viele Investoren ist das weitgehend privatisierte Gesundheitswesen einfach ein zu lukratives Geschäft. Das Land steht vor einer Zerreißprobe. Atmo 3 (oder 2?) Demo der Opposition noch mal hoch Autor Ich bin in Kolumbien, um zu verstehen, wo das Land steht, nach mehr als einem Jahr Gustavo Petro. Denn selbst in meinem Freundeskreis gehen die Meinungen weit auseinander. O-Ton 4 Juan Carlos Moreno Me parece que es un grupo de delincuentes. // El presidente se ve que es un egolatra ... de verdad, eso no me preocupa. OV-Sprecher 2 Die Regierung - das ist eine Gruppe Verbrecher. Der Präsident ist ein Egozentriker. Und was seine Vizepräsidentin angeht: Mir ist egal, ob sie weiß, schwarz, blau oder indigen ist. Atmo 4 ab 3.23 ... Wohnung, Straßenlärm im Hintergrund Autor Mein Freund Juan Carlos Moreno, Transportunternehmer. Wir sind in Medellín, der zweitgrößten Stadt des Landes. Stehen in der Küche seiner Apartmentwohnung. 17. Stock, der Lärm einer nahgelegenen Stadtautobahn brandet herauf. Früher Morgen, kurz nach sechs. Maru Hernández, Juans Lebensgefährtin, füllt Kaffee aus einer Vakuumverpackung in eine Dose um. O-Ton 5 Dialog Juan Carlos Moreno / Maru Hernández Juan Carlos Moreno: Esta bloqueado. Está bloqueado en dos puntos. OV-Sprecher 2 Hier ist die Straße blockiert. An zwei Punkten. Ab ca. 0.04 Dialog Maru Hernández Maru: Que bueno, Raúl. Te tocó paro de taxistas. OV-Sprecherin 2 Na toll, Raúl! Du erlebst gleich einen Taxifahrerstreik. Autor Eigentlich sollte Juan mir an diesem Tag seine Spedition zeigen. Doch gerade finden wieder einmal landesweite Proteste der Taxifahrer statt. Sie haben Straßenblockaden errichtet, um gegen hohe Benzinkosten zu protestieren. O-Ton 6 Juan Carlos Moreno Está bloqueado, es por aquí ... es la venida. OV-Sprecher 2 Alles dicht. Da hinten könnten wir lang. Der Hinweg sollte kein Problem sein. Schwierig wird die Rückfahrt. Autor Gelassen wischt der Freund mit dem Finger über sein Smartphone. Er ist Vorstandsmitglied im Verband der Transportunternehmer, der Asociación de Transportistas de Carga, ATC, und besitzt zwanzig eigene LKW. Transportstreiks erschrecken ihn nicht. Er hat in seinem Leben selbst schon einige organisiert. Atmo 5 ab ca. 0.10 Autoradio Autor Auch als wir eine Viertelstunde später in den Wagen steigen und im Autoradio von Aktionen bewaffneter Gruppen die Rede ist, bleibt er unbeeindruckt. Als Transportunternehmer ist er Einiges gewohnt: Schlammlawinen, schlechte Straßen, unberechenbares Wetter, Überfälle ... Und natürlich den bewaffneten Konflikt. O-Ton 7 Juan Moreno El tema es muy complicado... salirte del negocio. OV-Sprecher 2 Das ist ein kompliziertes Thema. Für uns geht es ja nicht nur darum, dass wir mit anderen Unternehmen um Aufträge konkurrieren. Wir haben es außerdem mit illegalen Gruppen zu tun, die uns erpressen. Bewaffnete, die Geld von dir wollen, damit sie dich in Ruhe lassen. Oft sind sie mit den Schutzgeldzahlungen nicht zufrieden und machen dir trotzdem den LKW kaputt oder klauen dir deine Waren. Die große Mehrheit von uns hat irgendwann einmal Lösegeld wegen einer Entführung oder Schutzgeld bezahlen müssen. Manche Leute sagen, wir würden diese Gruppen unterstützen. Aber das ist Unsinn. Wenn dir jemand eine Waffe an den Kopf hält oder einen LKW entführt, dann musst zu zahlen. Sonst kannst du das Geschäft gleich aufgeben. Autor Von den Friedensbemühungen der neuen Regierung will mein Freund Juan trotzdem nichts wissen. Zu oft sind derartige Bemühungen bereits gescheitert. 2006 wurden die rechten Paramilitärs demobilisiert, 2016 ein Friedensvertrag mit der größten Guerilla des Landes, den kommunistischen FARC, unterzeichnet. Für Menschen wie Juan hat das allerdings kaum etwas an ihrer Lage geändert. O-Ton 8 Juan Moreno Ese tema de las desmovilizaciones... que les de un sustento. OV-Sprecher 2 Diese Demobilisierung von Paramilitärs und Guerilla - das war doch nicht real. Wenn jemand aus einer illegalen Gruppe die Waffen niederlegen soll, braucht er eine andere Einkommensquelle. Ansonsten wird er sich weiter als Krimineller über Wasser halten: mit Erpressungen, Drogenhandel, Raub. Die Gruppen haben nur ihren Namen gewechselt. In mancher Hinsicht ist es sogar noch schlimmer geworden. Das Geschäft hat sich atomisiert. Es sind nicht mehr zwei oder drei, sondern 100 oder 200 Gruppen. Die sind vielleicht kleiner, aber kennen sich mit ihrem Geschäft aus. Es gibt ja nichts Anderes, von dem sie leben könnten. Autor Seit mehr als 70 Jahren wird Kolumbien durch einen bewaffneten Konflikt erschüttert. Mehr als 9 Millionen Kolumbianer wurden in dieser Zeit Opfer der Gewalt: wurden vertrieben, misshandelt, entführt, bombardiert oder ermordet ... Der Friedensprozess von 2016 war mit großen Hoffnungen verbunden. Doch nach dem Ende der FARC-Guerilla entstanden neue bewaffnete Gruppen. Atmo 6 0.00-007 Fahrtgeräusch, Murmeln Juan Autor Routiniert manövriert uns Juan an den Straßenblockaden der Taxifahrer vorbei. Mir geht weiter durch den Kopf, was er gesagt hat: dass Gewalt in Kolumbien ein Geschäftsmodell sei. Einen Aspekt hat er dabei allerdings ausgeklammert: Dass nämlich nicht nur Banden und Drogenkartelle sich ihren Reichtum zusammen rauben. Auch große Teile der Oberschicht haben das über die Jahrhunderte getan: als europäische Kolonialisten nach der Eroberung Amerikas, als Unternehmer während der Bürgerkriege des 19. und 20. Jahrhunderts ... Und seit 1980 haben reiche Viehzüchter und Plantagenbesitzer mithilfe paramilitärischer Milizen erneut Millionen Kleinbauern vertrieben und sich ihr Land angeeignet. Juans Familie gehört jedoch nicht zu dieser Oberschicht. Die Familie Moreno hat sich ihr Transportunternehmen mit harter Arbeit selbst aufgebaut. O-Ton 9 Juan Moreno Mi papá era un hombre de origen campesino, nació en una familia campesina... la suerte con esa situación. OV-Sprecher 2 Mein Vater kam aus einer Bauernfamilie, hat auf dem Feld gearbeitet, sich um die Milchkühe meines Großvaters gekümmert. Er war das fünfte von zwölf Kindern. In Medellín hat sich dann für ihn die Möglichkeit ergeben, mit einem kleinen Kipplaster zu arbeiten. Mit dem Laster konnte man nur vier, fünf Tonnen transportieren. Die Straßen waren damals fast alle unbefestigt, mit riesigen Schlaglöchern. Deshalb hatte mein Vater immer einen Helfer dabei - falls der LKW unterwegs entladen werden musste. Wenn sie irgendwo liegen blieben, haben sie die Fracht mit der Hand ab- und wieder aufgeladen. Auf einer einzigen Fahrt mussten sie das manchmal drei, vier, fünf Mal machen. Autor Auch Juan selbst hat sich vor der körperlichen Arbeit nie gedrückt. Hat im LKW hinter dem Steuer gesessen, sich in der Werkstatt unter die Motoren gelegt. O-Ton 10 Juan Carlos Moreno Yo terminé el bachillerato en el año ochentaiseis ... hacía de todo. OV-Sprecher 2 Mit der Schule war ich 1986 fertig. Ich hab mal ein Maschinenbaustudium angefangen, aber da habe ich mich nicht richtig reingehängt. Stattdessen habe ich bei meinem Vater gearbeitet, und 1996 haben wir dann die Firma gegründet. Ich habe die Maschinen repariert, die LKW in der Werkstatt auseinandergeschraubt. Ich hab Touren übernommen, wenn ein Fahrer krank geworden ist. Hab alles gemacht, was anfiel, um das Geschäft am Laufen zu halten. Autor Aus Juans Sicht ist die Politik der neuen Regierung ein Angriff auf die Fleißigen. Was er sich aufgebaut hat, wird mir klar, wird er so leicht nicht wieder hergeben. Schnitt Atmo/Musik 7 Duda - Colombia Obrera (Protest-Rap) https://www.youtube.com/watch?v=I2Q7IICNn3I&list=PLSmy6PLfPMH_xw3rAq-7rxZB_xfUa5d1o&index=35&pp=iAQB8AUB Atmo 8 ab 0.00 Trommeln, Lehrerstreik Autor Meine Freunde in Bogotá, Donka und Carlos Alberto, sehen das alles ganz anders. Einige Tage zuvor habe ich sie in der Hauptstadt getroffen ... In der Nähe des Parlamentsgebäudes. Ihr ganzes Leben lang haben die beiden als Aktivisten den Staat bekämpft. Jetzt stehen sie plötzlich auf der anderen Seite - sind Teil der Regierung von Präsident Gustavo Petro. Atmo 9 ab 1.07 Parolen Lehrerstreik Autor Am Eingang des Parlaments campieren streikende Lehrer. Sie befürchten, dass Lobby-Verbände die geplante Gesundheitsreform zu Fall bringen könnten, und wollen den Präsidenten an die im Wahlkampf gemachten Versprechen erinnern. Die Lage ist komplex, aber meine Bogotaner Freunde sind zuversichtlich. O-Ton 11 Carlos Alberto Benavides La convocatoria del Pacto Histórico que hizo Petro ... ... desde hace veinte años. OV-Sprecher 3 Der Historische Pakt, das Bündnis von Präsident Petro, ist eigentliche das Gleiche, was wir schon 2010 versucht haben. Es sind dieselben Parteien, die sich seit zwanzig Jahren um ein Bündnis der gesamten Linken bemühen. O-Ton 12 Donka Atanassova Hay una inspiración programática muy alta ... experiencia de traductor. OV-Sprecherin 3 Das Programm ist wirklich sehr inspirierend. Die Regierung wird nicht alles umsetzen können. Aber das Programm kann als Leitfaden linker Politik auf lokaler und regionaler Ebene dienen. Wie die Verbindung zwischen diesen Ebenen aussehen kann, ist noch nicht so klar. Da sehe ich unsere Aufgabe: Wir können eine Brücke sein - auch um neue Leute für das Projekt zu gewinnen. Und zu Vermittlern werden zwischen verschiedenen Traditionen der Linken. Autor Carlos Alberto Benavides und Donka Atanassova habe ich etwa zur selben Zeit kennen gelernt wie die Familie Moreno - um die Jahrtausendwende. Er ist heute Abgeordneter der Regierungspartei Pacto Histórico im Senat, der oberen Parlamentskammer, sie kandidiert für die Stadtregierung von Bogotá. Als wir uns kennen lernten, hätten wir uns das kaum vorstellen können. Die Freunde gehörten damals zu einer radikalen Studentenorganisation und hatten sich ganz der Basisarbeit verschrieben: kochten für bedürftige Studierende auf dem Uni-Campus, bereiteten Jugendliche aus den Armenvierteln auf die Zulassungsprüfung vor ... Und setzten dabei ihr Leben aufs Spiel. Denn Paramilitärs ermordeten in jenen Jahren, gedeckt von der damaligen Regierung unter Präsident Álvaro Uribe, Tausende von Oppositionellen. Doch dann wurde Gustavo Petro, der heutigen Präsident, 2011 zum Bürgermeister von Bogotá gewählt und nahm Donka, die in Bulgarien geborene, in Kolumbien aufgewachsene Studentenführerin, unter Vertrag. Donka arbeitete eine Weile in Bildungsprogrammen und wurde schließlich so etwas wie die Polizeichefin von Bogotá. Noch ein Jahrzehnt später kommt ihr die Geschichte seltsam vor. O-Ton 13 Donka Para mí... frentes a los temas de seguridad. // OV-Sprecherin 3 Das war schon sehr eigenartig. Ich war ja zuerst nur Beraterin für pädagogische Fragen, aber dann wurde ich aufgefordert, die neue Sicherheitspolitik von Bürgermeister Petro zu entwickeln. Bei diesem Ansatz sollte eine "humane, menschliche Sicherheit" im Mittelpunkt stehen. Das war natürlich ein großer Widerspruch zu unseren persönlichen Erfahrungen. Wir standen bei Demonstrationen bis dahin immer auf der anderen Seite, machten Menschenrechtsverletzungen der Polizei öffentlich- und jetzt war ich plötzlich für Sicherheitsfragen zuständig. Autor In Kolumbien ist die Polizei - ebenso wie das Heer oder die Marine - eine Truppengattung der Streitkräfte. O-Ton 14 Donka El comandante máximo de la policía ... de articular con el alcalde. OV-Sprecherin 3 Der Oberste Polizeichef ist der Bürgermeister. Aber ich war für die Beziehungen mit der Polizei und die Sicherheitsstrategie verantwortlich. Ich hatte ziemlich Glück, weil es an der Polizeispitze gerade einen Wechsel gab. Der General, der neu berufen wurde, gehörte nicht zur traditionellen Polizei-Elite. Er hatte ein Interesse, sich mit dem Bürgermeister zu koordinieren. Autor Und so wurde unsere Freundin Donka zur Vorgesetzten ... eines Generals. Viel Spielraum, um der Sicherheitspolitik der Hauptstadt ihren Stempel aufzudrücken, hatte sie nicht. Die politische Rechte sorgte schon bald dafür, den Bürgermeister mit - wie sich im Nachhinein herausstellen sollte - illegalen juristischen Tricks zu suspendieren. Solche und andere Attacken abzuwehren, kostete die Stadtregierung viel Zeit und Kraft. Aber immerhin entwickelte Donka damals einen eigenen Ansatz zur Kriminalitätsbekämpfung. O-Ton 15 Donka Un enfoque de seguridad humana ... barrios de mayor exclusión en Bogotá. OV-Sprecherin 3 Wir wollten nicht nur Verbrechen bekämpfen, sondern haben Sicherheit als etwas begriffen, das auch die sozialen Lebensbedingungen umfasst. Präsident Petro möchte etwas Ähnliches jetzt landesweit entwickeln: ein Programm namens "Jugendliche im Frieden". Wir haben damals mit 10.000 Jugendlichen gearbeitet, die Gefahr liefen, von Banden rekrutiert zu werden. Jugendliche aus den ärmsten Vierteln der Stadt. Autor Ich frage die Freunde, ob die Lage heute nicht ähnlich sei wie vor einem Jahrzehnt: viele gute Ideen, aber wenig Spielräume. Auch jetzt muss die Regierung einen Großteil ihrer Energie darauf verwenden, konservative Politiker einzubinden, die die geplanten Sozialreformen eigentlich verhindern wollen. Seit Monaten sind die Gesetzesvorhaben im Parlament blockiert. Aber Carlos Alberto bleibt optimistisch. O-Ton 16 Carlos Alberto Benavides Y eso es de las cosas chéveres. Creo que hay una pedagogía de consenso ... y yo veo esa sintonía. OV-Sprecher 3 Das ist doch das Interessante an der Situation. Wir setzen auf eine Pädagogik des Konsens'. Wir bauen eine Allianz, die sich nicht in erster Linie an der Linken orientiert, sondern an inhaltlichen Projekten. Zentrale Bedeutung haben hier die Friedenspolitik, Arbeit und Produktion, drittens der Bereich Energie und Klimawandel und viertens die Aufwertung der Regionen. Wenn wir uns in diesen übergeordneten Zielen einig sind, können wir bei anderen Fragen zu Kompromissen kommen. O-Ton 17 Carlos Alberto Benavides Todas nuestras reformas que son ... es una constitución liberal social. OV-Sprecher 3 Unseren möglichen Verbündeten sagen wir: Erinnert ihr euch an die Verfassung von 1991? Unsere Reformen gehen nicht darüber hinaus. Lasst uns Kolumbien in einen "Sozialen Rechtsstaat" verwandeln. Die 1991 verabschiedete Verfassung ist ja nicht links oder fortschrittlich, es ist eine sozialliberale Verfassung. Autor Es scheint, als lebten meine Freunde in Bogotá und Medellín in zwei völlig unterschiedlichen Realitäten. Dabei gibt es durchaus auch Gemeinsamkeiten. Wie Juan, der Transportunternehmer, stammt auch Carlos Alberto, der Anthropologe und Abgeordnete, aus einer Bauernfamilie. O-Ton 18 Carlos Benavides Yo soy de una región que es ... mundo popular de Pasto. // OV-Sprecher 3 Ich bin aus dem Südwesten Kolumbiens, von der Grenze zu Ecuador. Nariño, das Department, in dem ich geboren bin, ist von Landwirtschaft geprägt und gehört zu den Regionen mit der größten sozialen Ungleichheit. Wir waren sechs Geschwister, meine Mutter war alleinerziehend. Also ab meinem sechsten Lebensjahr. Sie war Bäuerin, hat Bohnen, Mais, Weizen angebaut. Davon bin ich geprägt: Ich komme vom Dorf, meine Mutter hat mich allein groß gezogen. Ich bin dann auf eine öffentliche Schule in der Provinzhauptstadt Pasto gegangen. In einem Arbeiterviertel. Die Eltern meiner Schulkameraden waren Schuster oder hatten kleine Läden. Autor Auch Carlos Albertos Leben war von Gewalterfahrungen geprägt. Allerdings auf ganz andere Weise als das von Juan in Medellín. 1977, Carlos Alberto war noch ein kleines Kind, kam es in Kolumbien zu einem Generalstreik gegen den Abbau von Arbeitsrechten. Millionen Kolumbianer gingen damals auf die Straße. O-Ton 19 Carlos Benavides A un hermano mío le disparan y le hieren ... lo que significaba la represión. OV-Sprecher 3 Bei dem Streik wurde einer meiner Brüder von der Polizei angeschossen und war danach drei Tage verschwunden. Meine Mutter hat ihn gesucht, aber nicht nur das. Sie hat auch die Kugel aufbewahrt, mit der er verletzt wurde. Als Symbol dafür, dass wir eine Familie sind, die kämpft. Die sich an diesem Streik beteiligt hat. Diese Kugel sollte uns immer daran erinnern, was Unterdrückung bedeutet. SCHNITT Atmo 10 ab 1.32 Unterhaltung Juan Carlos Moreno mit einem Angestellten Autor Zurück nach Medellín. Nach einer Stunde Autofahrt sind Juan und ich in der Spedition in Copacabana angekommen. Vor einigen Jahren ist seine Transportfirma aus der Innenstadt in diesen Vorort umgezogen. Das Firmengelände sieht improvisiert aus. Auf einer Brachfläche stehen Zugmaschinen, Container, auseinander geschraubte Anhänger herum. Atmo 11 ab 0.57 Hahnenschrei Autor Bambus-Haine, Bananenstauden. Einer der Arbeiter hält auf dem Gelände Kampfhähne. Man könnte meinen, die Spedition habe sich einen idyllischen Flecken am Stadtrand gesucht. In Wirklichkeit ist der Betrieb aus Kostengründen umgezogen. Auch in Kolumbien sind die Immobilienpreise in den Städten explodiert. O-Ton 20 Dialog Autor // Juan Carlos Moreno (O-Ton läuft durch) Autor: Y esto qué es? // Moreno: ... volverlo armar Autor Und was ist das? Wir stehen vor einem völlig verbogenen, mit Ketten behelfsmäßig aufgespannten Fahrgestell. OV-Sprecher 2 Das ist das Chassis von einem verunglückten LKW. O-Ton 20 Ab ca. 0.10 Autor: Y? Se puede recuperar? Autor Kann man das reparieren? O-Ton 20 Ab ca 0.12 Moreno: Sí, estamos recuperándolo. OV-Sprecher 2 Na klar, ich kauf gerade eine neue Fahrerkabine. Autor LKW-Fahrer können in Kolumbien kaum auf geregelte Arbeitszeiten hoffen. Oft sind sie wochenlang auf den Überlandstraßen unterwegs. Schlafen auf einem Brett, das sie über Fahrer- und Beifahrersitz legen. Viele Pässe liegen auf über 3000 Meter, führen an lebensgefährlichen Felswänden entlang. O-Ton 21 Juan Carlos Moreno Afortunadamente no le pasó mucho ... que no se mató. OV-Sprecher 2 Dem Fahrer ist glücklicherweise nicht so viel passiert. Aber aus Unachtsamkeit hat er sich fast umgebracht. Der Tank, die Fracht - alles kaputt. Was für ein Glück, dass er nicht gestorben ist. Atmo 12 ab 0.02 Druckluftgerät, Hahnenschrei Autor In mühseliger Handarbeit wird das Fahrzeug jetzt wieder zusammengeflickt. Als Unternehmer lehnt Juan das neue Arbeitsgesetz ab, das die Rechte der Beschäftigen besser schützen soll. Aber hat er nicht selbst gesagt, die Friedensprozesse der Vergangenheit seien stets daran gescheitert, dass man den Mitgliedern der bewaffneten Gruppen keine alternativen Einkommensmöglichkeiten eröffnet habe? Braucht es da nicht soziale Reformen? O-Ton 22 Juan Moreno (atmet schwer aus) El tema de la igualdad... y árboles más chicos. OV-Sprecher 2 Das mit der Gleichheit ist doch sehr relativ. Gleichheit ist gut, wenn sich Leute gleichermaßen anstrengen. Aber zwischen denen, die sich anstrengen, und denen, die sich nicht anstrengen, sollte es keine Gleichheit geben. Ich denke, eine Gesellschaft braucht eher Ausgewogenheit. Wer sich mehr anstrengt oder größere Fähigkeiten besitzt, sollte auch mehr bekommen. In der Natur gibt es auch keine Gleichheit: Wenn du Bäume pflanzt, werden manche größer und andere kleiner. O-Ton 23 Dialog Autor / Juan Carlos Moreno Autor: Pero algunas reformas ... Moreno: ... una actividad donde se pueda desempenar. Autor Und was ist mit der Landreform, die es den Kleinbauern ermöglichen soll, sich selbst etwas aufzubauen? Immerhin sind Grund und Boden in kaum einem Land der Welt so ungleich verteilt wie in Kolumbien. Dem reichsten einen Prozent der Landbesitzer gehören 81 Prozent des Bodens. Gustavo Petro will 3 Millionen Hektar aufkaufen und an Binnenvertriebene verteilen - es ist eines seiner zentralen Regierungsprojekte. Ab ca 0.12 (beginnt mit Antwort von Juan Moreno) Yo pienso que nada que se regala, se agradece ... OV-Sprecher 2 Ich glaube, dass Dinge, die man verschenkt, nicht wertgeschätzt werden. In Kolumbien ist das lange Zeit genau so gemacht worden: Man hat Land verschenkt. Aber die meisten, die Landtitel bekommen, verkaufen die Grundstücke danach schnell wieder. Wenn man jemandem helfen will, sollte man ihm nichts schenken. Man sollte ihm eine Tätigkeit geben, in der er sich entfalten kann. Autor Dass Juan von einer Landreform wenig hält, hat auch persönliche Gründe. Vor einigen Jahren wurden ihm - noch unter einer Vorgängerregierung - mehrere Tausend Hektar Land abgenommen. Anfang der 1990er Jahre hatte seine Familie einen Teil des Betriebsvermögens in Vieh investiert, um sich ein zweites Standbein neben der Transportbranche aufzubauen. Die Familie Moreno suchte sich Bauern, die die Rinder der Morenos auf ihrem Land versorgten und dafür am Gewinn beteiligt wurden. Etwas später an diesem Tag, auf der Rückweg im Wagen, erzählt er mir von dieser Geschichte. O-Ton 24 Juan Carlos Moreno Estando en esta actividad del ganado de utilidad ... decidieron vender las fincas que tenían. OV-Sprecher 2 Nach einiger Zeit gab es in der Region schwere soziale Probleme. Das heißt, die Probleme gab es schon länger. Aber sie spitzten sich zu, und die Bauern, die sich um unser Vieh kümmerten, wollten die Fincas verkaufen. Autor Schwere soziale Probleme - das ist einer dieser typisch-kolumbianischen Euphemismen, wenn es um die politische Gewalt geht. Der Norden Kolumbiens galt lange als Einflussgebiet von Guerillas und Gewerkschaften. In den 1990er Jahren machte sich eine Allianz aus Armee, großen Agrarunternehmen und paramilitärischen Milizen daran, das Gebiet zurückzuerobern. Viele Kleinbauern wurden vertrieben. Juans Partner entschieden sich, ihr Land zu verkaufen. Im Kriegsgebiet war es ihnen zu gefährlich geworden. O-Ton 25 Juan Moreno Empezamos nosotros a tratar ... nuestra actividad principal que es el transporte. OV-Sprecher 2 Wir haben versucht, sie zum Bleiben zu überreden. Wir wollten ihr Land ja nicht. Wir wollten uns keine Finca ans Bein binden, die uns von unserem eigentlichen Geschäft ablenkt, dem Transportwesen. Autor Juan zufolge kaufte die Familie Moreno den Bauern das Land eher widerwillig und zu einem fairen Preis ab. Doch viele Jahre später, 2011, eröffnete ein neues Gesetz Vertriebenen die Möglichkeit, das Land zurückzufordern, das sie im Verlauf des bewaffneten Konflikts verloren hatten. Das betraf auch Ländereien, die verkauft worden waren. Juans Familie musste einen großen Teil der Finca an die ursprünglichen Besitzer zurückgeben. O-Ton 26 Juan Carlos Moreno Por eso digo que la ley es ingenua ... sintió temor de la situación OV-Sprecher 2 Ich halte das Gesetz für ... wie soll ich sagen ... für naiv. Denn auch Land, das ganz legal, zu einem fairen Preis verkauft wurde, kann zurückgefordert werden. Es reicht, dass jemand sagt, dass er aus Angst vor der Gewalt verkauft hat. Autor Mit den Paramilitärs, die die Bauern damals terrorisierten, will Juan nichts zu tun gehabt haben. Allerdings wurde er im Unterschied zu vielen Bewohnern der Region nicht vertrieben. Vielleicht, weil er sich dem Druck entschlossen widersetzte? Weil er Schutzgeld bezahlte und die Paramilitärs damit finanziell unterstützte? Ein klassischer Nutznießer der Paramilitärs ist Juan auf jeden Fall nicht. Einer seiner LKW wurde von einer paramilitärischen Miliz entführt - um ein Lösegeld zu erpressen. Atmo 13 8.13-8.22 Motorradhupen, Straßengeräusche Autor In den kommenden Wochen bin ich im Land unterwegs. In Cali treffe ich eine Frau, deren Sohn 2021 bei den Armutsprotesten während der Corona-Pandemie von der Polizei erschossen wurde. Sie verkauft gebrauchte Auto-Ersatzteile. Auf dem Gehweg neben einer viel befahrenen Straße hat sie eine Plastikplane ausgebreitet. Das ist ihr Geschäft, hier bietet sie ihre Waren feil. Atmo 13 8.41 Straßengeräusche O-Ton 27 Straßenhändlerin El estaba trabajando conmigo aquí// Y aquí nos fuimos a casa ... tenía tres meses de haber salido del ejército. OV-Sprecherin 4 Er hat mit mir hier gearbeitet. Wir wollten nach Hause, er ist noch mal los, um etwas zu kaufen. Ich hab nie gedacht, dass das passieren könnte. Er war gerade erst drei Monate zuvor aus der Armee entlassen worden. Atmo 14 ab 0.09 Versammlung, Gespräche Autor Einen Tag später bin ich auf einer Versammlung von Vertriebenen: vierzig Personen aus den Armenvierteln der Stadt, die in den letzten 15 Jahren ihre Häuser verloren haben. Eine Frau führt mir auf dem Smartphone vor, wie ihr Haus am Stadtrand von Cali von der Polizei zwangsgeräumt und abgerissen wurde. O-Ton 28 Vertriebene Yo ya llevo viviendo 26 anos alli ... la población que vivimos allí. OV-Sprecherin 5 Ich lebe seit 26 Jahren da, andere Familien in der Nachbarschaft sind schon 150 Jahre dort. Es sind fast alles Bauern. Der Staat will diesen ganzen Streifen am Fluss in ein Ausflugsgebiet verwandeln. Wenn der Bürgermeister über uns redet, bezeichnet er uns als Landbesetzer, als Invasoren. Wir werden immer diskriminiert. Autor Seit ich 1988 das erste Mal in Kolumbien war, habe ich immer wieder Geschichten wie diese gehört. Die meisten einfachen Kolumbianer besitzen keine oder unzureichende Landtitel und geraten deshalb immer wieder in Konflikt mit den Institutionen. Mit der Regierung von Präsident Petro gibt es zum ersten Mal jemanden, der ihre Klagen ernst nimmt. Aber an ihrer Situation hat das nichts geändert. In den Medien hört man von solchen Problemen allerdings wenig. Die vier größten Fernsehsender gehören den vier mächtigsten Unternehmensgruppen des Landes. Hier konzentriert man sich darauf, die Auslandsreisen der schwarzen Vizepräsidentin zu skandalisieren. Als ich wieder in Bogotá bin, will ich meine Freunde Donka und Carlos Alberto zu der schleichenden Eskalation im Land befragen. Doch es ist gar nicht so einfach, die beiden wiederzusehen. Atmo 15 ab 3.40 Regierungsgebäude, Stimmen Autor In einem Sitzungssaal des Finanzministeriums wird gerade der Plan Nacional de Desarrollo, der Nationale Entwicklungsplan, debattiert. Hier wird über die Vergabe von Haushaltsmitteln entschieden. Atmo 16 ab 0.13 Unterhaltung, Grüße, Gelächter Autor Drei Stunden muss ich vor dem Gebäude warten. Und als meine Freunde endlich herauskommen, werden sie gleich von Sprechern einer Kleinbauern-Organisation in Beschlag genommen. Die Bauern fürchten, im Entwicklungsplan nicht ausreichend berücksichtigt worden zu sein. Atmo 17 ab 5.55 Benavides hält improvisierten Vortrag Autor Während um uns herum Motoren dröhnen, macht Carlos Alberto das, was er am besten kann. Er verwandelt den kleinen Platz neben dem Ministerium in einen Versammlungsort und hält eine improvisierte Rede. Donka, unsere gemeinsame Freundin, steht ein paar Meter entfernt. Die Erschöpfung ist ihr ins Gesicht geschrieben. O-Ton 29 Donka Atanassova A las cinco de la manana empecé ... para las economías solidarias. OV-Sprecherin 3 Ab fünf Uhr morgens habe ich ein paar Dokumente fertig gemacht, die wir für die Debatte heute brauchten. Dann hatte ich ein Arbeitsfrühstück mit Frauen, die bei den Regionalwahlen antreten wollen. Mittags um zwei bin ich hierher zum Plenum. Danach hatte ich ein Treffen mit Genossenschaftsverbänden. Die sollen im Entwicklungsplan auch stärker berücksichtigt werden. Atmo 18 ab 3.51 Donka redet weiter Autor Ihre Arbeit, denke ich, gleicht einem Kampf gegen Windräder. Alles, was die Regierung macht, wird die Not der Betroffenen - wenn überhaupt - erst in Jahren lindern. Auf der einen Seite ist die Regierung mit der Enttäuschung ihrer Anhänger, auf der anderen mit dem entschlossenen Widerstand ihrer Gegner konfrontiert. O-Ton 30 Dialog Autor / Donka Autor: Te imaginabas, que iba a ser así, el ritmo ... Autor Hast du dir das so vorgestellt? Ab ca. 0.04 Donka Yo sí, yo me imaginaba OV-Sprecherin 3 Ja, klar. Unser Aktivismus war ja immer so. Sehr intensiv. Und ich wusste, dass es mit so einem Posten noch anstrengender werden würde. Was uns am meisten überrascht hat, war, wie wenig Zeit man zum Lernen hat. Wir dachten, man bekäme ein paar Monate, um zu verstehen, wie der Senat funktioniert. Wie man dort redet, verhandelt ... Aber du wirst sofort ins kalte Wasser geschmissen. Atmo 19 ab 0.00 Verabschiedung Bauern Autor Endlich hat Carlos Alberto ein paar Minuten. Ich befrage ihn zu den regierungskritischen Demonstrationen im Land, den aggressiven Tönen der Opposition und der Medien. Macht er sich keine Sorgen? O-Ton 31 Carlos Benavides Pues, esto es una expresión pero mira que .... Y con las reformas va a ocurrir lo mismo. OV-Sprecher 3 Ja, diese Aggressivität mag es geben. Aber der Nationale Entwicklungsplan ist hier im Parlament gerade mit allen Parteien, mit dem gesamten politischen Spektrum debattiert worden - und zwar in einem Klima des Dialogs, den viele Abgeordnete der Opposition vermutlich so nicht erwartet haben. Mit den Reformen wird das genauso sein. Atmo 20 ab 0.19 Nationalhymne Autor Im Hintergrund tritt die Präsidentengarde zur Wachablösung an. Die Nationalhymne ist leise zu hören. O-Ton 32 Carlos Benavides Eso no significa que nosotros seamos ... acuerdo nacional. OV-Sprecher 3 Wir sind nicht naiv. Wir wissen, dass es immer wieder, wenn in diesem Land Reformen verabschiedet wurden - zum Beispiel in den dreißiger Jahren -, zu gewalttätigen Reaktionen von Teilen der Gesellschaft kam. Aber es gibt eben auch eine alternative Option. Das bisherige Wirtschaftsmodell - Ausbeutung von Rohstoffen und Neoliberalismus - ist an eine Grenze gestoßen. Das wissen auch die Unternehmer und die anderen Parteien. Sie suchen nach einem Ausweg. Ihre Lösung sieht wahrscheinlich anders aus als unsere. Aber es gibt doch eine gemeinsame Einschätzung: dass nämlich der Neoliberalismus, der unsere Wirtschaftspolitik 30 Jahre dominiert hat, an sein Ende gelangt ist. Da gibt es, wie der Präsident gesagt hat, so etwas wie einen nationalen Konsens. Autor Mein Freund lächelt. Dabei hat er in einem Nebensatz ein Horrorszenario an die Wand gemalt. Denn bereits in den 1930er Jahren hatte sich in Kolumbien ein liberaler Präsident um eine sozialdemokratische Reformpolitik bemüht, die der von Franklyn D. Roosevelt in den USA ähnelte: staatliche Investitionen, Ausbau von Gewerkschaftsrechten, Landreform. Der rechte Flügel der kolumbianischen Konservativen stoppte die Reformbewegung. Die Gewalt gegen Kleinbauern nahm zu, einige Jahre später wurde der aussichtsreichste Präsidentschaftskandidat der Liberalen erschossen. Schnitt Atmo/Musik 7 Duda - Colombia Obrera https://www.youtube.com/watch?v=I2Q7IICNn3I&list=PLSmy6PLfPMH_xw3rAq-7rxZB_xfUa5d1o&index=35&pp=iAQB8AUB Autor Die letzten Tage vor meiner Abreise verbringe ich erneut in Medellín. Atmo 21 ab 0.10 Maru mit einer Freundin zu Hause Autor Maru, Juans Lebensgefährtin, sitzt in der Apartmentwohnung neben der offenen Balkontür und lässt sich von einer Bekannten, deren Rente zum Leben nicht reicht, eine Pediküre machen. Sie ist besorgt. O-Ton 33 Maru Hernández Imaginate que el año pasado fue el año ... OV-Sprecherin 2 Im vergangenen Jahr sind so viele Kolumbianer ausgewandert wie noch nie. Mehr als 500.000 Menschen. Fast alles junge Leute zwischen dreiundzwanzig und Mitte dreißig. Das sind doch diejenigen, die arbeiten und produzieren. Autor Von meinen vier Freunden ist Maru diejenige, deren Ansichten die Bevölkerungsmehrheit in Kolumbien wahrscheinlich am ehesten repräsentieren: Sie hält sich aus der Politik heraus. Eigentlich wünscht sie sich eine Regierung, die für mehr soziale Gleichheit sorgt. Aber sie hat die Hoffnung verloren, dass es damit je etwas werden könnte. Heute sieht sie vor allem die Probleme der eigenen Kinder: Es sei schwer geworden, sich mit dem eigenen Einkommen etwas aufzubauen. Ihre Tochter Ana, die Management studiert hat, steht morgens um 4.30 Uhr auf, um zur Arbeit zu fahren. Ihr Sohn Juan José, Jurist, ist seit einigen Monaten arbeitslos. O-Ton 34 Maru Hernández Tu supiste que trabajaba ... eso le encanta. OV-Sprecherin 2 Wusstest du, dass er nach seinem Studium für eine Stiftung gearbeitet hat? Sie haben Bauern und Ex-Guerilleros bei der Gründung von Betrieben beraten. Er ist in die ganzen Konfliktgebiete gefahren: El Bagre, Zaragoza, Dabeiba. Da war ein großes Camp mit ehemaligen Guerilleros. Es hat ihm sehr gefallen, etwas Soziales zu machen. Autor Den Arbeitsvertrag habe er dann aber nicht verlängert. O-Ton 35 Maru Hernández Dice el que por culpa de nosostros... en moto quien sabe a qué. OV-Sprecherin 2 Er sagt, wir seien schuld. Er sollte nämlich in eine Stadt im Südwesten reisen, an die Pazifikküste. Aber da ist es schrecklich. Selbst sein Vater hat gesagt: "Fahr da nicht hin." Die Gegend wird von bewaffneten Gruppen kontrolliert. Einen seiner Kollegen haben sie auf dem Motorrad mitgenommen, wer-weiß-wozu ... Autor ... wieder so ein Euphemismus: Eine bewaffnete Gruppe wollten den Kollegen ihres Sohnes entführen. O-Ton 36 Maru Lograron parar la vaina ... no renovó el contrato. // OV-Sprecherin 2 Sie haben das gerade noch verhindern können. Ich hab zu meinem Sohn gesagt: "Bitte, bitte fahr da nicht hin. Wir besorgen dir ein Attest beim Arzt." Autor Am Abend spreche ich Juan draußen, in einer Cafetería, auf die Geschichte noch einmal an. Sein Sohn hat nicht nur in einem Sozialprogramm mit ehemaligen Guerilleros gearbeitet, sondern er sympathisiert auch mit Präsident Petro. Geht der Riss der Gesellschaft auch durch die Familien? O-Ton 37 Juan Moreno No es que haya una polarización familiar realmente ... que no es una polarización real. OV-Sprecher 2 Das ist für mich keine Polarisierung. Es ist doch logisch, dass Jüngere die Dinge anders sehen. Ich bin in meinem Leben von allen möglichen bewaffneten Gruppen erpresst worden - von Linken, Rechten und unpolitischen Kriminellen. Mein Sohn ist jung, er hat das nicht erlebt. Leute wie er sind guten Glaubens - aber eben auch naiv. Sie erkennen die Verbrecher nicht. Zwischen ihm und mir gibt es unterschiedliche Einschätzungen, aber keine Polarisierung. Autor Was jedoch die Entwicklung im Land angeht, ist mein Freund, der Transportunternehmer, weniger verständnisvoll. O-Ton 38 Juan Carlos Moreno Aquí vamos a terminar en una guerra civil. Esto va a ser peor que Venezuela. Traemos historias de violencia ... historias de violencia muy fuertes. OV-Sprecher 2 Wir werden in einem Bürgerkrieg enden. Hier wird es schlimmer werden als in Venezuela. In Kolumbien gibt es eine lange Geschichte der Gewalt. Wir sind seit Jahrzehnten daran gewöhnt. O-Ton 39 Dialog Autor Autor: Pero no es que Colombia esté saliendo de una guerra civil? Autor Aber Kolumbien hat doch mit dem Friedensabkommen 2016 gerade erst einen Bürgerkrieg beendet. O-Ton 40 Juan Moreno Nosotros no hemos tenido guerra ... y la población defendiéndose. // Pero en la medida que el tema vaya avanzando... esto va a ir sucediendo. OV-Sprecher 2 Das war kein Krieg. Ein Krieg wird zwischen zwei Seiten ausgetragen. Hier gab es einen Haufen krimineller Gruppen, die die Leute erpresst haben, und eine Zivilbevölkerung, die sich verteidigen musste. Aber in dem Maße, wie sich die Sache hier weiterentwickelt, wir weiter unter Druck gesetzt werden, wird es zu einem echten Krieg kommen. Autor "Wie sich die Sache hier weiterentwickelt": Er meint die Regierung Petro. Das ist das Paradoxe: Mein Freund Juan ist ein hilfsbereiter, freundlicher, toleranter Mensch. Er würde nie jemandem seine Meinung aufzwingen, er respektiert, wenn man die Dinge anders sieht. Aber in Anbetracht der geplanten Sozialreformen, die für mehr soziale Gerechtigkeit sorgen sollen, spricht er von der Gefahr eines Bürgerkriegs. Und es klingt, als würde er nicht ausschließen, selbst zur Waffe zu greifen. O-Ton 41 Juan Moreno Las movilizaciones pacíficas funcionan muy bien ... va a pasar en este país. OV-Sprecher 2 Friedliche Proteste funktionieren nur bis zu einem bestimmten Punkt. Wenn du deine Meinung über die Regierung kundtun willst, für ein Problembewusstsein sorgen möchtest - dann ist das in Ordnung. Aber wenn es um ein klares Ziel geht, reicht friedlicher Protest nicht mehr. Wenn dich jemand unter Druck setzt, musst du dich wehren. Das ist wie in der Natur: Wenn Hunde miteinander kämpfen, fletschen sie die Zähnen. Wer das nicht macht, hat verloren. Ein Gleichgewicht gibt es erst, wenn beide ihre Zähne zeigen. Und genau das wird in unserem Land passieren. Autor Am Ende, so denke ich, steht Kolumbien vor der Quadratur des Kreises: Um die Spaltung zu überwinden und Frieden zu finden, bräuchte das Land entschlossene soziale und demokratische Reformen. Ein Gesetz zu Umverteilung des Großgrundbesitzes, ein steuerfinanzierter Ausbau des öffentlichen Bildungs- und Gesundheitswesens, die Demokratisierung der Medienlandschaft. Doch wie soll das gehen, wenn derartige Reformen von einem Teil der Gesellschaft als Angriff auf ihr Leben begriffen werden? Es heißt immer, der Drogenhandel sei der Motor der Gewalt in Kolumbien. Aber am Ende sind die Drogen wahrscheinlich eher der Treibstoff. Der Motor des nicht enden wollenden kolumbianischen Konflikts - das ist der Kampf ums Eigentum, um die Verteilung des Reichtums. Absage Vier alte Freunde und der Krieg. Kolumbiens gespaltene Gesellschaft. Ein Feature von Raul Zelik Es sprachen: David Vormweg, Hüseyin Michael Cirpici, Justine Hauer, Sigrid Burkholder, Nicole Engeln, Volker Niederfahrenhorst, Susanne Reuter und der Autor Ton und Technik: Gunther Rose und Marcell Christmann Regie: Philippe Brühl Redaktion: Christiane Habermalz Produktion: Deutschlandfunk 2023. 1