Hörspiel Feature Radiokunst Das Feature Gefälschte Stahlwerke und Bahnhöfe Die vergessene Geschichte der Scheinanlagen Autor: Rebekka Endler Regie: Susanne Krings Redaktion: Wolfgang Schiller Produktion: Deutschlandfunk 2018 Erstsendung: Dienstag, 04.12.2018, 19.15 Uhr Wiederholung: Dienstag, 07.05.2024, 19.15 Uhr Es sprachen: Michael Kamp, Matthias Ponnier, Hans-Gerd Kilbinger, Thomas Balou Martin, Justine Hauer und die Autorin Ton und Technik: Eva Pöpplein und Roman Weingardt Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - O-Ton Niedworok: Unser Anliegen ist es, Geschichte lebendig zu halten, weil das, was hier passiert ist, nicht so weit weg von unseren Tagen ist, nicht so weit weg von den Ereignissen, die sich heute noch überall auf der Welt und auch ganz in der Nähe abspielen. Rebekka: Wir sind hier in dem Bunker, das hat schon etwas Beklemmendes, auch wenn wir draußen ein bisschen Natur hören. Aber die Vorstellung dass hier auch Menschen länger als zwei Jahre lang tagein tagaus gesessen haben und. Niedworok: Und - auf einer Zielscheibe gesessen haben. Rebekka: Auf einer Zielscheibe. Knob: Die haben gesagt: Hier müsst ihr hinschmeißen. Wir wollen's haben. (Schweigen) Sprecherin Gefälschte Stahlwerke und Bahnhöfe Die vergessene Geschichte der Scheinanlagen Ein Feature von Rebekka Endler (Atmo Rottberg) O-Ton Niedworok: Wir können weiter unten den Hof von Bauer Böllert sehen, der damals getroffen wurde. Da sieht man das auch heute noch im Giebel, wo dann geflickt wurde. Rebekka: Ich stehe auf dem Rottberg, einem unauffälligen kleinen Hügel bei Velbert, zwischen Wuppertal und Essen. Drum herum gibt es vereinzelt ein paar Höfe, Fachwerkhäuser, und wenn nicht gerade Industriesmog in der Luft hängt, dann hat man von hier aus eine gute Sicht, manchmal bis nach Essen. Die Stadt - und mitten drin die Krupp Gussstahlfabrik - liegt nur etwa zehn Kilometer Luftlinie entfernt. Josef Niedworok hat mich vom Bahnhof in Velbert abgeholt. Gemeinsam sind wir die wenigen Kilometer zum Rottberg raufgefahren. O-Ton Niedworok: Es gab, in dieser Region immer Gerüchte und Geschichten über ein Scheindorf, wo die Männer während des Krieges des Nachts hingegangen sind, um Feuer anzuzünden und um feindliche Bomber anzulocken. Es gab Geschichten von einer Eisenbahn, die hier auf dem Rottberg gefahren ist, die das Werk simulieren sollte. Fantastische Geschichten deren Glaubwürdigkeit damals häufig in Frage gestellt wurde. Rebekka: Hauptberuflich ist Josef Niedworok Architekt, in seiner Freizeit ist er Geschichtsdetektiv. O-Ton Niedworok: Wir sind ehrenamtliche Bodendenkmalpfleger beim Landschaftsverband Rheinland. Sprecher: Die ehrenamtlichen Bodendenkmalpfleger beschäftigen sich mit archäologischen Themen, von der Steinzeit bis zur Neuzeit. Rebekka Ein anderer, der ebenfalls mit diesen Geschichten aufgewachsen ist, ist Jürgen Lohbeck. O-Ton Lohbeck: Ich weiß davon seit Kindertagen. Wenn man so will. Mein Vater ist dort zur Kriegszeit groß geworden, also von hier aus zwei Kilometer weg ungefähr. Rebekka: Jürgen Lohbeck wohnt keine 10 Minuten vom Rottberg entfernt. O-Ton Lohbeck: Mein Vater... der ist dann 1941 ist die Scheinanlage gebaut worden. Da war er, jetzt muss ich mal überlegen, 13, 14 Jahre alt so, das heißt, er das mitbekommen. Zitator 1 "Die Anlage war zwar militärisches Sperrgebiet, fand aber dennoch das Interesse von uns Jungs. Wir sind dann, obwohl es verboten war, oft da gewesen. Wir haben halt beobachtet, was sich so tut." Rebekka: Das ist ein Bericht von Jürgen Lohbecks Vater, Günter. Immer wieder hat ihm sein Vater von der Scheinanlage erzählt und ihm das Gelände gezeigt. Der Sohn hat die Erinnerungen des Vaters vor dessen Tod dokumentiert, als er ein Buch über die Kriegserfahrungen der Menschen rund um Velbert geschrieben hat. Inzwischen arbeitet Lohbeck an seinem siebten Buch zur Lokalgeschichte. O-Ton Lohbeck: Das war für mich dann, nachdem mein Vater schon einige Jahre tot war, doch der Anlass, ja, diese Anlage mal so ... aus der Geschichte mal wieder herausholen, im Prinzip aus dem Dunkel der Geschichte. Weil ich das doch schon sehr interessant fand. Sprecher: Im Jahr 2008 erfährt Jürgen Lohbeck von einer Luftbild-Datenbank in Würzburg, wo man historische Luftbilder bekommen kann. Auf gut Glück bestellt er Aufnahmen vom Rottberg. O-Ton Lohbeck: Und so bin ich dann auf drei Luftbilder, praktisch, gestoßen. Sprecher: Die Aufnahmen, die Jürgen Lohbeck geschickt bekommt, stammen von britischen Luftaufklärungsflügen aus den Jahren 1941, 44 und 45. O-Ton Lohbeck: Wenn man das übereinander gelegt, hat man auf den Bildern praktisch das drauf, was ich mir so nie richtig vorstellen konnte. Man konnte das dann plötzlich sehen, aus der Luft. Rebekka: Das, was da zu sehen ist, sind Anlagenteile, die ehrlich gesagt für mich nicht von Wohnhäusern, oder Ställen zu unterscheiden sind. Für die britische Luftaufklärung schien allerdings schon 1941 klar zu sein, dass dort Seltsames vor sich ging. Denn, ebenfalls auf den Bildern zu sehen ist, sind Einkreisungen, die jemand von Hand vorgenommen hat. Verdächtige Stellen sind markiert worden. O-Ton Lohbeck: Das war ein Volltreffer, ja genau, richtig. Rebekka: War Ihnen zu dem Zeitpunkt schon klar, was für ein Ausmaß diese ganzen Scheinanlagen deutschlandweit hatten? Lohbeck: Nein, hatte ich auch keine Kenntnisse von. Musik Zitator 3 "Das Scheindorf war militärisches Sperrgebiet. Es war nicht umzäunt, aber entsprechend beschildert und Soldaten passten natürlich auf. Die direkten Anwohner durften sich bewegen, mussten aber auf den Wegen bleiben." Rebekka Die Hobbyhistoriker haben für ihre Recherche zur Scheinanlage gemeinsam zahlreiche Zeitzeugen befragt. Leider gibt es davon keine Tonaufnahmen; und die meisten Zeitzeugen sind inzwischen verstorben. Zitator 3 "Wir Jungs aus der Gegend haben uns tagsüber schon mal reingeschlichen und umgesehen, wir fanden das sehr interessant. Das war natürlich verboten, Sperrgebiet. Es gab kleine Motorlokomotiven, die nachts rumfuhren, es gab Fabrikdächer, nicht so hoch wie wirkliche. Und es gab einen Gasometer, der aber auch nicht so hoch war wie ein echter. Die ganze Anlage war aus Holz, Pappe und Segeltuch gebaut. Wir haben manchmal Kartuschen geklaut und woanders angezündet und abgebrannt. Wir haben damals sehr viel Unsinn gemacht." Zitator 1 "Mit einfachen Baumaterialen wurden Attrappen von Fabrikhallendächern aufgestellt und verschiedene andere Anlagenattrappen. (...) All das wurde nachts schwach beleuchtet, zudem gab es künstliche Feuer, die Gießereiöfen und andere Stahlherstellung simulieren sollten." O-Ton Lohbeck:Also es gab bis zum, Ja, bis zu dem Zeitpunkt, wo wir eigentlich, Ende 2011, wo wir angefangen haben das Thema zu dokumentieren, auch, gab es... man kann sagen in Deutschland eigentlich gar keine Dokumentation, vernünftige dazu. Oder irgendwelche Bücher. Es gab ein Buch, in dem darüber berichtet wurde. Das heißt: Der zivile Luftschutz. Da sind also alle möglichen Schutzmaßnahmen beschrieben, praktisch. Sprecher: "Der zivile Luftschutz" ist eine Veröffentlichung von Erich Hampe, deutscher Wehrmachts-Offizier und späterer Präsident der neu-gegründeten Bundeszentrale des deutschen Luftschutzes. Hampe verfasste nach seiner Pensionierung 1963 das einzig bekannte deutsch-sprachige Werk, in dem von Scheinanlagen die Rede ist. Zitator 2: "Scheinanlagen sollen dem Gegner ein nicht vorhandenes Angriffsziel- oder Beobachtungsziel vormachen. Man versprach sich von ihnen nicht mit Unrecht eine gute Wirkung dadurch, dass angreifenden Fliegern bei der durch die Tarnung und Verdunklung der Objekte erschwerten Zielsuche der Eindruck des vermeintlich richtigen oder eines sonst lohnenden Zieles willkommener Anlass sein würde, ihre Bomben zu werfen und abzudrehen, zumal wenn sie durch Flakbeschuss oder Jagdabwehr bedrängt wurden." Rebekka: Seit Kriegsbeginn sitzen in der Krupp-Gussstahlfabrik Nationalsozialisten im Vorstand. Die Wehrmacht bestimmt die Sollzahlen der Rüstungsproduktion, und das Prestigeobjekt der Artillerie, die Kanone "Dora", das weltweit größte mobile Geschütz, das jemals im Einsatz war, und zwar genau einmal, wird ebenfalls hier in Essen hergestellt. Die Fabrik, die nicht zu Unrecht den Beinamen "Waffenschmiede des Deutschen Reiches" hat, ist besonders kriegswichtig und soll geschützt werden. Zitator 1 Gegen Ende 1940 hörten wir davon, dass die Bauern auf dem Rottberg Teile ihres Landes für eine militärische Anlage abgeben müssen. Diese wurde innerhalb kürzester Zeit erbaut." O-Ton Lohbeck: Wir wissen das nicht ganz genau, wie das lief. Wir wissen aber sehr wohl, dass diejenigen, die das Land nicht freiwillig abgegeben haben, im Prinzip auch enteignet wurden. Rebekka: Für die Anwohner bedeutet das, die Felder sind weg. Die Häuser und Höfe dürfen sie behalten. Zumindest tagsüber. Zitator 1 "Ich habe als Kind auf dem Hof Kampmann gelebt. Wir wurden mit unseren Müttern abends zeitweise sogar mit dem Bus abgeholt und zum Nieding gebracht. Die Männer kamen dann später nach, weil sie noch das Vieh versorgen mussten." Sprecherin Julie Figge Zeitzeugin "Die Leute kamen im Sommer gegen 22 Uhr. Im Winter natürlich früher. Auf dem Rottberg wollte nachts niemand sein, denn es war wegen der Bomben sehr gefährlich, und jeder hatte Angst. Morgens um 6 sind die Leute dann zurückgegangen, die Kühe mussten gemolken werden." Zitator 3 "Wir mussten nachts auch Evakuierte aufnehmen. Ich höre immer noch meinen Vater, der ein überzeugter Gegner der Nazis war, über das Scheindorf schimpfen: So ein Blödsinn!" Rebekka: Die ehrenamtlichen Historiker wissen nicht genau, wie viele Menschen von den Evakuierungen betroffen gewesen sind. Wahrscheinlich zwischen einhundert und zweihundert. O-Ton Lohbeck: Wir haben leider niemanden mehr sprechen können, der diese frühe Phase da mitgemacht hat. Das heißt, um diese Leute befragen zu können, waren wir ein paar Jahre zu spät. Sprecher: Im Herbst 1941 beginnen die Allierten großflächige Bombardements auf deutsche Städte. Anfangs werden die Angriffe vor allem bei Tag geflogen. Rebekka: Bomberangriffe bei Tag sind zielgenauer, denn die Piloten fliegen damals nur auf Sicht und die ist tagsüber besser. Aber das gilt auch für die Soldaten in den Flak-Stellungen. Während der Tagangriffe werden so viele Flugzeuge abgeschossen, dass die Royal Airforce dazu übergeht, nachts anzugreifen. Sprecher: Die Verlagerung der feindlichen Angriffe in die Nacht macht die "Verdunklung" zu einer der wichtigsten Voraussetzungen für die nächtliche Tarnung. Rebekka: Ist die Verdunklung für Wohnungen und Häuser vergleichsweise einfach, stellt sie für Industrieanlagen eine große Herausforderung dar. Auch deswegen setzt man auf Attrappen. Sprecher Bei Essen ist mit dem wenig bewohnten Rottberg, nahe am Krupp-Stahl-Werk, schnell der ideale Ort dafür gefunden. O-Ton Rebekka: Das heißt ... Da kam wahrscheinlich jemand vorbei an der Tür klopft von... vom Luftschutz, oder wer wird das gewesen sein? Lohbeck: Das ist eine gute Frage. Gebaut hat die Anlage ja die sogenannte Organisation Todt. Sprecher: Die Organisation Todt ist eine paramilitärische Bautruppe unter der Leitung des NSDAP-Bauingenieurs Fritz Todt, die Baumaßnamen innerhalb Deutschlands, sowie in den vom Dritten Reich besetzten Gebieten erledigt. Auch die sogenannte Siegfried Linie und der Atlantikwall werden von der Organisation Todt, kurz OT, erbaut. Zitator 1 "Im barackenähnlichen Haus Winnacker, war während der Bauzeit die Organisation Todt untergebracht. Die OT hat die Anlage gebaut und war später auch noch da. Ich schätze, es waren 20 bis 25 Mann." Sprecher: Nach dem Bau der Anlage Ende 1940 wird sie wahrscheinlich im Herbst 1941 einer Sondereinheit der Luftwaffe übergeben und in Betrieb genommen. Atmo Rottberg O-Ton Niedworok: Und wir befinden uns aber hier in dem zentralen Teil wo also die Eisenbahn gekreist ist. Zitator 3 "Die Scheineisenbahn hatte zwei Gleisstrecken und es fuhren auch zwei Eisenbahnen, gegenläufig. Jede Lock hatte fünf, sechs Loren, sie waren beleuchtet und nachts machte man darin ebenfalls Feuer. Das sollte so aussehen, als ob man noch glühende Stichreste abfährt. Die Züge waren natürlich unbemannt, sie fuhren solange, bis einer aufsprang und sie anhielt, oder der Sprit ausging." Rebekka: Die gesamte Anlage erstreckte sich über eine Fläche von zweieinhalb Quadratkilometern. Dabei hielt man es für ausreichend, nur einzelne Anlagenattrappen aufzustellen, um die Bomberpiloten in 2.000 Meter Höhe zu täuschen. Zitator 1 "Es gab einen Schornstein, der war genau 36 Meter hoch. Das haben uns die Soldaten erzählt. Er war aus einem spanplattenähnlichen Material auf einem Betonfundament und mit vier schweren Stahlseilen abgespannt. Wir Kinder durften unter Begleitung der Soldaten sogar mal dort hochklettern." Rebekka: Bis heute lassen sich nicht alle Attrappenteile eindeutig identifizieren und zuordnen. Zitator 3: "In einem kleinen Wäldchen war ein Raketenstützpunkt eingerichtet. Von dort aus wurden die zum Schein positionierten falschen "Christbäume" hochgeschossen. Die Raketen wurden direkt aus ihren Transportkisten hochgeschossen, die schräg hochgestellt wurden." Ton Niedworok: Vielleicht haben Sie schon mal den Begriff Christbäume gehört? Es gab also bevor die Bomber Verbände kamen, sogenannte Pathfinder. Also Flieger, die die Ziele ausgemacht haben. Und wenn sie sich sicher waren, dass das Ziel, dass man sich in dieser Nacht vorgenommen hat, erreicht war dann wurden Leuchtraketen abgeschossen. Das machte dann den Eindruck, wie so ein Silvesterfeuerwerk. Sprecher: So wurde den nachfolgenden Bombermaschinen signalisiert, wo sie ihre Ladung abwerfen sollten. Rebekka: Die Schwierigkeit bestand darin, die für diesen Tag eingesetzte Farbe der Erfolgsfeuer richtig zu erraten. Denn die wechselte täglich, sagt Josef Niedworok. Sprecher Die Wehrhaftigkeit der Scheinanlage, war ein wesentlicher Bestandteil ihrer Glaubwürdigkeit. Deswegen haben echte Flakstellungen die Scheinanlage verteidigt und das Feuer auf anfliegende Bomber eröffnet. Drei solcher Flugabwehrgeschütze gehörten zu der Krupp'schen Nachtscheinanlage. Rebekka Letzter Special Effekt war, dass Bomben, die auf die Attrappen fielen, den Eindruck erwecken mussten, tatsächliche Ziele getroffen zu haben. Deswegen waren in den Attrappen zusätzliche Explosionskörper versteckt, die auf Knopfdruck detonierten. Alle Attrappen-Teile waren dazu mit kilometerlangen Kabeln verbunden, und alle Leitungen führten zu einer großen Schalttafel im Leitbunker, von der aus die Feuer und Explosionen ferngesteuert gezündet wurden. O-Ton Niedworok: Der Bunker ist von hier etwa fünfhundert Meter entfernt. Atmo Autofahrt Rebekka: Vom Rottberg aus fahren Herr Niedworok und ich ein paar Minuten über eine kurvige Landstraße. O-Ton Niedworok: Da sieht man jetzt den Bunker. Wenn sie über die Wiese schauen direkt links von diesem großen Strommasten. Rebekka: Ah ja. ungefähr so groß, wie zwei Wohncontainer. Atmo: Ankommen am Bunker, Autotür O-Ton Niedworok: Das ist der Herr Knob. Das ist Frau Endler. Rebekka: Hallo, Rebekka Endler. Niedworok: Herr Knob ist das jüngste Mitglied in unserem Team. Ich glaube das sieht man nicht sofort. (lachen) Rebekka: Bernd Knob ist Elektrotechniker und ebenfalls Hobbyhistoriker ... O-Ton Rebekka: Umgeben von Idylle und Pampa... Und wenn ich sehe Zucchini-Beten, ein bisschen Schrott und Strommasten. Einen Bunker. O-Ton Niedworok: Dieser Bunker hat für sich eine ganz spannende Erhaltungs-Geschichte. Sämtliche Luftschutz-Bauwerke wurden unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg als kriegerische Einrichtungen beseitigt. Der Vater des Landwirts, dem das Land bis vor kurzem hier gehört hat, hat also die Briten seinerzeit überzeugt, dass dieses Gebäude wichtig wäre für die Lebensmittelproduktion. Das ist also eine landwirtschaftliche Einrichtung ist. Vielleicht hat er eine Kuh da reingestellt, um das Ganze glaubhaft zu machen. Und so sind die Briten wieder abgezogen... Rebekka: Der Leitbunker der Krupp'schen Nachtscheinanlage ist übrigens der einzige erhaltene Leitbunker in ganz Deutschland. Sprecher: Nach Ende des Krieges ließen die Besatzungsmächte alle Bauwerke, die kriegerischen Zwecken dienlich sein konnten, unbrauchbar zu machen. Meistens wurden sie gesprengt, oder zumindest angesprengt. Große Teile des Westwalls, und seiner Bunker sind auf diese Weise zerstört worden. Heute ist man dazu übergegangen, dass man die noch verbleibenden Anlagenteile nicht nur aus Naturschutzgründen, weil sich dort einzigartige Biotope angesiedelt haben, erhalten möchte, sondern auch um Geschichte lebendig zu halten,. Atmo O-Ton Rebekka: Das... ist das ein Einschussloch? Nee... O-Ton Niedworok: Das sind die Öffnungen, aus denen die Stromleitung hinausgeführt wurden. Das haben wir dann am Tag des offenen Denkmals 2013 hier anhängen können. Damals ist also auch die Denkmalbehörde hier vor Ort gewesen hat uns also dann auch da unterstützt. Und seitdem ist es unter Schutz gestellt. Rebekka: Die Denkmalplakette hängt heute am Eingang des Bunkers. Josef Niedworok und seine Kollegen sind sich bewusst, dass eine Denkmalplakette an einem Wehrmachts-Bunker zumindest auf den ersten Blick seltsam anmutet... O-Ton Niedworok: Man fragt sich vielleicht warum stellt man einen so blöden Betonklotz als Denkmal in die Denkmalliste. So richtig hübsch ist das nicht. Wenn das jetzt eine Ritterburg wäre, oder ein Stück des römischen Limes, was ja im Grunde genommen auch nur Einrichtungen sind die übrig geblieben sind von zivilisatorischen Auseinandersetzungen oder kriegerischen Auseinandersetzungen früherer Tage. Dann würden wir uns diese Frage nicht stellen, weil wir diese Zeitperioden heutzutage eher romantisch verklären. Rebekka: Trotzdem hat es das Amt für Bodendenkmalpflege manchmal schwer hat, Bauwerke unter Denkmalschutz zu stellen. Die Flakstellungen an der Nachtscheinanlage sind so ein Beispiel: O-Ton Lohbeck: Wir vermuten also, dass der Eigentümer des Grund und Bodens der Flak-Stellung die Information irgendwie bekommen hat, dass also da möglicherweise auch ein Bodendenkmal-Verfahren angeleiert werden könnte. Rebekka: Und was macht jemand, der befürchtet, dass etwas, das auf seinem Grund und Boden steht, womöglich zum Denkmal werden könnte? O-Ton Lohbeck: Und ich bin die Rottberger Straße lang gefahren und ich hab da oben an der Stellung hab ich einen Bagger gesehen. Rebekka: War ihnen dann sofort klar, was da gerade passiert? Lohbeck: Ich hab's befürchtet, sag ich mal. Ich bin dann da hingefahren und tatsächlich war der Bagger da am Werk. Rebekka: Die Flakstellung wurde zerstört. Letztendlich kann jeder mit seinem Eigentum tun und lassen, was er will, solange kein Denkmalschutz besteht. Der Eigentümer des Grundstücks, auf dem der Leitbunker steht, war zum Glück von Anfang an auf der Seite der Denkmalschützer. O-Ton Niedworok: Gehen wir mal rein... Rebekka: Der Bunker ist, wenn man so will, nicht nur das Herzstück der Scheinanlage, sondern auch der Ausgangspunkt aller Recherchen. Denn hier haben sie sich zufällig zum ersten Mal getroffen, die Mitarbeiter der Bodendenkmalpflege. O-Ton Niedworok: Und so gab es zwei Mitarbeiter die hier im Jahr 2011 hingekommen sind, die eigentlich wegen einer ganz anderen Angelegenheit - da ging es um einen mittelalterlichen Hohlweg - ... und mit denen bin ich dann ins Gespräch gekommen. Dass hier auf diesem Gelände ein Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg ist, der einer solchen Scheinanlage eventuell zuzuordnen ist und zufällig hatten die beiden gerade einen Fundbericht abgegeben, das ist also die Dokumentation einer archäologischen Forschung. Rebekka: Dieser Fundbericht behandelt die Geschichte des echten Krupp Werks im zweiten Weltkrieg. O-Ton Niedworok: Und bei den Recherchen zu diesem Krupp-Lager ist also einer der Mitarbeiter im Krupp-Archiv gewesen, auf Villa Hügel, und hat dort also einen Hinweis gefunden, auf eine Nachtscheinanlage. O-Ton Lohbeck: Die hatten auch keine Luftbilder, die hatte ich. Und so kamen im Prinzip Leute zusammen, jeder hatte Bausteine, sozusagen und diese Bausteine haben sich dann zusammengefügt, zu einem Gesamtbild und dann haben wir gemeinsam weiter geforscht. O-Ton Niedworok: Das hier ist eine so genannte Splitter-Schutzwand, der ganze Eingang ist also ein wenig labyrinthisch geführt, so dass also auch hier Sprengbomben und Splitter nicht in den Bunker eindringen konnten. O-Ton Rebekka: Wieviel von dem was hier steht ist Original-Einrichtung? Niedworok: Nichts. Niedworok: Es gab hier Reste der Elektroinstallation und es gibt diese Schiebe-Scharten. Wir heißen die? Knob: Scharten-Verschluss. Niedworok: Scharten-Verschlüsse. Die sind original. Rebekka: Damit lassen sich die Sehschlitze, die in allen vier Wänden sind, im Falle von Granaten, oder Sprengbomben-Abwürfen verschließen. Atmo Geräusch der Scharten Ton Rebekka: Man kann sehr sehr weit sehen. Knob: Bis zu den Krupp-Werken. Rebekka: Ach, das ist das eigentliche Krupp-Werk? Niedworok: Ja, das ist die Richtung Essen. Rebekka: Das sind 10 Kilometer Luftlinie ungefähr, oder? Sprecher: Neben den Soldaten in den Flakstellungen, waren fünf bis sechs weitere Soldaten nötig, um die Anlage vom Bunker aus zu steuern. Vier, um an den Scharten Ausschau nach anfliegenden Bombern zu halten und einer, der die elektronische Schalttafel mit allen Effekten bediente. Und noch einer, der über Funk und Telefon Kontakt zu anderen Einheiten der Umgebung hielt. Rebekka: Die Bunkerwände sind über einen Meter dick, deswegen ist der Innenraum des Bunkers deutlich beengter, als es von außen aussieht. Vier, fünf Schritte kann man von einer Wand zur gegenüberliegenden gehen. In der Mitte steht ein eckiger Tisch mit einfachen Holz-Stühlen. Darauf zwei alte, schwarze Telefone. O-Ton Niedworok: Aber es gibt auch Berichte und Dokumente darüber, wie so etwas ausgesehen hat und dann wird es auch gerade, jetzt im Moment mit ähnlichem Material hier eine Attrappe geschaffen, wo wir dann aber natürlich aber auch deutlich machen, dass es nur einen Rekonstruktions-Versuch ist, denn den genauen Eindruck es gibt keine Innenraum Fotos, den kann man nicht mehr genau gewinnen. Rebekka Was damals ganz sicher nicht im Innenraum hing, sind die großen Rahmen aus Alu und Kunststoff. In ihnen sind Skizzen und Bauanleitungen für Attrappen ausgestellt. O-Ton Niedworok: Das sind zum Beispiel jetzt aus dem Militärarchiv aus Freiburg die Bau- und Betriebs Grundsätze für Scheinanlagen. Diese Dinge... Rebekka: Geheim Ausrufezeichen, einmal unterstrichen. Niedworok: Das ist ein Originaldokument. Also ein Faksimile, aber es ist ein Originaldokument. Man kann also sehen, dass da die Bauanleitungen detailliert aufführen, wie diese Täuschungsgeräte zu bauen sind. Sprecher: "Bau- und Betriebsgrundsätze für Scheinanlagen" ist eine streng geheime Broschüre, herausgegeben vom Reichsministerium für Luftfahrt und dem Oberbefehlshaber der Luftwaffe. In der Ausgabe von November 1942 sind 21 verschiedene Täuschungsgeräte mit Bauanleitung und Materialaufwand detailliert erklärt. O-Ton Niedworok: Das ist zum Beispiel ein rundes Täuschungsgerät, das nennt sich also Schlackenpfanne, also eine industrielle Attrappe. Das ist das Leuchtgatter, von dem ich gesprochen habe. Das sieht im Grunde genommen so aus, wie ein Hühnerstall oder Baucontainer, der mit Holz beschlagen ist und zwischen den Verschalungen der Wände sind schmale Fugen offengelassen und durch diese Fugen sollte also ein Lichtschein nach außen dringen, so dass es den Eindruck machte, dass die Verdunklung des Industriewerks nicht vollständig funktioniert hat. Sprecher: Der paramilitärische Bautrupp der Organisation Todt, der die Anlage baute, musste auf dem Rottberg keine Pionierarbeit leisten. Alle Anlagenteile wurden zuvor ausgiebig erforscht und getestet. Bei Hamm gab es ein großes Versuchsfeld, wo Attrappen für Scheinanlagen konzipiert, gebaut und von Flugzeugen überflogen wurden, um sicherzustellen, dass sie echt wirkten. Eine Scheinanlage, die nicht aus dem Katalog war, war die Scheindarstellung der Lombardsbrücke und der Binnen-Alster in Hamburg. Ein aus heutiger Sicht skurril anmutendes Projekt, das auch Erich Hampe in seinem Buch beschreibt. Atmo Bombergeräusche Zitator 2 Weil feindliche Flieger sich bei Angriffen auf den Hamburger Hauptbahnhof an der Binnenalster und ihren Brücken zu orientieren schienen, wurde unter erheblichem Aufwand die gesamte Wasserfläche der Binnenalster zugedeckt. Parallel dazu baute man im gleichen Abstand zu den Straßenzügen eine Brücken-Attrappe über die Außenalster aus Holz nach. Dadurch wurde eine Lage des Hamburger Hauptbahnhofs und der Lombardsbrücke vorgetäuscht, die um die Länge der Binnenalster nach Norden verschoben war. Sprecher: Wie lange und wie erfolgreich die Tagscheinanlage in Hamburg betrieben wurde, darüber schreibt Hampe nichts. Auch nicht, ob die Bombardierung der Attrappe mitten im Wohnviertel Tote forderte. Rebekka: Übrigens wurden auch Wassermassen verschoben, um die Glaubwürdigkeit der Krupp'schen Nachtscheinanlage zu erhöhen. Der Baldeneysee, ein Stausee an der Ruhr nur wenige Kilometer von der Anlage entfernt, wurde zeitgleich mit dem Bau der Scheinanlage Anfang 1940 abgelassen und in Äcker umgewandelt. Das sollte die Orientierung anhand der Wasseroberfläche unmöglich machen. O-Ton Lohbeck: Und man hat uns berichtet, wobei wir das bisher nicht nachweisen konnten, dass man sogar im Zuge dieser Schein- und Täuschungs- Maßnahmen, irgendwo auf freien Feldern den Baldeneysee an falscher Stelle nachsimuliert hat. O-Ton Rebekka: Haben Sie irgendeine Idee, wie das funktioniert haben soll? Lohbeck: Nein, haben wir nicht. Ausgelegt mit Folien, oder mit irgendwelchen... wissen wir nicht genau. Mag eine Legende sein. Da gibt es keinen Ansatz, zu dem wir da verfolgen. Sprecher: Die vielleicht bekannteste und größte Scheinanlage in Deutschland war der Scheinbahnhof "Brasilien". Eine Attrappe, die in der kleinen Stadt Lauffen, nahe Stuttgart errichtet wurde, um vom Stuttgarter Hauptbahnhof abzulenken. Wie die Krupp'sche Anlage, war "Brasilien" eine Nachtscheinanlage. Rebekka: Über die Wirksamkeit von "Brasilien" lässt sich streiten. IN der Gegend rund um Laufen hat in der Zeit vom 22. August 1940 bis März 1945 37 Luftangriffe gegeben. Angriffe, die womöglich dem Stuttgarter Hauptbahnhof galten. Die Anlage des riesigen Scheinbahnhofs selbst, wurde aber kaum getroffen. Zitator 2 "Das war eine totale Pleite, die vom deutschen Militär schöngeredet wurde", Sprecher schreibt Günter Keller in seinem Buch über die Scheinanlage "Brasilien". Keller ist pensionierter Lehrer und, ebenso wie Jürgen Lohbeck und Jospeh Niedworok, Hobbyhistoriker. Er hat in den letzten Jahren, quasi im Alleingang, die Geschichte der Scheinanlage in seiner Heimat Stuttgart untersucht. Er hat in Militärarchiven geforscht, Dokumente zusammengetragen, Zeitzeugen gesprochen. Nach Jahren der Recherche kommt Keller zu dem Schluss, dass die Bedeutung der Anlage überbewertet wurde. Rebekka Was die Wirksamkeit der Scheinanlagen angeht, wissen wir wenig. Selbst Erich Hampe, der ehemalige Präsident des deutschen Luftschutzes, schreibt dazu. Zitator 2: "Da die Aufzeichnungen über die Bombenabwürfe auf Scheinanlagen, die beim Arbeitsstab Luftschutz des Generalstabes der Luftwaffe gesammelt wurden, kaum noch vorhanden sein dürften, kann heute wohl niemand mehr etwas Genaues über den Gesamterfolg der Scheinanlagen sagen. Sicher ist, dass sie bis zum Jahre 1942, d. h. solange die Orientierung und Zielsuche feindlicher Luftstreitkräfte überwiegend auf optischer Sicht beruhte, einen bemerkenswerten Anteil der vom Feind abgeworfenen Bomben auf sich gezogen haben." Rebekka: Grundsätzlich schätzt Hampe also den Erfolg der Attrappen deutlich höher ein, als die Hobbyhistoriker, die sich heute mit der Materie beschäftigen. Zitator 2: "Es ist bekannt geworden, dass vom Frühjahr 1940 bis zum Frühjahr 1941 im Bereich des Luftgaukommandos Münster, der das gesamte rheinisch-westfälische Industriegebiet einschloss, ein Viertel aller abgeworfenen Sprengbomben und dazu Brandbomben in sehr großer Zahl auf Scheinanlagen oder in ihre unmittelbare Nähe gefallen sind. Auf einzelne Objekte und Angriffe bezogen, wurden damals sogar häufiger hundertprozentige Erfolge festgestellt." Rebekka: Da Hampe keine Quellen nennt, lässt sich diese hundertprozentige Erfolgsquote einzelner Anlagen heute nicht nachprüfen. Eine Anlage, für die sich die Erfolgsquote genau bestimmen lässt, ist die Krupp'sche Nachtscheinanlage. Im Leitbunker der Scheinanlage hängt heute eine mit Schreibmaschine getippte Statistik an der Wand. O-Ton Niedworok: Das ist nicht die Originaltabelle, aber die Werte sind Original, die also auflistet: Im Januar ist ein 41, 42 bis 43 in jedem Monat, wie viel Spreng und Brandbomben - das sind Brandbomben, das sind Sprengbomben und Minen auf die Scheinanlage niedergegangen sind, und auf die echte Fabrik. Rebekka: Die Werkluftschutzleitung der echten Krupp Werke hat zwischen dem Sommer 1941 und Januar 1943 Buch geführt. Sprecher Gesamtsumme der Sprengbomben und Minen auf die Scheinanlage: 70. Auf die echte Fabrik: 48. Brandbomben auf die Scheinanlage: 5.665, auf die echte Fabrik 1577. O-Ton Niedworok: Man kann also jetzt hier auch an den Summen sehen, dass die Anlage in der Zeit, in der sie hauptsächlich betrieben wurde, also bei den Brandbomben beispielsweise mehr als das Dreifache auf sich gezogen hat als das echte Krupp-Werk. Sprecher: Die Einführung des mobilen Radars beendet Anfang 1942 die Wirksamkeit von Scheinanlagen. Parallel dazu macht das Präzisions-Bombenzielsystem "Oboe"... - das für "Observer bombing over enemy" steht - genaue Abwürfe, auch ohne gute Sichtbedingungen aus großen Höhen möglich. Nach der Enttarnung des Scheinwerkes, dauert es nicht lange bis großflächige Angriffe auf das echte Essener Krupp Werk geflogen werden. Anfang März 1943 werfen die Alliierten 30.000 Bomben ab und beschädigen die Produktion nachhaltig. Zitator 3 "Kurz vor Kriegsende ist die Scheinwerfereinheit von Tieffliegern angegriffen worden. Meine Schwester, die gerade draußen war, ist um ihr Leben gelaufen. Bei dem Angriff wurde der Scheinwerfer zerstört, und der Soldat Johann Denk ist so schwer verletzt worden, dass er später gestorben ist." Rebekka: Der Soldat Johann Denk ist der einzige Mensch, der im Zusammenhang mit der Scheinanlage gestorben ist. Die Enttarnung durch die Briten läutet das Ende der Krupp'schen Nachtscheinanlage ein, aber sie wird nicht von jetzt auf gleich aufgegeben. Offensichtlich erhofft man sich, dass sich vielleicht doch noch der ein oder andere Bomber auf dem Rottberg verirren würde. Bis Ende 1943 wird die Anlage noch betrieben. O-Ton Lohbeck: 44 ist die Anlage schon stillgelegt worden. Sie ist aber dann mehr oder weniger betriebsbereit wohl erhalten worden. Zitator 1 "Zu unseren Aufgaben als Feuerwehr gehörte es, die Anlage, die ja immer noch militärisches Sperrgebiet war, zu bewachen. So sind wir, wenn ich im Dienst war, tagsüber und auch nachts an der Anlage regelmäßig Streife gegangen." Sprecher: Die Wehrmachtssoldaten, die die Nachtscheinanlage betreiben, sind in dieser Zeit ebenfalls noch am Rottberg stationiert. Einer von ihnen ist Obergefreiter Friedrich Voßmeier. Wie auch andere, die Jahre auf dem Rottberg verbracht haben und von dem Menschen dort auch verköstigt wurden, hat Voßmeier familiäre Beziehungen zu seinen Wirten, besonders zu der kleinen Tochter, Helga Böllert, der er zum Geburtstag schreibt. Zitator 3 Liebe Helga, zu deinem heutigen Wiegenfeste wünsche ich Dir das Allerbeste. Drei Jahre sind nun bald vergangen, wo ich bei Euch hab angefangen täglich hier in Kost zu geh'n, ja, die Kost war gut und schön. Doch ein's Helga, sag ich Dir, Du warst steht's lieb und nett zu mir. Hast mir frohe Stunden bereitet und über manchen Kummer hinweggeleitet. Die Freuden, die ich sonst zu Haus gehabt, gabst Du mir meiner Kinder statt. (....) Der liebe Gott wolle Dir geben, im Segen noch viele Jahre zu leben. Und allen wolle Er bald schenken, hienieden, des Krieges Ende, den Frieden. Obgefr. Fritz Voßmeier" Rebekka: Zwei Monate nachdem Fritz Voßmeiner diesen Geburtstagsgruß geschrieben hat, am 16. April 1945, erhält er seine Entlassungspapiere aus der Wehrmacht und darf nach Hause. O-Ton Lohbeck: Das ist genau der Tag wo in Velbert die amerikanischen Truppen praktisch eintrafen. Musik O-Ton Lohbeck: Wir haben ja einen britischen Katalog da sind 300 Anlagen drin, dokumentiert, erwähnt... Rebekka: Also wahrscheinlich gab es noch mehr? Lohbeck: Genau, denn dieser Katalog heißt: "Gazetteer of Decoys, photographically confirmed". Rebekka: Also: Ortsverzeichnis von fotographisch bestätigten Attrappen. Dieser Katalog ist von 1944. O-Ton Lohbeck: Es wird dann natürlich noch eine ganze Menge gegeben haben, die nicht erkannt waren, oder vielleicht bis Kriegsende gar nicht erkannt wurden. Rebekka: 300 Scheinanlagen also, die durch die Luftaufnahmen von der Royal Air Force als solche erkannt und bestätigt wurden, werden darin aufgeführt. O-Ton Lohbeck: Über diese Zahl... da wird öfters diskutiert. Also diese 300 haben wir mal irgendwann genannt. Vor Jahren schon, weil es eben über diesen Katalog nachgewiesen ist. So dann ging ein Aufschrei, durch die anderen Forscherkreise, im Prinzip: Nein, das waren viel mehr. Aber beweisen kann es keiner, letztendlich. Also ein paar Hundert werden es gewesen sein. Vielleicht waren es 500. Rebekka: Nach Abzug der Wehrmacht, nach Abzug der Feuerwehr, nach dem Eintreffen der Alliierten, ist die Nachtscheinanlage in Velbert binnen kürzester Zeit von den Anwohnern des Rottbergs recycelt worden: Holz, Stromleitungen, und natürlich auch die Eisenbahnschienen. Zitator 1 "Für Elektrofirmen der Umgebung war die Scheinanlage nun ein willkommener Lieferant für Kabel und Leitungen, die es sonst so gut wie nicht zu beschaffen gab. Wir haben noch kilometerweise hochwertige Kabel rausgerissen und aus der Erde geholt." Rebekka: Bis auf den Bunker war alles bald verschwunden. Und was nicht mehr da ist, ist schnell vergessen. O-Ton Lohbeck: Ja, die Scheinanlagen sind in der historischen Betrachtung wirklich in ein Loch gefallen. Das kann man nicht anders sagen. Rebekka: Warum? Lohbeck: Ja warum? Ich denke, dass es in der Nachkriegsgeschichte tausend andere Dinge gab, die die Leute für markanter und wichtiger gehalten haben. Sprecher: Ein weiterer Grund ist, dass die Alliierten lange kein Interesse daran hatten, das militärische Wissen darüber zu veröffentlichen. Noch 1951 hielt Churchill es für unangebracht Zitator 2 "jetzt alle die Methoden zu beschreiben, die zur Irreführung des Gegners angewendet wurden". Sprecher Britische und amerikanische Archiv-Unterlagen zu Scheinanlagen - deutsche wie alliierte, die es natürlich auch gab - wurden erst 1977/78 zugänglich. Seitdem wird dazu vor allem in England publiziert. Seit 2011 hat die historische Bearbeitung der Scheinanlagen auch in Deutschland begonnen Rebekka: Von Hobbyhistorikern: Günter Keller forscht zum Scheinbahnhof "Brasilien". Jürgen Lohbeck und seine Kollegen zur Kruppschen Nachtscheinanlage. In den Fokus von akademischen Historikern sind Scheinanlagen hierzulange bis heute nicht gekommen. Atmo Auto Rebekka: Später am Abend bringt mich Joseph Niedworok zurück an den Essener Hauptbahnhof und während wir eine kleine Landstraße entlang fahren, sehe ich auf einmal selbst: wie viele Hinweise auf die Geschichte hier noch rumliegen. O-Ton Niedworok: Das sind Schienen. Rebekka: Das sind Schienen. Rebekka: Weidezaunpfähle, die Kühe davon abhalten auszubüxen. Statt horizontal, vertikal in den Boden gerammt. Nichts verschwindet spurlos. Manche Dinge erfüllen einfach einen neuen Zweck. O-Ton Rebekka: Ach... tut das dann ihrem Historiker-Herz weh, dass die Schienen da so vor sich hin verrotten. Niedworok: Nein, man kann nicht alles aufbewahren. Musik Sprecherin Gefälschte Stahlwerke und Bahnhöfe Die vergessene Geschichte der Scheinanlagen Ein Feature von Rebekka Endler Mit Zeitzeugenberichten von: Julie Figge, Kurt Graedtke, Erwin Klemm, Horst Günter Kochscheidt, Günter Lohbeck und Karl Winterberg Es sprachen: Michael Kamp, Matthias Ponnier, Hans-Gerd Kilbinger, Thomas Balou Martin, Justine Hauer und die Autorin Ton und Technik: Eva Pöpplein und Roman Weingardt Regie: Susanne Krings Redaktion Wolfgang Schiller Eine Produktion des Deutschlandfunks 2018. Musik 2