Hörspiel Feature Radiokunst Das Feature Kinderreich Von Simone Trieder Regie: Claudia Kattanek Redaktion: Ulrike Bajohr, Wolfgang Schiller Produktion: Deutschlandfunk 2019 Erstsendung: Dienstag, 21.05.2019, 19.15 Uhr Wiederholung: Dienstag, 15.08.2023, 19.15 Uhr Es sprach: Claudia Mischke Ton und Technik: Christoph Rieseberg und Katharina Lueg Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - (auf Musik) O-Ton Stefan Ja, das war meistens zum Abendbrot. Da wurde verkündet: Wir haben euch etwas mitzuteilen. Und die meisten wussten schon, was es war. Ihr bekommt ein neues Geschwisterchen. Das war nichts Weltbewegendes für uns. Ach so, ein neues Geschwisterchen. O-Ton Dirk Ich weiß bei uns im Nachbarhaus wohnte eine Familie, die hatten mehr Kinder als wir, so elf oder so, und da war fast jedes Kind von einem anderen Mann. Da war also immer dieser Asivorwurf da, das muss man unterscheiden kinderreiche Familien in der DDR so oder so, wir wurden gefragt: seid ihr katholisch? Ansage: Kinderreich Ein Feature von Simone Trieder O-Ton ZDF Die Geburtenrate liegt höher als bei uns - obwohl 9 von 10 DDR-Frauen berufstätig sind. So wie es die Ideologie wünscht. Wie ist es vereinbar für die sozialistischen Schwestern - Kinder, Küche und Kombinat? Erzählerin fragte die ZDF-Sendung Kennzeichen D am 10. Oktober 1984 O-Ton Stefan Ja, ich kann mich gut erinnern, als wir in Kröllwitz gewohnt hatten, da haben wir irgendwann einen Plan gemacht von uns aus, von den Kindern aus. Es wurde nicht angewiesen, wir haben uns gedacht, Mensch, jetzt machen wir `n Plan und verteilen mal so bestimmte Arbeiten. Abendbrotdienst, wer geht einkaufen. O-Ton ZDF Es scheint zu funktionieren, das geregelte Familienleben nach Plan. O-Ton Stefan Und und und. Es wurde ein genauer Plan aufgestellt, der hing dann an der Küchentür an der Seite, da konnte man so kleine Schildchen in so kleine Schlitze stecken, und da wurde genau geplant, wer wann dran war. Abendbrotdienst hieß tatsächlich Abendbrot machen mit allem Drum und Dran. Tisch decken, abräumen, abwaschen. Das war richtig viel Arbeit. O-Ton ZDF Die Kinder im Sozialismus sind es vielleicht so gewohnt. Auch die Kinder von Frau Heine. O-Ton Dirk Ich habe fünf ältere Brüder, ich bin der 6., dann kommt ein Mädchen, Junge, Mädchen. Erzählerin Dirk, die Nummer sechs also, hat den Namen seiner Frau angenommen. Strobel. Er fand, Heines gibt es genug: allein sieben Jungs, dazu zwei Mädchen. Wo sie geboren sind, ist einfach: in Halle an der Saale. Aber wer wann geboren ist, da muss selbst Dirk nachschauen: Thomas 1963, Volker 1964, Klaus 1966, Stefan, 1967, Jürgen 1969, Dirk 1973, Katja 1976, Martin 1980. Betina kam 1986 zur Welt. 2 Jahre nach der Sendung zur Welt. O-Ton Dirk Ich kann nicht sagen, sind wir Wunschkinder oder keine Wunschkinder, ich habe meine Mutter öfter mal gefragt, wie das eigentlich gekommen ist, und die Antwort ist: was kommt, das kommt. Was kommt, das kommt. Musik Großfamilienleben O-Ton Stefan Langeweile war ein Fremdwort für uns. Es war immer jemand da zum Sprechen oder wenn man ein Problem hatte, es war immer Trubel, es war immer volles Haus eigentlich, es war ja nie leer. Und grad die Feste, die stattfanden, die waren riesig mit vielen, vielen Personen, da kam ja auch noch die andere Verwandtschaft dazu, die Onkel und Tanten, das war schon eine sehr, sehr große Runde. Erzählerin Das ist Stefan, der vierte Heinesohn. O-Ton Stef./Volker Jetzt kommt er, der Volker, die Nummer zwei. Hallo. Volker: Ich hab ´s nicht eher geschafft. Erzählerin Wir sprachen gerade über Feste in der Familie Heine. Ich versuche mir ja auch Weihnachten vorzustellen, die vielen Geschenke - O-Ton Stef./Volk Ich weiß nicht wie es war, als wir klein waren, aber als wir größer waren, als man schon so den Wert des Geldes kannte, wurde immer gesagt, so ein Geschenk darf nicht mehr als 20 Mark kosten. Volker: und dann haben wir so `n ferngesteuerten Polizeiwagen gekriegt, wo die Batterien schon alle waren. (Lacher) weil der Papa das schon ausprobiert hat, am Abend vorher. So ´ne Flachbatterien waren nicht aufzutreiben zu Weihnachten. Ich hatte mal so ´n roten Ferrari bekommen zu Weihnachten. Mit so ´ner Steuerung, da war ich stolz wie Rettich. O-Ton Stef/Vol Aber man hat sich auch über ´n Pullover gefreut, damals, `ne Hose. Opa und Oma kamen immer runter. Da war noch mal Bescherung und da bekamen wir vom Opa jeder ein Fünfmarkstück. Das war das Weihnachtsgeschenk, da konnten wir uns jeder was selber kaufen. Musik O-Ton Stef./Volk Schön waren auch die Feste draußen in der warmen Jahreszeit, wenn eine lange Tafel aufgebaut wurde. Das sah wirklich aus wie in einem italienischen Film. Da wurden mehrere Tische aneinandergestellt. Da saßen wir alle an so einer langen Tafel im Hof, bis open End. Da war noch ´ne Terrasse. Der Grillplatz später. Wo in den besten Zeiten sogar zu Silvester gegrillt wurde. Stefan: Echt? Das weiß ich nicht mehr. Volker: da hab ich Erinnerungen, da haben wir im Schnee gesessen hinten, an den Tischen und haben gegrillt. O-Ton Dirk Ich bin so großgeworden und kann nicht sagen, wie sich das Leben einer kinderreichen Familie unterscheidet von einer nicht kinderreichen. Jetzt im Rückblick sehe ich, ist ein großer Unterschied, das Großwerden, dass die Eltern nicht immer drum herum, weil meine Eltern haben immer Vollzeit gearbeitet, meine Mutter hat, trotz der vielen Kinder immer Vollzeit gearbeitet. Ich merke, dass ich viel, klar, von meinen Geschwistern erzogen wurde. Erzählerin Dass Dirk viele Geschwister hat, wusste ich, wir kennen uns schon lange aus der Hallenser Kulturszene. Von ihm weiß ich auch, dass das Westfernsehen bei seiner Familie zu Hause war, um das DDR-offizielle Bild vom kinderfreundlichen Staat zu überprüfen. O-Ton ZDF Genosse Storch fliegt neues Planziel an. Mehr Kinder braucht das Land, besagt ein DDR-Rechenexempel. Mit materiellen Anreizen will dies der Staat erreichen. Musik Erzählerin Ich machte mich auf die Suche nach Archivmaterial, um zu vergleichen: was stand auf dem Papier - was kam bei Familie Heine an. Ich fand jede Menge "Maßnahmen": Zum Beispiel hatte der Staat seit den 1960er Jahren die katastrophale Wohnsituation vieler Großfamilien im Blick. Vor der Geburt des 6. Kindes lebte auch Familie Heine noch in einer kleineren feuchten Wohnung. O-Ton Stefan Das war ´ne Wohnung, also fast nur Durchgangszimmer, man kam rein, da stand gleich der Ofen, ein großer Raum, das war Wohn- und Esszimmer zugleich. Dann gab es mehrere Räume hintereinander. Es war auf jeden Fall beengter, gut, es waren ja noch nicht ganz so viele Kinder da, aber es war sehr beengt. Erzählerin Dirk ist schon in der neuen Wohnung aufgewachsen. O-Ton Dirk Also wir hatten in einem Mehrfamilienhaus gewohnt, in dem haben unten wir gewohnt, darüber meine Großeltern mütterlicherseits und ganz oben hat eine Mieterin gewohnt, die aber dann irgendwann auszog, und meine Eltern haben dann die Wohnung von ihr mitgenommen und das waren 3 Zimmer, die Küche wurde zum Zimmer umgebaut, da waren meine ältesten Brüder untergebracht, wir platzten schon aus allen Nähten, klar - Und, wir haben dort Miete gezahlt. Wir hatten zwei Etagen in einem Mehrfamilienhaus, aber wir haben nie ein Haus besessen, das wäre finanziell nicht machbar gewesen. Erzählerin Genehmigungen zum Eigenheimbau erhielten Kinderreiche bevorzugt - doch nur wenige Familien hatten das Kapital dazu. Da half auch das Kindergeld nicht weiter - selbst wenn es, wie bei Heines, das Familieneinkommen um etwa ein Drittel aufstockte. Außerdem gab es staatliche Beihilfen zur Miete, für Möbel, Federbetten, Waschmaschinen, zum Umzug oder für die "Winterbevorratung". O-Ton Dirk Viele haben es kinderreichen Familien geneidet, dass sie angeblich so viele Vergünstigungen bekommen haben. Es gab sinnvolle, gute Vergünstigungen, wie freies Schulessen, Schulmilch usw. Es gab auch Vergünstigungen, die konnte man in der Pfeife rauchen, wie z.B. dass kinderreiche Familien bevorzugt wurden beim Wäscheverkauf, aber wenn ich keine Bettwäsche kaufen kann, nützt es mir nichts, wenn ich beim Bettwäschekauf bevorzugt werde. O-Ton Stef./Volk Es gab kostenlos Milch, Schulessen und die Bücher, Stefan: Bücher waren ja immer kostenlos. Ich weiß, ich habe damals eine Art Stipendium gekriegt, 30 Mark von der Schule im Monat. Ich weiß nicht, warum - Erzählerin Die Kommunen waren angehalten, Referate für Kinderreiche zu bilden. Aus dem Protokoll einer Ratssitzung der Stadt Halle klingt 1987 schüchtern ein Hilferuf: Die Abteilung Gesundheits- und Sozialwesen hatte nur eine Mitarbeiterin, um 1000 Familien mit 3 und mehr Kindern zu betreuen und die zur Verfügung stehenden Gelder zu verteilen. Eine ordentliche Jeans wäre den Heine-Brüdern ohnehin lieber gewesen - O-Ton Stef./Volk Es war manchmal so, dass man vielleicht ein bisschen neidisch auf die eine oder andere Hose geguckt hat. Ja (lacht), bei uns war es so, ich hatte immer bei meinem großen Bruder so auf die Hose geguckt, nach dem Motto, wann ist der rausgewachsen und ich krieg sie. Wir hatten auch Anoraks, wenn die zu kurz waren, wurden so lange Strickbündchen an die Ärmel gemacht. Die wurden verlängert, damit die länger halten. An die Hosen wurden unten halbe Reißverschlüsse drangenäht, damit die sich nicht so schnell abstoßen unten. Oder ein Kunstledersaum unten dran, um die zu verlängern. Ja, da hat man manchmal ein bisschen neidisch geguckt. O-Ton Dirk Ich gehörte zu den Kleinen. Die Großen waren bis zu meinem Bruder Jürgen. Erzählerin Jürgen. Die Nummer fünf. O-Ton Dirk Die Altersabstände bei meinen älteren Brüdern sind alle zwischen einem und anderthalb Jahren. Es ging also zack, zack, zack. Von meinem nächstälteren Bruder zu mir sind es dreieinhalb Jahre. Dann von mir zu meiner nächsten Schwester sind es auch dreieinhalb Jahre. Zum kleinen Bruder auch dreieinhalb Jahre und zur Jüngsten sind es sechs Jahre. Deswegen hab ich immer schon zu den Kleinen gehört. Man hat als Jüngerer den großen Vorteil, dass die älteren Geschwister viele Sachen erkämpfen, von dem man dann Nutznießer ist. Ich durfte viele Sachen, die meine älteren Geschwister noch nicht durften. Natürlich durften die länger aufbleiben oder was weiß ich. Erzählerin Dann haben die Großen sich bestimmt um die Kleinen gekümmert, sie von der Schule abgeholt und so.... O-Ton Stef./Volk Nee, unsere Schule war ja fünf Minuten Fußweg. Wenn überhaupt. Und es hatte ja jeder unterschiedlich Schluss. Stefan: ist ja nur ein Steinwurf entfernt und wir sind ja auch in den Hort gegangen. Von der 1. bis zur 4. Klasse waren wir im Hort im Birkenwäldchen oben. Volker: Und dann ging´s ja sowieso meistens raus, jeder ist danach noch mit irgendwelchen Freunden rumgezogen in Kröllwitz, das war ja ein großer Abenteuerspielplatz, das ganze Dorf. Stefan: Spiel mit dem Freund, weiß ich, oder auf dem Ochsenberg. Oder bestimmte Gegenden, wo man sich immer rumgetrieben hat. Volker Wir haben uns nicht rumgetrieben, wir haben entdeckt. O-Ton Dirk Ich kann das hauptsächlich für Kröllwitz sagen: mein Großvater war angesehen in der Ortschaft, meine Mutter auch, man hat uns durchaus auf der Straße erkannt und auch mit Namen angesprochen, wenn wir einkaufen waren. Erzählerin Kröllwitz ist ein Stadtteil von Halle, ein einstiges Fischerdorf an der Saale. O-Ton Dirk Na, klar hatte ich n Schlüssel, na klar war ich selbstständig. Wir waren insofern keine Schlüsselkinder, weil wir nie auf uns selbst gestellt waren. Ich hatte einfach viele Geschwister. Ich war ganz froh, wenn ich zu Hause war und ein zwei Stunden für mich war, glaube ich. Wenn man aus der Schule kam und noch keiner weiter zu Hause war. Musik (Ich wünsch mir ein Baby sehr...) Die Eltern O-Ton Stefan Ich weiß, dass einer aus meiner Klasse beim letzten Klassentreffen gesagt, er hat das immer bewundert, dass meine Mutter immer wie so eine Glucke um alle rum ist. Sie hat ja auch versucht, wenn wir Freunde eingeladen haben, die wurden ja gleich mit integriert in die Familie. Da war dann der Haufen noch größer, rutscht mal ein bisschen zusammen jetzt kommt noch ein Teller, da war das völlig egal, nach dem Motto, wo elf satt werden, werden auch noch drei mehr satt. Erzählerin Aber nicht nur am Tisch wurde zusammengerückt O-Ton Stef/Volk Wir waren bloß zu dritt in einem Zimmer. Kurzzeitig zu viert. Weil von meinem älteren Bruder noch der Kumpel bei uns geschlafen hat. Ein halbes Jahr oder so mindestens. Der ist nicht so richtig klargekommen mit seinen Eltern oder so und da hat er halt bei uns gewohnt. Stefan: und bei mir und Jürgen im Zimmer hat ´ne Zeitlang Tante Hedi gewohnt, weil die krank war. Kannst dich dran erinnern? Volker: die Heineoma. Stefan: Nee, Tante Hedi war bei uns im Zimmer. Erzählerin Es war also nicht so, wie man vermuten könnte, dass die im Haus wohnenden Großeltern die Enkel mitbetreuten, nein, Mutter Heine nahm sogar ihre Tante zur Pflege auf. O-Ton Stefan Unsere Oma, die Schwester von der Tante Hedi, die haben ja genug Platz gehabt, aber die war bei uns unten. Volker: die war immer bei uns, die ganzen Tag. Die war nie oben bei ihrer Schwester. Die war immer bei uns. O-Ton Dirk Was meine Eltern natürlich permanent gemacht haben, das wäre heute gar nicht so möglich, die haben permanent ihre eigenen Bedürfnisse hintenan gestellt. Musik Erzählerin Im Protokoll der Stadtratssitzung von Halle wird in den 1980ern eine Koordinierungsgruppe "Kinderreiche Familien" angeregt, darin sollten vertreten sein: "Mitarbeiter Abteilung Gesundheits- und Sozialwesen, Wohnungswirtschaft, Handel und Versorgung, Kultur. Fürsorgerinnen von: Schwangerenberatung, Mütterberatung, Jugendhilfe, Jugendgesundheitsschutz, Betrieb. Die Sparkasse. Der FDGB. Der Abschnittsbevollmächtigte der Volkspolizei." Erzählerin Da die Koordinierungsgruppe bis zum Ende der DDR nicht mehr auftaucht, ist sie wohl ein Papiertiger geblieben. Familie Heine vertraute vor allem den eigenen Kräften. O-Ton Stefan Es war alles durchorganisiert, also meine Mutter hat da ganze Arbeit geleistet, natürlich, sie war ja auch Kindergärtnerin. Ich weiß bis heute nicht, wie sie das überhaupt hingekriegt hat. Mein Vater war eher der Mensch, der viel auf Arbeit war, meine Mutter war die Managerin der Familie. Ist mir heute noch unbegreiflich, wie das funktioniert hat. O-Ton ZDF Frau Heine ist ausgebildete Kinderpädagogin und leitet diesen Kindergarten. Drei Jahre hat sie an der Pädagogischen Fachschule studiert, als sie selbst schon 5 Kinder hatte. Das 6. kam gleich nach dem Staatsexamen. Aus eigner Erfahrung hilft sie anderen Müttern, sich zu qualifizieren, wie es hier heißt. So will es der Staat. Ein sozialistischer Kreislauf, sozialistisches Ideal? O-Ton Stefan Wir haben das zwar manchmal mitbekommen, wenn noch eine Maschine rumpelte, aber vieles ist auch passiert, als wir schon im Bett waren. Sie hat gesagt, dass sie manchmal erst 23 Uhr ins Bett gekommen ist oder später. Bis alles wirklich erledigt war. Erzählerin Ohne Putzfrau. Für den Haushalt gab es ein paar kommunale Hilfen. Ich lese den Brüdern die Liste vor: (auf Musik) "Schuh-Schnellreparaturen Schnellreinigung von Kinderbekleidung Hausablieferung von Fertigwäsche Beschleunigte Reparatur von Waschmaschinen Kurzfristige, zuverlässige Frei-Haus-Lieferung beim Kauf von Kühlschränken, Waschmaschinen, Fernsehern?" Die Brüder schütteln den Kopf, nie gehört. Aber: "Ermäßigter Eintritt in die Einrichtungen des VEB Naherholung, Freibad" usw...? O-Ton Volker So was haben wir nicht gebraucht, wir hatten unsere Kiesgrube. Steinbruch. - Ich glaube, es gab ja auch Einkommensgrenzen für solche Unterstützung, ich glaube, das Einkommen unserer Eltern war dann doch etwas höher als der Durchschnitt, deswegen ist auch einiges weggefallen. Erzählerin Auch staatlich gelenkt, aber besser organisiert waren Ferien und Urlaub. Jeder Betrieb in der DDR unterhielt mindestens ein Betriebsferienlager, wo Kinder im Alter von 7 bis 14 Jahren zwei Wochen lang betreut wurden. Ebenso gab es Betriebsferienheime. Familie Heine fuhr fast jedes Jahr nach Weida in Thüringen. O-Ton Stefan In so ´n Heim von der Wasserwirtschaft. Erzählerin Was logistisch nicht so ganz einfach war: O-Ton Dirk Dass wir nie alle zusammen in Urlaub fahren konnten, transportmäßig, sondern dann gestückt gefahren sind. Wir hatten dann später ein Auto und die älteren Brüder sind mit dem Motorroller gefahren, manche mit dem Zug oder so - O-Ton Stefan Das war immer schön. Das war ein großes Haus mit vielen, vielen Zimmern. Und das Schöne, es waren zwei und drei-Bettzimmer, wir haben ja fast das ganze Haus belegt. Da gab´s Wald zum Wandern, die Boote nehmen, das war schön, konnte man als Junge eigentlich den ganzen Tag unterwegs sein, da haben die Eltern auch nicht so groß drauf geguckt, es war ja früher noch nicht so schlimm. Da konnte man sich doch ein bisschen freier noch bewegen. Dann ging´s ab durch den Wald oder Paddelboot fahren. Baden am See, angeln. Geangelt, dann wurde es gleich gebraten in der Küche oben. Erzählerin Und noch eine spezielle Form der Förderung kinderreicher Familien wurde der Familie Heine zuteil: die Ehrenpatenschaft für das 6. Kind: Dirk. (Musik) Das Patenkind Erzählerin Im Bundesarchiv gibt 30 Regalmeter Papier zu den Ehrenpatenschaften der DDR-Staatsratsvorsitzenden. Darunter findet sich ein Schreiben des SED-Wohnbezirksausschussvorsitzenden aus Halle an der Saale. Er empfiehlt das sechste Kind des Ehepaars Heine: Der Vater vollbringe sehr gute Leistungen im Betrieb, er sei Aktivist und staatsbewusster Bürger. Und über die Mutter steht geschrieben: "Hervorzuheben sind ihre Lebenserfahrung, die gute Arbeitsorganisation, ihre Willensstärke und nicht zuletzt ein ausgeprägter Klassenstandpunkt. Sehr gute Studienergebnisse." In ihrer wenigen Freizeit lese und bastle sie gern und treibe Sport. Dirk ist im Februar 1973 geboren, der Antrag wurde am 16. April gestellt und schon eine Woche später genehmigt. Dirk Heine ist eines der letzten von insgesamt 19.649 Patenkindern des Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht. O-Ton Volker Ich muss ehrlich sagen, ich spreche jetzt nur für mich. Das ist völlig an mir vorbeigegangen (lacht). Stefan: da wurde nicht darüber gesprochen. Ich habe nur dieses Sparbuch gesehen, wo die 100 Mark drin standen und diesen besonderen Umschlag mit den goldenen Lettern. Erzählerin "Ehrenpatenschaftsgeschenk des Vorsitzenden des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik." O-Ton Dirk Ich glaube, es wurde mir erst so richtig bewusst einfach durch diesen Koffer. Es hieß, das ist dein Koffer, der Patenschaftskoffer. Du bist das Patenkind von Walter Ulbricht. Meine Großtante, die sagte, ja aus dem wird mal was ganz Großes. Ich weiß noch, dass ich als Kind, als Pionier immer versucht habe zu sagen, da so ´n Gefühl zu entwickeln, so eine Art Stolzgefühl, ist mir nie gelungen, weil ich gar keinen Bezug hatte. Irgendwann wurde es auch so eine Anekdote von mir, wo ich sagte aha, wisst ihr eigentlich - Erzählerin Eine Vertreterin der Stadt überreichte Dirks Mutter ein "Epapa", so wird das Ehrenpatenschaftspaket in den Unterlagen abgekürzt. In dem Koffer, laut Inhaltsverzeichnis: (auf Musik) 2 Mal Bettwäsche, 2 Bettlaken, 2 Badetücher, 2 Schlafanzüge, 5 Strumpfhosen, 1 Strickanzug, 1 Rodler, 1 Plüschtier. Der "Vorgang" wurde am 24. Juni 1974 "aktenkundig abgeschlossen". Ulbricht hat sein Patenkind natürlich nie gesehen. O-Ton Stef/Volk Volker: Vermutlich hat er auch nichts davon gewusst. Mehr oder weniger das wurde nur so hingenommen, vielleicht so, Hauptsache, der kommt nicht zum Essen. Für den hätten wir auch noch `n Teller gehabt. Klar, wo 11 satt werden, werden auch 12 satt. Vielleicht hätt er sein Trudchen mitgebracht. O-Ton Dirk Mein Onkel Walter - hat sich da rausgezogen, indem er einfach ein halbes Jahr nach meiner Geburt gestorben ist. Weg war er, hat mich nie zum Kaffeetrinken eingeladen. Es gab ja diesen schönen Witz. Ulbricht hatte ja versprochen, ich glaube, ´72 oder ´73, dass die Saale so sauber werden wird, dass er ein Glas Wasser aus der Saale trinken wird. Aber bevor er es einlösen konnte, ist er verstorben, ansonsten wäre er verstorben, wenn er das Glas Wasser getrunken hätte. Erzählerin Lag es an Patenonkel Walter, dass Dirk Berufsoffizier werden sollte? O-Ton Dirk Ich setze das nicht in Verbindung. Die Berufslaufbahn hätten auch meine älteren Geschwister einschlagen können. Das hängt eher daran, dass meine Familie uns sozialistisch erzogen hat. Erzählerin Die Berufslenkung begann in der DDR in der 7. Klasse. Bei der Gelegenheit wurden auch die wenigen Schülerinnen und Schüler ausgewählt, die Abitur machen und studieren sollten. Und dann ging es vor allem um die Jungs... O-Ton Dirk Es kennen ja noch viele aus der Zeit der DDR, dass irgendwann die Lehrer, Klassenlehrer, die Jungs angesprochen haben, ob sie Berufsoffiziersbewerber werden möchten. Im schönen Einzelgespräch meistens. Der Klassenlehrer hat ganz schön gegraben und nicht locker gelassen, und da hab ich gesagt, ich könnte mir vorstellen, Berufsoffizier zu werden. Erzählerin Mutter und Vater Heine jedenfalls haben ihre Kinder nicht in bestimmte Berufe gedrängt. Und die Brüder... O-Ton Stef/Volk Die haben gesagt, du musst mal langsam zu Potte kommen, ist nicht mehr so viel Zeit. Dann hab ich das gelernt, was da grad noch frei war. Es war nicht mein Traumberuf, nein. Eigentlich wollte ich Grafik und sowas machen, aber... Stefan: Bei mir war ´s so, dass, in der 9. Klasse gab es dieses Berufsheft, da waren ganz viele Berufe drin, grad Handwerksberufe. Meine Mutter hatte mich positiv erwischt, irgendwo in Halle wurde eine Fassade des Stucks entledigt, da wurde der Stuck abgeklopft, das lag dann unten. Ich hab mir was mitgenommen und hab dann im Keller an so einer alten Konsole gebastelt, ich wollt die wieder neu machen. Das hat meine Mutter gesehen und hat dann mich dann drauf hingewiesen, Mensch, das ist der Beruf des Stuckateurs. Und dann hab ich mich beworben. O-Ton Dirk Einer meiner ersten Berufswünsche war Puppenspieler. Komischerweise, Puppenspieler und dann Illustrator, das war auch wirklich ein konkreter, weil ich habe viel gezeichnet und gern gezeichnet. Dann hieß es, der erste realistische Berufswunsch war dann Chemielaborant. Und von dem Chemielaboranten haben sie mich dann umgebogen auf den Berufsoffiziersbewerber. Erzählerin Für Dirk war noch ein ganz spezieller Weg vorgesehen: der des Nachwuchskaders für das Ministerium für Staatssicherheit. O-Ton Dirk Da war ich 13 oder 14, ist verrückt, wenn man da heute draufguckt. Absolut verrückt. Da haben die gesagt, wenn dein Zensurenspiegel weiter so bleibt, ermöglichen wir dir, wenn du ins Abitur gehst, also, wenn ich delegiert werde, so hieß das früher, und wenn du delegiert wirst und dein Abitur mit mindestens 2 machst, kannst du Jura studieren. Aber, du studierst ja dann Jura sozusagen unter unserer Hand, und ich verpflichte mich, dass ich als Jurist für die Staatssicherheit arbeite. Als Festangestellter. Das klang ja erst mal: Jura studieren - super. Und so hat sich das entwickelt. Und ich glaube, dass das völlig unabhängig von der Patenschaftsgeschichte gewesen ist. (Musik) Die Vorzeigefamilie Erzählerin Die Heines waren nicht einfach nur eine Familie mit vielen Kindern. Beide Eltern qualifizierten sich immer weiter. Die Mutter zur Kindergartenleiterin. Der Vater, gelernter Fernmeldetechniker, wurde Ingenieur in der Energiewirtschaft. Manch Illustrierte wollte ihrem Publikum vorführen, wie es bei Heines zugeht. Die Brüder erinnern sich, dass sie für ein Zeitungsfoto um das aktuell jüngste Geschwisterchen herumstanden. Und dann kam das Westfernsehen. O-Ton Stef/Vol Ich möchte ja nicht übertreiben, aber wir waren ja die Vorzeigefamilie. Wir hatten Besuch von Kennzeichen D, die waren da, die NBI war da. O-Ton ZDF (Atmo) Eine DDR Musterfamilie von beinahe schon erschreckender Tüchtigkeit Vater: Martin, komm hinter zur Mutti. Martin: Mutti, darf ich schon essen? Vater: Guck mal, die Mutti hat so feine Tomaten da stehen...) O-Ton Stef/Vol Volker: Als das ZDF da war, da war ich bei der Armee gerade. Da ist mein ältester Bruder gerade auf Urlaub gekommen. Der musste ganz schnell, weil der seine Uniform anhatte, ganz schnell hochgeführt werden, zur Oma. Damit die den ja nicht sehen, denn da war ja auch die Stasi vor Ort und alles. Erzählerin Allerdings passten die Herren von der Stasi nicht mehr in die Küche, wo gedreht wurde O-Ton Stef/Vo Die saßen im Wohnzimmer und haben Fußball geguckt, richtig dabei waren die auch nicht. Stefan: Also ich war ja da und ich war in der Lehre. Und ich wollte gar nicht nach Hause, weil mir das komisch war. Und dann dachte ich, naja, die werden schon fertig sein. Und bin nach Hause gegangen und da hab ich schon in der Seitenstraße, in der Grellstraße so ein weißes Auto gesehen und dachte ich, na, sind noch da. Und gehste rein. Es war so, ich hatte geklingelt. Und die Tür ging auf und es wurde eine Kamera auf mich gehalten und `ne große Lampe und - ich war so erschrocken. Und die Mama kam an - Ah, Hallo, wie geht's denn, du kommst ja von Arbeit, na und wie war ´s?? Ich war - unsere Mutter hat mich nie so empfangen. Sie hatten uns dann beim Abendbrot gefilmt, das weiß ich noch. Das Schönste war eigentlich, dass sie meinen Papa auch befragt hatten, und er hat ganz schwulstig angefangen irgendwas zu erzählen, und - da fiel die Kamera aus. Tut uns leid, jetzt müssen wir noch mal das Ganze. Mein Vater fing wieder an, bum, war die Kassette alle. Das Ganze noch mal von vorne. Beim 3. Mal fiel das Licht aus. Ich hatte drei oder vier Mal den gleichen Text von meinem Vater gehört, das war schon wirklich lustig. Mich hatten sie, glaube ich, gefragt, wie stellst du dir dein Leben vor? Möchtest du mal heiraten? Ich: nein! ich will nicht heiraten, ich war jung. (Musik) Erzählerin Ich versuche mir vorzustellen, wie es ist, wenn dieses halbe Dutzend Jungs, der 7. Junge kam ja viel später, kurz nacheinander in die Pubertät kommt - O-Ton Stef/Volk Volker: Habe ich revoltiert? Eigentlich nicht. Stefan: ich war nicht immer ein braver Junge. Volker: Wer war das schon. Man hat mal Mist gebaut. Unsere Eltern haben uns ja nie gehauen, nie geschlagen. Das Schlimmste war eigentlich, wir mussten dann ins Zimmer gehen und mussten dann genau überlegen, was wir getan haben. Und mussten dann mit einer Erklärung zu den Eltern kommen. Und das war das Schlimmste, ich hab mir so das Hirn zermartert. Oh, was sagst `n jetzt. Ich hätte lieber einen Klaps auf den Hintern gekriegt. Wie willst `n das erklären. Wir mussten dann zu den Eltern, wir mussten uns dann erklären. Auflehnung gab´s nicht. Es gab ja auch Zeiten, da hat man Stubenarrest bekommen, aber wir haben im Erdgeschoss gewohnt, da ist man eben aus dem Fenster gesprungen. Stefan: Hinten zum Hof hin? Volker: nee, vorne, zur Straße. Stefan: vorne. Echt? Nee, das hab ich nicht gemacht. Erzählerin Auch Dirk ging in der Pubertät seine eigenen Wege. Zunächst noch, mit 15, als Mielkes Nachwuchskader O-Ton Dirk Es gab so ein Treffen, irgendwann 88 oder so, wo alle, also die Nachwuchskader Staatssicherheit wurden eingeteilt in Halle in diese Jahrgänge und die Jahrgänge wiederum in Gruppen. Es gab in meinem Jahrgang 3 Gruppen, die immer so 10, 15 Leute stark waren, die jeweils einen Namen hatten, codiert waren. Das Räuber- und Gendarm-Spiel. Und die Gruppen wurden eingeladen zum Bowling und dann wurden wir einzeln in so ´n Seitenraum, da wurde einzeln mit uns gesprochen und da haben wir das auch unterschrieben. Ich hab mich verpflichtet, das nicht zu gucken, und meine Eltern, das sicherzustellen, dass in dem Haushalt das konform ist. Erzählerin Die Eltern, beide SED-Mitglieder, unterschrieben, dass Dirk kein Westfernsehen schauen darf. In der Familie wurde ohnehin wenig Fernsehen geguckt. Die Kennzeichen-D-Sendung vom 10. Oktober 1984 haben die Heines nie gesehen. (Musik) Dirks Weg Erzählerin Dirk absolvierte eine typische DDR-Schullaufbahn - polytechnische Oberschule, Pionier, FDJ - als einer Musiklehrerin seine Stimme auffiel. Sie schickte ihn zum Stadtsingechor Halle, einem der ältesten Knabenchöre Deutschlands. Dirk kam in eine Spezialklasse für junge Sänger. O-Ton Dirk Ich hatte den großen Vorteil in einer Klasse zu sein nur mit Jungs, 12 Jungs, keine Mädchen, kleine Klasse, also auch besondere Leistungsanforderung, aber auch besondere Möglichkeiten, die man hatte. Wir hatten normalen Unterricht mit Besonderheiten, mehr Musikunterricht, Stimmbildung und Musiktheorie, und nahezu täglich Chorproben. Da hab ich meine Abiturzeit mit sieben oder acht Mitschülern verbringen können. Und damit fällt zusammen, dass ich langsam in die Pubertät schlitterte, wo man sowieso mit seinem Elternhaus sich vieles überlegt und in die Kritik geht, und in die Gegnerschaft und Ablösung, und gleichzeitig mit dem musischen Feld, das ganz andere Impulse gibt, in Berührung kommt. Auch mit dem Glauben, das ist zwar ein weltlicher Chor, der Stadtsingechor zu Halle, aber dennoch haben wir geistliche Literatur gesungen. Schütz, Händel. Andere Impulse, das war schon mal so ´n Ding. Man hat sich auch mit anderen Dingen beschäftigt im Kopf dadurch. Wo manches aufging, als Tür aufging. Erzählerin: Noch eine Tür: die in die Welt des Theaters. O-Ton Dirk Als ich in der 7. Klasse war, gab es vom damaligen Theater Junge Garde, heute Thalia-Theater, das Angebot, dass man da in den Winterferien einen Theaterkurs macht. Da ist ein schöner Irrtum passiert. Das Angebot richtete sich an die Lehrer und mein Klassenlehrer dachte, es war für die Schüler. Die Theaterpädagogen haben gesagt, jetzt bist du hier, machste mit. Und plötzlich so eine Welt, die aufging, die aber auch plötzlich ganz viel Widerspruch aufmachte - weil man sich im Theater auch mit verschiedenen Sichten auf Welt beschäftigt. Und das kommt mit der Pubertät zusammen und es gab ein Stück: Paule Panke, da ging es darum: mischt euch ein. Das war ein Chor: Mischt Euch ein! Erzählerin All diese Anregungen blieben nicht ohne Wirkung auf den 16-Jährigen. Etwas anderes brachte sein Weltbild ins Wanken. O-Ton Dirk Und dann gab es die Möglichkeit 89, da sollte der Chor nach Griechenland reisen. Da hätte ich auch nicht mitkommen können. Da hieß es, mit der Ziellaufbahn kannst du nicht ins NSW fahren. Das war so ein Punkt, wo ich dachte, Leute, jetzt wird´s aber, einerseits sagen sie immer Vertrauen, andererseits vergällen sie mir eine geile Reise nach Griechenland. Da hat´s in mir gegärt, ich bin an dem Abend, mit meinem besten Freund, habe mein Bier genommen und auf den Tisch geknallt, Björn, ich schmeiß das alles hin. Das war der einzige, der es wusste aus meinem Freundeskreis. Da hat er gesagt: endlich. Erzählerin Dirk ging diesen Weg allein, ohne mit den Eltern darüber zu sprechen. O-Ton Dirk Ich weiß noch, dass - meine Eltern, ich habe später, vor zwei drei Jahren mit meinen Eltern darüber gesprochen und sie haben gesagt, es war für sie eine sehr schwierige Zeit, sie haben sich viele Sorgen gemacht, ich hab sie nämlich überhaupt nicht rangelassen, sie wussten nicht, wie ich drauf bin, was ich bin und da haben sie sich viele Sorgen gemacht. Das haben sie mir damals nicht gesagt, ich hab mein Ding gemacht, ich hab bei vielen Sachen gar nicht um Erlaubnis gefragt, bei Entscheidungen. Ich hab meinen Eltern nichts gesagt, vom Elternabend in der Schule teilweise gar nichts gesagt, als das dann mal zur Sprache kam, hab ich gesagt, was wollt ihr denn bei meinem Elternabend, ihr wisst nichts, außer dem was ich euch erzähle, ihr macht euch euern eigenen Raum, ihr wisst über mein Leben gar nichts. Aus heutiger Sicht, aus Elternsicht denke ich, völlig verrückt. (Musik) Geschlechterrollen Erzählerin: Einem voll berufstätigen Elternpaar mit neun Kindern bleibt nichts anderes übrig, als den Nachwuchs zeitig zur Selbstständigkeit zu erziehen - und ihm vorzuleben, dass klassische Geschlechterrollen nicht funktionieren. O-Ton Dirk Meiner Mutter wäre nie eingefallen, sich jemanden unterzuordnen, weil er ´n Mann ist oder so. Meine Mutter hat sich eigentlich nie die Butter vom Brot nehmen lassen. Sie hat sich eher angelegt, recht streitlustig. Politisch engagiert, schon emanzipiert. Erzählerin: Dem ZDF erklärt Mutter Heine ihre Berufstätigkeit überraschende Weise. O-Ton ZDF Frau Heine: Verheiratet sein und ein Partner geht nicht arbeiten - wir können uns das nicht vorstellen. Weil man unterhält sich über viele Dinge und ich glaube kaum, dass es dem Ehemann gefallen würde, wenn er von Arbeit kommt und tagtäglich zu hören kriegt, heute sind mir die Möhren angebrannt und gestern ist das Wasser übergekocht und die Eier sind sonst wie...Ich glaube, auf die Dauer befriedigt das einen Ehemann nicht, er möchte ja auch seine Probleme mitteilen können, und er kann sie ja nur mitteilen einer Frau, die im Arbeitsleben steht und für das Arbeitsleben Verständnis hat und die nicht nur in ihrem Kochtopf steckt. O-Ton Dirk Und meine Mutter ist gelernte Rundfunkmechanikerin und hat Spulen gewickelt und Fernsehgeräte repariert, bevor sie Kindergärtnerin wurde. Und mein Vater, wie das hieß, Fernmeldemechaniker, Telefonanlagen und so, dieses ganze Basteln und Bauen. Sie kamen beide aus technischen Berufen und konnten sich darüber unterhalten. Gekocht hat eher mein Vater, das hat sich gehalten, ich bin auch bei uns in der Familie der, der kocht, meine Mutter nur, wenn sie musste. O-Ton Stef/Volk Wenn Papa gekocht hat, dann hat er alles gemacht, da musste sich die Mutter nicht kümmern, das Essen stand auf dem Tisch und es war alles fertig. Nur das Abwaschen - Volker: da war er nicht so ganz organisiert. Er hat gern gekocht und gut gekocht aber mit dem Abwaschen war nicht so. O-Ton Dirk Oder wenn wir Thüringer Klöße gemacht haben, (auf Musik) O-Ton Stef/Volk Ja, da gab ´s dann schon mal einen großen Windeltopf voll Klöße. Das war ja der Windeltopf. O-Ton Dirk Das haben ja viele gemacht, aber wir haben in Menge geschält, sechs Jungs, die älteren alle ziemlich nah beieinander und essen wahnsinnig viel. Und beim Thüringer Klöße, beim Wettessen, mussten die Klöße ran, alle Kartoffeln geschält und das Auspressen ist mit der Standschleuder passiert, hat meine Mutter diese ganzen geriebenen Kartoffeln in einen sauberen, natürlich, Kopfkissenbezug gemacht, und in die Standschleuder reingehauen und dann geschleudert. O-Ton Volker Einer musste sich auf die Schleuder setzen, damit die nicht durchs Bad gehoppelt ist, das war immer nett. O-Ton Dirk Meine Mutter hat immer gesagt, nichts ist schlimmer als ein unselbstständiger Mann. Und wir mussten das alles lernen, wir mussten Nähen lernen, Kochen lernen, den ganzen Kram. O-Ton Stef/Volk Ja, ganz wichtig. Können wir alles. Ja, ganz wichtig. Strümpfe stopfen, Knöpfe annähen. Stefan: zu mir hat sie gesagt, Stefan, du darfst nie von einer Frau abhängig sein. Du musst das alles können. O-Ton Dirk Es wurde kein Unterschied gemacht, die Schwestern, die nächste an mir, die Katja, die hat genau das Gleiche gelernt, deshalb kann sie auch, untypisch für die meisten Frauen, Tapezieren oder Fliesen legen. Reparieren - Es ist ja letztlich eine Handwerkerfamilie, meine Geschwister haben ja alle handwerkliche Berufe erlernt, bis zu mir, ich bin der erste, der Abitur gemacht hat. Meine nächste Schwester Katja hat auch Abitur gemacht. Es arbeitet kaum noch jemand in dem ursprünglich erlernten Beruf. Wir haben alles drin, vom Elektroanlagenmonteur, Zimmermann, Stuckateur, Klempner-Installateur. O-Ton Volker Ich bin eigentlich gelernter Maschinen- und Anlagenmonteur. Also Stahlbauschlosser. Und jetzt bin ich Vermessungstechniker. Seit 25 Jahren mittlerweile. Erzählerin Alle neun Heine-Geschwister sind berufstätig. Alle wohnen in oder in der Nähe ihrer Heimatstadt Halle. Am weitesten weggezogen ist Dirk. Er lebt heute in Dresden. O-Ton Dirk Ich bin beim Theater geblieben. Habe Sprechwissenschaft und Phonetik in Halle angefangen zu studieren, und hab dann später Germanistik, Medien und Kunstwissenschaften, immer weiter Theater gemacht, auch als Gast am Thalia Theater gespielt. Hab im freien Bereich inszeniert, Theater Apron mitaufgebaut, und 2005 bin ich als Dramaturg nach Neubrandenburg/Neustrelitz, hab 2 Jahre dort gearbeitet. Seit 2013 freischaffend, läuft gut, als Theaterpädagoge und Regisseur, letztes Jahr seit langem mal wieder auf der Bühne gestanden mit einem Monolog. (Musik) Der Tod des Vaters Erzählerin Am Abend des Tages, an dem ich Dirk in seinem Dresdner Büro besucht habe, stirbt sein Vater. Er war lange krank. Die 75-jährige Mutter der sieben Söhne und zwei Töchter lebt nun allein. O-Ton Volker/Stef Sie bemüht sich. Aber es wird noch eine Weile dauern. Zum Glück wohnt ein Bruder von uns über ihr in dem Haus. Da ist wenigstens jemand da, zum Gucken oder wenn sie Probleme hat. Zum Glück ist sie noch relativ mobil, hat auch ihre Hobbys, singt im Chor, hat sie in bisschen Ablenkung. Was heißt Hobby, sie hat immer was gemalt Stefan: das stimmt. Und gebastelt. Sie hat ja auch so ´n großen Hefter mit Vorlagen von irgendwelchen, von Disney, von irgendwelchen Figuren, die man abmalen konnte, die Figuren von Disney, ob das Donald war, Pluto oder Mickymaus, hat sie auf Stoff gestickt und hat dann Beutel für uns draus gemacht. Der Papa hatte sein Funken, Amateurfunk, dann hat er gebastelt, irgendwelche Radios, Verstärker, er war so ´n Elektrotechniker, das Hobby hat er ja auch für die abendliche Unterhaltung genutzt. Wir haben alle Morsealphabet gelernt, er saß dann am Wohnzimmertisch und hat was gemorst und wir mussten dann aufschreiben, was er gemorst hat. Da konnte ich noch das Morsealphabet. Erzählerin: Stefan und Volker wohnen mit ihren Familien gemeinsam auf einem Gehöft am Stadtrand von Halle. Wir sitzen in Stefans Küche an einem langen Tisch, er erinnert sich an das Abendbrot mit seinen Eltern und Geschwistern - O-Ton Stefan So ähnlich wie der Tisch, da gab´s auch ´ne Eckbank, wir hatten nicht nur Stühle, da hätte das gar nicht gepasst, es war eine fest verbaute Eckbank, die hat mein Papa gebaut, und dann Stühle auf der andern Seite. Und es wurde immer pünktlich gegessen und es waren alle am Tisch. Das war wichtig. Und das Abendbrot konnte ohne Probleme auch mal ´ne anderthalb Stunde gehen. Da wurde auch der Tag ausgewertet, es gab vielleicht dies oder jenes Problemchen. Die älteren sind dann schon länger am Tisch sitzen geblieben. Das war immer eine sehr kommunikative Runde. Erzählerin Keines der Heine-Kinder hat selbst mehr als zwei Kinder O-Ton Dirk Ich weiß heutzutage nicht, wie meine Eltern das gemacht haben, ich habe zwei Kinder und das ist schon manchmal ganz schön viel. Mit dem Verteilen von Liebe und Teilen von Liebe. Und wenn ich meine Mutter gefragt habe, oder meinen Vater: Wie habt ihr das denn gemacht, wie habt ihr das auf die Reihe bekommen, zeitlich, und überhaupt. Dann sagen sie: wir haben einfach anders getickt, wir ticken da anders. Vieles war selbstverständlicher, viel musste laufen, einfach mitlaufen. Das finde ich schon verrückt. (Musik) Also ich begreif das heutzutage nicht, wie das klappen kann. Wie das klappt, ohne dass man nen Knall kriegt. Und ich habe nie das Gefühl gehabt, dass ich irgendwie zu kurz gekommen bin, Ich habe nicht das Gefühl gehabt, dass ich weniger Liebe als andere bekommen habe. Das haben die gut geschafft, finde ich. Absage Kinderreich Sie hörten ein Feature von Simone Trieder Es sprach: Claudia Mischke Ton und Technik: Christoph Rieseberg und Katharina Lueg Regie: Claudia Kattanek Redaktion: Ulrike Bajohr Eine Produktion des Deutschlandfunks 2019 1 3 1