Hörspiel Feature Radiokunst Das Feature Denkfabrik 2023 - Die Wehrhafte Demokratie "Eure Demokratie wollen wir nicht" Mali nach den Militärputschen Autorin: Bettina Rühl Regie: Anna Panknin Redaktion: Wolfgang Schiller Produktion: Deutschlandfunk 2023 Erstsendung: Dienstag, 20.06.2023, 19.15 Uhr Mit: Erzählerin: Lisa Bihl Übersetzerin: Rebecca Madita Hundt Übersetzer 1: Jean Paul Baeck Übersetzer 2: Thomas Balou Martin Übersetzer 3: Hüseyin Michael Cirpici Übersetzer 4: Daniel Berger Ton und Technik: Wolfgang Rixius und Christoph Schumacher Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Anfang Konzert Master Soumi Übersetzer 4: Ich wünsche Ihnen einen guten Abend, meine Damen und Herren, mit einem revolutionären Künstler: ATMO ANSAGER: Master Soumy! Erzählerin: Licht aus riesigen Scheinwerfern durchschneidet den Himmel über Bamako, der malischen Hauptstadt. In einer Nacht im Mai 2023 stehe ich vor der Konzertbühne, zwischen tausenden jungen Menschen. ATMO Musik mit Gesang Übersetzer 1: Vollmundige Versprechen, nichts wird gehalten - es reicht! Viele werden misshandelt - es reicht! Ihr seid frustriert? - Wehrt Euch, rebelliert! Es reicht! Man kann ein Land nicht auf Lügen bauen, die Demokratie ist bei uns nie angekommen. Wir haben keine Straßen, selbst die Toten würden gern zum Mikro greifen. Die Anwälte halten große Reden, aber es herrscht Straflosigkeit. Die Gesellschaft ist verbittert - es reicht! Atmo / Musik dann weiter unter Text Erzählerin: Die Konzertbühne steht neben dem Stadion des 26. März. Der Umsturz vom 26. März 1991 beendete die Militärdiktatur in Mali und brachte die Mehrparteiendemokratie. Gut 30 Jahre später jubelt das Publikum Master Soumy zu. Der rappt vom Frust über die Folgen der real existierenden Demokratie und der überbordenden Korruption: der Staat zugrunde gerichtet, das Volk verarmt, das Establishment reich geworden. Von Juni 2020 an gingen in Bamako Zehntausende regelmäßig auf die Straße. Das Militär kam dazu, putschte im August 2020 und noch einmal im Mai 2021. Bis heute steht die Bevölkerung mehrheitlich hinter der Militärregierung. ANSAGE: "Eure Demokratie wollen wir nicht" Mali nach den Militärputschen Ein Feature von Bettina Rühl ATMO Collage Meldungen deutsch, englisch, französisch: Berichte über das Massaker in Moura, bei dem die malische Armee mehr als 500 Menschen getötet hat Erzählerin: Die malische Armee ist nicht irgendeine Armee. Sie wurde in den vergangenen Jahren immer wieder schwerer Menschenrechtsverletzungen beschuldigt: von den Vereinten Nationen, von Menschenrechtsorganisationen, von Überlebenden, mit denen ich gesprochen habe. OT Boukary Bila Tamboura (Bambara) Übersetzer 3: An dem Tag, als sie uns verhaftet haben, wurden zwei Menschen zu Tode geprügelt. Wir wissen, dass sie durch die Schläge gestorben sind. Sie hatten uns zwar die Augen verbunden, aber wenn derjenige geschlagen wird, der neben dir sitzt, dann hörst du ja die Schreie und die Schläge und erkennst, wenn er stirbt. Einer ist noch vor Ort gestorben, der andere später im Krankenhaus. Erzählerin: Wie kann es sein, dass ausgerechnet diese Armee in Mali jetzt als Hoffnungsträger gilt? Was mögen die Menschen in Mali mit der Demokratie erlebt haben, dass ihnen eine Militärregierung als die bessere Wahl erscheint? Und für welche Staatsform kämpft das Volk jetzt? Um das herauszufinden, bin ich zwei Mal nach Mali gefahren, einmal im März 2022 und noch einmal im April 2023. ATMO Geschäftsstraße in Bamako Erzählerin: Eine Geschäftsstraße in Bamako im März 2022. Kleine Läden verkaufen vor allem Baubedarf: Zement, Fliesen, Sanitäreinrichtungen. Nur wenige Kunden sind unterwegs. Einer ist bereit, ein paar Sätze ins Mikrofon zu sagen - aber bitte nur ohne Namen. O-TON Zementkäufer Pratiquement il y a rien. Même les jeunes, tu vas les trouver à prendre du thé, souvent ils se débrouillent dans le marché. Ils faisaient des petits trucs, là-bas. Ça ne marche même pas. Il n'y a pas de marchandise. À part les médicaments, les trucs denrées alimentaires, tous les autres sont aux arrêts. Übersetzer 4: Die Wirtschaft steht still. Auch die jungen Leute sieht man nur rumsitzen und Tee trinken. Normalerweise verdienen sie ihr Geld auf dem Markt, machen sich hier und da nützlich. Aber jetzt gibt es ja keine Waren mehr, abgesehen von Medikamenten und Lebensmitteln. Erzählerin Die westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft Ecowas hat nach dem letzten Militärputsch harte Sanktionen gegen Mali verhängt. Die Nachbarländer fordern - wie Europa - möglichst bald demokratische Wahlen. Schon vorher war Mali eines der ärmsten Länder der Welt. Eine schwere Dürre, rund 400.000 Binnenflüchtlinge und die globalen Preissteigerungen infolge des Ukraine-Krieges verschärfen die Situation. O-TON Zementkäufer Ah, si ce n'est pas suspendu, nous, on a peur. On ne peut pas dire ça, mais d'ici la fin du mois, si on n'allait pas à.... , on ne sait pas ce qu'il doit se passer. Übersetzer 4 Ich habe Angst vor dem, was passiert, wenn die Sanktionen nicht bald aufgehoben werden. Dann wird es hier Unruhen geben, aber das traut sich ja niemand zu sagen. Erzählerin: Obwohl die Sanktionen noch monatelang andauern, behält der Passant mit seiner Vorhersage Unrecht: Es gibt keine Brotrevolten, keine Aufstände. Schließlich gibt die Militärregierung dem internationalen Druck nach und kündigt für den Februar 2024 Wahlen an. Daraufhin hebt die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft Ecowas die meisten Sanktionen auf. Nach Umfragen der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung stehen mehr als 90 Prozent der Bevölkerung hinter der Militärregierung. Aber ist das wirklich so, oder traut sich kaum einer mehr, etwas anderes zu sagen? Manches deutet darauf hin, dass die Menschen vorsichtig sein müssen: Prominente Kritiker der Militärregierung wurden verhaftet. Arbeitsgenehmigungen für ausländische Journalistinnen und Journalisten ausgesetzt, die französischen Sender RFI und France24 verboten. ATMO Video, Unterhaltung Erzählerin: März 2022. Der 28jährige Mamadou Traoré zeigt mir auf seinem Handy ein Video, aufgenommen im Dezember 2021. Für unser Gespräch ist Traoré mit einem Kollegen aus seinem Dorf im Binnendelta des Niger extra nach Bamako gekommen - für mich als Weiße wäre die Gefahr groß, dort von islamistischen Milizionären entführt zu werden. ATMO weiter Video, Unterhaltung Erzählerin: Zu sehen sind verbrannte Reisfelder, verbrannte Erntemaschinen. Die Aufnahmen sind verwackelt, Traoré hat vom fahrenden Motorrad aus gefilmt, alles andere wäre noch gefährlicher gewesen. O-TON ´ Mamadou Traoré (Bambara) Übersetzer 1: Wir hatten den ganzen Reis auf unseren Feldern geerntet und wollten am nächsten Tag mit dem Dreschen anfangen. Diesen Moment haben die Islamisten abgepasst. Sie sind gekommen, haben unsere Ernte mit Benzin übergossen und alles verbrannt. Erzählerin: Die Islamisten hätten im Dezember 2021 nicht nur seine komplette Reisernte zerstört, sondern die Lebensmittelreserven der Menschen in drei Kommunen, insgesamt 12 Hektar. Das Binnendelta des Niger wird vor allem für den Reisanbau genutzt und ist die Kornkammer des Landes - oder besser gesagt: könnte es sein, wenn Frieden wäre. Sein Kollege Karamoko Coulibaly ergänzt: O-TON Mamadou Coulibaly Bon, ils sont venus, les djihadistes ... pour qui ils se soumettent à eux. Übersetzer 3: Ich weiß nicht, was die Islamisten damit erreichen wollen, dass sie unsere Felder abbrennen und unsere Ernten vernichten. Vielleicht wollen sie uns aushungern, damit wir uns ihnen unterwerfen. Erzählerin: Bei unserem Gespräch im März 2022 sehen die beiden deutliche Fortschritte durch die neue Militärregierung. O-TON Mamadou Traoré Übersetzer 1: Seit einigen Monaten sind bei uns sehr viel mehr Soldaten. Unsere Armee gibt uns jetzt Sicherheit. Ich bin Präsident der Jugendorganisation unseres Dorfes, wir unterstützen die Armee mit Informationen, so gut wir können. Es hilft uns ja, dass die Soldaten in der Nähe sind. Sie arbeiten auch mit den Dorfchefs und anderen Vertretern der Bevölkerung zusammen. O-TON Alassane Dicko Je suis Alassane Dicko, je suis activiste et militant dans le reseau Afrique-Europe-Interact. Je suis chargé des relations publiques et je fais les plaidoyers sur la justice sociale. Übersetzer 2: Ich bin Alassane Dicko, Aktivist im internationalen Netzwerk Afrique-Europe Interact. Ich bin für unsere Öffentlichkeitsarbeit zuständig und halte Plädoyers zum Thema soziale Gerechtigkeit. ATMO Straße Bamako Erzählerin: Wir treffen uns in Djelibougou, einem Wohnviertel am Rande von Bamako. Der ausgebildete Informatiker ist Anfang 50 - ein quirliger, wacher Mensch, der sich mit Leidenschaft an politischen Debatten beteiligt. Dicko ist davon überzeugt, dass die Menschen tatsächlich hinter der Militärregierung stehen. O-TON Alassane Dicko Parce que la première préoccupation exprimée, manifestée par la population, c'est le retour de la sécurité. Et qu'ils puissent vaquer à leurs occupations, se déplacer d'un région a un autre, sans blocage, sans menace sur les routes, aller au champ paisiblement, faire son travail et revenir comme d'habitude, ou alors faire paître ses bétails tranquillement, sans être agressé ou spolié, ni par les gens en uniforme, ni par les bandits. Übersetzer 2: Weil das wichtigste Anliegen der Bevölkerung die Wiederherstellung von Sicherheit ist. Die Menschen wollen wieder reisen können, ohne Blockaden, ohne auf den Straßen bedroht zu werden. Sie wollen ungestört ihre Felder bestellen und abends nach Hause zurückkehren, oder ihr Vieh weiden lassen, ohne dabei angegriffen oder ausgeraubt zu werden. Weder von Militärs, noch von Banditen. Erzählerin: Mali, eins der ärmsten Länder der Welt, macht seit 2012 eine schwere politische Krise durch. Der Staat schafft es in den meisten Landesteilen nicht, das Leben und den Besitz der Bevölkerung zu sichern. Islamistische Gruppen mit Verbindungen zum Al-Kaida Netzwerk und zum so genannten Islamischen Staat sowie kriminelle Banden kämpfen gegen die Regierung und terrorisieren die Bevölkerung. Hunderte Zivilisten wurden bereits Opfer der Gewalt, hunderttausende sind innerhalb des Landes auf der Flucht. Im Kampf gegen den Terror werden allerdings auch von den Regierungstruppen ganze Dörfer ausgelöscht. Das bislang brutalste Beispiel: Das Massaker im Ort Moura im März 2022. Einer der Überlebenden erzählt mir, was er erlebt hat: O-TON Überlebender Moura Übersetzer 3: Am Sonntag hatte ich es zunächst geschafft, mich im Haus meines Onkels zu verstecken, dort bin ich erstmal geblieben. Am Dienstag haben die Bewaffneten angeordnet, dass alle Männer zum Fluss kommen, ich bin auch gegangen. Ich schätze, dass wir dort etwa 4000 Männer waren. Je ein oder zwei malische Soldaten bewachten eine Gruppe von Gefangenen. Wer zu fliehen versuchte, kam nicht weit. Die Malier haben uns bewacht, die Russen haben die Opfer ausgesucht und getötet, das habe ich selbst gesehen. Die weißen Soldaten sind von Gruppe zu Gruppe gegangen. Sie haben jeweils bis zu 10 oder 15 Männer mitgenommen, um sie zu erschießen. Sie haben die Leute nicht vor unseren Augen erschossen, sondern sind mit ihnen hinter eine Hütte gegangen. Erzählerin: Zusammen mit russischen Bewaffneten, mutmaßlich Söldnern der Wagner-Gruppe, töten malische Soldaten mehr als 500 Menschen - laut einem UN-Untersuchungsbericht auch Frauen und Kinder. Grausame Ereignisse wie dieses sind in Mali bekannt. Warum ist die Bevölkerung vom brutalen Vorgehen ihrer Armee nicht schockiert? ATMO Begrüßung Erzählerin: Stühle rücken in einem Hinterhof in Bamako. Nach und nach treffen Männer und Frauen ein, Mitglieder der Bewegung "Yerewolo Debout sur les remparts", "Würdige Männer auf den Festungsmauern". Deren Präsident Adama Diarra gilt als einer der einflussreichsten Aktivisten in Mali. Natürlich kennt Diarra die vielen Vorwürfe gegen die malische Armee und ihre russischen Partner. O-TON Adama Diarra C'est la même chanson. On a assez entendu cette chanson occidental. Partout ou eux, ils ne sont pas avec leurs forces republicaines, on parle des exactions. Nous, on avait dit ça il y a plus d une année: Quand l'armee va commencé à véritablement monter en puissance, on va entendre toutes... L'armée serra traiter de tous les noms d'oiseaux, sauf parce que nous sommes avec nos partenaires russes. La France n'est pas contente. Ce sont des fabrications. Übersetzer 4: Das ist die alte Leier, für uns sind diese Vorwürfe des Westens nicht neu. Überall da, wo der Westen nicht am Drücker ist, spricht er von Übergriffen der Armee gegen die Zivilbevölkerung. Wir haben das seit einem Jahr vorausgesagt: Sobald die malische Armee ihre Stärke zeigt, werden diese Vorwürfe laut werden. Einfach nur, weil die Russen nun unsere Partner sind und Frankreich das nicht passt. Die Vorwürfe sind aus der Luft gegriffen. ATMO Titel "Armee Malienne" von Master Soumy Erzählerin: Auch der Rapper Master Soumy unterstützt den Übergangsprozess, steht hinter dem Militär. Im vergangenen Jahr hat er ein Lied geschrieben: Die Armee sei das Rückgrat der Nation, Garant der Einheit des Landes. O-TON Master Soumy On a tous un frère, une sœur, un père, un tonton dans l'armée. Je ne connais pas quelqu'un qui aime le pays plus que le militaire qui va au front. Il voit la mort, il valler affronter la mort pour que lui et moi on puisse dormir tranquillement chez nous. Moi je pense que c'est les gens qui méritent respect et consideration. Ils ont besoin de notre soutien, les militaires au front, il faut les respecter, il faut les soutenir. Ça, je ne discute pas avec quelqu'un. Übersetzer 1: Jeder von uns hat einen Bruder, eine Schwester, einen Vater oder einen Onkel in der Armee. Ich kenne niemanden, der das Land mehr liebt als der Soldat, der an die Front geht. Er sieht den Tod, er stellt sich dem Tod, damit wir zu Hause ruhig schlafen können. Diese Menschen verdienen Respekt und unsere Unterstützung. Das diskutiere ich mit niemandem. ATMO Hotel Orpheus Dream Village Hotel, Begrüßung Erzählerin: Als Treffpunkt hat er mir ein Hotel namens "Orpheus Dream Village" genannt, etwas außerhalb von Bamako am Ufer des Niger. Eine riesige, fast menschenleere Anlage. Über die Rasenflächen schlendert grasend eine Pferdefamilie, der Hengst schnuppert neugierig an den verwaisten Tischen. Im großen Swimmingpool stehen ein paar junge Leute, hoffen auf Kühlung. Master Soumy hat Jura studiert. In seiner wöchentlichen Nachrichtensendung rappt er über alles, was die Menschen im Alltag beschäftigt und bedrückt. Sein wichtigstes Thema: Die überbordende Korruption in Mali. O-TON Master Soumi Le pays a été gangréné par la corruption de façon progressive. On en a fait plein de fois, plein de fois on a beaucoup parlé, ce vol orchestré, souvent même dans nos institutions, - parce qu'á chaque fois que j'ai l'occasion de rencontrer une autorité du pays, je dis: Faites attention, le scandale financier, c'est un cancer pour une gouvernance. Plus il y a des scandales financiers, moins il y 'a le soutien et de plus en plus il y en a la frustration. Et c'est cela qui provoque les soulèvements, les insurrections populaires contre un régime. Il faut tout faire pour éviter le détournement du déni public c'est dangereux pour un régime, c'est très dangereux. C'est peut-être aussi la raison pour l'échec de la démocratie. Übersetzer 1: Unser Land wurde von Korruption regelrecht durchsetzt. Ich habe diesen organisieren Diebstahl im Herzen unserer Institutionen immer wieder angeprangert. Jedes Mal, wenn ich einen Vertreter des Staates getroffen habe, habe ich gewarnt: "Seien Sie vorsichtig! Finanzskandale breiten sich in einem Staat wie Krebsgeschwüre aus. Je mehr es davon gibt, desto weniger Unterstützung hat eine Regierung. Stattdessen wächst im Volk die Frustration. Das ist sehr gefährlich für eine Regierung." Erzählerin: Die Militärregierung verspricht, gegen Korruption, Veruntreuung und auch gegen Landgrabbing zu kämpfen, also die Aneignung von Land durch Privatpersonen oder durch - meist ausländische - Konzerne. Sie trifft mit diesen Themen einen Nerv der Bevölkerung. ATMO Markt Bamako Erzählerin: Im Marktviertel von Bamako bin ich mit Bauern aus den Dörfern Sanamadougou und Sahou verabredet. Benké Diarra handelt mit Zwiebeln und Reis. Der Anfang 60Jährige ist eigentlich Landwirt, aber seine Felder hat er schon vor 13 Jahren an einen malischen Großunternehmer verloren. O-TON Benké Diarra (Bambara) Übersetzer 2: Von diesem Landgrabbing war nicht nur ich betroffen, sondern 158 Familien allein in unserem Dorf. Erzählerin: Der Großunternehmer namens Modibo Keïta sei 2010 in ihr Dorf gekommen. Er habe den Dorfbewohnern noch nicht einmal einen Kaufpreis angeboten, sondern nur gesagt, sie bekämen dann Arbeit in seiner Fabrik. Ihr Dorfchef lehnte ab. Trotzdem pachtete Keïta das Land von der Regierung, obwohl ihr das Land gar nicht gehörte. Die Bewohner wurden von ihren Feldern vertrieben. Genauso im Nachbardorf Sahou. Die Flächen liegen in einer der fruchtbarsten Regionen von Mali, dem Binnendelta des Niger-Flusses. Die Bewohner der beiden Dörfer bewirtschafteten sie seit Jahrhunderten. O-TON Benké Diarra 15 (Bambara) Übersetzer 2: Wir haben uns an die Regierung gewandt und an die Justiz. Einmal kam sogar eine Delegation, das war noch zu Zeiten von IBK, dem letzten zivilen Präsidenten. Sie haben die Fläche vermessen und haben gesagt: Ihr könnt Euren Kampf beenden, Ihr werdet Eure Felder wiederbekommen. Aber bei diesem Versprechen ist es bis heute geblieben. Erzählerin: Wer kein Geld hat, bekommt kein Recht, diese Erfahrung ist weit verbreitet. Benké Diarra und die anderen Dorfbewohner sind überzeugt, dass der Unternehmer die Vertreter der damals noch demokratisch gewählten Regierung bestochen hat. Aber warum haben sich Korruption und Veruntreuung staatlicher Mittel überhaupt derart verbreitet? O-TON Ousmane Sy La corruption n'est pas nouvelle. Depuis les indépendances, il y a toujours une base de corruption. Übersetzer 3: Korruption ist kein neues Phänomen, es gibt sie seit unserer Unabhängigkeit. Erzählerin: Ousmane Sy, malischer Wirtschaftswissenschaftler und Agrarökonom, war Minister für Territorialverwaltung. Er ist als Berater international gefragt und viel unterwegs. Wir sprechen über eine Internetverbindung. O-TON Ousmane Sy Alors je crois que si on veut bien comprendre ce problème et lutter efficacement contre la corruption, pourquoi dans la mentalité des individus, prendre de l'argent public n'est pas une faute? Parce que ça qui fait que c'est chez nous, les corrompus ne sont pas socialement condamnés. Quand on prend l'argent public pour servir sa famille ou ses amis, servir soi- même, servir sa famille, servir son clan - on est pratiquement un héros, un enfant béni. Übersetzer 3: Wenn wir das Problem effektiv bekämpfen wollen, müssen wir verstehen, warum es in der Wahrnehmung der Menschen kein Fehler ist, sich an öffentlichen Geldern zu bereichern: Der Staat wird von der Gesellschaft als Fremdkörper empfunden. Das führt dazu, dass korrupte Menschen bei uns nicht sozial verurteilt werden. Ganz im Gegenteil wird Korruption vielleicht sogar als eine Form der Gerechtigkeit angesehen. Wenn jemand öffentliche Gelder zweckentfremdet, um sich selbst, seiner Familie, seinem Clan oder seinen Freunden zu helfen, wird er fast wie ein Held gefeiert. Erzählerin: Der Staat - ein Fremdkörper. Die Gründe sind nachvollziehbar. Ein Beispiel: Die Amtssprache in Mali ist nach der gültigen Verfassung Französisch. Aber mehr als zwei Drittel der Bevölkerung sind Analphabeten, verstehen kein Französisch, kommunizieren in den Landessprachen. Sie können die Gesetze ihres Landes nicht lesen, die Debatten ihres Parlaments nicht verstehen - und sich an der politischen Willensbildung nicht beteiligen. Das, was einen demokratischen Staat im Kern ausmachen sollte, fehlte also in der so genannten malischen Demokratie von Anfang an. Ganz anders als mit staatlichen Geldern gehen die Gemeinschaften mit traditionellem Allgemeingut um. O-TON Ousmane Sy Dans nos pays au niveau villageois, les biens communs sont sous la garde des autorités communautaires. Il ne viendrait à personne l'idée d'aller les voler. Il y a les biens collectifs que personne ne doit s'approprier. C'est la question des terres, c'est la question des pâturages. Personne ne peut s'approprier le bien collectif. Ça reste dans la collectivité. Et si on tente de s'approprier bon, soit on est éliminé de toutes les façons. Übersetzer 3: Im ländlichen Raum wird der gemeinschaftliche Besitz von den lokalen Autoritäten verwaltet. Niemand würde auf die Idee kommen, diesen gemeinschaftlichen Besitz zu stehlen. Es geht dabei um Ackerland und Weideflächen. Niemand darf sich dieses Land aneignen. Es wird von Generation zu Generation weitergegeben. Wer versuchen würde, sich diese Flächen anzueignen, würde aus der Gemeinschaft ausgestoßen werden. Erzählerin: Dem malischen Volk blieb die real existierende Demokratie also fremd. Dabei ging der Umsturz, der im März 1991 aus der malischen Militärdiktatur eine Mehrparteiendemokratie machte, auf den Druck der Straße zurück. Das Militär reagierte auf die massiven Demonstrationen zunächst mit Gewalt, bis zu 300 Menschen sollen gestorben sein - doch schließlich musste Diktator Moussa Traoré weichen. Auch international hatte sich der Wind gedreht. Bis zum Ende des Kalten Krieges und den weltpolitischen Umwälzungen von 1989 bis 1991 hatte die ehemalige Kolonialmacht Frankreich ohne Berührungsängste eng mit afrikanischen Despoten kooperiert. Dann, im Sommer 1991, rief der damalige Präsident François Mitterand Vertreter seiner ehemaligen Kolonien im westfranzösischen Badeort La Baule zusammen. Und predigte ihnen auf einmal die Tugenden des demokratischen Wandels: Die afrikanischen Staatschefs sollten Vertrauen haben in Demokratie und Mehrparteiensystem. Mitterrand verband seine Ermutigung mit einer klaren Drohung: O-TON Mitterand Cette aide traditionelle, deja ancienne, serra pu tiède enface des regimes qui se comporteraient de facon autoritaire sans accepter l'evolution vers la democratie. Et qu'elle serra enthousiaste vers ceux qui francherons ce pas avec courage autant que leur serra possible. Übersetzer 4: Diese traditionelle, langjährige Unterstützung wird sich abkühlen gegenüber Regimen, die sich weiter autoritär verhalten und die Entwicklung hin zur Demokratie nicht akzeptieren. Sie wird für diejenigen umso engagierter sein, die diesen Schritt so mutig wie nur möglich wagen. OT 19 Georg Klute Das sieht schon so aus, als sei die Form einer parlamentarischen Demokratie und eines Rechtsstaates insofern aufgezwungen worden, als auch die Entwicklungszusammenarbeit bzw. Budgethilfe für diese Staaten an solche Bedingungen geknüpft worden sind. Erzählerin: Der Ethnologe Georg Klute, er forscht seit Jahrzehnten zum und im Sahel. Eine aufgezwungene westliche Form der Demokratie - auch viele Menschen in Mali scheinen das heute so zu empfinden. Obwohl tatsächlich viele ihr Leben riskierten, als sie 1991 für die Demokratie demonstrierten. Aber damals gab es nur ein gängiges Modell: die repräsentative Demokratie westlicher Prägung. Ein Modell, das zur Kultur und den Besonderheiten afrikanischer Staaten vielleicht nicht passte. Es gibt aber noch einen weiteren Umstand, der die Mehrparteiendemokratie in Verruf gebracht haben könnte. Sie wurde zufällig zur gleichen Zeit eingeführt wie eine Reihe neoliberaler Reformen. Der Internationale Währungsfonds und die Weltbank setzten diese so genannten "Strukturanpassungsprogramme" in den 1980er und 1990er Jahren durch, um überschuldete Staaten im globalen Süden finanziell zu sanieren. Der Soziologe und Aktivist Olaf Bernau - er ist - ebenso wie Alassane Dicko - Mitglied des internationalen Netzwerkes Afrique-Europe-Interact. O-TON Olaf Bernau Und diese Programme des IWF waren halt knallharte neoliberale Reformen, wie wir sie in den letzten Jahren in Griechenland kennengelernt haben, also Streichung des Staatsbudgets auf Kernaufgaben, das heißt, plötzlich waren Schulbesuche wieder kostenpflichtig, Gesundheitsdienstleistungen wurden reduziert, Subventionen für Grundnahrungsmittel wurden gestrichen, Subventionen für kleinbäuerliche Betriebe wurden gestrichen, dann wurden Privatisierungen durchgesetzt, die Märkte wurden geöffnet und plötzlich gab es Konkurrenz von außen. Sprich ganz viel Industrie ist zusammengebrochen, die ganze Textilindustrie etc. pp. Erzählerin: Bei der Bevölkerung setzte sich der Eindruck fest: Die Demokratie nach westlichem Vorbild ist ein System, in dem das Recht des Stärkeren gilt. Vor allem die politische Elite nutzte die neuen ökonomischen Freiheiten, um sich auch unternehmerisch zu betätigen. Und war auch deshalb ungemein erfolgreich, weil sie Regeln und Gesetze manipulieren konnte - praktisch ungehindert von den staatlichen Institutionen. Der Abstand zwischen Arm und Reich wurde immer größer, die Bevölkerungsmehrheit wirtschaftlich abgehängt. Diese krasse soziale Ungleichheit dauert bis heute an. O-TON Ousmane Sy Le processus démocratique n'a pas respecté les valeurs qui font que la démocratie est attrayante pour les populations. C'est pour ça que tout le monde le dit: aujourd'hui, au Mali, la démocratie a été une déception parce qu'elle s'est traduite par une certaine impunité. Elle s'est traduite par la corruption. Übersetzer 3: In den demokratischen Verfahren wurden die Werte, die eine Demokratie attraktiv machen, nicht geachtet. Deshalb sagen jetzt alle: Die Demokratie war eine Enttäuschung, weil sie zu Straflosigkeit und Korruption geführt hat. Erzählerin: Dass westliche Staaten dieses System und seine Herrschenden verteidigen, hat viele Menschen in Mali und anderen afri-kanischen Staaten der Demokratie entfremdet. Hinzu kommt: Enttäuschung, fast Verzweiflung darüber, dass sich die Sicher-heitslage trotz tausender französischer Soldaten im Land und einer großen UN-Mission Jahr für Jahr weiter verschlechterte. Nun begehrt die Bevölkerung in Mali gegen die Bevormundung auf. O-TON Master Soumy Les occidentaux, l'Europe, la France et tous les pays doivent d'abord au préalable comprendre que nous sommes un état souverain. Übersetzer 1: Der Westen, also Europa und vor allem Frankreich müssen zunächst einmal verstehen, dass wir ein souveräner Staat sind. Erzählerin: Sagt Master Soumy, der Rapper. O-TON Master Soumy Comme état souverain on doit être en mesure et en capacité de décider de son avenir et de son devenir. Que les maliens donnent leurs avis sur ce qui va devenir de leur pays dans 10 ans, 60 ans, 100 ans, okay ? Donc maintenant, les autres en tant qu'amis, en tant que partenaires vont suivre. Est-ce que vous avez déjà vu un ministre malien qui va se déplacer pour aller en France pour dire aux Français : Vous avez telle loi-là, il faut changer ? Ça ne s'est jamais passé, et ça ne va jamais se passer. Pourquoi ? Parce que les Français, dans leur idéologie de partenariat avec l'Afrique se croient supérieurs, donc du coup ils pensent que c'est eux qui sont habilités à dicter les lois, dicter leur volonté aux dirigeants africains. Übersetzer 1: Als souveräner Staat müssen wir über unsere Zukunft und unser Schicksal selbst entscheiden dürfen. Entscheidend ist die Meinung der Bevölkerung dazu, was aus ihrem Land in 10, 60 oder 100 Jahren werden soll. Oder haben Sie schon einmal einen malischen Minister gesehen, der nach Frankreich reist, um den Franzosen zu sagen: "Ihr habt da gerade ein Gesetz verabschiedet - das müsst ihr unbedingt ändern!"? Das hat es noch nie gegeben und so was wird auch nie passieren. Warum? Weil es zur Ideologie der Franzosen gehört, dass sie sich im Verhältnis mit Afrika für die Überlegenen halten. Deshalb meinen sie, dass sie bei uns die Gesetze diktieren und den afrikanischen Führern ihren Willen aufzwingen könnten. ATMO Versammlungen O-TON Bürger Moi, mes propositions sont les suivantes ... Renforcer le financement de la justice. Merci infiniment. Übersetzer 4: Ich habe folgende Vorschläge zu den Themen Recht, Justiz und Menschenrechte. Mein erster Vorschlag ist, Straflosigkeit, Günstlingswirtschaft und Klientelismus zu verbieten. Außerdem die Grundsätze der Gewaltenteilung durchzusetzen. Unsere Gesetze und Gerichtsurteile sollten aus dem Französischen in unsere Landessprachen übersetzt werden. Bürgerinnen und Bürger müssen besser darüber informiert werden, wie unser Justizsystem funktioniert. Die Finanzierung unseres Gerichtswesens muss verbessert werden. Erzählerin: Es ist der 16. Dezember 2021. Auf Wunsch der militärischen Übergangsregierung unter Oberst Assimi Goïta haben vor fünf Tagen die so genannten "Assises Nationales pour la Refondation" begonnen, die "Nationalen Versammlungen für die Neugründung des Staates". Präsident Goïta hatte die landesweiten Versammlungen zur Voraussetzung für spätere Wahlen erklärt. Innerhalb von zwei Wochen finden landesweit hunderte solcher Versammlungen statt, bis zu 90.000 Menschen nehmen teil: Junge und Alte, Frauen und Männer. Zehntausende hören stundenlang zu, gehen an die Saalmikrofone, machen Vorschläge, stellen Forderungen. O-TON Alassane Dicko Ces assises ont été d'abord pluraliste, décentralisée, délocalisée.... des populations eux mêmes qui ont organisé les Assises nationales. Übersetzer 2: Diese Versammlungen waren pluralistisch, fanden im ganzen Land und auf Ebene der verschiedenen Verwaltungseinheiten statt. Organisiert wurden sie von Vertretern der Bevölkerung. Erzählerin: Während der Zusammenkünfte habe jede und jeder sprechen können, betont Alassane Dicko vom Netzwerk Afrique-Europe-Interact. Allerdings boykottierten viele Vertreter der bisherigen politischen Klasse die Versammlungen, auch die politischen Parteien. ATMO Vorstellung der Vorschläge Erzählerin: Am letzten Tag des Jahres 2021 stellten Abgesandte der Versammlungen deren Empfehlungen vor, insgesamt 534. Auch der malische Übergangspräsident Oberst Assimi Goïta hörte zu. O-TON Alassane Dicko Le point le plus essentiel, c'est la gouvernance. Et ce que le peuple désire, c'est de prendre en compte les ressources culturelles et traditionnelles du pays, c'est à dire les autorités traditionnelles, les chefs religieux, les chefs des villages, les chefs de communautés et les toutes les entités traditionnelles, culturelles et sociales. Übersetzer 2: Der wichtigste Punkt ist die Frage, wer uns künftig regiert. Die Bevölkerung möchte, dass die kulturellen und traditionellen Autoritäten des Landes berücksichtigt werden, also die religiösen Führer, die Dorfvorsteher, die Gemeindevorsteher und die Repräsentanten aller anderen traditionellen, kulturellen und sozialen Einheiten. Erzählerin: Sie sollen, so die Empfehlung, eine institutionell verankerte Rolle bekommen. Dafür muss die bislang gültige Verfassung von 1992 geändert werden. Wie diese neue Verfassung aussehen soll, war während der Versammlungen im Dezember ebenfalls Thema. O-TON Alassane Dicko Il faut un contrat de vivre ensemble. Nous nous sommes inspirés dès la réflexion du Kurukan Fuga. Et ça a été des moments intenses. Le Kurukans Fuga c'est cette charte du Mandé qui a été programmée en 1200, je crois. Donc, beaucoup d'inspirations sont ressorties de cette charte-là, qui nous parle et qui nous représente et qui nous donne des matières de nous projeter dans le moderne d'aujourd'hui avec les mêmes valeurs. Übersetzer 2: Wir brauchen einen Vertrag, der unser Zusammenleben regelt. Bei unseren Überlegungen dazu haben wir uns vom Kurukan Fuga inspirieren lassen. Das ist die Charta des alten Mandé-Königreichs, ich glaube sie stammt aus dem Jahr 1200. Sie spricht uns immer noch an und bietet uns ein Grundgerüst an Werten, die wir in die Moderne übertragen wollen. Erzählerin: Die Kurukan Fuga war der Gründungsvertrag des historischen Mali, des größten westafrikanischen Reichs der Geschichte. Es reichte weit über die Grenzen des heutigen Staates hinaus. Die Kurukan Fuga ist damit eine der ältesten Verfassungen der Welt, wurde aber nur mündlich überliefert. Sie betonte unter anderem die Bedeutung des sozialen Friedens, die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens, den Wert von Bildung, Meinungs- und Unternehmensfreiheit. 2009 wurde die Charta von der UNESCO in die Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufgenommen. O-TON Alassane Dicko Il ne s'agit pas de repartir dans un monde imaginaire ancien que nous aurions perdus, non. Il s'agit de ramener ce qui façonne notre identité. Übersetzer 2: Es geht nicht darum, in eine alte Fantasiewelt zurückzukehren, die wir längst verloren haben. Es geht darum, das zurückzubringen, was unsere Identität prägt. Erzählerin: Und so eine malische Demokratie zu entwickeln, in Abgrenzung zu dem, was als "westlich" und fremd empfunden wird. ATMO Jingle, Nachrichten-Collage/ TV 5 über weitere Lieferung von Kampfhubschraubern und Jets aus Russland Erzählerin: April 2023. Malische und internationale Medien berichten seit Monaten regelmäßig über neue Lieferungen von Kriegsgerät aus Russland: Hubschrauber, Kampfjets, gepanzerte Fahrzeuge, Waffen. Seit meinem letzten Besuch in Mali ist viel passiert: Im August 2022 hat Frankreich seine letzten Soldatinnen und Soldaten aus dem Krisenstaat abgezogen, es hatte seit 2013 mit bis zu 4500 Militärs islamistische Terrorgruppen bekämpft. Das Verhältnis zwischen Mali und Frankreich ist zerrüttet. Auch Deutschland wird seine Truppen bis 2024 abziehen. Stattdessen hat Mali seine militärische Zusammenarbeit mit Russland vertieft. Es häufen sich Berichte schwerer Menschenrechtsverletzungen durch die malische Armee und ihre russischen Partner, mutmaßlich Kämpfer der berüchtigten Wagner-Gruppe. Ich bin noch einmal nach Mali gereist, um Antworten auf drei Fragen zu finden: Hat sich die Sicherheitslage verbessert? Auf welchem Weg ist die malische Demokratie? Und schließlich: Wie steht es mit der Meinungsfreiheit und anderen Grundrechten unter der militärischen Übergangsregierung? ATMO Treffen im Hotel mit den Bauern Erzählerin: In einem Hotel am Nigerufer in der Stadt Ségou treffe ich die Bauern aus dem Binnendelta des Niger wieder. Seit unserem letzten Gespräch habe sich die Lage rund um ihr Dorf weiter verbessert, meint Karamoko Coulibaly. Sie hätten ihre Felder in der letzten Saison deshalb ungestört bestellen können. Coulibaly ist Präsident einer Basisgewerkschaft von Bauern namens Copon, die vom Netzwerk Afrique-Europe-Interact unterstützt wird. O-TON Karamoko Coulibaly On avait dit qu'on allait récolter cette année, avec beaucoup d'ambiance, mais ça a été le contraire, on avait beaucoup de difficultés. On avait cultivé sans problème, mais à la fin - bon, les entrés Agricoles. Ils ont manqué, par ex engrains. Tout a monté, le prix des engrains aussi a monté. Et puis, on ne les trouve pas au marché. Parce qu'il n'y a pas assez d'engrain. Übersetzer 3: Wir waren ja letztes Mal zuversichtlich, dass wir in der nächsten Saison eine gute Ernte einfahren würden. Das Gegenteil war der Fall, wir hatten viele Probleme. Uns fehlten die landwirtschaftlichen Produktionsmittel, zum Beispiel Dünger. Alles ist teurer geworden, auch Dünger. Hinzu kommt, dass wir auf dem Markt keinen finden, es gibt einfach zu wenig. ATMO Essen Erzählerin: Obwohl es schon früher Nachmittag ist, kommen die beiden jetzt erst zum Frühstücken, es gibt Rührei und Brot. Sie mussten sich in ihrem Dorf bei Tagesanbruch auf den Weg machen, um es mit verschiedenen Verkehrsmitteln bis nach Ségou zu schaffen. Ein beschwerlicher Weg, und Coulibaly ist mit Ende 60 nicht mehr der Jüngste. Trotzdem haben die beiden die Mühe auf sich genommen, um von ihrer schwierigen Lage zu berichten. OTON Karamoko Coulibaly J'ai trois hectares. Auparavant je recoltais 70 à 75 sacs parhectares. Cette année, c'était 30. Übersetzer 3: Ich selbst bewirtschafte drei Hektar. Früher habe ich 70 bis 75 Sack Reis pro Hektar geerntet. In diesem Jahr waren es nur 30. Erzählerin: Normalerweise wird Kunstdünger vom malischen Staat subventioniert, aber die Übergangsregierung stellt diese Subventionen nicht im gewohnten Umfang bereit. Obwohl sie enttäuscht sind, haben die beiden eine klare Meinung: O-TON Mamadou Traoré Übersetzer 1: Dass wir den Machtwechsel hatten, hat uns sehr geholfen. Die Militärs tun was sie können, um die Situation zu verbessern. Wir unterstützen sie zu 100 Prozent. Erzählerin: Etwas ratlos fahre ich zurück nach Bamako. Wie passt es zusammen, dass sich viele Menschen sicherer fühlen, die Bauern im Nigerdelta ihre Felder wieder bestellen können - aber für Weiße mittlerweile nur noch die Hauptstadt und Ségou als halbwegs sicher gelten? O-TON Boubacar Ba Moi, je pense - je l'ai toujours dit - que la notion de montée en puissance de l'armée malienne est une notion pas exacte. Pour moi, c'est une notion beaucoup plus communicationnelle. C'est la DARPA, la direction de l'information de l'armée, qui fait des communiqués périodiquement sur les opérations. Übersetzer 4: Ich halte das Reden davon, dass die Armee jetzt militärisch viel stärker wäre, für irreführend. Aus meiner Sicht geht dieser Eindruck auf die Informationsabteilung der Armee zurück, die in regelmäßigen Abständen Meldungen über militärische Operationen herausgibt. Erzählerin: Der Jurist Boubacar Ba leitet das "Zentrum für die Analyse von Regierungsführung und Sicherheitsfragen" in Bamako, er forscht seit vielen Jahren zu den Konflikten im Zentrum des Landes. O-TON Boubacar Ba L'armée est partie à l'offensive depuis janvier 2022. Avec l'arrivée des Russes qu'on appelle Wagner, ils ont réparti le pays en fuseaux sécuritaires. Donc ils ont défini des zones opérationnelles, mais surtout concentrées sur le centre. A ce jour, selon mes informations, il y a eu quand même une offensive dans les trois, quatre, cinq premiers mois, c'est à dire entre janvier 2022 et juin, ils ont déstabilisé ce que j'appelle les bases, les bases sécuritaires des groupes djihadistes. Übersetzer 4: Seit Januar 2022 ist die Armee in die Offensive gegangen. Mit der Ankunft der Russen, die man Wagner nennt, haben sie das Land in Sicherheitszonen aufgeteilt. Dabei haben sie sich vor allem auf die Landesmitte konzentriert. Nach meinen Informationen gab es dort zwischen Januar und Juni 2022 eine Offensive. Die Armee hat es geschafft, die Basen der islamistischen Gruppen dort zu zerstören. Erzählerin: Die verbliebenen islamistischen Kämpfer hätten sich in unzugängliches Buschland und Wälder zurückgezogen. Sie kontrollierten jetzt nicht mehr ganze Regionen, sondern nur noch einen Flickenteppich von Gebieten. O-TON Boubacar Ba Donc aujourd'hui, en termes de mobilité, ils ont pu déstructurer et empêcher l'armée d'occuper le terrain. C'est a dire l'Armée n'est pas revenue. L'administration n'est pas devenue. Et le baromètre dans les villages, dans les communes, c'est de voir les directeurs d'écoles, les écoles fonctionner. Les centres de santé fonctionner - jusqu'à présent, c'est la même chose depuis cinq ans, depuis six ans. Donc, du point de vue territorial, ils ont créé une guerre hybride qui bouleverse le territoire. Mais du point de vue physique, l'armée peut avancer, mais toujours sur la base des actions aériennes. Très, très peut d'actions terrestres de face à face, quelque peu avec les Russes. Übersetzer 4: Die islamistischen Kämpfer sind sehr mobil und hindern die Armee mit ihren Angriffen daran, die befreiten Gebiete zu besetzen. Ein wichtiger Gradmesser für die Stabilisierung wäre, dass die Verwaltung zurückkehrt. Dass die Schuldirektoren zurückkommen, die Schulen wieder geöffnet werden, die Gesundheitszentren wieder funktionieren. Nichts davon ist passiert, in den letzten fünf oder sechs Jahren hat sich in diesem Sinne gar nichts verändert. Die Armee erobert Gebiete vor allem durch die Luftwaffe, auf dem Boden marschiert sie selten vor, nur manchmal mit den Russen. ATMO Ankündigung Referendum Erzählerin: Anfang Mai 2023 - eine Sondersendung im staatlichen Fernsehen. Regierungssprecher Abdoulaye Maiga verliest ein Dekret: Am 18. Juni soll das Volk in einem Referendum über die neue Verfassung abstimmen, drei Monate später, als ursprünglich geplant. Mit dem Referendum will die Übergangsregierung, so sagt sie, den Weg für demokratische Wahlen ebnen, die hat sie den Nachbarstaaten der Ecowas für Februar 2024 versprochen. AT 21 in den Gängen der Uni O-TON Ely Dicko Je suis sociologue de formation. Je suis membre de la commission de rédaction de l'avant-projet de constitution de la République de Mali. Erzählerin: Der Soziologe Ely Dicko lehrt an der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität von Bamako. Er ist Mitglied der 25köpfigen Kommission, die den Entwurf der neuen Verfassung geschrieben hat. Sie hätten sich dabei auf die gültige Verfassung von 1992 gestützt, und außerdem alle anderen Änderungsentwürfe herangezogen, die im Laufe der Jahre diskutiert, aber letztlich nie umgesetzt wurden. O-TON Ely Dicko Et on avait crée aussi un site Internet sur lequels les Maliens pouvaient aussi envoyer des propositions. Et donc on a recu à travers le site au moins 3727 individuelles des Maliens. Ça, c'est juste le site internet. Übersetzer 3: Wir haben außerdem eine Internetseite eingerichtet, auf der die Malierinnen und Malier Vorschläge einreichen konnten. Allein darüber haben wir 3727 Einreichungen erhalten. Erzählerin: Was außerdem einfloss: Empfehlungen der so genannten "Versammlungen zur Neugründung des Staates", die im Dezember 2021 stattfanden. Im Verfassungsentwurf bekommt der Präsident deutlich mehr Macht. Er würde künftig den Ministerpräsidenten und die Minister ernennen, er könnte sie auch entlassen. Außerdem wichtig: Mali bekäme eine zweite Parlamentskammer in Form eines Senats. Dessen Vertreter würden in den Regionen gewählt, aber nur zu einem Teil. Ein Drittel würde über religiöse Persönlichkeiten und kulturelle Würdenträger besetzt. Künftig würde Französisch von der Amtssprache zu einer Arbeitssprache herabgestuft, während alle malischen Idiome als Nationalsprachen anerkannt würden. Mali bliebe ein laizistischer Staat, Religion und staatliche Institutionen blieben also voneinander getrennt - obwohl sich rund 90 Prozent der Bevölkerung zum sunnitischen Islam bekennen. Und: Erstmals bekäme Mali einen Rechnungshof. Staatliche Funktionsträger sollen demnach nicht nur beim Amtsantritt ihr Vermögen offenlegen, sondern jährlich - und müssten erklären, woher eventuelle Zuwächse stammen. O-TON Christian Klatt Der bestehende Verfassungsentwurf ist nicht schlecht. Es wurde relativ viel Zeit darein investiert. Das Komitee, was ihn erarbeitet hat, ist eigentlich auch sehr hochkarätig besetzt gewesen. Erzählerin: Christian Klatt leitet das Büro der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung in Bamako. O-TON Christian Klatt Es gibt positive wie negative Aspekte in dieser Verfassung. Grundsätzlich ist es, glaube ich, eine relativ solide. Wichtig wäre aber eigentlich die Frage, wie sehr sie umzusetzen ist. Also wir sehen in der Regel, dass Mali keine Probleme damit hat, auf dem Papier gute Legislativen, gute Gesetzgebung, gute Prozesse auf den Weg zu bringen. Es ist immer die Umsetzung, an der es scheitert. Erzählerin: Bewegt sich Mali also doch in Richtung einer Demokratie, ist es tatsächlich dabei, sein eigenes Modell zu entwickeln? Ich frage Alassane Dicko, den Aktivisten vom Netzwerk Afrique-Europe-Interact, der ganz am Anfang der Übergangsphase an den landesweiten Versammlungen teilgenommen hat. Er hält sich seit einigen Wochen außerhalb Malis auf und antwortet mir mit einer Sprachnachricht: O-TON Alassane Dicko C'est un verre à moitié vide, à moitié plein. Et c'est cette image contrastée. Voilà la gestion en général, elle est apprécié. Je parle de mes observations pour la gestion en général de la transition. La gestion en général, elle, est appréciée par la population dans une très grande majorité. Il y a des ateliers qui se passent, beaucoup d'assemblée sociale, les autorités religieuses, coutumières sont impliquées dans la gestion des choses. Il y a pas mal de réorganisation sociale qui se passe, oui. Mais d'autre part, on ne peut pas dire que tout va bien et tout.... Quel est l'accès aux Maliens qui n'est par exemple pas d'accord - où il va s'adresser? Il y a une stigmatisation de tous ceux qui peuvent dire .... apporter de contradiction ou porter un miroir sur ce qui se passe. Donc ce n'est pas facile. Übersetzer 2: Das Glas ist halb leer und halb voll. Das Gesamtbild ist in sich sehr widersprüchlich. Die große Mehrheit der Menschen schätzt die Arbeit der Übergangsregierung sehr, das ist jedenfalls mein Eindruck. Es finden viele Workshops und Versammlungen statt, um die Bevölkerung über die verschiedenen Schritte zu informieren. Die religiösen und traditionellen Autoritäten sind in die Abläufe eingebunden. Gesellschaftlich ist viel in Bewegung. Andererseits kann ich nicht sagen, dass alles gut ist. An welche Stelle können sich beispielsweise diejenigen wenden, die mit den Entwicklungen nicht einverstanden sind? Diejenigen, die anderer Meinung sind oder den Finger in bestimmte Wunden legen, werden stigmatisiert. Es ist also nicht einfach. Erzählerin: Vielleicht sind die Militärs ja tatsächlich bereit, die Macht im Frühjahr 2024 an eine gewählte Regierung zu übergeben. Oder lassen sich womöglich selber wählen und machen dann weiter wie gehabt. Aber kann man einer Militärregierung trauen, die derart rücksichtslos gegen die Bevölkerung vorgeht und hunderte Menschen töten lässt? ATMO Markt Ségou O-TON Marktfrau Fatumata Diallo Übersetzerin: Ich kann Ihnen nur von Armut berichten. Erzählerin: Fatumata Diallo sitzt auf einem Schemel zwischen ihren Waren: Gurken, Zucchinis, Tomaten und weiteres Gemüse. In einem Plastikteller hat sie eine Avocado zerkleinert, die teilen sich gerade ihr Sohn und ihre Tochter, die beiden sind fünf und sieben Jahre alt. Alles sei teuer geworden, sagt die Händlerin, das Brot, der Reis, der Treibstoff - einfach alles. Sofern die Regierung irgendetwas subventioniere, käme das jedenfalls bei den Verbrauchern nicht an. O-TON Autorin Frage Est ce que le gouvernement devrait faire plus afin de les soutenir? Erzählerin: Müsste die Regierung mehr tun, um die Bevölkerung zu unterstützen? Übersetzerin Fatumata Diallo (Bambara) Die Regierung macht gar nichts für uns. Jeder schlägt sich durch, so gut er kann. Wir hatten geglaubt, dass unser Leben mit der Übergangsregierung leichter wird, aber das Gegenteil ist der Fall. Darüber sind wir natürlich enttäuscht. Für das Volk hat sich kaum etwas geändert. Für Wahlen interessiere ich mich nicht. Was mich interessiert, sind meine Arbeit und der Preis der Produkte. Erzählerin: Zu einem anderen Thema hat sie aber durchaus eine Meinung: O-TON Fatumata Diallo (Bambara) Übersetzerin: Es gibt keine Sicherheit in Mali, ständig werden Menschen überfallen. Die Übergangsregierung behauptet vielleicht etwas anderes, aber die sagen was ihnen gefällt, bloß um uns zu beruhigen. ATMO MUSIK MASTER SOUMI KONZERT Absage "Eure Demokratie wollen wir nicht" - Mali nach den Militärputschen Ein Feature von Bettina Rühl Es sprachen: Lisa Bihl, Jean Paul Baeck, Daniel Berger, Hüseyin Michael Cirpici, Rebecca Madita Hundt und Thomas Balou Martin Ton und Technik: Wolfgang Rixius und Christoph Schumacher Regie: Anna Panknin Redaktion: Wolfgang Schiller Eine Produktion des Deutschlandfunks 2023 2