Hörspiel Feature Radiokunst Das Feature "Oleg Transport" Der Fall Senzow und die Annexion der Krim Autorin und Regie: Inga Lizengevic Redaktion: Wolfgang Schiller Produktion: Deutschlandfunk/RBB 2019 Erstsendung: Dienstag, 12.02.2019, 19.15 Uhr Wiederholung: Dienstag, 14.05.2024, 19.15 Uhr Es sprachen: Justine Hauer, Tanja Schleiff, Katharina Schmalenberg, Martin Bross, Hüseyin Michael Cirpici, Robert Dölle und die Autorin Ton und Technik: Ernst Hartmann, und Roman Weingardt Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - O-Ton 1 Oleg Senzow: Sprecher 1 Euer Ehren. Ich habe bereits gesagt, dass ich dieses Gericht für nicht legitim halte. Wir sind Staatsbürger der Ukraine, wir wurden in unserem Land festgenommen. Der Geheimdienst ihres Landes hat uns auf ihr Territorium gebracht. Uns wird hier ein politisch motivierter Schauprozess gemacht. Ich habe keine persönliche Abneigung gegen das Gericht oder gegen den Staatsanwalt. Ich verhalte mich ihnen gegenüber höflich und korrekt. Deswegen habe ich mich entschlossen, eine Erklärung abzugeben. Weil hier schon so viel Unwahres gesagt wurde. Aber ich habe nicht vor, am weiteren Verlauf des Prozesses teilzunehmen. Musik Autorin: So beginnt die Erklärung von Oleg Senzow am 6. August 2015 vor dem Militärgericht im russischen Rostow am Don. In dem Prozess wird er wegen angeblicher terroristischer Aktivitäten zu 20 Jahren Lagerhaft verurteilt. Ich kenne Oleg Senzow nicht persönlich. Ich habe nicht mit ihm geredet, wir stehen auch nicht im Briefwechsel. Er hat erklärt, dass er Journalisten während seiner Haft keine Auskunft geben wird. Und er hält sich daran. Als er im Mai 2018 einen Hungerstreik beginnt, fahre ich nach Kiew. Ich will seine Geschichte aus erster Hand erfahren. Seitdem habe ich mehr als 50 Personen gesprochen, die Oleg persönlich kennen. Menschen, denen er geholfen hat, oder die mit ihm befreundet sind, aber auch mit seinen Gegnern. Ansage: Sprecher 2 "Oleg Transport" Der Fall Senzow und die Annexion der Krim. Ein Feature von Inga Lizengevic Atmo Simferopol Autorin Ich besuche Oleg Senzows Heimatstadt. Simferopol ist die Hauptstadt der Autonomen Republik Krim. Hier leben ungefähr 340.000 Menschen. Das Klima ist mild, die Fahrweise südländisch. Es ist Anfang November 2018. In einer Grünanlage blühen noch die Rosen, aber morgens liegt schon Schnee auf den Blüten. Hinter den Rosensträuchern versteckt steht ein Wachposten O-Ton 2 Vladimir: Sprecher 3 Am 25. oder 26. Februar kam ein Nachbar und sagte, man brauche normale Männer. Damit wir auf die Straße gehen und an diesen Ereignissen teilnehmen. Damals gab es einen Teil der Bevölkerung, wie soll man sie nennen, die am 23. Februar auf die Straße gegangen sind. Und bestimmte Forderungen hatten. Das Lenin-Denkmal wegräumen. Sie hatten ein Ultimatum gestellt. Dann gingen die Ereignisse vor dem Parlament los. Da haben wir verstanden, dass das, was in Kiew los war, wo Streitkräfte mit Benzin angezündet wurden, dass das auch auf die Krim kommen könnte. Alle normalen Menschen, die bereit waren Kinder, Enkelkinder und Familien zu verteidigen, waren dabei. So fing es an. Man begann sich in die Kompanien einzutragen. Das war ja alles keine Vorbereitung der Eroberung, sondern es war spontan. Was bedeutet Volkswehr? Das bedeutet, Menschen gehen im Falle einer Bedrohung auf die Straße. Autorin: Meine Gesprächpartner sind zwei Männer in Tarnuniform. Die beiden sind um die 60 und gehören wie viele andere seit dem Frühling 2014 zum Stadtbild von Simferopol dazu. Ihr Wachposten ist ein kleines weißes Häußen, aus Kunststoff, in Größe und Form einem Dixie-Klo ähnlich, nur eben in weiß. Identische Häuschen stehen an verschiedenen Standorten in der Stadt. Meine Gesprächspartner gehören zur 4. Kompanie der Volkswehr. Autorin (als OV): Gab es damals auch gefährliche Situationen? Musste jemand festgenommen werden? O-Ton 4 Vladimir: Sprecher 3 Als es losging, waren die Straßen leer. Die Menschen haben abgewartet und geschaut, was kommt. Das war ja eine ernsthafte Sache. Heute ist es einfach, wir können uns unterhalten. Aber damals bedeutete wenn man raus ging, dass man womöglich erschossen wird. Atmo Stadt Autorin: Das Stadtzentrum ist keine 200 Meter von dieser Grünanlage entfernt. Durch eine Unterführung gelangt man zur Fußgängerzone. Die Häuser werden neu verputzt. In der Fußgängerzone ersetzen bunte Pflastersteine die alten grauen. Auf den gusseisernen Bänken stehen die Jahreszahlen 2015 und 2016. Alles ist neu. Atmo Abblenden/ zurück in die Grünanlage Autorin (als OV): Also gab es Provokateure, vor denen Sie die Krim retten konnten? O-Ton 5 Alexander Sprecher 2 Es gab zugereiste Provokateure. An jenen ungewissen Tagen. Einen haben wir hier auf dem Lenin-Platz umzingelt. Er hat sich in ein Loch verkrochen und gesagt, OK, OK, ich habe es begriffen. Lassen sie mich los. So etwas kam vor. Es war wahrscheinlich einer aus der Westukraine. Der wollte solche Stimmungen hierher exportieren. Die Leute waren damals unentschlossen. Die Unbeugsamen sind weggezogen. Und manche haben es sich noch ein Mal überlegt, und haben doch zugestimmt. Und viele, die mit dem Anschluss an Russland nicht einverstanden waren, sind trotzdem geblieben. Auch in der Regierung. Alles ist ruhig verlaufen. Radikale Handlungen wurden unterbunden. Die Leiter der Operation haben es sehr korrekt durchgeführt. Und wir, die Volkswehr, waren da um zu zeigen, dass eine reale Kraft existiert. Damit die, die unentschieden waren, oder die vielleicht den Gedanken der Maidan-Ereignisse hierher exportieren wollten, damit diese Menschen verstehen, wie die Stimmung hier ist. Es ist schwer, manche Feinheiten zu verstehen, wenn man nicht von der Krim ist. Und ich werde diese Feinheiten nicht vor dem Mikrofon erläutern. Atmo: Fußgängerzone Autorin Neben dem Parlamentsgebäude steht auch ein neues Denkmal. Ein aus Bronze gegossener Mann in Uniform, Schutzweste, Kalaschnikow, Granaten am Gürtel und Helm auf dem Kopf. Auf den Schulterklappen fehlen die Abzeichen. Ein kleines Mädchen schenkt dem Soldaten einen Blumenstrauß. Um die Beine der beiden streicht eine Katze, auch sie aus Bronze. Neben dem Denkmal steht eine Tafel: "Den "höflichen Menschen" von den dankbaren Bewohnern der Krim. 27.02.2014". Die "höflichen Menschen" sind auch als "grüne Männlein" bekannt. Am 27.02.2014 um vier Uhr morgens wurde das Parlament der Krim von den "grünen Männlein" gestürmt. Damals wurde auch die russische Fahne gehisst, die hier im Wind weht. Atmo Wechsel/ bei Dzhikaeva O-Ton 6 Galina Dzhikaeva: Sprecherin 1 Als der Maidan gesiegt hatte, gleich am 23. Februar fand in Simferopol eine Kundgebung statt. Wir sind hin und her gelaufen und haben alles beobachtet. Vor dem Parlament haben sich die Volkswehr-Kompanien formiert. Auf dem Lenin-Platz waren die Krim-Tataren. Man hatte das Gefühl, gleich wird etwas passieren. Autorin: Galina Dzhikajeva hat früher ein kleines Off-Theater in Simferopol geleitet. Ich treffe sie in ihrem neuen Spielort in Kiew. O-Ton 7 Galina Dzhikaeva: Sprecherin 1 Die pro-russischen Männer sind rüber, und es gab einen Augenblick, wo sich zwei Reihen gegenüber standen. Aug in Aug. Keiner hat was gesagt oder getan. Das ging vielleicht zehn Minuten so. Dann haben sich die pro-russischen Männer umgedreht, und sind gegangen. Die pro-ukrainische Kundgebung ging weiter. Atmo Volkswehr wird gebildet/ einblenden und am Anfang des nächsten O-Tons ausfaden Autorin: Die pro-russische Volkswehren gegründet sich gleichzeitig in mehreren Städten der Krim. Initiator ist die pro-russische Splitterpartei "Russische Einheit". Die 2008 gegründete Partei steht im Ruf, aus Russland finanziert zu werden. Sie hat seit 2010 drei von hundert Sitzen im Regionalparlament der Krim. O-Ton 8 Galina Dzhikaeva: Sprecherin 1 Am 27. haben wir erfahren, dass das Parlamentsgebäude von Menschen ohne Abzeichen besetzt ist. Ich bin hingelaufen. Es gab einen Kontrollpunkt. Journalisten, die versucht haben reinzugehen, wurden beschossen. Die pro-russischen Kameraden kamen in Scharen. Die russischen Fahnen wurden ausgepackt, und es ging los. Autorin: In den kommenden Wochen prägen "grüne Männlein" und pro-russische Volkswehren das Straßenbild in Simferopol. Die "grünen Männlein" zeigen Präsenz, aber aktiv wir erst einmal nur die Volkswehr. O-Ton 9 Galina Dzhikaeva: Sprecherin 1 Sie konnten jederzeit jeden anhalten und die Tasche kontrollieren. Sie konnten einen verprügeln und mitnehmen. Die Macht des Stärkeren. Es gab Entführungen. Der Aktivist Reshat Ametov wurde von der Volkswehr verschleppt und am Tag vor dem Referendum tot aufgefunden. Autorin: Am Tag nach der Besetzung des Parlamentsgebäudes lernt Galina Dzhikaeva Oleg Senzow kennen. Einige junge Leute, die etwas unternehmen wollen, haben sich verabredet. O-Ton 10 Galina Dzhikaeva: Sprecherin 1 Wir haben uns in einem Kaffee getroffen. Da bin ich Oleg zum ersten Mal begegnet. Wir haben uns unterhalten. Wir waren 20 bis 30 Personen. Wir haben überlegt, was wir tun können. Jemand meinte, lasst uns einen Partisanenkampf veranstalten. Oleg hat sofort widersprochen: "Jungs," - wir wussten, das er auf dem Maidan gewesen ist - "Jungs, hier ist es nicht wie auf dem Maidan. Hier ist Armee. Hier sind Waffen. Echte Waffen. Scharfe Munition. Auf dem Maidan hätte es die nicht geben dürfen, aber sie haben sie trotzdem benutzt. Hier tragen sie die Waffen offen. Das kann schlimm ausgehen. Deswegen bitte keine Provokationen. Nur friedlicher Widerstand". Oleg ist riesig. Von ihm strahlte so eine Kraft aus. Sicherheit. Organisationstalent. Atmo Wechsel/ rein bei Anastasiya / Aufzug etc. O-Ton 11 Anastasiya Chernaya: Sprecherin 2 Oleg habe ich durch die kreative Clique in Simferopol kennengelernt. Ich wurde zum Casting eingeladen. Ich wurde genommen. Das war ein Abenteuer. In Simferopol wird ein echter Spielfilm gedreht. Wo gibt es den so was? Das war nicht real. Autorin: Anastasiya ist heute 27. Während des "Frühlings der Krim" ist sie im letzten Jahr ihres Studiums: ukrainische und russische Philologie. O-Ton 11_A Anastassiya Chernaya Sprecherin 2 Oleg hat mich zur Premiere eingeladen. Und eines Tages rief er an. Pack die Koffer, wir fahren zum Filmfestival. Da wurde mir klar, dass es doch ernst war. Autorin: Senzows erster Film "Gamer" wird international von der Kritik positiv wahrgenommen. O-Ton 12 Anastasiya Chernaya Sprecherin 2 Oleg hat mir vorgeschlagen als seine Assistentin zu arbeiten. Ich habe sofort zugestimmt. Dieses Angebot war die Erfüllung meiner Träume. Autorin: Die beiden sind bei den Vorbereitungen für Olegs neues Projekt, als die Maidan-Proteste beginnen. O-Ton 13 Anastasiya Chernaya Sprecherin 2 Wir hatten auf der Krim noch einige Castings geplant. Aber je weiter sich die Ereignisse entwickelten, umso länger fuhr Oleg dorthin. Irgendwann kam er nur noch an Wochenenden zurück, wenn wir wichtige Casting-Termine hatten. Autorin: In Kiew schließt Oleg sich der Auto-Maidan Bewegung an. Der Auto-Maidan ist die mobile Unterstützung der Demonstranten auf dem Maidan-Platz. Oleg koordiniert die Aktivitäten. Anastasiya bleibt vorerst auf der Krim. O-Ton 14 Anastasiya Chernaya Sprecherin 2 Wir haben auf der Krim unseren eigenen Maidan gemacht. Wir wurden deswegen bedroht. Collagen mit Fotos von Aktivisten wurden in Hauseingängen aufgehängt. Wir wurden als Verräter der Krim dargestellt. Als Bandera-Anhänger, Faschisten und so weiter. Also auch bei uns war was los. Oleg hat mir damals ein Notizbuch mitgebracht. Ich sammle Notizbücher aus verschiedenen Ländern. Oleg sagte: "Für dich, aus einem freien Land namens Maidan." Ich fragte, wann er zurück fahre. Er meinte, noch am gleichen Abend. Mit dem Auto. "Willst du mitkommen?" Ich bin mitgefahren. Autorin: Anastasiya bringt noch drei befreundete Studenten mit, darunter auch Oleksandr Kolchenko, der später gemeinsam mit Oleg Senzow vor Gericht stehen wird. O-Ton 15 Anastasiya Chernaya Sprecherin 2 Oleg ist die ganze Nacht durchgefahren. Es war sehr kalt. Wir kamen um sechs Uhr morgens an. Wir sind zum frisch übernommen "Ukrainischen Haus" auf Gruschevskogo-Straße. Oleg hat gleich nach der Ankunft losgelegt. "Nastja, du wirst ein Poster malen." OK. Während der Zeit auf dem Maidan habe ich Oleg nur ein paar Mal kurz gesehen. Er war ständig unterwegs und hat irgendwo mitgemacht. Mal wurde eine Straße blockiert, mal hat er jemanden an der vordersten Linie rausgeholt. Er war dauernd beschäftigt. Atmo: während des Autorentextes langsam den Video-Sound einfaden Autorin: Anastasiya bleibt nur kurz in Kiew. Aber Oleg ist in der Nähe, als am 20. Februar mehr als 50 Personen in der Menge von Scharfschützen erschossen werden. Am gleichen Tag kommentiert er ein Youtube-Video über die blutigen Vorfälle: Atmo: aus dem Video / Mit Zitat Ende aus Zitat Senzow: Sprecher 1 "Alle sagen mir: Schreib ein Drehbuch, dreh einen Film über den Maidan, wo du schon da bist. Doch ich werde das niemals tun. Das ist für mich viel zu ernst. Und wenn man so ein Video sieht, dann vergeht einem jeder Wunsch, so etwas auf die Leinwand zu bringen. P.S. In die gestrigen 24 Stunden auf dem Maidan passen die letzten zwei Monate hier, sogar mein ganzes Leben passt da rein." Autorin Am 22. Februar flieht Präsident Yanukovych aus Kiew, einen Tag später wird die Volkswehr gegründet. Danach erscheinen die ersten grünen Männlein auf der Krim. O-Ton 16 Anastasiya Chernaya: 18:46 Sprecherin 2 Oleg kam nach den tragischen Ereignissen im Februar auf die Krim zurück. Wir hatten uns schon Sorgen gemacht. Wir wussten, dass er in Kiew ist, aber wir konnten ihn nicht erreichen. Er rief an und sagte, dass er zurückkomme. Er meinte, wir werden auf der Krim alles in Ordnung bringen. Er war sehr positiv gestimmt. Atmo: neuer Ort/ Atmo Co-Working-Space bei Sergatskova O-Ton 17 Ekaterina Sergatskova Sprecherin 1 Es ist schwer, das als Freundschaft zu bezeichnen, aber es ist eine warme Beziehung. Soweit das mit Oleg möglich ist. Er ist ja kein einfacher Mensch. Er ist ziemlich verschlossen. Was er von sich gibt, ist eher streng. Er zeigt seine Gefühle nicht. Es ist schwer, mit ihm eine Freundschaft zu führen. Er kann schlecht mit Kritik umgehen. Autorin: Ekaterina Sergatskova treffe ich in einem der unzähligen Co-Working-Spaces, die in den letzten Jahren in Kiew wie Pilze aus dem Boden sprießen. Sie hat nicht viel Zeit. Sie bereitet eine Reise in den Donbass vor. Seit fünf Jahren berichtet die Journalistin regelmäßig aus den okkupierten Gebieten der Ukraine. Die Krim war der Anfang. O-Ton 18 Ekaterina Sergatskova Sprecherin 1 Ich bin 2008 von Russland auf die Krim gezogen. Ich habe für die lokale Presse und für Zeitungen aus Kiew gearbeitet. Autorin: In Russland war sie Redaktionsleiterin einer oppositionellen Zeitung. Nach dem Aus ihrer Zeitung hat sie das Land verlassen. In Simferopol wird sie bald ein Teil der überschaubaren Kulturszene. Über eine Freundin lernt sie Oleg Senzow kennen. O-Ton 19 Ekaterina Sergatskova Sprecherin 1 Jevgenia hat mich gebeten, sein Drehbuch zu lesen. Oleg hat es mir per Email geschickt. Ich fand es etwas naiv. Autorin: Nach seiner Rückkehr baut Senzow ein Netzwerk zur Unterstützung von Journalisten auf. Er mietet einen Raum im "Sporthotel" in Simferopol, und lädt Aktivisten und Journalisten ein - auch Ekaterina Sergatskova. Es geht darum, wie Journalisten unter den gegenwärtigen Bedingungen arbeiten können, und wie man ausländischen Kollegen den Zugang ermöglicht. O-Ton 20 Ekaterina Sergatskova Sprecherin 1 Wir haben Erfahrungen ausgetauscht. Wie kann man sich bei Problemen in Sicherheit bringen? Wie verhält man sich in so einer Extremsituation. Wir haben Strategien entwickelt. Er hat auch Nummern genannt, unter denen man im Notfall freiwillige Helfer erreichen kann. Autorin: Als gebürtiger Krimbewohner kennt sich Oleg gut aus. O-Ton 21 Ekaterina Sergatskova Sprecherin 1 Bei mir zu Hause haben wir so eine Art "Hub" aufgeschlagen. Ich habe meinen Kollegen gesagt, alle können bei mir schlafen, ich habe so und so viele Schlafplätze. Die Leute kamen. Morgens habe ich mit Oleg telefoniert. Er sagte mir, wo es Probleme gibt, wo es sich hinzufahren lohnt. Das war Ende Februar, Anfang März. Er hat mich z.B. informiert, dass in Feodossiia Russen einen ukrainischen Truppenteil blockierten. Er wusste das von Armeeangehörigen, mit denen er in Verbindung war. Er gab den Journalisten Bescheid, wo etwas los ist. Und die Journalisten waren die einzigen, die noch etwas bewirken konnten. Autorin: Aus dem Treffen im "Sporthotel" entsteht das Netzwerk Krim-SOS-Press. Die Koordination übernimmt Olegs Assistentin Anastasiya Chernaya. O-Ton 22 Anastasiya Chernaya Sprecherin 2 Wir haben Führer und Dolmetscher vermittelt. Wir haben uns um die Schutzausrüstung gekümmert. Wer damals auf die Krim kam, wurde durchsucht. Festplatten und Speicherkarten wurden eingezogen, Schutzwesten und Helme auch. Ohne Schutzausrüstung dürfen Journalisten in Krisengebieten nicht tätig werden. Das steht in den Verträgen und Versicherungsbedingungen. Wir haben also die Journalisten empfangen. Oleg hat geholfen. Wir haben immer wieder Menschen vom besetzten Flughafen abgeholt. Wir haben blockierte Militäreinheiten besucht. Ich hatte täglich drei Journalistenteams, die ich unterstützt habe. Es gab viele Journalisten. Autorin: Das Netzwerk ist gut zwei Wochen aktiv, bis zum sogenannten Referendum am 16. März. Danach verlassen die meisten Journalisten die Krim. Die Arbeit wird zu gefährlich. Auch Ekaterina Sergatskova fühlt sich bedroht. O-Ton 23 Ekaterina Sergatskova Sprecherin 1 Ich war allein zu Hause, und habe aus dem Fenster die Volkswehr gesehen. Sie waren in meinem Hof. Ich dachte, dass sie mich holen. Ich habe so einen Schreck bekommen. Ich habe mich neben dem Fenster an die Wand gedrückt und konnte mich vor Angst eine Weile nicht bewegen. Ich habe Oleg angerufen. Er sagte, beruhige dich. Sie sind nicht hinter dir her. Wir hatten schon schlimmere Situationen. Ich habe mich beruhigt. So eine Angst hatte ich nie wieder. Weder im Donbass, noch im Irak. Atmo/ Ich verlasse das Co-Working-Space/ Tür, Draußen langsam Musik einfaden Während des folgenden O-Tons setzt leise Krimimusik ein, die sich während der folgenden Szene entfaltet O-Ton 24 Nataliia Lukianenko: Sprecherin 3 Wir sind schon fast bei unserer Unterkunft, als wir merken, dass ein Auto ohne Licht hinter uns her fährt. Wir versuchen, ein paar Haken zu schlagen, doch das bringt nichts, das Auto folgt uns. Wir rufen Oleg an. O-Ton 25 Oleksiy Hrytsenko: Sprecher 2 Oleg meinte, fahrt zum Supermarkt Meganom. Er würde auch da hinkommen. O-Ton 26 Anastasiya Chernaya: Sprecherin 2 Sie sagten, scheint so, als ob sie verfolgt würden. Sie waren sich nicht sicher, aber es schien so. Also sind Oleg und ich zu dem Supermarktparkplatz gefahren. O-Ton 27 Oleksiy Hrytsenko: Sprecher 2 Wir hatten gehofft, dass wir da unseren Verfolgern entkommen könnten. Da gibt es eine enge Ausfahrt. O-Ton 28 Anastasiya Chernaya: Sprecherin 2 Oleg wollte versuchen, in der Ausfahrt zu wenden, so dass wir sehr lange rangieren müssten. Bis wir merken, dass es zwei Autos sind, und das zweite schon hinter ihnen ist. O-Ton 29 Nataliia Lukianenko: Sprecherin 3 Als wir zu der Schranke fahren, bemerken wir, dass uns zwei Jeeps folgen. Wir verstehen, dass es sinnlos ist, die Ausfahrt zu blockieren. O-Ton 30 Anastasiya Chernaya: Sprecherin 2 Jetzt beginnt eine skurrile Verfolgungsjagd. Wir bleiben an den Ampeln stehen und warten bis es grün wird. Wir schauen, wer als Erstes losfährt. Ich war Olegs Beifahrerin. Am Ende biegen unsere Freunde irgendwo ab. Wir haben zwei Autos, die Verfolger drei oder vier. O-Ton 31 Sergey Suprun: 15:15 Sprecher 1 Es war wie im Film. Sie haben geschossen. Auf die Räder. Ein Hinterrad wurde getroffen. O-Ton 32 Nataliia Lukianenko: Sprecherin 3 Wir versuchen zu fliehen, als ein Rad getroffen wird, bleiben wir stehen. Es ist zu gefährlich, weiter zu fahren, weil weiterhin geschossen wird. Diese beiden Autos fahren an uns heran. O-Ton 33 Anastasiya Chernaya: Sprecherin 2 Wir sehen, wie maskierte Menschen aus einem Wagen springen. Sie zerren unsere Freunde aus dem Auto. O-Ton 34 Nataliia Lukianenko: Sprecherin 3 Einige der Männer haben schwarze Uniformen. Die Jungs werden auf den Boden gedrückt, Telefone und Papiere werden eingesammelt. O-Ton 35 Oleksiy Hrytsenko: 11:10 Sprecher 2 Wir wurden zu Boden geworfen. Dann haben sie uns die Arme auf den Rücken gebogen, und uns ins Auto gesetzt. Sie haben uns mit Sturmhauben die Augen verdeckt. Unterwegs haben sie uns von Zeit zu Zeit getreten. Abblende Musik / Verbindungsgeräusch Autorin: Als ich Oberst Strepetov ans Telefon bekomme, - er nimmt sich viel Zeit für unser Gespräch. Das überrascht mich, weil er im Einsatz ist. Wie viele andere Armeeangehörige, die damals die Krim verlassen haben, ist er jetzt im Krieg im Donbass. O-Ton 36 Oberst Andriy Strepetov Sprecher 1 Wir haben die Erlaubnis bekommen, am 9. April die Krim zu verlassen. Doch unsere Konten waren gesperrt. Es war nicht möglich, die Ausreise zu organisieren. Ich habe dann freiwillige Helfer angesprochen. Da war Anna Sandalova. Sie hat mir die Nummer von Oleg gegeben. Damals kannte ich seinen Nachnamen nicht. "Oleg Transport", so ist er in meinem Handy gespeichert. Autorin: 2014 ist Andriy Strepetov Oberst der 10. Brigade der ukrainischen Marine-Flieger. Mit dem Erscheinen der "grünen Männlein" auf der Krim befinden sich die ukrainischen Truppen auf der Halbinsel in einer vertrackten Lage. Sie erleben, wie Russland die Kontrolle über das Territorium übernimmt, doch sie können nur zuschauen, denn es gibt keinen Befehl aus Kiew. In Mykolajiw treffe ich Oberstleutnant Aleksandr Osadchiy, ebenfalls von der 10. Brigade der Marine-Flieger: Atmo: Mykolajiw O-Ton 37 Oberstleutnant Aleksandr Osadchiy Sprecher 2 Die "Grünen Männlein" sind bei uns, glaube ich, am 28. Februar erschienen. Die erste Gruppe bestand aus ungefähr 20 Leuten. Sie haben gleich vorgeschlagen, dass wir unsere Waffen abgeben. Unser Kommandant wollte nicht, also haben Sie die Einheit umzingelt. Naja, also einen Sektor haben sie umzingelt. Das Gelände ist ja riesig. Sie haben quasi eine Blockade angetäuscht, weil 20 Personen das natürlich nicht schaffen. Das Gelände ist einfach zu weitläufig. Am 3. März hat unser Kommandant dann die Entscheidung getroffen, unsere flugfähigen Fluggeräte auf sicheres Territorium auf dem Festland zu bringen. Autorin: Den Piloten der 10. Brigade gelingt es, das russische Radar zu unterfliegen. Sie bringen ihre Flugzeuge und Helikopter fort. Aber die Brigade selbst bleibt, so, wie alle anderen ukrainischen Einheiten auf der Krim. Es gibt immer noch keinen Befehl, sich zu verteidigen, die Verbindungen zum Kommando in Kiew sind unterbrochen. Das Verteidigungsministerium in Kiew schafft es nicht, irgendetwas auf die Krim zu schicken. O-Ton 38 Oberstleutnant Aleksandr Osadchiy Sprecher 2 Im Laufe dieser drei Wochen ich war sehr erstaunt, wie die Zivilgesellschaft auf die Situation reagierte. Das war so eine Art Euphorie, nach dem Maidan in Kiew. Das war ja noch vor dem Krieg in Donbass. Plötzlich erschienen Menschen. Sie fragten, was gebraucht wird. Sie sagten, schreibt einfach eine Liste: Schutzwesten, Helme, Schlagstöcke, Taschenlampen, Elektroschocker. Also Waffen, die keine Schusswaffen sind. Ich kann mich erinnern wie ich diese Listen geschrieben habe. Z.B. habe ich Webcams aufgeschrieben, für die Beobachtung. Die Liste hing an der Pinnwand und jeder wusste, er kann da eintragen, was er braucht. Autorin: Manchmal können die Sachen am Kontrollpunkt übergeben werden, manchmal werden sie über die Zäune geworfen. Auch Oleg Senzow beteiligt sich an solchen Aktionen. Atmo Wechsel/ Musik O-Ton 39 Nataliia Lukianenko: Sprecherin 3 Mir haben sie nicht sofort die Haube über den Kopf gezogen. Der Fahrer sagte, "was seid ihr so dumm? Wir wollten schon schlafen gehen. Wieso seid ihr nicht über Nacht in Jalta geblieben?" Ich habe versucht, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Ich habe gefragt, was los sei. Was das für Leute seien. Was abgehe. Er meinte, "das wirst du rechtzeitig erfahren." Als die Tür aufging und sie mir die Maske überziehen wollten, sagte er: "Fasst sie nicht an, die ist OK." Autorin: Es ist der Abend des 13. März, drei Tage vor dem Referendum, als Nataliia Lukianenko entführt werden. Natalia und ihre Freunde gehören auch zum Auto-Maidan. Und sie sind erst seit ein paar Tagen auf der Krim. Sie haben sich mit den Krimtatarischen Aktivisten getroffen, und pro-ukrainische Kundgebungen besucht. Den eingeschlossenen ukrainischen Soldaten haben sie Lebensmittel, Batterien, Taschenlampen, gebracht. Und sie haben bei der Suche nach anderen Aktivisten geholfen, die in den Tagen davor verschleppt worden sind. O-Ton 40 Nataliia Lukianenko: Sprecherin 3 Unterwegs habe ich versucht, mir die Gegend einzuprägen. Sie haben mich nicht durchsucht. Ich hatte ein Handy, und als ich schon im Keller eingesperrt war, habe ich eine SMS nach Hause geschrieben. Mit der Beschreibung der Gegend und dem Namen eines Supermarktes auf dem Weg. Wir sind ca. 15 Minuten lang gefahren. Das habe ich alles geschrieben. Wir hatten die App "live360" auf den Handys. Die hatten alle Aktivisten, die auf die Krim fuhren. Also konnte man uns orten. Meine zusätzlichen Angaben haben die Ortung bestätigt. Autorin: Oleg Senzow findet heraus, wo die Entführten festgehalten werden. Sie sind im Keller des Einberufungsamts von Simferopol, das vor einigen Tagen von der Volkswehr besetzt worden ist. Am nächsten Morgen stehen Journalisten vor dem Gebäude. Man versucht, ihnen die Aufnahmegeräte und Kameras abzunehmen. Von Männern mit Maschinengewehren werden sie vertrieben. O-Ton 41 Nataliia Lukianenko Sprecherin 3 Das Verhör hatte schon im Auto begonnen, als wir ankamen. Das, was sie hören wollten, gab es nicht. Ich konnte nichts darüber sagen. Über den Transport von Waffen zum Beispiel. Über irgendwelche Handlungen und Aktionen auf der Krim. Da wir nichts davon getan hatten, konnte ich auch nichts dazu sagen. Sie fragten nach dem Maidan, nach dem Rechten Sektor. Sie hatten in meinem Handy die Nummern von tatarischen Aktivisten gefunden. Sie wollten wissen, ob die Tataren vor dem Referendum etwas vorhätten. Auch darüber wusste ich nichts. Bei jedem Verhör gab es die gleichen Fragen, nur unterschiedlich formuliert. Autorin: Nataliia und ihre Freunde, Hrytsenko und Suprun bleiben in der Gewalt ihrer Entführer. Sie werden nicht offiziell festgenommen, doch in den nächsten Tagen werden sie immer wieder verhört. Die Männer werden auch gefoltert. O-Ton 42 Nataliia Lukianenko Sprecherin 3 Zum Verhör kamen viele Personen. Ich habe das gespürt. Man spürt ja, wenn Menschen um einen herum sind. Und wenn sie dich anfassen, an dir zotteln und ziehen, verstehst du, dass es einige sind. Ich wurde nicht geschlagen. Sie drohten und zottelten an mir herum. Es war unangenehm. Sie haben auch mal an den Haaren gezogen. Autorin: Nataliia wird von Igor Bezler verhört. Bezler wird später unter dem Spitznamen "Bes" - "Teufel" als militärischer Anführer der Donezker Volksrepublik im Donbass bekannt. O-Ton 43 Nataliia Lukianenko Sprecherin 3 Irgendwann kam der Chef. Es war Igor Bezler. Er war bei jedem Verhör dabei. Später hat er erlaubt, dass ich die Maske abnehme. Wir haben uns bestimmt zwei Stunden lang unterhalten. Wir haben uns einfach unterhalten. Er sagte, was wir machen sei Zickerei. Die Krim gehöre zu Russland, und sei immer russischer Boden gewesen. "Wir sind nach Hause gekommen, ihr seid hier zu Besuch." Das ganze Zeug. Das war, nachdem die Verhöre vorüber waren. Das war so eine Art Gespräch. Bei den Verhören gab es unterschiedliche Drohungen. Sie meinten, sie würden mich den Tschetschenen übergeben. Autorin: Nataliia Lukianenko wird nicht an die Tschetschenen übergeben. Am 17.März, einen Tag nach dem sogenannten Referendum, wird sie entlassen. O-Ton 44 Nataliia Lukianenko: Sprecherin 3 Igor Bezler kam und sagte, sie werden mich freilassen, aber ich soll mich nirgends sehen lassen, sonst werden sie die Jungs getötet. Sie haben mir ein Zugticket gekauft. Ich wurde von drei bewaffneten Männern in den Zug gesetzt. Vom Kiewer Bahnhof aus sollte ich Igor Bezler anrufen, um ihm mitzuteilen, dass ich angekommen bin. Damit er wusste, dass ich nicht woanders ausgestiegen bin. Was mich sehr verstört hat ist, dass ich als junge Frau in Begleitung bewaffneter Männer durch die Stadt geleitet werde, am helllichten Tag, und keiner wundert sich. Das hat mir Angst gemacht. Du bist zu Hause, du hast nichts getan. Aber es ist allen egal. Ich habe mir einen Satz von Igor Bezler eingeprägt: "Wir sehen uns im Sommer in Kiew. Wir bringen das Fleisch, ihr den Vodka". Sie waren sich sicher, dass sie auch nach Kiew kommen würden. Autorin: Neben Igor Bezler gehören auch Igor Girkin und Alexander Borodai zu den Anführern der Operation "russischer Frühling" auf der Krim. Alle drei werden ihre Tätigkeit später als Separatistenanführer im ostukrainischen Donbass fortsetzen. Bei Natalia hat die Gefangenschaft Spuren hinterlassen. O-Ton 45 Nataliia Lukianenko: Sprecherin 3 Anfangs dachte ich, es sei spurlos an mir vorüber gegangen. Die Folgen kamen später. Meine Sehkraft hat sich stark verschlechtert. Mit dem Kurzzeitgedächtnis ist es das selbe. Ich musste zu einem Psychiater, um zu verstehen, was manchmal mit mir los ist. Die Angstzustände kommen wellenartig. So was kannte ich früher nicht. Es ist schwer, damit umzugehen. Atmo: Ortswechsel / Mykolajiw Autorin Die Blockade der Truppenteile besteht bis zum sogenannten Referendum. Am 18. März erklärt Präsident Putin den Anschluss der Krim an Russland. Danach werden einige ukrainische Militäreinrichtungen gestürmt - auch die 10. Marine-Flieger-Brigade. Oberst Litvinenko: O-Ton 46 Oberst Mykola Litvinenko Sprecher 3 Vertreter des Kommandos der russischen Föderation kamen zu uns. Sie sagten, dass sie uns heute stürmen würden. "Damit ihr keinen Blödsinn macht, werdet ihr von Menschen in Zivil gestürmt. Wir werden hinter ihnen her gehen. Wenn ihr Waffen anwendet, werden wir unsere Waffen in vollem Umfang anwenden." Sie haben uns gebeten, die richtige Entscheidung zu treffen. "Ihr könnt eh nichts machen, weil ihr ja nicht auf Frauen und Kinder schießen werdet." So lief es dann auch ab. Autorin: Überall gehen die Russen nach dem gleichen Schema vor: Zivilisten gehen voran, dahinter folgen die grünen Männlein. Für die ukrainischen Soldaten wird es ab diesem Zeitpunkt eng. Viele entschließe sich, die Seiten zu wechseln und in die russische Armee einzutreten - zumal die Russen auch besser bezahlen. Nur eine Minderheit hält der Ukraine die Treue. Oberstleutnant Osadchiy: O-Ton 47 Oberstleutnant Aleksandr Osadchiy Sprecher 2 Es war klar, dass es jetzt zwei Lager gibt: Diejenigen die dafür sind, und diejenigen die das nicht haben wollen. Und jeden Tag, jede Stunde wuchs diese Konfrontation. Also innerlich haben diejenigen, die raus wollten, die gehasst, die bleiben wollten. Und diejenigen, die bleiben wollten, haben die gehasst, die die Krim verlassen wollten. Autorin: In dieser Situation kommt es bei der 10. Brigade zu einem Zwischenfall. O-Ton 48 Oberstleutnant Aleksandr Osadchiy Sprecher 2 Am Kontrollpunkt standen bereits bewaffnete Russen. Meine Offiziere mussten an ihnen vorbei. Es gab eine verbale Auseinandersetzung: "was macht ihr in unserem Land, warum seid ihr hergekommen?" Das ging in eine bewaffnete Verfolgung über. Unsere Offiziere rannten in das Wohnheim, und der russische Unteroffizier Zaitsev verfolgte unseren Stanislav Karachevskiy. Im Flur des Wohnheims hat er ihn erschossen - mit zwei Schüssen aus dem Kalaschnikow-Maschinengewehr. Karachevskiy war unbewaffnet. Autorin: Die Polizei kann erstmal nichts tun. Die Russen lassen sie nicht auf das Gelände. Die ukrainischen Soldaten sind in ihren eigenen Kasernen zu Rechtlosen geworden. Spätestens jetzt ist allen klar, dass man schleunigst hier weg muss. O-Ton 49 Oberstleutnant Aleksandr Osadchiy Sprecher 2 Wenn Senzow später nicht verhaftet worden wäre, hätte ich mich an den Namen nicht erinnert. Erst als er verhaftet wurde, und es die Gerichtsverhandlung gab, habe ich verstanden, dass es der Senzow ist, der uns die Busse für die Ausreise von der Krim zur Verfügung gestellt hat. Bei uns waren es vier Busse. Wir waren 150 bis 200 Menschen. Autorin: Oleg Senzow organisiert später auch die Überführung des Leichnams von Karachevskiy auf das Festland. Atmo/ Ortswechsel (bei Sandalova) O-Ton 50 Anna Sandalova: Sprecherin 2 Hundert, hundertdreißig, hundertfünfzig Personen. Dann vier Personen plus ein Lastwagen für Sachen. Die Anzahl schwankte sehr. Oleg hat meistens Reisebusse für eine größere Anzahl von Menschen organisiert. Ab 100, 130, 200, 250, 260 Personen. Atmo: bei Anna Sandalova Autorin: Anna Sandalova ist Senzows Kontaktperson in Kiew. Für die Evakuierungen der ukrainischen Soldaten und ihrer Angehörigen sammelt sie bei Spendern die nötigen Gelder ein. O-Ton 51 Anna Sandalova: Sprecherin 2 Wie viele Sorgen er sich gemacht hat um Familien, die mit Kindern raus mussten. Oder um eine alte Oma, die rausgebracht werden sollte. Ich: "Oleg, wo soll ich das Geld für den Transport von dieser Oma finden?" Er: "Sie ist doch alt, sie kann nicht alleine hier bleiben. Man muss helfen." Autorin: Ich treffe Anna Sandalova relativ spät am Abend. Es ist nach 23 Uhr, als ich bei ihr klingle. Anna ist Mitte vierzig, rötliche Locken. Sie kocht uns einen Kaffee. Die Kinder schlafen, wir setzen uns in den Wintergarten. In der Wohnung stehen Umzugskartons. O-Ton 52 Anna Sandalova: Sprecherin 2 Wir sitzen gerade in meiner neuen Wohnung. Das ist das Resultat meiner Scheidung. Mein Mann zum ersten Mal nervös, wegen dieser nächtlichen Anrufe. Es war Oleg, der nachts anrief. Mittlerweile werde ich schon seit vier Jahren von Männern angerufen, auch nachts. Ich bin freiwillige Helferin der ukrainischen Armee geworden, aber die ersten nächtlichen Anrufe kamen von Oleg. (lacht) Autorin: Anna und Oleg haben sich nie persönlich getroffen. Er hatte ihre Telefonnummer bei einer der Facebook-Gruppen gefunden, die sich um humanitäre Hilfe für die blockierten Truppenteile auf der Krim kümmerten. Damals gab es einige dieser Gruppen. O-Ton 53 Anna Sandalova: Sprecherin 2 Als die ukrainischen Militäreinrichtungen blockiert wurden, waren die Menschen ohne Verbindung zur Außenwelt. Sie konnten ihre Handys nicht mehr aufladen. Kiewer luden ihre Handys auf. Sie hatten kein Guthaben mehr, und schickten mir die Nummern. Nicht bloß ein paar, sondern von ganzen Brigaden, von mehreren Hundert Menschen. Ich vereilte in Kiew, und viele unterschiedliche Leute zahlten Guthaben ein. Zu dieser Zeit hat Oleg mich das erste Mal angerufen. Autorin Bis zum Mai 2014 bringen die beiden über eintausend Menschen aufs Festland. Die Evakuierung der ukrainischen Armeeangehörigen und deren Familien ist da noch längst nicht abgeschlossen. O-Ton 54 Anna Sandalova: 12:45 Sprecherin 2 Wir haben noch ein paar Tage vor seiner Verhaftung telefoniert. Am 5. und am 7. Mai. Er war an diesen Tagen sehr aktiv. Deswegen dachte ich, dass seine Verhaftung unmittelbar damit zusammenhängt. Dass das der Grund für die Verhaftung war. Ich dachte, das war der Hauptgrund. Autorin An das letzte Gespräch mit Oleg kann sich Anna sehr gut erinnern. O-Ton 55 Anna Sandalova: Sprecherin 2 Wir sprachen über die Organisation der nächsten Ausreise von Armeeangehörigen. Nebenbei sagte er, dass jemand hinter ihm her sei. Er war gerade am Steuer, und meinte, ein Blödmann verfolge ihn schon den halben Tag. Einmal habe er versucht, ihn zu "schneiden". Ich sagte: "Bist du noch ganz bei Trost? Fahr einfach sofort Richtung Tschongar, und dann raus. Weg von da. Und zwar zackig." Er meinte: "Schon OK. Ich muss hier noch ein paar Sachen zu Ende bringen." Musik Break Autorin: Die Journalistin Ekaterina Sergatskova ist länger auf der Krim geblieben als die meisten ihrer Kollegen. Sie hat damals noch einen russischen Pass - zu diesem Zeitpunkt ein großer Vorteil. Anfang Mai arbeitet sie an einer Reportage über die Situation der Krim-Tataren. Sie bekommt seine letzte SMS. O-Ton 57 Ekaterina Sergatskova: Sprecherin 1 In der Nacht vom 10. auf den 11. Mai. hat Oleg mir eine SMS geschickt. Dass der FSB ihn festgenommen habe. Dann ging es los. Ich habe mit allen Bekannten telefoniert. Ich habe mich entschieden, die Information zu veröffentlichen. Wir hatten das Gefühl, man wird ihn da nicht einfach so gehen lassen. Kollegen in Simferopol haben versucht, zu ihm zu kommen. Das hat nicht geklappt. Zwei Wochen später wurde er nach Moskau verschleppt. Atmo Wechsel Draußen O-Ton 58 Hennadii Afanasiev Sprecher 3 Eigentlich war ich zu einem Date unterwegs. Ich lief die Straße entlang, als ich bemerkte, dass ich verfolgt werde. Ich habe gespürt, dass sie hinter mir her sind. Sie hatten zivile Kleidung. Eine Sekunde lang dachte ich, ich könne wegrennen. Aber da wurde ich bereits zu Boden geworfen, und mit Füßen getreten. Alles ging sehr schnell. Eine Tüte über den Kopf, und schon wurde ich ins Auto gestoßen. Ich saß in der Mitte, und wurde immer weiter geschlagen. Autorin: Hennadii Afanasiev war einer der zwei Hauptbelastungszeugen im Prozess gegen Oleg Senzow. Ich treffe ihn abends. Er will mich nicht in einem Co-Working-Space treffen oder in einem Café. Er wartet auf mich vor dem Eingang der Metrostation "Universität". Es ist kühl, windig und dunkel. Seine blauen Augen leuchten unter einer schwarzen Mütze hervor, auf dem schwarzen Mantel prangt eine rote Stickerei mit ukrainischen Ornamenten. O-Ton 59 Hennadii Afanasiev: Sprecher 3 Sie haben mich geschlagen und bedroht. Mit meinem eigenen Handy haben sie meiner Freundin getextet, ich sei weg gefahren. Für lange. Damit keiner nach mir sucht. Sie haben mich nach Hause gebracht, mich auf den Boden geworfen und die Wohnung durchsucht. Sie haben nicht gesagt, worum es geht. Sie haben einfach die Sachen mitgenommen. Autorin: Afanasiev ist etwa 1,70 Meter groß, etwas rundlich, schlaffer Händedruck. Die Hand ist kalt. Er möchte draußen bleiben. Und etwas laufen. Wir gehen in den Botanischen Garten. O-Ton 60 Hennadii Afanasiev: Sprecher 3 Danach ging es zum FSB. Es gab Verhöre, sie stellten Fragen. Es gab gute und schlechte Cops. Einige schlugen, andere gaben Ratschläge. Das dauerte einen ganzen endlosen Tag. Ein Pflichtverteidiger schaute rein. Er fragte, ob ich geschlagen werde. Ich habe genickt. Er meinte, das sei nicht schlimm, alle werden geschlagen. Tu, was dir gesagt wird. Dann wurde ich wieder ins Auto gesteckt und zum Krankenhaus gebracht. Sie sind ausgestiegen und haben ein Attest für mich geholt. Ich bin nicht ausgestiegen. Dann haben sie mich in die Arrestzelle gebracht. Sie haben mich nackt ausgezogen, und an den Haaren gezerrt. Sie hatten ihren Spaß. Autorin: Afanasiev spricht Ukrainisch. Er lebt jetzt seit zwei Jahren in Kiew. Er hatte Glück. Nach zwei Jahren im russischen Gefängnis wurde er ausgetauscht. Momentan arbeitet er im IT-Bereich. Eine Zeit lang hat er das ukrainische Außenministerium in Belangen der ukrainischen politischen Gefangenen in Russland beraten. O-Ton 61 Hennadii Afanasiev: Sprecher 3 Mir wurden zwei Terroranschläge vorgeworfen. Brandanschläge auf zwei Häuser. Ich sollte zugeben, dass ich diese Häuser angezündet hätte. Es gab keine Beweise. Ich wurde nur geschlagen. Ich hatte nichts getan, also habe ich geschwiegen. Am fünften Tag wurde Chirnii in den Raum gebracht. Chirnii hat gestanden, gemeinsam mit mir und anderen die Häuser in Brand gesteckt zu haben. Im Grunde hat er erzählt, was sie von mir hören wollten. Danach gab es noch grausamere Folterungen. Und dann habe ich unterschrieben. Alles, was sie von mir wollten. Autorin: Oleksii Chirnii ist kurz vor Hennadii Afanasiev verhaftet worden. Chirnii hatte geplant, das Lenindenkmal vor dem Bahnhof von Simferopol mit einer Bombe zu sprengen. Ein Student sollte die Bombe für ihn bauen. Der Student ging zur Polizei, der Plan flog auf. Bei den Verhören durch den FSB belastet Chirnii Afanasiev und auch den Öko-Aktivisten und Anarchisten Oleksandr Kolchenko. Oleg Senzow wird später vorgeworfen, Rädelsführer der Aktivitäten von Kolchenko, Chirnii und Afanasiev gewesen zu sein. O-Ton 62 Hennadii Afanasiev: 43:25 Sprecher 3 Sie haben mich gezwungen, die Schuld anzuerkennen und gegen Oleg Senzow und Oleksandr Kolchenko auszusagen. Als ich dachte, es sei vorbei, kamen neue Beschuldigungen dazu. Mir wurde vorgeworfen, die Sprengung des ewigen Feuers und des Lenindenkmals geplant zu haben. Die Folter dauerte noch fünf Tage. Dann wurde ich nach Moskau gebracht. Autorin: Chernii und Afanasiev schließen eine vorgerichtliche Vereinbarung ab. Ihr Fall wird in einem nicht öffentlichen Prozess verhandelt. Die beiden bekommen je sieben Jahre Lagerhaft. Atmo Wechsel (bei Zakrevska) O-Ton 64 Eugenia Zakrevska (Anwältin): Sprecherin 3 Kurz vor dem Referendum bin ich auf die Krim gereist. Ich wollte mit eigenen Augen sehen, was da passiert. Einen Tag vor dem sogenannten Referendum gab es eine große Kundgebung. Dort wurde ich um Hilfe gebeten. Der Aktivist Stanislav Jermakov war verschleppt und später festgenommen wurden. Oleg Senzow hatte die Journalisten informiert, und suchte nach einem Anwalt für Jermakov. Wie sich später herausstellte, kannten sich die beiden gar nicht. Es war einfach so, dass Oleg immer allen geholfen hat. Autorin Eugenia Zakrevska kommt direkt aus einer Gerichtsverhandlung. Energisch drückt sie meine Hand. Ich soll ihr folgen. Eugenia führt mich in einen Co-Working-Space in der Nähe des Gerichts in Kiew. O-Ton 65 Eugenia Zakrevska (Anwältin): Sprecherin 3 Wir kamen ins Polizeirevier. Als ich mich vorstellte, hieß es, er sei schon entlassen worden. Das stimmte aber nicht. Eine Journalistin hatte seine Verschleppung gesehen und Anzeige erstattet. Sie hatte auch gesehen, wie Jermakov abgeführt worden war. Als ich zwei Minuten später erschien, hieß es, er sei nicht mehr da. Wir überlegten, wohin sie ihn gebracht haben könnten. Vielleicht zum Gericht? Also sind wir zum Gericht gefahren, und er war wirklich da. Er war als nächster an der Reihe. Autorin Seit Anfang März 2014 verschwinden fast täglich pro-ukrainische Aktivisten. Reshat Ametov ist der erste. Die Vokswehr zerrt ihn mitten im Stadtzentrum in ein Auto. Am 7. März verschwinden zwei Aktivisten am Bahnhof. Ihr letztes Lebenszeichen ist ein Anruf während der Kontrolle durch die Volkswehr. Am 9. März verschwinden sieben Menschen, am 11. einer, am 13. drei. Am 15. März wird das erste Entführungsopfer tot aufgefunden. Die Leiche hat massive Folterspuren. Anwältin Zakrevska ist deshalb in großer Sorge um Jermakov. O-Ton 66 Eugenia Zakrevska (Anwältin): Sprecherin 3 Die Sitzung fing an, und Jermarkov schilderte die Sache völlig anders, als in den Verhörprotokollen erfasst. Da Journalisten im Saal waren, und da ich als Anwältin da war, willigte der Richter ein, auch die Leute zur Anhörung zu laden, die diese Protokolle geschrieben hatten. Nichts stimmte mit dem überein, was Jermarkov berichtete. Also hat der Richter eine Pause angekündigt. Mir war klar, was als nächstes kommt. Also habe ich Stanislav direkt zum Bahnhof gebracht, und er hat die Krim verlassen. Da es kein Festnahmeprotokoll gab, und er demnach formal gar nicht festgenommen worden war, war das auch nicht unrechtmäßig. Wir waren sicher, dass er sich in ernsthafter Gefahr befand. Autorin Jermakov hatte Glück, dass er überhaupt vor Gericht gelandet ist. Viele Entführte sind bis heute verschwunden. O-Ton 67 Eugenia Zakrevska: Sprecherin 3 Etwa zwei Wochen nach Olegs Verhaftung werden Timur Shajmardanov und Seiran Zenedinov entführt. Sie wurden bis heute nicht gefunden. Sie haben eigentlich das Gleiche gemacht: Sie haben im März 2014 Armeeangehörigen geholfen. Also können wir vermuten, dass, wenn die aus Chirnii und Afanasiev rausgeprügelten Aussagen für einen Prozess gegen Senzow, Kolchenko, Afanasiev und Chirnii ausgereicht haben, dass es in dem anderen Fall, nicht geklappt hat. Also sind sie einfach verschwunden. Wenn eine Person zu einem bestimmten Zeitpunkt festgenommen wird, offiziell jedoch ein späterer Zeitpunkt als Zeitpunkt der Festnahme angegeben wird, dann bedeutet das, dass in der Zwischenzeit eine Entscheidung gefällt wird: Ob daraus ein Fall für die Strafverfolgung gestrickt werden kann, oder ob es einfach ein Vermisstenfall wird. Außerdem gibt es noch ca. zwei dutzend andere Personen, deren Schicksal bis heute ungeklärt ist. Autorin Eugenia Zakrevska vertritt Angehörige der Aktivisten, die während des Maidans von Scharfschützen erschossenen wurden. Sie ist Anwältin vieler, die von der Volkswehr auf der Krim entführt und gefoltert wurden. Auch Oleg Senzow vertritt sie im ukrainischen Verfahren gegen seine Entführer. O-Ton 68 Eugenia Zakrevska: Sprecherin 3 Mit dem Fall von Senzow hat der FSB seine Präsenz auf der Krim demonstriert. Jede Freiheit des Denkens soll beseitigt werden. Manche Fälle sind für die Abschreckung der Allgemeinheit gedacht, andere, wo die Menschen spurlos verschwinden, für bestimmte Zielgruppen. In beiden Fällen geht es darum den pro-ukrainischen Einfluss auf der annektierten Krim zu eliminieren. Autorin: Als Oleg Senzow eineinhalb Jahre nach seiner Festnahme in Rostov am Don vor einem russischen Militärgericht steht, hat er einiges durchgemacht. In seiner Stellungsnahme schildert er dem Gericht den Ablauf seiner Verhaftung. O-Ton 69 Oleg Senzow: Sprecher 1 Am 10. Mai um 18 Uhr abends wurde ich vor meinem Hauseingang von Menschen in Zivil entführt. Es waren viele. Sie haben mich in einen Minibus geworfen und zu einem Gebäude gebracht. Ich hatte eine Tüte über dem Kopf, die Hände in Handschellen hinter dem Rücken. Später wurde mir klar, dass ich im SBU-Gebäude bin, das heutige FSB-Gebäude in der Frankoboulevard 13 in Simferopol. Ich wurde auf einen Stuhl gesetzt und das Verhör begann. Ein hartes Verhör. Ich wurde gefragt, ob ich Chirnii und Afanasiev kenne. Ob ich die Denkmäler sprengen wollte und welche Aktivisten ich sonst kenne. Ich habe die Fragen verneint. Ich habe gesagt, dass ich Afanasiev kenne und dass ich nicht vorhatte, irgendetwas zu sprengen. Sie haben angefangen mich zu schlagen. Mit Händen, mit Füßen, mit Schlägern, mit anderen Gegenständen. Im Stehen, im Liegen, im Sitzen. Als ich weiterhin nichts gestand, fingen sie an, mich zu strangulieren. Ich wurde mit einer Tüte stranguliert, bis ich ohnmächtig wurde. Ich habe das mehrfach im Kino gesehen und nie verstanden, dass man Menschen auf diese Weise brechen kann. Es ist eine schreckliche Sache. Es wurde viermal wiederholt. Trotzdem habe ich nichts gestanden. Nun haben sie angefangen, mich zu verhöhnen. Sie haben mich nackt ausgezogen und gedroht, mich mit dem Schlagstock zu vergewaltigen, umzubringen und im Wald zu vergraben, wo man mich nie finden wird. Autorin: Noch in der gleichen Nacht wird Senzow in seine Wohnung gebracht, wo eine Hausdurchsuchung stattfindet. Erst am nächsten Morgen wird Senzow offiziell verhaftet. O-Ton 70 Oleg Senzow: Sprecher 1 Morgens um acht kam der Kommissar. Er hat mir vorgeschlagen, einen der Maidan-Anführer zu beschuldigen, dass sie die Denkmäler sprengen wollten. Als Mittäter wirst du dann sieben Jahre bekommen. Wenn nicht, wirst du Rädelsführer und bekommst 20. Das wurde mir geradeheraus gesagt. Autorin Der Staatsanwalt in Rostow am Don fordert für Oleg Senzow 23 Jahre Lagerhaft. Die Anklage stützt sich auf die Belastungszeugen Chirnii und Afanasiev. Beweise für die terroristische Tätigkeit von Senzow gibt es nicht. Chirinii verweigert die Aussage vor Gericht. Der Staatsanwalt zitiert die Verhörprotokolle. In den Protokollen benennt Chirnii Oleg Senzow als Rädelsführer. Hennadii Afanasiev zieht seine belastende Aussage gegen Oleg Senzow vor dem Gericht zurück, und erklärt, das alle seine Aussagen unter Folter entstanden seien. Aus seinem gläsernen Käfig heraus schreit Oleg Senzow "Freiheit für Afanasiev". O-Ton 71 Hennadii Afanasiev: Sprecher 3 Ich wusste, dass ich höchstwahrscheinlich für das, was ich sage, erstochen werde. Und dennoch war es die richtige Entscheidung. Das dachte ich damals. Ich hatte Angst. Ich hatte angefangen, Kette zu rauchen. Ich hatte Angst. Sehr große Angst. Ich wusste, dass der Fall konstruiert war. Wir haben nichts getan. Es gab keine Fakten und Beweise. Ich habe mich entschieden, das richtige zu tun. Man muss Gerechtigkeit leben. Autorin: Oleg Senzow hat es nichts genutzt. Er wird wegen angeblicher terroristischer Aktivitäten zu 20 Jahren Strafkolonie verurteilt. Die Anträge der Ukraine auf Auslieferung oder Austausch bleiben ungehört. Auch weil ein Mitarbeiter des FSB während des Verfahrens ein Dokument unterzeichnet hat, das den Ukrainer Senzow zum russischen Staatsbürger erklärt. Hausdurchsuchungen, Entführungen, falsche Beschuldigungen und daraus resultierende Prozesse gibt es bis heute auf der Krim. 24 ukrainische Marinesoldaten und etwa 70 ukrainische Zivilisten befinden sich zurzeit in Russland aus politischen Gründen in Haft. Oleg Senzow ist einer von ihnen. Der Bekannteste. Absage Sprecher 2: "Oleg Transport" - Der Fall Senzow und die Annexion der Krim. Ein Feature von Inga Lizengevic Es sprachen: Justine Hauer, Tanja Schleiff, Katharina Schmalenberg, Martin Bross, Hüseyin Michael Cirpici, Robert Dölle und die Autorin Ton und Technik: Ernst Hartmann, und Roman Weingardt Regie: die Autorin Redaktion: Wolfgang Schiller Eine Produktion des Deutschlandfunks mit dem Rundfunk Berlin Brandenburg 2019 1