Hörspiel Feature Radiokunst Das Feature Die Verleugneten - Im KZ mit dem grünen und schwarzen Winkel Autorin: Alexa Hennings Regie: Eva Solloch Redaktion: Wolfgang Schiller Produktion: Deutschlandfunk 2023 Erstsendung: Dienstag, 17.10.2023, 19.15 Uhr Es sprachen: Lisa Bihl und Andreas Laurenz Maier Ton und Technik: Hendrik Manook und Jens Müller Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) Atmo Bühne, Szene Hahn als Hausmeister ...kehrt mit Besen...Sauber! Ich weiß gar net, was die haben. Isch doch sauber hier, oder? Was wird denn heut' g'spielt? Weiß das jemand, hm? Was isch denn das für'n Stück?... Kehrgeräusch... Sprecher Die Verleugneten. Im KZ mit dem grünen und dem schwarzen Winkel. Feature von Alexa Hennings. Atmo ...Aber isch doch sauber, oder?! Musik Sprecherin Ein Mann steht auf einer kleinen Bühne, ebenerdig. Verwandelt sich: Im grauen Kittel ist er der schwäbische Hausmeister, mit roter Clownsnase das Kind, das er einmal war, mit Uniformmütze der SS-Mann. Der im schwarzen Hemd und schwarzer Hose ist er selbst: Harald Hahn, 55 Jahre, Enkel des KZ-Häftlings Anton Knödler, Theaterpädagoge und freier Künstler. 20 Besucher sind gekommen ins A-Theater in Münster. Eine kleine Off-Bühne, von Studenten betrieben. Nicht ganz einfach, die Suche nach Auftrittsmöglichkeiten. Das Thema, das zieht nicht so. Atmo Bühne, Szene Hahn Monolog mit meinem asozialen Großvater. Ein Häftling in Buchenwald. Musik Sprecherin KZ. Buchenwald. Alles schon gesehen, gehört, gelesen. Tatsächlich? Es gibt kaum Selbstzeugnisse von jenen, die die Nationalsozialisten als "Asoziale" und "Berufsverbrecher" bezeichneten. Kein Buch mit Lebenserinnerungen. Keiner hat Gedichte veröffentlicht, Bilder ausgestellt, vor Schulklassen berichtet. Keiner hat je eine Entschädigung vom deutschen Staat erhalten. Von fast zehntausend Stolpersteinen in Berlin erinnern zehn an die sogenannten "Asozialen". Nicht einer gedenkt eines Menschen, der für die größten Verbrecher des 20. Jahrhunderts ein sogenannter "Berufsverbrecher" war. Atmo Bühne, Mundharmonika O-Ton Hahn In der Familie wurde kaum darüber gesprochen über diese Zeit. Es gab das große Schweigen, wie in vielen anderen Familien auch. Man hat sich bestimmt auch geschämt. Jemand aus dieser Opfergruppe, die ja stigmatisiert wurde und verleugnet, die sogenannten Asozialen - auch im NS-Sprachgebrauch Asozialen. Und auch ich habe sehr lange gebraucht, um mich dieser Familiengeschichte zu stellen. Sprecherin Familienfotos im aufgeklappten Koffer auf der Bühne. Atmo Bühne, Szene Hahn Tja, und dann dieses Foto, Opa. Dieses Foto. Du in Uniform, Kriegsmarine. Dabei gab es doch die andere Erzählung, du wärst als Häftling in einem Konzentrationslager gewesen. Sprecherin Das Bild auf der Anrichte und die Erzählung, die nicht zusammenpassen. Des NS-Soldaten schämte man sich nicht in der Familie Knödler. Aber des NS-Häftlings. Atmo Bühne, Szene Hahn Pssst! Darüber spricht man nicht! Sprecherin Es hieß: Dachau. Es hieß: Buchenwald. Es hieß: verhaftet, weil er keinen Hitlergruß gezeigt habe. Dann wäre er ja ein Held. Was davon stimmt? Wie passt das zusammen, KZ-Häftling und Soldat der Kriegsmarine? Harald Hahn, der Enkel, fährt nach Buchenwald. Findet den Namen des Großvaters auf der Einlieferungsliste vom 5. Juni 1938. Atmo Bühne, Szene Hahn Da steht dein Name. Nummer 7846: Knödler, Anton. Du wurdest im Rahmen der Aktion "Arbeitsscheu Reich" in Schwäbisch Gmünd festgenommen. Histor. O-Ton Hans Dietel Es gibt auch, wie ich es bezeichnen möchte, einen moralischen Schwachsinn. Sprecherin Dezember 1937. Hans Dietel, Kommandeur der Ordensburg Vogelsang, bringt junge Kader der NSDAP auf Linie: Alles dem "deutschen Wesen" Fremde soll ausgemerzt werden. Das trifft all jene, die nicht der Ideologie der Stärke und Herrenrasse entsprechen. Besonders perfide und bis heute wirksam ist die nationalsozialistische Theorie vom "kriminellen Gen". Sie besagt: Es sind nicht die sozialen Umstände, die Menschen an den Rand der Gesellschaft bringen, sondern es ist deren "Veranlagung". Die Nationalsozialisten stellten sich damit einen Freibrief aus zur Verfolgung und zur Ausrottung dieser Menschen. Histor. O-Ton Hans Dietel weiter Und die Menschen mit moralischem Schwachsinn, die ganze Gruppe der Asozialen und der Unsozialen im größten Maße. Der - sagen wir - Verkommenen. Sprecherin Im März 1938, drei Monate nach Dietels Vortrag auf der Ordensburg Vogelsang, beginnt die Aktion "Arbeitsscheu Reich". Bis Juli 1938 werden mehr als 10 000 Männer verhaftet und in KZs gebracht. Auch Anton Knödler. Atmo Bühne, Szene Hahn Wenn man zweimal eine angebotene Arbeit abgelehnt hatte oder nach kurzer Zeit die Arbeit beendet hatte, galt man als arbeitsscheu und asozial. Sprecherin Die Arbeitsämter und Fürsorgebehörden machen die Zuarbeit. Kriminalpolizei und Gestapo greifen zu. Die Justiz braucht man nicht, es geht ohne Prozess ins Konzentrationslager. Atmo Bühne, Szene Hahn als Hausmeister Ja ,wer nit arm sein will, der muss schaffe gange. Schaffe! So isch et! Es gibt noch viel zu viel Faulenzer, die dem Staat auf der Tasch' rumliege. Schaffe muss man! Histor. O-Ton Hans Dietel Diejenigen, die auch trinken - denn Trunksucht kommt oft in dieser Verbindung vor. Trunksucht ist niemals eine Folge von sogenannten schlechten oder tief erschütternden Erlebnissen. Wenn man sagt: Der trinkt deshalb so viel, weil er im Leben so viel durchgemacht hat - Heiterkeit im Saal - Zehntausend andere machen noch viel mehr durch als er und trinken nicht! Das heißt, sie werden keine Trinker, ich will mich mal so ausdrücken. Trunksucht ist ohne Zweifel eine Erbanlage. Ja, Trinken an sich kann sogar ein Rassenmerkmal sein. Für eine ganze Rasse. Atmo Bühne, Szene Hahn Zwei Tage später bringen sie dich nach Buchenwald. Schneiden dir die Haare kurz. Nähen dir ein schwarzes Stoffdreieck auf die Häftlingskleidung. Der schwarze Winkel. Das Zeichen der sogenannten Asozialen. Sprecherin Durch die Massendeportationen in der Aktion "Arbeitsscheu Reich" 1938 gewinnen die Nationalsozialisten Arbeitskräfte, die sie für die Erweiterung der Konzentrationslager ausbeuten können. Anton Knödler muss in Buchenwald im Steinbruch schuften. Im Frühjahr 1939 wird er entlassen. Atmo Bühne, Szene Hahn Es gab eine Amnestie! Die einzige Amnestie im Nationalsozialismus. Anlässlich Hitlers 50. Geburtstag wurdest du entlassen und sofort in die Kriegsmarine eingezogen. Die hast du auch überlebt. Und als der Krieg vorbei war, da warst du in Gefangenschaft bei den US-Amerikanern. De haben dich verhört, du hast von Buchenwald erzählt. Die haben das nachgeprüft und haben dir Unterlagen gegeben. Und diese Unterlagen habt ihr verbrannt! Und als ich die Oma fragte: Warum verbrennt ihr denn diese Unterlagen?! Da sagte sie nur lapidar: Wegen der Schand'. Musik O-Ton Sendel Ich bin seit letztes Jahr Juni durch eine Krankheit volle EM-Rentnerin, also Erwerbsminderung. Hatte ein bisschen Langeweile und dachte: Guckst du mal und machst einen Stammbaum für deine Tochter. Die wollte immer mal wissen: Wie groß ist unsere Familie? Sprecherin Nennhausen in Brandenburg. Carola Sendel sitzt am Küchentisch, Unterlagen sind ausgebreitet. Die Familie der Grundschullehrerin stammt aus dem Wedding, dem einstigen Berliner Arbeiterbezirk. O-Ton Sendel Und da bin ich durch Zufall auf einen Brief aus dem KZ Sachsenhausen gestoßen. Absender war mein Opa, Ernst Siegfried Wiedau. Und da dachte ich: Ja, stimmt. Mama, also meine Mutter, hatte ja erzählt, er ist damals im KZ Sachsenhausen ums Leben gekommen, er saß da aus politischen Gründen. Dachte ich: Ach Gott, ist ja ein Ding, und kommunistisch, na ja. Und dann gegoogelt, wie man das so schön macht. Den Namen eingegeben und dann auf das Arolsen-Archiv gestoßen. Und da habe ich gesehen: Unter seiner Häftlingsnummer und seinem Block, da gab es noch mehr Dokumente. Ich bin dann drauf gestoßen, dass er gar nicht wegen politischen Motiven dort saß. Sondern als Berufsverbrecher. Warum wohl? Sprecherin Ernst Siegfried Wiedau ist von Beruf Heizer. Er hat eine Familie mit zwei Kindern, lebt jedoch später getrennt von ihr. Histor. O-Ton Hans Dietel Die ganze Gruppe der Asozialen, die sich nicht um ihre Kinder kümmern, die nur einfach immer Kinder in die Welt setzen und die sagen, es interessiert mich nicht, was wird. Bei denen es immer schlampig zuhause aussieht. Die nicht Ordnung halten können in der Familie. Sprecherin Bei Ihren Recherchen im Arolsen-Archiv, einem Dokumentationszentrum für die Opfer des NS-Regimes, fand Carola Sendel auch die Polizeiakten des Großvaters. O-Ton Sendel Er ist oft umgezogen innerhalb Berlins. In einer Akte stand, dass er wegen Betteln aufgegriffen wurde auf der Straße und dann sich immer melden musste auf der Kripo in Berlin auf dem Alexanderplatz. Und deshalb als vorbestraft galt und deshalb keinen richtigen Arbeitgeber fand. Daraufhin hatte er dann bei Frauen gewohnt, die angeschafft haben, die Prostituierte waren. Da wurde eine Razzia gemacht und er mit aufgegriffen und als Zuhälter deklariert, also eingestuft. Ich habe gesehen, dass da eine Zeugenaussage von der Prostituierten war. Sie sagte, mein Opa, Ernst Wiedau, er wohnt dort und zahlt Miete wöchentlich und hat nichts mit der Zuhälterei zu tun. Sie gibt hm lediglich ein Bett und dass er sich waschen kann. Aber das reichte damals schon aus: Wegen Betteln aufgegriffen, kleinere Diebstähle wahrscheinlich - soweit konnte ich noch nichts finden - und dann halt bei einer Prostituierten gewohnt. Dann war's das gewesen. Sprecherin Ernst Wiedau wird wegen Zuhälterei zu neun Monaten Gefängnishaft verurteilt. O-Ton Sendel Ich schäme mich nicht, dass er deswegen verhaftet wurde. Er hatte seine Strafe ordnungsgemäß abgesessen, aber er wurde danach nicht nach Hause entlassen, sondern aufgegriffen und dann ins KZ gesteckt. Und da sage ich: Warum? Sprecherin Für die Nationalsozialisten sind Menschen, die wiederholt von der Polizei aufgegriffen werden, Berufsverbrecher und gehören für immer weggesperrt. Ernst Wiedau kommt noch am Tag seiner Haftentlassung im November 1943 ins KZ Sachsenhausen. Er muss sich den grünen Winkel an die Häftlingskluft nähen, das Zeichen für Berufsverbrecher. Musik Sprecher Sachsenhausen, 21. November 1943 Liebe Eltern, ich bin noch gesund und munter, dasselbe hoffe ich auch von euch. Wie geht es meinen Kindern, hoffentlich seid ihr noch alle recht gesund. Seid doch bitte so gut und besorgt mir die Wäsche von meiner Wirtin, und schickt mir das Paket, Lebensmittel können auch mit darin sein, so ein Brot, Marmelade, auch Nährmittel aller Art kann ich empfangen. Ein Gruß auch an meine Wirtin, sie soll auch an mich denken, Geld nur durch Postanweisung. Es grüßt euch herzlich Ernst. Sprecherin Auf der Rückseite dieses einzigen Briefes ihres Großvaters fand die Enkelin dessen Geburtsdatum. Das war Schlüssel zur weiteren Recherche, für die manchmal der Name allein nicht genügt. Carola Sendel arbeitete sich durch Akten, Listen, Verzeichnisse. Fand heraus, dass Ernst Wiedaus Ehefrau von ihrem Vater gezwungen wurde, die Scheidung einzureichen. O-Ton Sendel In dem KZ Sachsenhausen habe ich eine chronologische Übersicht gesehen, wie er dort erfasst wurde. Und da musste ich mich erstmal schlau machen: Was war denn das Schuhläuferkommando? Sprecherin Hersteller von Leder-Ersatzstoffen und von Schuhen wie Salamander, später auch die Wehrmacht, ließen im Schuhläuferkommando im KZ Sachsenhausen Belastungstests durchführen. Täglich mussten 40 bis 48 Kilometer auf den Prüfstrecken gelaufen werden. Manche Häftlinge waren gezwungen, dabei schwere Rucksäcke zu tragen. O-Ton Sendel Ich habe Berichte und Bücher gelesen, da wurde wirklich beschrieben, dass die extra zwei, drei Nummern zu kleine Schuhe bekommen haben und dann über Schotter, über Asphalt, über Glas, über Steine gehen mussten. Die haben dadurch natürlich Entzündungen bekommen, die Füße waren kaputt, die Nägel abgerissen. Es war beschrieben, wer da umfiel während des Schuhläuferkommandos, der wurde gleich erschossen und ersetzt durch jemand anderen. Meistens, zu 90 Prozent, haben sie dafür nur die BVler, die Berufsverbrecher, eingesetzt. Das hat er monatelang gemacht, kam dann erstmal ins Krankenlager und wurde dann ins Außenlager Lichterfelde eingeteilt. Da war er für den SS-Bautrupp zuständig, der hat SS-Villen renoviert und saniert. Er war dann auch zwei Monate dort für die Reichsbahn beschäftigt, die haben Schienengleise erneuert. Und wurden abends immer zurück gebracht in dieses KZ-Außenlager Lichterfelde. Da habe ich in der Akte von der Oranienburger Stiftung gesehen, dass er von dort einen Fluchtversuch unternommen hatte. Sprecherin Drei Monate kann sich Ernst Wiedau versteckt halten. Als er im Januar 1945 aufgegriffen wird, kommt er wieder nach Sachsenhausen ins Schuhläuferkommando. Selbst als die Rote Armee kurz vor Berlin steht, werden im nahen Sachsenhausen noch immer die ausgemergelten Häftlinge über die Prüfstecke getrieben. Ernst Wiedau übersteht auch das, ebenso den Todesmarsch nach der Auflösung des Lagers. Strandet in einem Camp für Displaced Persons in Bergen-Belsen. Und stirbt, völlig entkräftet, im November 1945 in Bremen, seiner Heimatstadt. Warum war er nicht nach Berlin zurückgekehrt, um seine Kinder zu sehen? Die waren inzwischen Halbwaisen und lebten bei den Großeltern. O-Ton Sendel Da gab es ja noch einen Zettel vom Deutschen Roten Kreuz, Suchdienst. Mein Opa Ernst Wiedau muss sich wohl in Berlin gemeldet haben, wie, weiß ich nicht, wahrscheinlich schriftlich, Telefon gab es ja nicht. Hat wahrscheinlich mitgeteilt: Ich lebe, ich bin befreit worden, ich komme bald wieder. Und da habe ich so ein Antwortzettelchen gefunden vom Deutschen Roten Kreuz. An Ernst Wiedau in diesem Camp von Bergen-Belsen. Da stand: Komm bloß nicht nach Hause. Erspar uns die Schande. Stirb bitte woanders. Das sind dann Momente, wo ich dann sage - ich bin sonst sehr gefasst und sehr realistisch - aber da ging's mir nah, muss ich sagen. Atmo Bühne, Mundharmonika... Bühne, Szene Hahn Opa, wir haben etwas zu feiern! Prost Opa, Prost, auf dich! Du bist nun offiziell als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt. Ja! Beschloss der Deutsche Bundestag, natürlich ohne die Stimmen der AFD: Dass die sogenannten Berufsverbrecher und die sogenannten Asozialen offiziell Opfer des Nationalsozialismus sind. Prost Opa! 75 Jahre nach Kriegsende! Schon doof, wenn man arm ist. Musik O-Ton Nonnenmacher Dass die jüdisch Verfolgten anerkannt waren, das war relativ schnell klar, eigentlich sofort. Sprecherin Frank Nonnenmacher, emeritierter Professor für Sozialwissenschaften in Frankfurt am Main. O-Ton Nonnenmacher Aber selbst die Politischen mit dem roten Winkel hatten zu tun, um in der deutschen Nachkriegsgesellschaft als Opfer anerkannt zu werden. Die Diskussion war dann stark davon beeinflusst, dass auch politische Häftlinge gesagt haben: Wir waren diejenigen, die verfolgt waren. Aber die mit dem schwarzen und grünen Winkel, die sind ja zum Teil aus merkwürdigen Gründen im KZ gewesen, teilweise zurecht! Noch bevor es ein Bundesentschädigungsgesetz gab, war schon klar, die Menschen mit dem grünen und schwarzen Winkel werden eher ausgegrenzt, eher ignoriert, werden sogar zum Teil diffamiert. Und das, diese Haltung, herrschte sehr lange nach dem Krieg. Sprecherin Keine Entschädigung für die etwa 77 000 Opfer und deren Familien. Sprachlosigkeit. In Deckung gehen. Atmo Bühne, Szene Hahn Darüber spricht man nicht! Sprecherin weiter Der Apfel fällt doch nicht weit vom Stamm, oder? Die Nazi-Propaganda vom "kriminellen Gen" wirkte weiter. O-Ton Nonnenmacher Und sie hatte zur Folge, dass die Menschen mit dem schwarzen und grünen Winkel sehr schnell dazu übergegangen sind, zu schweigen. Und so wurden sie ignoriert - nicht vergessen. Den Ausdruck, der oft gebraucht wird, den lehne ich eigentlich ab. Sie wurden bewusst ignoriert. Und wir nennen sie heute eben auch, um diese Begriffe der Nazis nicht dauernd zu wiederholten - wir nennen sie deshalb die verleugneten Opfer. Sprecherin Frank Nonnenmacher ist der Neffe von Ernst Nonnenmacher, einem KZ-Überlebenden mit dem grünen Winkel. Für ihn und alle anderen startete er die Initiative, die 2020 endlich zur Anerkennung der bisher verleugneten Opfergruppen durch den deutschen Bundestag führte. O-Ton Ernst Nonnenmacher (alte Kassette) Also man ging von Stadt zu Stadt, man ging von Haus zu Haus, hat gebettelt. Man ging auf die Höfe und hat gesungen. Die Tatsache, dass es fast unmöglich war, irgendwo Arbeit zu bekommen hat dazu geführt, dass ich bis 33- nein, es ist nicht das, was heute oder was vor ein paar Jahren die Blumenkinder waren, sondern man ging damals auf die Walz, weil man irgend etwas zwischen die Zähne bekommen musste. Man musste leben. Sprecherin Ernst Nonnenmacher, Korbflechter, Wanderarbeiter. Nach dem Krieg Straßenbauarbeiter und Betriebsrat. Sein Neffe hat ihn im Jahr 1980 zu seinem Leben befragt und es auf einem Kassettengerät aufgezeichnet. O-Ton Ernst Nonnenmacher (alte Kassette) Man hat schmal gemacht - das bedeutet, wenn du abends um fünf, um sechs noch nichts hattest - wo kriegst du noch was her? Da hat man sich vors Theater gestellt, und wenn das Theater aus war, hat man sich den am besten Angezogenen, der da rauskam, ausgesucht. Und gesagt: Ich bin auf Wanderschaft, ich habe kein Übernachtungsgeld, können Sie bitte usw.. Da gab es dann eine Mark oder zwei, da gab es keine Pfennige. Damals war es durchaus möglich, dass man einem Bettler auch einen Pfennig gegeben hat. Sprecherin Ernst Nonnenmacher wird in Armut groß. Seine Mutter findet als Näherin in der Zeit des ersten Weltkrieges kaum noch Anstellung. Die Väter ihrer beiden Kinder haben die Familie verlassen. In der Not gibt sie ihr zweites Kind - Frank Nonnenmachers Vater Gustav - in ein Kinderheim. Er wird später Pilot der NS-Luftwaffe. O-Ton Frank Nonnenmacher Und in diesem sozialen Elend hat der kleine Ernst, der bei der Mutter blieb im Gegensatz zu meinem Vater, schon mit zehn, zwölf, vierzehn Jahren gewusst: Etwas irgendwo mitgehen lassen, was man braucht oder was man verscheuern kann, das ist nicht kriminell, das ist lebensnotwendig. O-Ton Ernst und Frank Nonnenmacher (alte Kassette) Ich bin x-Mal geschnappt worden wegen Betteln, Landstreicherei, alle diese Dinge, das hat sich summiert zu insgesamt an die 20 Strafen. - Was waren das für Strafen? - Gefängnis. Das fing an mit drei Tagen und ging bis zu drei Monaten. Sprecherin Gerichtsakte vom 3. Januar 1934, Amtsgericht Stuttgart. Ernst Nonnenmacher ist nachts durch ein offenstehendes Fenster in ein Café eingestiegen. Sprecher Es handelt sich um einen Diebstahl, in dem das gestohlene Gut nicht nur zum sofortigen Gebrauch dienen sollte. Sprecherin Bei dem Einbruch ins Café verzehrt Ernst Nonnenmacher zwei halbe belegte Brötchen und hat sich offenbar noch weitere Esswaren bereitgelegt, um sie mitzunehmen. Er kann sie jedoch nicht mehr einpacken, weil er überrascht wird. Er flüchtet und wird von einem Hilfspolizisten festgenommen. Obwohl er nichts mitgenommen hat, erkennt das Gericht einen "vollzogenen Diebstahl". O-Ton Frank Nonnenmacher Es ist ein ganz typischer Fall dafür, dass Menschen aus sozialer Not, im Grunde aus sozialer Notwehr kriminell werden können. Und das waren gerade in den 20ern und frühen 30er Jahren Millionen in Deutschland. Und zu denen gehörte auch mein Onkel, ganz klar. Er war einer der typischen Kleinkriminellen. Sprecher Es ergeht folgendes Urteil: Der Angeklagte wird wegen des Verbrechens des teils versuchten, teils vollendeten schweren Diebstahls zu der Gefängnisstrafe von drei Monaten sowie zur Tragung der Kosten des Verfahrens verurteilt. O-Ton Nonnenmacher Und die Nazis - jetzt schlage ich den Bogen zum Nationalsozialismus - man muss aber diese sozialen Hintergründe kapieren, sonst kapiert man das ganze System nicht! Die Nazis haben dann gesagt: Wir streben eine ideale deutsche Gesellschaft an, in der es keine Kriminalität und Asozialität mehr gibt. Woran erkenne ich einen Asozialen und einen Kriminellen? Und da hatten die Nazis eine ganz einfache Perspektive, eine ganz einfache Methode: Man erkennt einen Kriminellen daran, dass er wiederholt klaut. Denn wiederholt etwas tun bedeutet, dass er kriminelle Gene in sich trägt. Histor. O-Ton Hans Dietel Diese Gruppe der moralisch Schwachsinnigen erfassen wir leider heute mit unserem Sterilisierungsgesetz noch nicht. Und diese Gruppe ist mindestens genauso groß wie die Gruppe der intelligenzmäßig Schwachsinningen. Ja und im Gegenteil wird heute diese Gruppe von einer bestimmten Schicht, von einer bestimmten Einrichtung immer noch herausgehoben und weiterentwickelt: Das ist die Kirche. Dass eine solche Einrichtung immer wieder die Untüchtigen hochpäppeln muss, immer wieder die Schwachen und die Elenden und die Verkommenen anzieht und ihnen Lebensberechtigung gibt - das dürfte doch wohl für alle klar sein. O-Ton Frank Nonnenmacher Und jemand mit kriminellen Genen, den müssen wir wegsperren. Da müssen wir dafür sorgen, dass solche Menschen sich nicht vermehren, dass sie in die KZs kommen - und zwar nach der Verbüßung ihrer letzten Haftstrafe. Ohne jedes Urteil, ohne Richter, ohne Verteidiger. Und liefern sie der SS in den KZs ab. Und genau das passierte mit meinem Onkel nach seiner letzten Haftstrafe. Sprecherin Am 19. Mai 1941 wird Ernst Nonnemacher in das Konzentrationslager Flossenbürg eingeliefert. O-Ton Ernst und Frank Nonnenmacher (alte Kassette) Wir standen etwa zwei Stunden am Tor, stillgestanden. Also haben wir versucht, stehen zu bleiben. Und nach etwa zwei Stunden ist dann die Kolonne aus dem Steinbruch eingerückt. - Zwei Stunden stillgestanden? - Ja, jedes Mal. Das war eine Kleinigkeit gegen Dinge, die dann später gefordert wurden. Dann rückte, wie gesagt, die Kolonne von den Steinbrüchen ein und dann war Appell. Das war das prägende Erlebnis. Dann kam das Kommando Stillgestanden! Mützen ab! Das haben die Häftlinge bis zum Erbrechen geübt. Wenn Mützen ab auf dem Appellplatz nicht geklappt hat, hat das bedeutet, dass sie das vielleicht stundenlang üben mussten auf dem Appellplatz. In klirrender Kälte, in strömendem Regen, in sengender Hitze. Atmo Bühne, Szene Hahn als SS-Mann Der Rödel, unser Schutzhaftlagerführer, der lässt die erstmal beim Appell ein Volkslied singen. Ein einfaches deutsches Volkslied. Aber glauben Sie, die bekommen das hin?! Das gefiel dem Rödel überhaupt nicht. Der brüllte aus dem Lautsprecher: Alle Mann auf! Und nieder! Auf und nieder, auf und nieder. Auf und nieder... O-Ton Ernst Nonnenmacher (alte Kassette) Da durfte nichts daneben klappen: Das Anschlagen der Hand an die Mütze, das Abreißen und das Anschlagen am rechten Oberschenkel - das musste sekundengenau und ohne dass einer vor- oder nachklappte. geschehen. Und da das bei uns, wir waren etwa dreißig, die da als Neuzugänge standen, natürlich nicht geklappt hat, da gab es die ersten Prügel. Entsetzen ist nicht der Ausdruck, der dafür genügt. Atmo Bühne, Szene Hahn Opa, wie hält man sowas aus? Ganz ehrlich: Hast du es dir einmal überlegt? Du weißt schon, was ich meine. Zu nah am Zaun, und die hätten von ihren Wachtürmen sofort geschossen. Sofort. Keine Gnade. Aber dann wäre es wenigstens vorbei gewesen. O-Ton Ernst Nonnenmacher (alte Kassette) Ich habe es nie für möglich gehalten, dass man von einem anderen Menschen auf diese Art entwürdigt werden kann. Verstehst? Es wird dir bewusst gemacht, dass du nicht etwa kein Mensch, sondern etwas absolut Wertloses bist. Du bist ein absolutes Nichts. Alles, deine Persönlichkeit, ist ausgelöscht in dem Moment, wo dir das bewusst wird. Musik O-Ton Lortzing Für Georg - seufzt - Sprecherin Ellen Lortzing in Berlin-Tegel hat eine Kerze angezündet. O-Ton Lortzing Na ja. ich denke, dass ich ihm das schuldig bin, dass ich über ihn was erzähle. Er hatte keine Familie, keine Nachkommen. Insofern steht der Familienzweig sehr allein da. Sprecherin Georg Schwabersberger war der Cousin von Ellen Lortzings Großvater. Über sein Schicksal wurde nie in der Familie erzählt. Erst als sich die Berlinerin mit der Geschichte ihrer Vorfahren beschäftigte, stieß sie auf seinen Namen. O-Ton Lortzing Insgesamt waren es von Anfang an ganz, ganz arme Leute. Sprecherin Die Eltern von Georg Schwabersberger ziehen auf der Suche nach Arbeit um 1900 aus der bayerischen Provinz nach München. Der Vater ist Ofensetzer, muss sich jedoch als Tagelöhner verdingen. Oft hat die Familie nur Unterkunft in einer Herberge und keine eigene Wohnung. Sieben Kinder kommen zur Welt, nur vier überleben. O-Ton Lortzing Und der Georg - was ich weiß aus den Unterlagen im Archiv in Hannover, ist: Dass er die Volksschule besucht hat über acht Jahre und ein guter Schüler war. Und dann 1919 hat er eine Buchbinderlehre angefangen. Hat aber die Lehre nach zwei Jahren abgebrochen. Ich vermute mal, weil er da das erste Mal kriminell wurde. Da muss was gewesen sein, vielleicht eben auch, weil die Familie auch Hunger gelitten hat um die Zeit des ersten Weltkriegs und danach. Sprecherin Gefängnis, Arbeitshaus, Gefängnis, kurze Zeit auf freiem Fuß, Gelegenheitsarbeiter, kleine Diebstähle - immer wieder dieser Kreislauf. Die einzigen Fotos, die Ellen Lortzing von Georg Schwabersberger hat, sind Gefängnisfotos. O-Ton Lortzing Ja, es sind zwar nun nicht gerade die Fotos, die man sich wünscht, aber man eben überhaupt erstmal eins. Also da war ich sehr froh, dass ich das gefunden habe. Musik Sprecherin Profil links, Profil rechts, frontal. Ein gutaussehender Mann, Anzug, Krawatte, dunkle, nach hinten gekämmte Haare. Ernst. Sein Blick scheint durch den Betrachter hindurch ins Leere zu gehen. O-Ton Lortzing Dann spätestens 28 war er wieder in Haft. Und 29, da muss er in Landsberg wieder in Haft gewesen sein, da hat er sich die Brust selbst verletzt. Das zieht sich dann auch immer wieder durch sein Haftleben, dass er immer wieder Hand an sich legt. Es ist wirklich eine Abfolge von Gefängnisaufenthalten. Die großen Vergehen können es nicht gewesen sein, in seinen Akten steht auch immer: Wegen Diebstahl. Er kann da auch nicht großartig was - er war kein Juwelendieb. Nicht mal das. Sprecherin 1934 schreibt Georg Schwabersberger am Tag seiner Einlieferung ins Straubing Gefängnis eine Art Lebenslauf. O-Ton Lortzing, liest vor Alles ist auf meine früheste Jugend zurückzuführen. Aber jetzt weiß ich, wo ich bin, und da mir kein Mensch helfen kann, begebe ich mich in das mir auferlegte Schicksal. Was heute in mir vorging, als ich das Zuchthaus hier betreten musste, kann ich hier nicht zu Papier bringen, denn dazu fehlen mir die Worte. Histor. O-Ton Hans Dietel Wir haben dem Kranken das Gesunde entgegenzusetzen, wir haben das Mitleid auszurotten durch die Kraft der Selbstbehauptung. Wir haben die Knechtsinnigeit zu vertauschen mit dem Herrentum. O-Ton Lortzing Und dann wurde ihm nachgesagt - nachgesagt ist gut, ihm wurde vorgeworfen, er litte an Lebenslust! Sprecherin Zweimal kann Georg Schwabersberger von einem Gefängnistransport fliehen, sich wochenlang verstecken. Freiheit genießen. Er hat Freunde und Freundinnen im Münchener Caféhausmilieu, die ihm helfen. O-Ton Lortzing Das hat schon was, dieses Wort Lebenslust. Ist ja richtig, wenn man fast immer nur unter Gittern war, dann verspürt man doch - wie sagt man - Lebenssucht. Süchtig nach Leben. Sprecherin 1940 wird Georg Schwabersberger als sogenannter Berufsverbrecher ins KZ Dachau eingeliefert. O-Ton Lortzing Von Dachau aus kommt er dann 1941 nach Neuengamme und im Juni 42 wurde er dann nach Bernburg in die Euthanasie-Heilanstalt - oder Euthanasie-Vernichtungsanstalt muss man ja sagen - gebracht. Ist heute eine Gedenkstätte. Und dort wurde er dann vergast. Das war dann das traurige Ende. - Jetzt muss ich mich erstmal wieder ein bisschen fassen - (Taschentuch...) Histor. O-Ton Hans Dietel Und wir müssen heute die Kraft haben, auch einmal umzukehren den Spieß und zu sagen: Wir lieben unser Volk und haben Mitleid mit diesem Volk. und sind deshalb auch, wenn es sein muss, einmal brutal gegen den Einzelnen. Weil wir wissen, dass das Volk zu leben hat und nicht der Einzelne. Sprecherin In einem abgetrennten Teil der Heil- und Pflegeanstalt Bernburg wurden mehr als 14 000 Menschen getötet. Bis 1941 waren vor allem Kranke und Behinderte dort Opfer der Euthanasie. Ab August 1941wurden in der "Sonderbehandlung "14 f 13" 2500 KZ-Häftlnge in Bernburg vergast. Sie trugen alle Winkelfarben an der Jacke: jüdische und politische Häftlinge, sogenannte Asoziale und Berufsverbrecher, Homosexuelle, Sinti und Roma, Zeugen Jehovas, damals Bibelforscher genannt. O-Ton Lortzing Jedenfalls war Georgs erste Würdigung seines Schicksals in Bernburg. Mit einem Lebenslauf, auch mit einem Foto. Auf Instagram haben sie so eine Aktion gehabt mit Lichtern, da haben sie auf dem Weg zur Gaskammer Fotos aufgestellt und Georgs war dann dabei. Also, ist er gut dort aufgehoben erstmal. Musik Sprecher Beschluss. Sprecherin Berlin, 13. Februar 2020. Deutscher Bundestag. Sprecher weiter Der Deutsche Bundestag stellt fest: Niemand wurde zu Recht in einem Konzentrationslager inhaftiert, gequa¨lt oder ermordet. Alle Konzentrationslagerha¨ftlinge waren am Ende Opfer des nationalsozialistischen Unrechtssystems - auch Menschen mit dem "schwarzen" und "gru¨nen" Winkel. Der Deutsche Bundestag will deshalb die Opfergruppen, die von den Nationalsozialisten "Asoziale" und "Berufsverbrecher" genannt wurden, zuku¨nftig sta¨rker in das o¨ffentliche Bewusstsein ru¨cken und ihnen einen angemessenen Platz im staatlichen Erinnern verschaffen. Sprecherin Frank Nonnenmacher, der emeritierte Professor aus Frankfurt am Main, hat jahrelang für diesen Bundestagsbeschluss gekämpft. 2019 startete er eine Online-Petition, der Bundestag möge sich mit dem Thema der verleugneten KZ-Opfer befassen. Fast 22 000 Menschen unterzeichneten den Aufruf, darunter auch prominente Bundestagsabgeordnete. O-Ton Nonnenmacher Dass natürlich dieser Beschluss alleine noch nichts bewirkt, sondern nur dann etwas bewirkt, wenn entsprechende Konsequenzen gezogen werden: Wenn zum Beispiel die ausgebliebenen Forschungen beginnen über die Verfolgungsinstitutionen, die dabei eine Rolle gespielt haben. Zum Beispiel die Kriminalpolizei, die ja keine SS-Institution war, zum Beispiel die Fürsorgeämter, die dabei geholfen haben, dass die sogenannten Asozialen denunziert und entdeckt worden sind. Und solche Forschungsaufgaben wurden definiert im Bundestagsbeschluss von 2020. Es wurde aber bis heute nicht eine müde Mark dafür eingestellt! Bis heute nicht. Sprecherin Immerhin: Eine Wanderausstellung ist geplant. Anderthalb Millionen Euro wurden nach dem Bundestagsbeschluss dafür bereitgestellt. Die Ausstellung wird von der Gedenkstätte KZ Flossenbürg gemeinsam mit der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas konzipiert. Auch an vielen Gedenkorten gibt es Nachholbedarf: Meist werden die Häftlinge mit dem grünen und schwarzen Winkel in den Ausstellungen nicht oder nur am Rande erwähnt, sie haben weder Gedenktafeln noch werden sie als Opfergruppe auf großen Denkmalen benannt - wie zum Beispiel auf dem in Sachsenhausen. Dort, wo der Korbmacher Ernst Nonnenmacher nach der Steinbrucharbeit im KZ Flossenbürg dann Geschosskörbe für die Wehrmacht flechten musste. Dort, wo Ernst Wiedau im Schuhläuferkommando bis ans Ende seiner Kräfte gehetzt wurde. Musik Sprecherin Es sind die Angehörigen, die sich privat um Gedenktafeln oder eine kleine Stele kümmern wollen, in Sachsenhausen und anderswo. Im Januar 2023 trafen sich auf Initiative von Frank Nonnenmacher in Nürnberg erstmals 30 Angehörige betroffener Familien. Sie gründeten dort den "Verband für das Erinnern an die verleugneten Opfer des Nationalsozialismus". O-Ton Nonnenmacher Diejenigen, die kamen, haben davon berichtet, dass sie weitere kennen, die aber nicht kommen können und wollen. Zum Teil, weil sie innerfamiliär ein Diskussionsverbot haben: Tritt nicht nach außen mit der Geschichte! Sie ist nach wie vor in vielen Familien schambesetzt. Andere kamen und sagten: Ich kann aber nichts erzählen, es geht zu nah. O-Ton Sendel Wieviel Leute damals mit Lügen weitergelebt haben, wieviel Leute haben was verschwiegen und verdreht. Immer noch, glaube ich, schweigen die, auch die Nachkommen und Angehörigen. Ich weiß nicht, warum. Sprecherin Als Carola Sendel ihren Geschwistern von den Recherchen über das Leben des Großvaters berichtete, traf sie nicht zuerst auf Mitgefühl für das Schicksal dieses Mannes. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Da war es wieder. O-Ton Sendel Ein Bruder von mir, der wurde mal als Jugendlicher beim Klauen erwischt. Da kommt gleich: Na, kein Wunder, wo Thomas das her hat. Opa - also unser Opa - war ja auch so einer! O-Ton Nonnenmacher Also, dass Menschen kriminell werden aus genetischer Veranlagung heraus, begegnet mir im Alltag durchaus. Es ist ja so, dass auch honorige Menschen so argumentieren. Zum Beispiel Eugen Kogon, einer der untadeligsten Antifaschisten, die die Republik gekannt hat, der selbst im KZ war. Der den "SS-Staat" geschrieben hat, das millionenfach publizierte Werk. Selbst der schreibt in seinen Erinnerungen, dass im KZ die Häftlinge mit dem grünen Winkel zum Teil "übelst veranlagte Menschen" gewesen seien. Selbst der spricht von "Veranlagung". Und benutzt im Grunde ein Theorem, das Wurzeln hat, die genau dieselben sind, auf die die Nazis sich auch gestützt haben. Atmo Bühne, kurze Sequenz Mundharmonika Bühne, Szene Hahn Also ich finde, Opa, diese ganzen Gedenktage, dieses ganze Gedenken, hat nur Sinn, wenn man auch etwas aus der Geschichte lernt. Oder etwa nicht? Opa, wie gehen wir denn um mit den Armen, mit den Obdachlosen? Geh doch mal in eine Schulklasse: Du Assi, du Assi! Die soziale Herkunft eines Kindes ist entscheidend für den Bildungserfolg. Das hat doch nichts mit Gerechtigkeit zu tun! Sprecherin Deutschland 1933: Wer zweimal eine angebotene Arbeit ablehnt, gilt als arbeitsscheu und asozial. Deutschland bis zum 1. Januar 2023: Wer zweimal eine angebotene Arbeit ablehnt, bekommt einen Teil des Hartz-IV-Geldes gestrichen. O-Ton Hahn Das fand ich sehr erschreckend in der Recherche zu diesem Thema, wie Muster von diesem Denkmodell einfach weitergegeben werden. Und da ist die Frage natürlich auch: Inwieweit ist der Mensch nur etwas wert, wenn er arbeitet? Ist der Wert des Menschen gekoppelt an seine Arbeitskraft? Sprecherin Harald Hahn ist in demselben Viertel aufgewachsen wie sein Großvater. Bis heute heißt es, dies sei ein "Problemviertel". In seiner Grundschulklasse wurde nach dem ersten Schuljahr die Hälfte der Kinder auf eine Förderschule geschickt. Harald Hahn ist der erste in seiner Familie, der - auf dem zweiten Bildungsweg - das Abitur machte und studierte. Die Einladung für sein Theaterstück "Mein asozialer Großvater" bekam er von einer Arbeiterkind-Gruppe des Studierendenwerks Münster. O-Ton Hahn Im letzten Teil meines Stückes greife ich ja auch die AFD auf, die ja die einzige Partei war, die sich enthalten hat bei dem Antrag, diese Opfergruppe anzuerkennen. Das muss man auch mal festhalten. Natürlich ist auch die Frage, gerade in der sozialen Schicht meines Großvaters und mit meinem sozialen Hintergrund: Viele Menschen, die früher die Sozialdemokratie gewählt haben oder im Osten Deutschlands die Linke, die wählen jetzt AFD. Und meiner Meinung nach hat das was mit dem Tatbestand zu tun, dass die soziale Ungleichheit immer weiter wächst. Und dass die Leute spüren, dass dieses Land nicht gerecht ist. Und das kann Demokratie zerstören. Da läuft es mir kalt den Rücken runter. Musik O-Ton Sendel In erster Linie natürlich möchte ich meinem Opa ein Leben zurückgeben. Weil, er ist in der Nachkriegszeit völlig in den Köpfen meiner Familie vernichtet worden. Sei es, dass die ganzen Fotos weggeworfen wurden, die Geschichten wurden verdreht, und selbst meine Mutter ist mit einer Lüge ins Grab gegangen. Sprecherin Carola Sendel, die Grundschullehrerin aus Nennhausen in Brandenburg, will mehr als nur das Familienarchiv aufräumen. Einen Stolperstein möchte sie legen für ihren Großvater Ernst Siegfried Wiedau, den Schuhläufer aus Sachsenhausen. Es wäre der erste Stolperstein in Berlin, der an einen Menschen erinnert, der den Nationalsozialisten als Berufsverbrecher galt. Atmo Bühne, Szene Hahn, singt / immer wieder nach Sprecher hoch Ich sing für dich, mein Großvater, ich sing für dich dies Lied. Sprecher Die Verleugneten. Im KZ mit dem grünen und dem schwarzen Winkel. Ein Feature von Alexa Hennings. Atmo Bühne Ich sing für Siegfried Hein, Sprecher Es sprachen: Lisa Bihl und Andreas Laurenz Maier Atmo ich sing für ihn dies Lied. Sprecher Ton und Technik: Hendrik Manook und Jens Müller Atmo Bühne Ich sing für all die anderen, Sprecher Regie: Eva Solloch. Atmo ich sing für sie dies Lied. Sprecher Redaktion: Wolfgang Schiller. Atmo Bühne Ich sing für dich, mein Großvater, Sprecher Eine Produktion des Deutschlandfunks 2023. Atmo Bühne ich sing für dich dies Lied. 1