Hörspiel Feature Radiokunst Das Feature Der lange Schatten des Völkermords Ruanda, 30 Jahre danach Autor: Michael Gleich Regie: Claudia Kattanek Redaktion: Wolfgang Schiller Produktion: Deutschlandfunk 2024 Erstsendung: 02. April 2024, 19.15 Uhr Es sprachen: Franziska Arndt, Justine Hauer, Stefko Hanushevsky, Tom Jacobs, Svenja Wasser und der Autor Ton und Technik: Christoph Rieseberg und Lukas Fehling Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Erzähler Claudine ist neun Jahre alt, als das große Morden beginnt. Sie ist aufgewachsen auf einem der unzähligen Hügel im südlichen Ruanda, geht sonntags mit den anderen aus dem Dorf zur Kirche, und wenn sie nicht zur Schule muss, hütet sie die Kühe der Familie. Eine friedliche Kindheit auf dem Lande. O-Ton 1 71 Claudine 4 Episoden [00:00 - 00:53] ----Spricht auf Kinyarwanda---- Sprecherin 2 (OV) Am Tag, als das Morden begann, kam ich mittags von der Weide zurück. Viele Männer aus der Nachbarschaft kamen, um Radio zu hören. Wir besaßen ein Radio. Wir aßen, dann schlief ich draußen auf einer Matte ein. Gegen ein Uhr nachts weckte mich mein Großvater und sagte, wir müssen fliehen. Alles wird immer schlimmer. Wir zogen los. Wir waren viele. Ich war mit Verwandten und meinen Geschwistern zusammen. Wir waren etwa acht Familien. Wir nahmen die Kühe mit. Die Schweine ließen wir zurück. Erzähler Der einzige Grund, warum sie sterben sollen: Sie gehören zur Volksgruppe der Tutsi. Mörderbanden der Hutu durchstreifen das Land. Claudines Familie flieht aus einem Dorf, in dem sie nicht mehr sicher ist. Die Hutu, vorher friedliche Nachbarn, sind über Nacht zu tödlichen Feinden geworden. In den ersten Tagen gelingt es den Eltern, die Familie zusammenzuhalten. Sie bewegen sich im Schutz der Dunkelheit, schlafen tagsüber versteckt im Wald. O-Ton 2 71 Claudine 4 Episoden [01:00 - 01:50] ----Spricht auf Kinyarwanda---- Sprecherin 2 (OV) Am dritten Tag landete ein Hubschrauber. Die Leute applaudierten, weil sie dachten, es käme Rettung. Doch die Soldaten schossen um sich und die Menschen flohen in alle Richtungen. Unsere Eltern sagten uns, wir sollten bleiben, damit wir zusammen sterben können. Doch als wir die Schüsse hörten, wurden wir von ihnen getrennt. Ich weiß nicht, wie sie gestorben sind. Erzähler Claudine, ein neunjähriges Mädchen, ohne ihre Eltern, ohne Schutz, irrt nachts durch den Wald. Vorbei an brennenden Häusern, vorbei an leblosen Körpern, die mit offenen Wunden am Wegesrand liegen. Sie schließt sich anderen Kindern an, flieht nach Burundi und überlebt. Als Erwachsene wird sie immer wieder von Alpträumen überwältigt. Der Anblick der Toten, der Geruch von Blut hat sich tief in ihr Gedächtnis eingebrannt. Selbstmordgedanken quälen sie, vor allem in den dunklen Stunden der Nacht. Im Heimatdorf nennt man sie nur Umusazi, die Verrückte. Wenn ihr jemand zu nahe kommt, schreit und flucht sie. Bei einer Gedenkzeremonie für den Genozid, als alle um ein rituelles Feuer stehen, versucht sie, eine Frau in die Flammen zu stoßen. Vergangenheit und Gegenwart verschwimmen in ihrem Kopf, typisches Zeichen einer schweren Traumatisierung. Eines Tages trifft Claudine eine Therapeutin, die ihr Hoffnung macht, die sagt: Ich kann dir helfen. Sprecher 1 Der Lange Schatten des Völkermords. Ruanda, 30 Jahre danach. Ein Feature von Michael Gleich Sprecherin 1 Das Morden, wie Claudine es nennt, war kein spontaner Ausbruch von Gewalt, keine chaotische Eskalation. Die Hutu-Mehrheit hatte den Völkermord an der Tutsi-Minderheit sorgfältig geplant und vorbereitet. Die Wurzeln dieser Feindschaft reichen bis in die Kolonialzeit zurück. Damals spielten erst die Deutschen, dann die Belgier die beiden Volksgruppen gegeneinander aus. In den Sechziger- und Siebzigerjahren kam es zu ersten Massakern auf beiden Seiten. 1994 erreichte der Konflikt eine völlig neue Dimension. Die damalige Regierung, dominiert von extremistischen Hutu, schmiedete Pläne zur völligen Auslöschung der Tutsi. Man wusste, dass Armee, Milizen und Gendarmerie nicht genug Schusswaffen besaßen. Deshalb wurden heimlich im Ausland drei Millionen Macheten gekauft und verteilt. Todeslisten wurden erstellt. Mit Namen von Tutsi in Führungspositionen und von Hutu-Oppositionellen. O-Ton 3 82 Assumpta Genozidvergleich 1 [00:43 - 01:01] un génocide est un projet de longue haleine. Ça veut dire qu'il faut mobiliser, il faut créer tout un processus qui rendra ce crime absolu possible au sein d'une société qui normalement ne devrait pas pouvoir accoucher d'un tel monstre. Sprecherin 3 (OV) Ein Völkermord ist ein langwieriges Projekt. Man muss mobilisieren, man muss einen ganzen Prozess schaffen, der dieses absolute Verbrechen innerhalb einer Gesellschaft möglich macht, die eigentlich nicht fähig sein sollte, ein solches Monster zu gebären. Erzähler Die 58-jährige Soziologin und Psychologin Assumpta Mugiraneza hat das dunkelste Kapitel ihres Landes erforscht. Ich treffe sie im Zentrum IRIBA in der Hauptstadt Kigali, das die Erinnerung an das Geschehen von vor 30 Jahren wachhalten soll. Assumpta ist die Direktorin, eine Frau von kräftiger Statur, mit wachen Augen. Sie begrüßt mich auf französische Art - Küsschen rechts, Küsschen links. Sie hat in Frankreich studiert und auch zum Holocaust in Europa geforscht. In den 100 Tagen des Genozids verlor sie mehr als die Hälfte ihrer Familie. Auch ihre Mutter wurde getötet. Die anderen Verwandten überlebten, weil sie ins Ausland fliehen konnten. O-Ton 5 82 Assumpta Genozidvergleich 1 [02:44 bis 02:56] La logique du discours crée deux blocs. Il y a un bloc du "nous" et il y a un bloc du "eux". Au milieu, il n'y a pas d'autres zones d'intersection possibles. Sprecherin 3 (OV) Die Propaganda erfindet zwei Blöcke. Es gibt einen Block des "wir" und einen Block des "sie". Dazwischen existieren keine Schnittmengen. Erzähler Assumpta sieht drei wirkmächtige Narrative, die den Massenmord in den Köpfen der Ruander vorbereiteten. Erstens eine Mentalität von Gehorsam und Disziplin. O-Ton 6 82 Assumpta Genozidvergleich 1 [32:49 bis 32:58] Le rouandais est très discipliné et il est dur à la tâche. Et dans le génocide, c'était discipline. Sprecherin 3 (OV) Die Ruander sind sehr diszipliniert und hart arbeitend, und so war es auch beim Völkermord. Erzähler Zweitens das Märchen von einer existenziellen Bedrohung: Angeblich wollten die Tutsi die Hutu-Mehrheit auslöschen, dem müsse man zuvorkommen. O-Ton 7 82 Assumpta Genozidvergleich 1 [04:33 bis 04:36] Il faut tuer les Tutsi avant qu'ils nous tuent. Sprecherin 3 (OV) Wir müssen die Tutsi töten, bevor sie uns töten. Erzähler Und schließlich Dämonisierung und Entmenschlichung. O-Ton 8 82 Assumpta Genozidvergleich 1 [49:17 bis 49:29] Le terme de bête sauvage, folie, monstre, ce sont des mensonges consommés devant les yeux une fois que le crime est consommé Sprecherin 3 (OV) Begriffe wie wilde Bestie, Wahnsinn, Monster - diese Lügen sollen das Verbrechen rechtfertigen, das man begangen hat. Erzähler Tutsi wurden als Inyenzi, als Kakerlaken bezeichnet, als Schlangen, als Unkraut. Um diese Narrative zu verbreiten, brauchte die Regierung ein geeignetes Medium. O-Ton 9 82 Assumpta Genozidvergleich 1 [14:28 bis 14:39] La radio a joué un rôle central dans le fait de diffuser, de faire parvenir à plus grand monde. Sprecherin 3 (OV) Das Radio spielte eine zentrale Rolle, so viele Menschen wie möglich zu erreichen. Sprecherin 1 Nachdem alle Vorbereitungen für den Massenmord getroffen waren, fehlte nur noch der Anlass, um loszuschlagen. Am 6. April 1994 war es so weit. Über der Hauptstadt Kigali wurde das Flugzeug mit dem amtierenden Präsidenten Habyarimana abgeschossen, der dabei ums Leben kam. Wer den Anschlag verübt hat, ist bis heute ungeklärt. Nur wenige Stunden später rückten Todesschwadronen aus und brachten anhand der vorbereiteten Listen mehr als 1500 Menschen um. Atmo 2 57 Excerpts from Radio Mille Collines [00:30 - 00:54] ---spricht Kinyarwanda--- Sprecher 1 (OV) Jeder ist bewaffnet und bereit, die Kakerlaken zu besiegen. Ob Armee-Offiziere, junge Leute, Erwachsene, Frauen. Es sei euch gesagt: Für Kakerlaken gibt es keinen Ausweg. Sprecherin 1 Insbesondere Radio-Télévision des Mille verbreitete Hass und Hetze und stachelte die Menschen an. Die Sprecher verrieten Orte, wo sich Tutsi versteckten. Atmo 3 57 Excerpts from Radio Mille Collines [01:09 - 01:22] ---singt auf Kinyarwanda--- Sprecher 1 (OV) Kommt und freut euch, Freunde, die Kakerlaken gibt es nicht mehr. Kommt und freut euch, Freunde, Gott ist gnädig Sprecherin 1 Ein Sender, der das Morden moderierte. Tutsi-Frauen wurden als Hexen und Huren verunglimpft. Sehr viele wurden vor ihrer Ermordung vergewaltigt, oft durch mehrere Männer. In nur 100 Tagen wurden 800.000 bis eine Million Tutsi umgebracht. So genau weiß das bis heute niemand. Noch immer werden neue Gräber entdeckt. Nur ein Viertel der Tutsi-Bevölkerung überlebte. Erzähler Die Machete war das bevorzugte Mordwerkzeug. Einer der Überlebenden hat mir erklärt, dass ein Hieb nicht ausreicht, um einen Menschen zu töten. Man muss wieder und wieder zuschlagen. Sprecherin 1 Im Juli 1994 beendete Paul Kagame mit einer schlagkräftigen Tutsi-Armee den Völkermord. Er kam aus Uganda, von dort aus eroberte er Distrikt für Distrikt. Die Survivors, die Überlebenden, feierten ihn als Befreier. Seitdem hält er die Zügel der Macht fest in der Hand, seit 24 Jahren regiert er als Präsident. Er gilt als unermüdlicher Arbeiter, der Ruanda nach vorne bringen will, und als Autokrat, der keinen Widerspruch duldet. Oppositionelle, die seine Stellung gefährden könnten, lässt er einsperren. Unabhängige Medien sind verboten. Dennoch ist er, der Tutsi, sogar bei den Hutu beliebt. Er gilt als Garant für eine Stabilität, um die Ruanda von den krisengeschüttelten Nachbarstaaten beneidet wird. Auch das Wirtschaftswunder in der sogenannten "Schweiz Ostafrikas" wird ihm zugeschrieben, mit stetigen Wachstumsraten von über fünf Prozent. Erzähler Rushhour in Kigali. Motorräder und Autos strömen unaufhörlich durch den zentralen Verkehrskreisel der Hauptstadt. Kigali, bekannt als Afrikas sauberste Stadt: Kein Müll auf den Straßen, die Blumenbeete sind geharkt, die Hecken penibel gestutzt. Für Motorradfahrer gilt Helmpflicht, und alle halten sich daran. Plastiktüten sind verboten, man darf nicht einmal welche einführen. Im Geschäftszentrum der Stadt wachsen Bürotürme in den Himmel. In meinen ersten Tagen in Ruanda ringe ich mit widersprüchlichen Eindrücken: Die glänzende Fassade der Hauptstadt steht im krassen Gegensatz zur Armut auf den Dörfern. Die Warmherzigkeit, die mir entgegenkommt, kontrastiert mit seelischen Qualen, die mir Menschen wie Claudine offenbaren. Und während Präsident Kagame ständig die Einheit des Landes predigt, spüre ich tiefes Misstrauen zwischen den Volksgruppen. O-Ton 10 40 Kwibuka29 Keynote Kagame [15:31 - 15:43] Rwandans will not accept any attempt to divide us. We had enough of it. Sprecher 2 (OV) Wir Ruander werden keinen Versuch dulden, uns zu spalten. Davon hatten wir genug. Erzähler Die Vorgabe von Präsident Paul Kagame, es gebe keine Tutsi und keine Hutu mehr, nur noch Ruander, ist mehr Wunsch als Wirklichkeit. Die Gesellschaft ist nach wie vor gespalten. Wenn mein Aufnahmegerät abgeschaltet ist, verraten mir Gesprächspartner, dass sie sehr wohl jeden Unbekannten auf seine ethnische Zugehörigkeit abchecken. Innerhalb von 15 Minuten wüssten sie, ob er zu den "Survivors" zählt oder zu den "Perpetrators", zu den Tätern. Selbst die Nachgeborenen ordnen sich in die beiden Lager ein. Diese Spaltung legt einen Schatten über das Land, über die Seelen der Menschen. Es herrscht ein Klima der Angst vor Bespitzelung, der Angst vor Rache. Unter dem eisernen Deckel, der das Land als harmonische Einheit präsentieren soll, gärt es. Sprecherin 1 Die Soziologin Assumpta Mugiraneza muss wie alle Überlebenden mit den Mördern von gestern zusammenleben. Darin sieht sie einen entscheidenden Unterschied zwischen dem Holocaust in Deutschland und dem Genozid an den Tutsi. O-Ton 11 84 Assumpta Kurzstatement [03:32 bis 04:10] Dans l'après-génocide, les Allemands se retrouvent entre eux occupés, la majorité des victimes est partie. Ici au Rwanda, le tueur d'hier, le bourgmestre, son assistant, le prêtre qui a tué la religieuse parce qu'elle était Tutsi, les enseignants qui ont tué leur directeur Tutsi et ses enfants et sa femme. Nous nous retrouvons tous dans la même marmite exiguë qu'est le petit Rwanda. Sprecherin 3 (OV) In der Zeit nach dem Völkermord waren die Deutschen unter sich, die Mehrheit der Opfer war weg. Anders in Ruanda. Der Mörder von gestern, der Bürgermeister und sein Assistent; der Priester, der die Nonne getötet hat, weil sie Tutsi war; die Lehrer, die ihren Tutsi-Direktor und seine Kinder und seine Frau umgebracht haben: Wir alle finden uns in demselben kleinen Topf namens Ruanda wieder. Erzähler Dass dieses Zusammenleben von Tätern und Opfern in einem der am dichtesten besiedelten Länder Afrikas überhaupt möglich ist, gilt als große Leistung der ruandischen Nation. Eine einzigartige Institution hat nach dem Genozid den Weg dahin geebnet: die Dorfgerichte. Mit der normalen Gerichtsbarkeit hätte die juristische Aufarbeitung von über einer Million Straftaten schätzungsweise 100 Jahre gedauert; viele Opfer hätten nie Gerechtigkeit erfahren. Also reaktivierte man die Tradition der Gacacas. In der Landessprache Kinyarwanda bedeutet es "im Gras sitzen". Unter einem schattigen Baum versammelten sich seit alters die Dorfbewohner, um Streitigkeiten zu klären. Nun erhielten die Gacacas einen Auftrag von gewaltigem Ausmaß. Sprecherin 1 Der Genozid in Ruanda war ein Massenmord aus nächster Nähe. Er fand überall auf den Hügeln Ruandas statt, in den Dörfern. Alle hatten mitbekommen, was passiert war, deshalb sollte dort auch über die Täter gerichtet werden. Und mehr noch: Die Versammlungen waren auch gedacht als ein Ort der Versöhnung. Erzähler Die Richter waren angesehene Persönlichkeiten, die aber nur einen Schnellkurs in Rechtsprechung absolviert hatten. O-Ton 12 39 Dieudonne´ Munyankiko [06:56 - 07:22] Il fallait justement que les gens d'abord comprennent l´orbit de Gacaca, que c'est différent d'une sorte de vengeance autorisée, légalisée. Et que ce n'est pas justement, parce que c'est ce que les gens croyaient au départ, que ce n'est pas le moment de mentir. Sprecher 1 (OV) Die Menschen mussten zuerst die Gedankenwelt des Gacaca verstehen. Dass es etwas Anderes ist als eine Art erlaubter Rache, dass es ganz sicher nicht der richtige Zeitpunkt zu lügen ist, wie manche anfangs glaubten. Erzähler Dieudonné Munyankiko, ein 50jähriger Sozialwissenschaftler, hat viele der Prozesse persönlich begleitet. Als Beobachter, aber auch als Unterstützer für die Laienrichter. Im Jahr 2000 hat er begonnen, die Nichtregierungsorganisation AMI aufzubauen, die sich der Befriedung des Landes verschrieben hat. Wir treffen uns auf Wunsch Dieudonnés in einem Garten, abseits der Hauptstraße. Er liebt die Natur, für ihn strahlt sie Frieden aus. In seiner Heimatstadt Butare, im Süden Ruandas, hat AMI sein Hauptquartier. Hier arbeiten mehr als 20 Festangestellte plus eine große Schar Freiwilliger. Unterstützung kommt von Stiftungen aus dem Ausland, auch aus Deutschland. Dieudonné sieht rückblickend in den Gacacas einen wichtigen Beitrag zur Friedensförderung. O-Ton 13 39 Dieudonne´ Munyankiko [02:56 - 03:12] Il y avait aussi l'idée de favoriser le rapprochement de plusieurs groupes. Parce que justement le génocide a été une raison pour éloigner les uns des autres. Sprecher 1 (OV) Die Idee war auch, die verschiedenen Volksgruppen wieder einander anzunähern. Der Genozid hatte sie weit voneinander entfernt. Erzähler Die Gacacas waren das Forum, wo Täter und Opfer zum ersten Mal offiziell aufeinandertrafen. In der Regel gab es einen langen Tisch, hinter dem die Richter auf Stühlen saßen, erkennbar an den Schärpen in den Landesfarben Himmelblau, Gelb und Grün. Frauen und Männer aus dem Dorf saßen unter Bäumen im Gras. Das sah idyllisch aus, war aber ein Ort der Hochspannung. Ein Ort, wo alte Wunden aufgerissen wurden, mit dem Risiko einer Retraumatisierung. AMI hatte das verstanden und schickte Psychologen in die Prozesse. Sprecherin 1 Aber an vielen anderen Orten fehlte eine psychologische Betreuung der Überlebenden. Auch in anderer Hinsicht standen die Dorfgerichte in der Kritik. Korruption war ein Problem, Richter ließen sich bestechen. Manche missbrauchten das System, um unliebsame Nachbarn loszuwerden, indem sie falsche Anschuldigungen erhoben. Schuldige wurden freigesprochen, Unschuldige ins Gefängnis gesteckt. Trotz dieser Schattenseiten betrachten die meisten Experten die Gacacas grundsätzlich als Erfolg, als wichtiges Instrument zur Wiederherstellung des sozialen Zusammenhalts. Dieudonné Munyankiko : O-Ton 15 39 Dieudonne´ Munyankiko [12:29 -12:51] Ça a contribué au progrès de la réconciliation. Dans la mesure où il y en a des gens qui ont vraiment avoué leur crime. Et ça, ça a vraiment aidé à les rescapés du génocide. Sprecher 1 (OV) Ich denke, es hat Fortschritte bei der Versöhnung ermöglicht. Insbesondere dann, wenn Menschen dort ihre Verbrechen gestanden haben. Das hat den Überlebenden des Völkermords wirklich sehr geholfen. Sprecherin 1 Hutu, die ihre Verbrechen zugaben und die Opfer um Verzeihung baten, erhielten deutlich mildere Strafen. Reue zu zeigen war Teil des Handels zwischen Überlebenden und Tätern. Über eine Million Fälle wurden von den rund 11000 Dorfgerichten verhandelt - ein historisch einmaliges Experiment, das weltweit Beachtung und Anerkennung erntete. Erzähler War die Bitte um Vergebung immer aufrichtig? Die Antwort zeigte sich, wenn dem Reuebekenntnis auch Taten der Wiedergutmachung folgten, was nicht immer der Fall war. Hat Gacaca für Gerechtigkeit gesorgt? Es war kein perfektes System, sondern ein pragmatisches. Es war, als wenn man schmutziges Geschirr in trübem Spülwasser abwäscht - am Ende sind die Teller sauberer als vorher. Die Mörder von gestern und die traumatisiert Überlebenden mussten versuchen, wieder Haus an Haus zusammenzuleben. Erzähler Inmitten eines grünen Maisfeldes, das sich vom Hügel bis weit ins Tal erstreckt, schwingen etwa zwei Dutzend Dorfbewohner ihre Macheten. Sie lichten die mannshohen Stängel, damit der Mais besser wächst und reiche Ernte abwirft. Die Frauen in leuchtend bunten Wickelkleidern und passenden Kopftüchern arbeiten Schulter an Schulter mit den Männern, von denen einige zerschlissene schwarze Jacketts tragen - eine Wahl, die in der sengenden Hitze rätselhaft erscheint. Das Besondere an diesem Feld: Es gehört allen gemeinsam. Und noch bemerkenswerter: Die Gruppe besteht zu gleichen Teilen aus Überlebenden und ehemaligen Tätern. Sprecherin 1 Seit 24 Jahren werden solche gemischten Gruppen von der Organisation AMI betreut. Sie versteht Versöhnungsarbeit nicht als Sprint, sondern als Marathon, der einen langen Atem erfordert. AMI ist mittlerweile in der Hälfte der 30 ruandischen Distrikte tätig. Mediatoren wie Dieudonné helfen den Tätern, die meist mittellos aus dem Gefängnis entlassen werden, dabei, durch handwerkliche Arbeiten die Opferfamilien zu entschädigen. Sie organisieren Dialoge, um neu auftretende Konflikte im Dorf zu besprechen. Und sie initiieren Gemeinschaftsprojekte wie dieses Maisfeld, dessen Erträge unter allen aufgeteilt werden. Erzähler Callixte und Augustin, beide Anfang 60, gehören zur Gruppe. Sie haben sich zu einem Interview bereit erklärt. Wir nehmen auf einem schmalen Holzbänkchen unter einer Bananenstaude Platz, die ein wenig Schatten spendet. Die beiden hocken eng beieinander. Augustin beginnt zu sprechen. O-Ton 16 8 Callixte u Augustin [04:45-04:46] + [05:12-05:19] + [05:48-05:52] -----Augustin spricht Kinyarwanda------ Sprecher 1 (OV) Ich floh nach Burundi. Meine Familie blieb hier, sie hätte keinen Platz gefunden, wo sie hingehen konnte. Alle aus der Familie meines Vaters wurden getötet, 24 Menschen insgesamt. Erzähler Sie wurden von einer Bande umgebracht, zu der auch Callixte gehörte, der neben ihm sitzt. O-Ton 17 8 Callixte u Augustin [01:04-01:09] + [01:22-01:23] + [01:43-01:57] -----Callixte spricht Kinyarwanda------ Sprecher 2 (OV) Ich habe mich am Völkermord beteiligt und einige Menschen getötet. Warum? Es gab damals Dinge, die wir nicht verstanden. Wir hatten ein schlechtes Regime, das uns aufforderte, die Tutsi zu töten. Erzähler Der eine hat geholfen, die Familie des anderen auszulöschen. Ich frage sie, wie es sich anfühlt, jetzt so nah nebeneinander zu sitzen. Augustin antwortet: O-Ton 36 8 Callixte u Augustin [11:35-11:50] -----Augustin spricht Kinyarwanda------ Sprecher 1 (OV) Es läuft gut zwischen uns, wir sind Freunde geworden. Wir arbeiten jetzt alle zusammen, wie Brüder. Erzähler Er legt seinen Arm um Callixtes Schultern. Die Geste scheint aufrichtig. Dennoch: Wenn ich in die Augen der beiden schaue, sehe ich mehr Angst und Schrecken als Freude über die Freundschaft. Die Schatten der Vergangenheit sind tief in die Gesichter der beiden eingefurcht. In anderen Interviews habe ich ähnliche Harmoniebekundungen gehört, teilweise wortwörtlich. Manche klingen wie einstudiert. Augustin sagt: O-Ton 18 8 Callixte u Augustin [13:01 - 13:13] -----Augustin spricht Kinyarwanda------ Sprecher 1 (OV) Jetzt kommen wir gut miteinander aus, wir haben Einheit und Gemeinschaft, und kein Problem mit denen, die uns damals verraten haben. Erzähler Mir kommt es vor, als würde wiederholt, was das Regierungsprogramm als Parole ausgegeben hat: Einst gab es eine Ideologie der Spaltung, heute herrscht eine Politik der Einheit, nun ist alles in Ordnung. Trotzdem beeindruckt mich der lange Weg, den die beiden bis zu diesem Maisfeld, bis auf diese Holzbank zurückgelegt haben. Callixte, der zwölf Jahre im Gefängnis und vier Jahre als Zwangsarbeiter verbrachte, dachte, er würde seinen geliebten Heimathügel nie wiedersehen. Unzählige Täter teilten sein Los, es waren Hunderttausende, die gleichzeitig ihre Strafen in Gefängnissen absaßen. Nach der Haft wartete eine weitere Herausforderung auf sie. Bei ihrer Rückkehr erfuhren sie Misstrauen und Abwehr in ihren Heimatdörfern und Familien. Erzähler Ich begleite den Sozialarbeiter Gilbert Kubwimana in ein Dorf, in dem AMI seit geraumer Zeit arbeitet. Unser Geländewagen kämpft sich über Feldwege, die der Starkregen in einen Hindernisparcours verwandelt. Als wir das Dorf erreichen, hat sich die Sonne durchgesetzt und brennt unbarmherzig vom Himmel. Drei Dutzend Menschen erwarten uns, sie sitzen auf einer Wiese im Gras. Gilbert setzt sich auf eine Bank im Schatten und beginnt, Interviews mit ehemaligen Häftlingen zu führen. Der 53-jährige interessiert sich für ihren Alltag, will wissen, wie sie sich in ihrem neuen Leben zurechtfinden. O-Ton 19 38 Gilbert KUBWIMANA - AMI [00:57 - 01:10] Ils viennent de passer beaucoup d'années dans la prison, 15 ans, 20 ans, 25 ans. Et lorsqu'ils rentrent dans leur famille, souvent, leurs enfants ne les reconnaissent pas Sprecher 1 (OV) Sie haben eine lange Zeit im Gefängnis verbracht, 15, 20, 25 Jahre. Wenn sie in ihre Familien zurückkehren, erkennen ihre Kinder sie oft nicht wieder... Erzähler ... und erkennen die Autorität der Rückkehrer nicht an, die das jedoch wie selbstverständlich erwarten. Die Familien sind nicht bereit, sich von jemandem bevormunden zu lassen, der ihnen fremd geworden ist, besonders nicht, wenn dieser Jemand mit dem Makel eines verurteilten Mörders am Küchentisch sitzt. O-Ton 20 38 Gilbert KUBWIMANA - AMI [02:14 - 02:33] Les enfants se sentent frustrés. Ils ont la honte d'être les enfants des gens qui ont commis des crimes pendant le génocide. . Sprecher 1 (OV) Die Kinder sind frustriert und schämen sich, Nachkommen von Menschen zu sein, die während des Völkermords Verbrechen begangen haben. Erzähler Wenn nötig, bietet Gilbert den Entlassenen und ihren Familien therapeutische Begleitung an. Es ist oft nötig. Alkohol und Gewaltexzesse zerrütten viele Familien von Ex-Häftlingen. Gilbert erzählt von einem besonders erschütternden Fall. Ein Mann, verzweifelt bis zum Äußersten, weil er im neuen Leben nicht zurechtkam, schleppte eine Gasflasche ins Haus und zündete sie an. Er riss seine Frau und die Kinder mit in den Tod. Man sieht Menschen nicht auf den ersten Blick an, welche inneren Dämonen sie mit sich herumtragen. Als ich Claudine zum ersten Mal traf, hielt sie eine Ansprache zum Welttag für psychische Gesundheit. Eine Gruppe klinischer Psychologinnen hörte ihr gebannt zu. O-Ton 21 71 Claudine 4 Episoden [03:17 - 04:15] ----Spricht auf Kinyarwanda---- Sprecherin 2 (OV) Als ich den Grenzfluss erreichte, traf ich meinen Bruder und zwei andere. Als sie uns sahen, sagten sie: Lasst uns nach Burundi gehen, vielleicht werden wir gerettet. Zwei überquerten die Grenze und ich folgte ihnen. Ich hatte Glück, dass ich den Fluss überqueren konnte. Ich blickte zurück, ob mein Bruder mir folgte. Aber als er in der Mitte einer Baumbrücke ankam, wurde er von den Verfolgern getötet. Wir sahen, wie sein Körper im Wasser trieb. Ich war so verzweifelt, dass ich im Wasser Selbstmord begehen wollte. Erzähler Das Gefühl, nicht mehr leben zu wollen, quälte sie auch als Erwachsene. Eines Tages hatte sie Glück und traf die Traumatherapeutin Thérèse Uwitonze. Thérèse erklärte ihr als erstes, dass sie nicht verrückt sei, sondern unter den Folgen einer schweren Traumatisierung leide. In einem schlichten Raum, der mehr an ein Büro als an ein Patientenzimmer erinnert, treffe ich Thérèse. Die Einrichtung ist spartanisch: Betonboden, ein Tisch, drei Stühle und ein Aktenschrank. Mehr lässt das Budget nicht zu. Thérèse ist 48 Jahre alt, ein burschikoser Typ, meist in farbenprächtige Kleider gewandet, ihr Mund stets zu einem breiten, warmen Lächeln bereit. An der Wand hängen Poster, die mit einfachen Strichzeichnungen erklären, wie Traumata entstehen und welche Auswirkungen sie haben. Hier hat Thérèse viele Sitzungen mit ihrer Patientin Claudine abgehalten, auf deren Fortschritte sie hörbar stolz ist. O-Ton 22 45 Interview Thérèse Teil 2 [23:13 - 23:20] Now she can approach others. Now she can cultivate. Before it was not easy. Sprecherin 3 (OV) Mittlerweile kann sie mit anderen umgehen, kann ihr Feld bestellen. Vorher war das nicht leicht. Erzähler Im geschützten Rahmen der Therapie wagte Claudine ihre Flucht damals als Neunjährige gleichsam ein zweites Mal. Sie notierte jedes ihrer furchterregenden Erlebnisse auf 28 langen Seiten. Narrative Expositionstherapie heißt die Methode. Sie soll helfen, Vergangenheit und Gegenwart im Geist der Klientin zu entwirren. Es ist ein Prozess, der traumatische Rückblenden reduziert oder sogar verschwinden lässt. Claudine hat ihre Geschichte neu erlebt, neu geordnet und neu verstanden. O-Ton 23 45 Interview Thérèse Teil 2 [25:31 - 25:36] Now she supports others. Those are also the signs which show me there is improvement. Sprecherin 3 (OV) Sie kann nun andere unterstützen - für mich ein klares Zeichen, dass es ihr besser geht. Sprecherin 1 Wenn Menschen Gefahren erleben, die sie überwältigen, friert das Gehirn die Erfahrung gleichsam ein. Trauma ist eine biologische Schutzreaktion. Sie hilft über den ersten Schock hinweg. Doch die schmerzhaften Erinnerungen tauchen wieder und wieder auf, in Form so genannter Flashbacks. Erst seit kurzem weiß man, dass die Schatten der Traumata, die psychischen Narben, auch genetisch von Generation zu Generation weitervererbt werden können. In Ruanda, das unvergleichlich stark von solchen Traumata gezeichnet ist, bräuchte es landesweit psychiatrische und psychotherapeutische Behandlungsmöglichkeiten, um diese Wunden zu heilen. Doch es gibt gerade mal zwei Dutzend Psychiater. Thérèse hat das kollektive Trauma auch wissenschaftlich untersucht. Etwa ein Viertel der Ruander und Ruanderinnen leidet an PTBS, an Symptomen einer posttraumatischen Belastungsstörung. Das sind 3,3 Millionen Menschen. Ein Bericht zur mentalen Gesundheit, veröffentlicht vom zuständigen Ministerium, zeichnet ebenfalls ein düsteres Bild: Depressionen, sexualisierte Gewalt, Kindesmissbrauch und Alkoholismus sind weit verbreitet. O-Ton 24 72 Selbsthypnose angeleitet von Therese Uwitonze [00:00 - .....] ----Spricht auf Kinyarwanda---- Sprecherin 3 Mein Kopf ist schwer und warm, warm und schwer. Mein Nacken ist schwer und warm, warm und schwer. Meine Schultern sind schwer und warm, warum und schwer. Meine Oberarme sind schwer und warm, warm und schwer.... Erzähler Thérèse leitet eine Selbsthypnose an. Ihre Augen sind geschlossen während der Entspannungsübung, mit der sie die Behandlung eines jungen Mannes beginnt. O-Ton 25 42 Kurzinterview Therese zur Session Etienne [00:33 - 00:46] I plan to treat him. Firstly, depression, PTSD, anxiety, suicidal ideation, antisocial behavior, drug abuse. Sprecherin 3 (OV) Ich plane jetzt seine Behandlung. Es geht um Depressionen, PTBS, Angstzustände, Selbstmordgedanken, antisoziales Verhalten und Drogenmissbrauch. Erzähler Der 20jährige Etienne sitzt zusammengesunken auf seinem Stuhl. Sein Outfit besteht aus einem karierten Hemd und einer abgenutzten grünen Trainingshose. Er spricht so leise, dass man seine Worte kaum versteht. Hinter dem nüchternen Begriff "antisoziales Verhalten" verbirgt sich, dass Etienne mehrfach versucht hat, seinen eigenen Vater zu töten. Aber auch Etienne wurde von seinem Vater mit der Machete angegriffen und verletzt. Ein Kreislauf von Gewalt. O-Ton 26 42 Kurzinterview Therese zur Session Etienne [13:03 - 13:13] What is surprising:all those family members, they suffer from the same mental disorders. Sprecherin 3 (OV) Erstaunlich ist, dass alle Familienmitglieder an denselben psychischen Störungen leiden. Erzähler Etienne sitzt vor einem Blatt Papier, das von Thérèse in vier Segmente geteilt wurde. Jedes Segment steht für etwas anderes: Glücksquellen, Gründe für Traurigkeit, Hilfe für andere, Lebensziele. Thérèse nennt es die Mandala-Methode. Sie fordert ihn auf, in jedes Segment ein Symbol zu zeichnen. Etienne bringt ein paar magere Striche aufs Blatt. Das sei eine Blume, sagt er, sie stehe für seinen Wunsch, glücklich zu werden. O-Ton 27 52 Etiennes eigene Worte [00:10 - 00:23] -----spricht Kinyarwanda----- Sprecher 1 (OV) Ich möchte lernen, Situationen zu analysieren. Ich will eigene Entscheidungen treffen, um ein gutes Leben zu führen. Erzähler Thérèse behandelt seit 20 Jahren Traumata und psychische Leiden. Sie gründete die Stiftung MHDF, die sich für mentale Gesundheit einsetzt. Gelegentlich wird sie finanziell aus dem Ausland unterstützt. Oft jedoch arbeitet sie ehrenamtlich. Als Heilerin und Trauma-Fängerin steht sie ihren Klientinnen und Klienten zur Seite. Etienne, der gerade erst seine Therapie beginnt, und Claudine, die nach über 30 Sitzungen sagt, sie sei geheilt, sind nur zwei von vielen. Thérèse lehrt sie Techniken, mit denen sie sich in emotionalen Krisen selbst stabilisieren können. Sprecherin 1 Ihre Arbeit sieht Thérèse auch als Friedensmission. Sie gründete "Peace Circles", Gesprächskreise, die Überlebenden und Frauen aus Täter-Familien einen psychologisch sicheren Raum bieten. Darüber hinaus hat sie ein landesweites Netzwerk von klinischen Psychologen aufgebaut. Sie schult sie in Videokonferenzen und bietet ad hoc Beratungen an, wenn ihre Kolleginnen in einer Sitzung feststecken. O-Ton 28 44 Interview Therese Teil 1 Trauma [29:43 - 29:49] we need to treat people who suffer from trauma now in order to prepare for the future of Rwanda. Sprecherin 3 (OV) Wir müssen die Menschen, die unter Traumata leiden, jetzt behandeln, um die Zukunft Ruandas vorzubereiten. Erzähler Denn Trauma trennt. Von sich selbst, was sich in seelischen Abspaltungen zeigt; von anderen Menschen, was sich in Misstrauen und Rückzug ausdrückt. Trauma-Heilung bedeutet Wiederverbindung. Sie erreicht tiefere seelische Ebenen als die Rituale von Vergebung und Versöhnung bei den Gacaca-Gerichten, die oft nur an der Oberfläche kratzten. Für Thérèse ist geistige Gesundheit eine der wichtigsten Voraussetzungen, um das zerrissene soziale Gewebe in Ruanda neu zu knüpfen. Sie bildet das Fundament einer intakten, stabilen Gesellschaft. Unbehandelte Traumata sind wie schlecht genähte Wunden, die jederzeit wieder aufreißen können. Neue Gewaltausbrüche zwischen den Volksgruppen wären die Folge. Sprecherin 1 Die junge Generation in Ruanda kennt die Schrecken des Genozids nicht nur aus Erzählungen. Sie ist auch direkt betroffen. Nicht wenige der nach 1994 Geborenen wachsen ohne Väter auf. Viele Männer wurden damals ermordet, flohen oder landeten im Gefängnis, einige nutzten das allgemeine Chaos, um sich abzusetzen und woanders eine neue Familie zu gründen. Erzähler Emmanuel wurde im Jahr des Genozids geboren. Von einem Vater weiß er nichts. Seine Mutter wurde wenige Tage nach seiner Geburt ermordet. Durch Dieudonné, der sich in einem SOS Kinderdorf engagiert, habe ich Emmanuel kennengelernt. Dort ist der heute 30jährige aufgewachsen. Er durfte gute Schulen besuchen, schaffte einen beeindruckenden Uni-Abschluss. Mit zwei Studienfreunden gründete er eine IT-Firma, die heute 13 Menschen Arbeit gibt. Sie entwickeln Software und schulen junge Ruander im Programmieren. O-Ton 29 77 Emmanuel NZABAREGERIMANA part 1[10:35 - 10:42] I have not been supported by the government. We only started by ourselves from scratch. Sprecher 2 (OV) Wir haben ganz allein aus dem Nichts angefangen, ohne Unterstützung durch die Regierung. Erzähler Emmanuel ist ein stiller, eher introvertierter Typ. Er hat von Kindesbeinen an gelernt, dass er auf sich selbst gestellt ist. In Ruanda, wo Familie Identität, soziale Bindung und Unterstützung in Krisenzeiten bedeutet, stand er oft alleine da. Ihm blieb nur, eine eigene Familie zu gründen. O-Ton 30 77 Emmanuel NZABAREGERIMANA part 1 [01:35 - 01:50] I try to... just to accept and to work hard to make my own family. It's my friends who are working together. [03:18 - 03:25] Just we take like brothers. We share everything together. We are solving the problems together. Sprecher 2 (OV) Ich versuche, die Situation zu akzeptieren und hart zu arbeiten, um meine eigene Familie zu gründen. Meine Familie sind die Freunde, mit denen ich zusammenarbeite. Wir lösen Probleme gemeinsam. Wir sind wie Brüder füreinander. Erzähler Ein Selfmade-Mann aus Notwendigkeit. Schwierig sei für ihn, dass seine Landleute Vorurteile gegenüber ruandischen Tech-Unternehmen haben. Sie beauftragen lieber westliche Firmen, denen sie mehr Kompetenz zuschreiben als den eigenen Leuten. Emmanuel erklärt sich das damit, dass die junge Generation - als Nachkommen von Überlebenden und Tätern - mit wenig Vertrauen ins Leben aufgewachsen ist und deshalb auch ihren Landsleuten wenig zutraut. O-Ton 31 77 Emmanuel NZABAREGERIMANA part 1[07:39 - 07:46] It's their story. They don't understand themselves. They don't trust themselves. Sprecher 2 (OV) Sie verstehen sich und ihre eigene Geschichte nicht, sie vertrauen sich nicht. Erzähler Gut findet Emmanuel, dass die Regierung die Digitalisierung des Landes vorangetrieben hat. Manches klingt viel fortschrittlicher als in Deutschland. O-Ton 32 78 Emmanuel NZABAREGERIMANA part 2 [03:39 - 03:46] If we want a passport, we can go to Irembo. It requires only 3 days to get your passport. Sprecher 2 (OV) Wenn wir einen Reisepass brauchen, können wir zur Digitalagentur Irembo gehen. Es dauert nur 3 Tage, bis du ihn bekommst. Erzähler Im Gespräch kommt er mehrfach auf den Präsidenten Paul Kagame zu sprechen. Er lobt seine Führungsqualitäten und die Stabilität, die er dem Land bringt. Ich habe den Eindruck, dass der strenge Präsident für ihn, den Vaterlosen, auch eine Art Vater-Figur darstellt. O-Ton 33 78 Emmanuel NZABAREGERIMANA part 2 [03:15 - 03:25] Just for our President Paul Kagame, we believe in him. Because he is the right man who is leading the country. Sprecher 2 (OV) Wir glauben an unseren Präsidenten Paul Kagame. Er ist der richtige Mann, um unser Land zu führen. Erzähler Ich muss mich gut festhalten, auf dem Soziussitz des kleinen, indischen Motorrads. Es kämpft sich im Schlagloch-Slalom über Feldwege, die für Autos unpassierbar wären. Seit einer halben Stunde geht es Hügel rauf, Hügel runter. Claudine hat mich eingeladen, sie zu besuchen. Als wir im Dorf Kibiraro ankommen, steht sie bereits auf der kleinen Treppe vor der blauen Haustür. Ich glaube, Besitzerstolz in ihrem Gesicht lesen zu können, als sie mich hereinbittet. Die Wände sind mit Lehm verputzt, grünweiße Häkeldecken zieren die Couchgarnitur. Ich überreiche ihr ein Foto, das ich vor zwei Jahren aufgenommen hatte. Es zeigt Claudine in diesem Wohnzimmer, eine runde Lampe vor sich haltend, die ein warmes Licht ausstrahlt. Für mich symbolisiert das Bild ihr inneres Leuchten, ihren Weg der Heilung. Claudine sagt, grundsätzlich gehe es ihr gut. Die meisten Nachbarn, auch die Hutu, seien freundlich zu ihr. O-Ton 37 Claudine über Nachbarn [00:00 bis 00:19] -----spricht Kinyaruanda--- Sprecherin 2 (OV) Wir helfen uns gegenseitig mit Wasser aus. Sie kümmern sich um die Kinder, wenn ich nicht zu Hause bin, sie haben mich sogar mal im Krankenhaus besucht. Erzähler Aber vor ein paar Wochen wurde ihr eine Kuh gestohlen. Sie hatte viel Milch gegeben. Nun muss sie ihre vier Kinder ohne das Geld aus dem Milchverkauf durchbringen. In Claudines Augen sammeln sich Tränen, während sie erzählt. Sie fühlte sich wieder so ohnmächtig und verloren wie damals, als Neunjährige auf der Flucht vor den Hutu-Mördern. Ich frage sie, was ihr hilft, wenn sie erneut von quälenden Erinnerungen überfallen wird, besonders in den dunklen Stunden der Nacht? Sie sagt, sie wende die Übung an, die ihr Thérèse gezeigt habe. Dabei verkörpert jeder Finger eine andere positive Aussage, die sie stärken soll. Sie macht es vor, umfasst mit der rechten Hand nacheinander die Finger der linken. O-Ton 34 65 Claudine Fingeru¨bung ----spricht Kinyarwanda---- Sprecherin 2 (OV) Ich will nach Gottes Willen leben. Ich entwickle mich mit Gottes Hilfe. Ich lebe in Frieden mit anderen. Ich erlebe Freude mit meiner Familie. Ich will glücklich sein. Sprecher 1 Der lange Schatten des Völkermords Ruanda 30 Jahre danach ein Feature von Michael Gleich Es sprachen: Franziska Arndt, Justine Hauer, Stefko Hanushevsky, Tom Jacobs, Svenja Wasser und der Autor Ton und Technik: Christoph Rieseberg und Lukas Fehling Regie: Claudia Kattanek Redaktion: Wolfgang Schiller Eine Produktion des Deutschlandfunks 2024 2