Hörspiel Feature Radiokunst Das Feature Weißwasser schrumpft sich alt Vom Bleiben, vom Weggehen und vom Wiederkommen Autor: Henry Bernhard Regie: Dörte Fiedler Redaktion: Wolfgang Schiller Produktion: Deutschlandfunk 2022 Erstsendung: Dienstag, 04. Oktober 2022, 19.15 Uhr Es sprachen: Anna-Magdalena Fitzi und der Autor Ton: Christoph Richter Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. (c) - unkorrigiertes Exemplar - Atmo 1 2005 PSR-Bühne M/S Hintergrund laut dröhnende Musik, nah Cheerleader Ready! 1-2-3-4-5-6-7-8. Fest! Erzähler Im Sommer 2005 habe ich eine Gruppe junger Frauen in Weißwasser begleitet. O-Ton 2 Sprecherin im Feature 2006 Hinter der Bühne üben die Cheerleader ein letztes Mal vor dem Auftritt. Die Choreographie muß stimmen, die Pyramiden dürfen nicht wackeln und die Abgänge von oben müssen 100% gesichert sein. Atmo 3 Jump and fly, Cheers don't cry. We are the team and your dream. Go for Gold And you'll be free We are your energy! Erzähler Weißwasser war schon damals eine Stadt, die die demographischen Verwerfungen der Zukunft vorwegnahm. Die Stadt in der Oberlausitz nahe der polnischen Grenzen hatte seit der Wende fast die Hälfte ihrer Einwohner verloren, aus 38.000 waren 21.000 geworden. O-Ton 4 Sprecherin im Feature 2006 Sie haben etwas von weiblichen Münchhausens, die versuchen, sich selbst aus dem Sumpf zu ziehen, wenn sie auf blankem Parkplatz-Asphalt, zwischen Generatoren und Toiletten-Containern, ihre Tänze üben. Strahlend, aufgeregt, unsicher. Die Außenwelt fällt hier von ihnen ab, die Sorge um zukünftige Lehrstellen, der Ärger, daß Weißwasser kein Kino mehr hat und daß sie zur nächsten Disco 12 Kilometer fahren müssen; die Angst, daß die Lausitzer Füchse absteigen und daß es mit dem Eishockey, das einen Hauch von Welt - und sei es nur die deutsche Welt - in die Stadt bringt, ein Ende haben könnte. Jetzt zählt der Augenblick. Erzähler Aber nach dem Training, nach den Auftritten, da haben sie schon überlegt, wie es weitergeht, mit ihnen selbst, ihren Träumen und Plänen, mit "Jacka's Ice Devils". Und, bei den Älteren, auch mit einer Familie. Gerade am Schuljahresende, wenn wieder welche ausstiegen. Erzähler: Genau deswegen habe ich damals genau auf sie geschaut, auf die jungen Frauen. Weil es auf sie ankam. Blieben sie, dann hatte Weißwasser eine Zukunft, gingen sie weg, dann sah es schlecht aus für die Stadt. O-Ton 7 Laura Noparlik X/Y Na jetzt kommen die Tage, wo ich mich überhaupt nicht mehr drauf freue. Heute den Auftritt mache ich noch mit und morgen den im Eisstadion auch noch - und dann ist Schluß, weil man mit mir ja ab nächster Saison nicht mehr rechnen kann. Das ist schon sehr Scheiße. Vor allem, wenn die anderen trainieren und man selber nichts zu tun hat. Erzähler Im Sommer 2022 habe ich mich auf die Suche gemacht. Gibt es sie noch - die "Jacka's Ice Devils"? Wieviele von ihnen haben die Stadt verlassen so wie Laura? Und was ist aus ihrer Stadt geworden? Hat Weißwasser eine Zukunft? Sprecherin Weißwasser schrumpft sich alt. Vom Bleiben, vom Weggehen und vom Wiederkommen Ein Feature von Henry Bernhard ATMO 8 KNEIPE AUßEN O-Ton 9 Laura Noparlik LACHEN Autor Wie geht es ihnen? Laura Noparlik Mir geht es sehr gut, ja! Autor Schön! Laura Noparlik Lange ist es her vom letzten Mal bis jetzt. Autor Ja, das letzte Mal gesehen haben wir uns, als sie gerade losgefahren sind nach München mit ihrem Vater ... Laura Noparlik 2005, genau richtig ... Erzähler Laura war damals 16 und hatte gerade die 9. Klasse abgeschlossen. Am nächsten Morgen mußte sie in München ihre Lehrstelle antreten. Ihr Vater wartete schon im Nieselregen am Auto. Hart wird es schon werden, sagte der damals - aber sie sei ja kontaktfreudig. Hier habe sie ja doch keine Chance, sie werde schon Anschluss finden... O-Ton 13 Autor ... und das letzte mal gesprochen haben wir uns ein paar Wochen später am Telefon. Laura Noparlik Stimmt, genau, das waren da meine - ach Gott! - meine ersten drei, vier Wochen in München, dann im Hotel; richtig, genau. Autor Wenn Sie heute so auf die 16-Jährige gucken, die da 500 km ..., oder wie weit es nach München? Laura Noparlik 2022 600 ... Autor ... 600 km entfernt hingeht, mit 16 Jahren quasi alleine, da eine Lehre zu machen. Wie sehen Sie die junge Frau? Laura Noparlik 2022 Respekt! Respekt, also mit 16 Jahren ist halt wirklich mutig. Und ich würde es jetzt genauso immer noch machen. Also, ich habe das ja in den letzten Jahren gesehen: Ich bin ja immer alleine irgendwohin gezogen. Also, sei es Dresden, sei es jetzt Rostock gewesen, aber mit 16 Jahren: sehr mutig! Aber ich bin durch die Zeit in München auch sehr selbständig geworden. Und das tat mir, glaube ich, ganz gut. Autor Und Heimweh? Laura Noparlik 2022 Hatte ich anfangs, muss ich sagen. Kann ich mich ganz genau noch erinnern: Das erste Wochenende, wo ich arbeiten musste, hatte ich meine Eltern am Telefon. Da habe ich geweint. Weil die mir erzählt haben, sie sind gerade am Grillen! Und ich saß alleine in meinem Zimmer in München! Weil, ich hatte ja nur ein einfaches Personalzimmer gehabt, das war spärlich eingerichtet, mit einem Bett, einem Schrank und einem Schreibtisch, das war's ja. Und da saß ich da alleine. Und auf einem Dorf. Ich war ja nicht direkt in München. Es war ja so ein kleines Dorf bei München. Da kam dann so das Heimweh. Aber ansonsten ging es, muss ich ganz ehrlich sagen. Ich habe mich eigentlich schnell und gut eingelebt. Ich hatte schnell Freunde. Ich bin im Hotel schnell mit den Leuten klargekommen. Wäre das nicht gewesen, wäre es mir schwergefallen! O-Ton 14 Lutz Buschmann 2022 Also, "Der Osten blutet aus. Powerfrauen hauen ab, Dorftrottel bleiben da." Bißchen überspitzt dargestellt, aber die Grundaussage bleibt, hat bis heute Aktualität und Gültigkeit. Erzähler Das Plakat mit dem Cartoon aus dem "Eulenspiegel" in Lutz Buschmanns Arztpraxis ist sogar vom Urheber signiert. Buschmann ist Spezialist für Krankheiten der menschlichen Blutgefäße. Schon 2005 war er nicht verlegen um klare Aussagen. O-Ton 15 Lutz Buschmann 2005 M/S Ich mache also von früh bis abends nur Ultraschall der Gefäße. Und mein Zielpatient ist der alte Mensch oder der Diabetiker. Und wir haben hier reichlichst alte Menschen und reichlichst Diabetiker, mehr als im Bundesdurchschnitt. Und wenn er nicht Diabetiker ist, weiß er's eigentlich noch gar nicht, daß er doch Diabetiker ist! Erzähler Damals lag die Arbeitslosigkeit in Weißwasser bei etwa 24 Prozent. O-Ton 16 Lutz Buschmann Es sind viele Patienten, die in dieser Region arbeitslos sind, und diese Langzeitarbeitslosigkeit bringt Aussichtslosigkeit. Die bringt Depression, Verlust des Selbstwertgefühls; und diese Depressionen äußern sich zum Beispiel auch an der Krankenstatistik. Es ist auffällig, dass wir also überdurchschnittlich viele Patienten haben, die Rückenschmerzen haben, die Muskelverspannungen haben... nicht jeder Bürger ist bereit, die Gegend zu verlassen. Es gibt auch familiäre Bindungen... Das spielt alles mit in dieser Region ein. Und schlägt sich dann natürlich auch in dieser Krankheitsstatistik nieder. Erzähler Heute sind in Weißwasser noch rund 7 Prozent arbeitslos. ATMO 17 PRAXIS, STIMMEN Erzähler Seit 2009 hat Buschmann eine neue, größere Praxis. O-Ton 18 Lutz Buschmann 2022 Hinter dem Empfang, das sieht man hier eigentlich gar nicht, ist ein Archiv. Wir können doch mal kurz hingehen. Hier ist die gesamte Bevölkerung von Weißwasser gespeichert. LACHT Kann man so sagen, ja! Ich habe in meiner Kartei jetzt 25.000 verschiedene Patienten. Das heißt, Weißwasser hat reichlich 15.000 Einwohner, ich hab ja deutlich mehr Patienten in meiner Partei als Einwohner in Weißwasser. Also, der Bürger mit Rollator bildet schon einen gewissen Grundstandard in der Öffentlichkeit ab. Erzähler Der Sarkasmus war schon bei meinem ersten Besuch 2005 derselbe. Doch damals kam noch etwas Persönliches dazu, was Buschmann bedrückte. O-Ton 19 Lutz Buschmann Ich kann aus einem eigenen Beispiel, vielleicht aus der eigenen Familie sprechen, weil: Meine Tochter hat hier die 10. Klasse gemacht und hat hier keine Aussicht auf einen Ausbildungsplatz. Sie hat jetzt einen Ausbildungsplatz in Berlin. Und hat mir gesagt: "Papa, ich komme nicht mehr zurück; rechnet mit mir nicht mehr in der Gegend!" O-Ton 20 Lutz Buschmann 2022 Die Mädchen sind schneller dabei, die Heimat zu verlassen. Das ist so geblieben. Und das sehe ich auch in meinem Freundeskreis: Die Mädchen sind die, die gerne ... Zack - studieren die plötzlich in Amsterdam! Ist so geblieben. Wahrscheinlich haben die Frauen einen schnelleren Fluchtreflex aus dem Nest heraus, um etwas aus sich zu machen. Ich finde es ja auch gut so. Erzähler Buschmann erzählt, dass sogar die Älteren wegziehen, wenn sie erst Rentner sind: Den Kindern, den Enkeln hinterher. Nach Bayern, nach Baden-Württemberg, in die größeren Städte in Sachsen. O-Ton 21 Lutz Buschmann 2022 Die paar Geburten, die wir momentan haben, reißen das nicht raus. Das Nadelöhr sind die Hebammen. Wir hatten eine langjährige Hebamme, die bis zum 76. Lebensjahr hier mit die Versorgung aufrechterhalten hat. Aber sie hat dann gesagt: "Jetzt ist Schluss. Irgendwann muss Schluss sein. Und jetzt ist Schluss." Jetzt ist es wieder möglich, dass man hier in Weißwasser entbinden kann, aber gerne nur Montag bis Freitag, von 8 bis 16 Uhr. Erzähler Damals wurde abgerissen in Weißwasser. Neubaublock für Neubaublock. Die zuletzt gebauten zuerst. Gerade mal 30 Jahre alt. Schrumpfen von außen nach innen. Silvia und Ingo Wobst gingen damals mit ihren Jungs in Weißwasser-Süd spazieren. O-Ton 23 Ingo Wobst 2005 X/Y Also, wir haben es so, wenn wir früh aus dem Haus gehen - ich hab das auch viel gehabt, wo ich noch auf Arbeit gefahren bin -, auf der einen Seite hört man die Bagger vom Tagebau, und auf der anderen Seite hört man die Bagger vom Abriß! O-Ton Silvia Wobst 2005 X/Y Es tut mir weh, das mit anzusehen. Ich bin seit 1984 hier, ich hab gesehen, wo wir eingezogen sind, die Kräne, die die Häuser alle so aufgebaut haben. Und dann die letzten 5 Jahre, die vielen leeren Fenster, gerade in der Weihnachtszeit, die dann dunkel sind. Es ist schon irgendwo deprimierend. O-Ton Ingo Wobst 2005 X/Y Man muß aufpassen, daß man nicht der Letzte ist. Das macht ein bißchen Angst. Aber es gibt hier auch keine Arbeit und nichts. O-Ton Silvia Wobst 2005 X/Y Und irgendwann ... hat man keine Nachbarn mehr. O-Ton Ingo Wobst 2005 X/Y Es sieht trübe aus. Erzähler Da, wo wir vor 17 Jahren zwischen leergezogenen Neubauten standen, ist heute ein kleiner Wald. Kiefern, Laubbäume, Büsche, ein paar Birken am Rand. Die Straße durch das Wäldchen heißt wie zum Hohn immer noch "Straße der Jugend". Fünf laufende Kilometer DDR-Plattenbauten wurden hier abgerissen. Das Straßenschild verschwindet fast im wuchernden Farn. O-Ton 26 Jacqueline Schneider Da habe ich ja selbst als Kind gelebt, da ist nur noch Wald. Da kann man sich nicht mehr vorstellen, dass dort zahlreiche Häuser gestanden haben, wo sehr viele Menschen gelebt haben. Erzähler Jacqueline Schneider ist 42. Seit ein paar Wochen lebt sie wieder in Weißwasser - nach über 10 Jahren in Berlin. Sie war die "Jacka" im Namen von "Jacka's Ice Devils", den Cheerleadern der Lausitzer Füchse. O-Ton 27 Jacqueline Schneider Das ist ja wirklich, wie wenn ich es jetzt mal vergleichen darf wie - das Wort "Ghetto" ist immer so unschön, aber so unschön meine ich es gar nicht-, aber das war wirklich so der zentrale Punkt, wo gefühlt alle von Weißwasser gelebt haben. Ja, der Rest war sogenannt die "High Society", und alle anderen haben in Süd gewohnt und sind dort groß geworden. Davon ist nichts mehr da. Aber ich muss sagen, viele Leute, die in Süd gelebt haben, die sehe ich immer noch im Weißwasser, die sind immer noch da, sind nur halt in eine andere Ecke gezogen. Erzähler Auch Laura Noparlik und ihre Schwester Melanie haben mal in "Süd" gewohnt. O-Ton 28 Melanie Noparlik Wir waren ja, glaube ich, mal 38.000 Einwohner. Als die Wende kam, war ich zehn, neun. Also, das war schon viel, viel belebter. Ganz anders das Miteinander auch. Und also auch auf den Straßen, die Geschäfte, also: Es war immer was los. Zwar nicht so viele Autos, gab es damals noch nicht, aber selbst in den Schulen. Es sind immer weniger Schüler geworden, immer die Klassen immer kleiner, immer kleiner ... Also ich war dann zum Schluss auch in der Klasse mit, glaube ich, zehn Schülern nur noch! Das war schon eine total krasse Abwanderung. Wenn man am Abend rausgeht: Bürgersteige sind hochgeklappt, und es ist nicht mehr viel los. Aber wenn man hier ist, man gewöhnt sich dran. O-Ton 29 Laura Noparlik Es ist traurig manchmal. Wir hatten heute das Thema. Ich bin heute mit meinem Freund hierhergekommen. Er ist ja nicht aus Weißwasser, ihn habe ich ja auch in Rostock kennengelernt und wo wir durch Weißwasser gefahren sind, dass da früher alles belebt gewesen und jetzt ist überall Leerstand. Das ist traurig, irgendwo auch erschreckend, wenn man es halt anders kennt. Oder bei uns die Straße, wo meine Mutti wohnt, habe ich auch erzählt: Früher haben so viele Autos dagestanden, hat man einen Parkplatz gesucht und da, wo wir heute geparkt haben, eigentlich, das war Luxus damals, wenn man den bekommen hat. Also es ist wirklich erschreckend und traurig teilweise, obwohl ich gerne hier bin. Und ich finde es schade eigentlich, weil man hier so viel machen könnte. Es ist im Prinzip keine hässliche Stadt, es ist eine schöne Stadt. Aber ... ja ... O-Ton 30 Wolfgang Kil 2005 M/S Es gibt Städte, die braucht man jetzt nicht mehr. Also müssen wir überlegen, wie wir sie möglichst glimpflich wieder aus dem Verkehr ziehen können. Erzähler Wolfgang Kil ist Architekturkritiker. Seit dem Umbruch im Osten beschäftigt er sich eher mit der Architektur des Nicht-Bauens, der Leere, des Verschwindens. So sprach er 2005: O-Ton 31 Wolfgang Kil 2005 M/S Wir brauchen weder Guben noch brauchen wir Weißwasser! Erzähler Und heute? Wie sieht er das heute? Will er Weißwasser immer noch aus dem Verkehr ziehen? O-Ton 32 Wolfgang Kil 2022 Es war eine Zeit, in der man durchaus mit Provokationen erst mal eine Diskussion anschieben konnte. Erzähler "Luxus der Leere" heißt das Buch, mit dem Kil 2004 das Schrumpfen der Städte im Osten zum Thema machte. Ehrlich, schonungslos, aber doch auch mit einem Schuß Hoffnung oder Neugier redete er über das, was viele lieber nicht so genau wissen wollten. O-Ton 33 Wolfgang Kil 2005 M/S Die einzige Chance, die der Osten vielleicht haben kann, wenn man wir ihn nicht völlig vergessen wollen, ist die, daß wir ihn zum Experimentierfeld ausrufen! Erzähler Eine positive Vision müsse man haben, eine neue Mischung von Leuten, von jungen Leuten, aus Ost und West oder sonst woher, sonst ginge hier alles den Bach runter. Seitdem ist Weißwasser noch einmal um ein Viertel geschrumpft. Die Plattenbauten wurden weniger und flacher. Und individueller. O-Ton 34 Wolfgang Kil 2022 Vieles von dem, was ich damals als Vorhersagen, so als Möglichkeiten beschrieben habe, war mir klar: Dafür gibt es ein Zeitfenster, und wenn wir dieses Zeitfenster nicht einhalten, dann schließt sich das wieder. Das ist für viele der Dinge, die ich beschrieben habe, passiert. Diese Unsummen, die da so rüber geflossen sind, sind sozusagen nicht wirtschaftlich aktiv geworden, sondern die sind einfach verbraucht worden. Als ich an dem Buch gesessen habe, was ja jetzt 15 Jahre her ist, war noch genügend Kraft und Neugier und Selbstbehauptungswillen und Trotz und alles Mögliche noch da. Diese Leute gab es damals noch. Inzwischen gibt es die, glaube ich, nicht mehr, jedenfalls nicht mehr als breites Phänomen. Die Leute sind einfach mürbe. Man kann nicht 30 Jahre lang Leute experimentieren lassen. Das geht einfach nicht. Irgendwann ist Schluss! Dann werden die alt und werden sagen, "Rutscht mir den Buckel runter!", oder, "Mit euch rede ich nicht mehr!" Und dann kommt zum Beispiel die AfD, die AfD sammelt eben nicht die Experimentierfreudigen ein, sondern die sammelt die Experimentierzermürbten ein, die sagen, "Ich will jetzt nicht mehr! Ich will keine Versprechungen mehr! Es passiert ja sowieso nicht!" Auch aus diesem Grunde würde ich das, was ich damals geschrieben habe, heute nicht mehr schreiben, weil ich selber auch nicht mehr an diesen Elan dieser Aufbruchsgesellschaft glaube. O-Ton 37 Dorit Baumeister Wir müssen endlich anfangen, der Wahrheit ins Auge zu blicken. Wir müssen darüber sprechen. Und wir haben keine Chance, weder Hoyerswerda noch Weißwasser. Wenn wir keinen Zuzug bekommen, hat sich das Ding hier gegessen. Erzähler Das sagt eine gute Bekannte von Kil, Dorit Baumeister. Sie ist Architektin und hat den sehr ähnlichen Niedergang der Stadt Hoyerswerda miterlebt. Seit zwei Jahren ist sie Baudezernentin in Weißwasser. O-Ton 38 Dorit Baumeister In Weißwasser leben heute noch 15.500 Einwohner in einer katastrophalen demografischen Zusammensetzung. Es wird dreieinhalb Mal gestorben, und eine Geburt steht dagegen. Da gibt es keine Rettung mehr. Das muss man sich klarmachen. Und dann fehlen auch noch die wichtigen Generationen, die wir brauchen, die anpacken, zwischen - ich sage jetzt mal 20 und ... gehen wir mal bis 60. Und das verschlimmert sich. Das ist Stand heute; wenn wir jetzt auf 2035 blicken und es passiert nichts, wissen wir, dass in Weißwasser nochmal die Gruppe der 20 bis 60-Jährigen um 18 Prozent abnehmen wird, um 18 Prozent! Da geht nichts mehr. Und hier sind wir in einer Situation, wo das Kind im Brunnen gefallen ist, was die Besiedlung betrifft. Wir sind total schwach besiedelt und können uns selber auch nicht mehr raushelfen. ATMO 39 Cheerleader-Training 2005 M/S Ready! On-two, down, up! Bleib fest! Lachen Erzähler Im September 2005 standen Laura und Jacqueline - Spitzname "Jacka" - zum letzten Mal gemeinsam auf einer Bühne. Die "Jacka's Ice Devils" trainierten zweimal die Woche, Auftritte bei jedem Heimspiel der "Füchse". 11/2, 2, manchmal 3 Minuten harter Sport. Tanz und Akrobatik mit Musik. weiter ATMO Cheerleader-Training 2005 M/S Ready! One-two, down, up! Erzähler Beim Training waren sie hochkonzentriert, jeder Fehler kann einen schweren Unfall nach sich ziehen, wenn sie menschliche Pyramiden bauen, die eine auf der Schulter der anderen - und dann noch ein "Flyer" ganz oben drauf. O-Ton 40 Jacqueline Schneider Zusammenhalt! Zusammenhalt, dass man auch in schweren Phasen - ich meine, die Mädels haben ja auch ihre Höhen und Tiefen gehabt -, dass man das durchstehen kann. Und das Wichtigste, dass Freunde wirklich eine Familie sind, also zur Familie gehören, die man sich dann bewusst ausgesucht hat. Das war eine einmalige Geschichte. Und ich habe viel drüber nachgedacht in der Zeit, wo ich in Berlin war, ob ich mich dort einem Team anschließe. Aber ich muss sagen, das hat mir gezeigt, dass unser Team wirklich etwas Außergewöhnliches war. Wir waren nicht dieses klassische Cheerleader-Team, was es abgesehen hatte, bei Wettkämpfen anzutreten. Unser Zuhause war und ist, glaube ich, bei vielen immer noch, das Eisstadion. Und da wollten wir sein. Und da wollten wir auftreten. Das andere war uns egal. ATMO 41 UMKLEIDE, SEKTKORKEN 2005 M/S Umkleidekabine, Sektkorken knallen Hat jeder ein Becher? Erzähler Es war der Tag von Lauras letztem Auftritt. September 2005. Die Show im Eisstadion war gut gelaufen. Die "Füchse" hatten sogar mal gewonnen. O-Ton 42 Anne Koslick 2005 M/S Ansprache mache ich keine große: Es hat Spaß gemacht. Vergeßt die Sachen, die gefallen sind, erinnert euch lieber an die Sachen, die gut geklappt haben! Und von daher stoßen wir drauf an! Der Laura alles Gute; es war heute das letzte Mal mit ihr. Ich hoffe, wir finden noch würdigen Ersatz für die Truppe ... Prost! O-Ton 43 Laura Noparlik 2005 M/S Mir geht's jetze gerade schlecht, weil ich sehr traurig bin. Ich war vorhin schon in der Drittelpause bei meiner Schwester, die mußte mich trösten; Also mir geht's momentan ziemlich schlecht. Also ich kann's mir noch gar nicht vorstellen, dorthin zu gehen, überhaupt jetzt arbeiten zu gehen. Das ist für mich noch ein riesengroßer Weg, bis ich damit klarkomme! ATMO 44 Umkleidekabine 2005 M/S lachen, Stimmen, Verabschiedung O-Ton 45 Laura Noparlik 2022 Hm. Ja, das war komisch. Daran kann ich mich auch noch erinnern, an das Gefühl damals beim Eishockey, der letzte Auftritt mit den Cheerleadern. Das weiß ich noch, das war beim Tag der Sachsen. Autor Und sie waren auch da; sie haben nämlich in der Drittelpause getröstet! Laura Noparlik 2022 Ja, stimmt! Daran kann ich mich erinnern, stimmt! Das habe ich, glaube ich, auch noch erzählt gehabt damals. LACHT Ja! Erzähler Anfangs fuhr sie noch jede Woche mit ihrem Vater, der auch in München arbeitete, nach Hause. Nach der Trennung der Eltern nur noch etwa einmal im Monat. O-Ton 46 Laura Norparlik 2005 M/S Am Anfang habe ich mir gedacht: Schön, von zu Hause weggehen, endlich eigenes Leben. Und jetzt rückt es immer näher, jetzt kommt schon der Gedanke: O Gott - deine Familie verläßt du, und auch noch so weit! Und ich will mich ja da unten ... Ich will das schaffen da unten! Ich will dann auch nicht nach Weißwasser zurück; ich will mich da aufarbeiten als Hotelfachfrau. Ich möchte irgendwas in der Branche weitermachen. O-Ton 47 Laura Noparlik 2022 Die Ausbildung war ... Wie soll ich sagen? Man war jung, man hat Zeit ... LACHT Man hat das irgendwie durchgezogen, und ich bin auch durchgekommen, und ich bereue es auch nicht, um Gottes willen. Nee, München ist wirklich eine superschöne Stadt, und ich habe die Zeit genossen, und ich denke gerne daran zurück. Autor Aber keine Lust gehabt zu bleiben? Laura Noparlik 2022 Was heißt, "keine Lust"!? Das ist schwierig zu sagen jetzt. Eigentlich war es damals mein Freund, den ich hatte. Der war aus Weißwasser, den habe ich hier kennengelernt, und das war so eigentlich der Grund, warum ich zurückgekommen bin. ATMO 48 ZIGARETTE ANZÜNDEN Dorit Baumeister: Ich darf rauchen!? ANZÜNDEN LACHEN O-Ton 49 Dorit Baumeister: Also, Schrumpfen ist eine Riesenherausforderung. Und es bedarf viel mehr Engagement und viel mehr Energie und Kraft und auch die Erkenntnis, dass man einen Umgang finden muss. Und zwar ging es wesentlich weniger um den gebauten Raum. Es ging vielmehr um die sozialen, kulturellen Folgen und Einflüsse. Das ist ein Riesenauftrag. Erzähler Dorit Baumeister sitzt und raucht ihre Selbstgedrehte auf einer sonnigen Bank im Hof der TELUX, einem soziokulturellen Zentrum in einer Industriebrache in Weißwasser. Hier haben mal 1.000 Menschen gearbeitet. Hier wurden das ganze 20. Jahrhundert lang Glaskolben und -Röhren produziert und weltweit exportiert. In den 20er und 30er Jahren war Weißwasser mit 11 Hütten der größte glasproduzierende Ort der Welt. Heute ist noch ein Produzent übrig. O-Ton 50 Dorit Baumeister Und dann die provokanten Fragen, die man dann auch diskutiert: Lohnt es sich dann überhaupt, dass wir hier auch Geld reinstecken? Sollte man diese Region nicht abwickeln? Ganz klares Nein. Das Recht hat niemand. Das Recht hat schon gar keiner, sich über diese Menschen drüber wegzusetzen, die hier 30 Jahre lang diese Prozesse hier ausgehalten haben und die hier Strom erzeugt haben für die ganze Republik. Und wenn man diese Menschen jetzt hier, wenn man die jetzt so behandelt ... Kann man nicht machen. Wohin wollen wir denn wissen, dass nicht hier in fünf Jahren irgendetwas Cooles da ist und die sagen, "Wir packen an!"? Wir sitzen ja gerade in einer irren Kulisse, oder? Ehemalige Glasfabrik, wunderbare Architekturen, 80% Leerstand. In Berlin ist das Goldstaub. In Leipzig ist das Goldstaub. In München ist das Goldstaub. Das sind alles enorme Räume und Freiheiten. O-Ton 51 Laura Noparlik 2022 LACHEN. Ich habe dann vier, fünf Jahre dann wieder hier im Weißwasser, gelebt, habe in der Gastronomie gearbeitet, habe nebenbei mein Schulabschluss eben nachgeholt, die 10. Klasse dann gemacht und an der Bar gearbeitet. Alles Mögliche, und dann hat es mich nach etwas Neuem gerappelt, und da habe ich mir die Pflege ausgesucht. Und das ging dann auch wieder drei Jahre, die ich dann in Dresden verbracht habe. Sind leider nicht so gut für mich ausgegangen, die Prüfung zur Pflegefachkraft habe ich damals nicht geschafft, bin zweimal durch die Prüfung gefallen. Ich bin wieder von Dresden nach Weißwasser gezogen und habe dann hier im Bad Muskau im Hotel gearbeitet. Dann ist ja leider meine Arbeitsstätte unglücklicherweise abgebrannt. Das war die Turmvilla im Bad Muskau damals ja. Und ja, jetzt bin ich seit 2020 in Rostock, habe dort auch erst mal angefangen, im Hotel zu arbeiten. Dann kam Corona, nebenbei Pflege, im Pflegedienst gearbeitet ... Ging dann aber leider aus gesundheitlichen Gründen nicht. Deswegen musste ich das dann auch wieder beenden. Ich sag ja: Auf und ab bei mir. Und jetzt bin ich seit Anfang des Jahres, also seit Januar, bei einem Flusskreuzfahrt-Unternehmen, und bin verdammt glücklich, wirklich, bin angekommen, fühl mich supergut. Also mir geht es auch wirklich gut und ja: aufregendes Leben bis jetzt gehabt! Erzähler In Rostock sucht sie nun mit ihrem Verlobten ein Haus. Sie kommt gern nach Weißwasser; ihre Mutter, ihre Schwester leben hier, viele Freunde. Aber zurück? O-Ton 52 Laura Noparlik: Nein. Autor Was denken sie, wie es weitergeht mit Weißwasser? Laura Noparlik Schwierig! Es kommen viele zurück. Vielleicht lebt ja dann noch einmal ein bisschen was auf. Also, Weißwasser wird nicht aussterben, das auf keinen Fall. Was ich schön fände, wäre, wenn gerade die die Geschäfte, die jetzt in der Stadt leer stehen, dass da irgendetwas gemacht wird. Dass es halt ... Es sieht halt einfach nur gruselig aus, überhaupt nicht schön, wenn man in die Stadt reinkommt. Wie so eine Geisterstadt, so eine Cowboy-Geisterstadt, O-Ton 53 Sebastian Krüger Ich mach bloß mal das Licht an, da sehen wir das auch mal. Erzähler Sebastian Krüger führt durch das TELUX. Beginn in der "Hafenstube", einem Veranstaltungssaal mit Bühne, Beamer und Bar. An der Decke hängen umgebaute alte Industrielampen, in den Tischen sind Bohlen mit Brandspuren von flüssigem Glas verarbeitet. O-Ton 54 Sebastian Krüger Das ist einer der Räumlichkeiten, die wir damals 2017, als Erstes angegangen sind und dann Stück für Stück über die Jahre weiter ausgebaut haben. Das ist der Bereich der ehemaligen Formwerkstatt. Hier wurden damals die Glasformen vorbereitet, und dementsprechend sah das hier, als wir hier angekommen sind, bei weitem nicht so aus, wie es sich heute darstellt. Die Räumlichkeiten sind groß, sie bieten sich an, umgenutzt zu werden, und somit ist das hier der Saal der sogenannten Hafenstube. Der Hafen ist in der Glasverarbeitung ein Gefäß, in dem die Glas-Rohmasse geschmolzen wird, im sogenannten Hafenofen-Prinzip. Es klingt nach Ankommen und hat direkt trotzdem einen Bezug zur Historie dieses Ortes. Und den haben wir damals ja als Erstes ausgebaut und nutzen ihn seither für die etwas leiseren Formate, unter anderem Kino, Poetry Slam, Lesungen, kleine Veranstaltungen, bis hin zu auch einmal gern auch schon Hochzeiten, die hier gefeiert worden sind. Erzähler Krüger ist in Weißwasser aufgewachsen. In den 90ern sei noch viel los gewesen. Skateboarden, Hip-Hop, Graffiti. Dann ist er nach Leipzig gegangen zum Studium. Sinologie. Danach Industrie- und Produktdesign an der Burg Giebichenstein. Und dann stand die Frage: Wohin? Die Welt stand ihm offen damals, sagt er. O-Ton 55 Sebastian Krüger Nach dem Studium war es für mich eher das Ziel, Richtung Berlin zu geben. Das gebe ich zu. Ich hatte dort auch ein konkretes Jobangebot gehabt. Zugleich hatte ich in der letzten Zeit meines Studiums wieder einen sehr intensiven Kontakt nach Weißwasser gehabt, unter anderem auch zu dem Trägerverein, der jetzt hier die Basis dieses soziokulturellen Zentrums bildet, und hatte gesehen: Es hat sich vieles verändert, nicht alles zum Positiven. Aber es zeichnen sich neue Möglichkeiten aus dieser freien Schwungmasse heraus ab. Und ich bin damals mit viel Vorschussvertrauen sicherlich auch in die Sache hineingegangen und habe gesagt: "Okay, dann geben wir dem Ganzen mal hier eine Chance!" Erzähler In die gelben und roten Backsteinbauten von TELUX sind Büros und Werkstätten eingezogen, aber auch Veranstaltungsräume, eine Halle für Konzerte. Hier ist so viel Platz, daß einmal Alice Weidel von der AfD und der Grüne Anton Hofreiter zur selben Zeit in unterschiedlichen Räumen Bundestags-Wahlkampf gemacht haben. Die AfD holte am Ende hier 36%, die Grünen 4. O-Ton 56 Sebastian Krüger Es sind Dinge noch nicht fertig, wie man so oft auch sagt. Und somit kann man hier auch gleich am Anfang viel Wirkung erzeugen, manchmal auch hier und da auch provokativ agieren, um so ein bisschen das Ganze aus dem Dornröschenschlaf aufwecken zu können. O-Ton 58 Dorit Baumeister Wir können nur sagen, wir müssen alles tun, damit die Gegend als eine spannende Gegend erkannt wird. Keine, die fertig ist, die eher Leute anzieht, die sagen, "Ich selber bin jemand, der gerne sich schöpferisch im Prozesse reinbegibt. Wir wollen mitmachen. Wir wollen nichts Fertiges. Wir wollen nichts Vorgekautes, und hier haben wir die Freiheiten ..." Wenn uns das gelingt und wir wirklich Zuzug generieren, die uns helfen, dass wir nicht weiter schrumpfen, nicht wachsen, nicht weiter nach unten gehen, und eine coole Sache hier kreieren, das wäre genial! Und daran arbeite ich. Ich weiß aber auch: Wir können scheitern. Dann ist es einfach vielleicht ein paar Jahre zu spät. Vielleicht, dass man sagt, "Oh, es hätte vielleicht vor zehn Jahren passieren müssen ..." Ja, so ungefähr ist das. Erzähler 2005 war Jacqueline Schneider mit 25 die Älteste der Cheerleader-Truppe. Sie machte sich Gedanken über ihre Zukunft. O-Ton 60 Jacqueline Schneider 2005 M/S Wenn wir, die Jugend in unserem Alter, also so ab 18 bis 25, wenn wir jetzt nicht anfangen, was zu unternehmen, dann wird es uns so bald nicht besser gehen. Bloß ... Was soll man machen!? ATMO 61 PROBE CHEERLEADER VOR AUFTRITT "Cheers don't cry ..." usw. O-Ton 62 Jacqueline Schneider 2005 M/S Also ich hoffe wirklich nicht, daß Weißwasser mal eine reine Rentnerstadt wird und dadurch auch so ein bißchen zum Dorf mutiert. Und ich hoffe auch, daß ein bissel die Geburtenrate mal wieder hochgeht! Ich meine: Ich würde gern loslegen, aber Und bevor man nicht mit sich selber klarkommt und sein Leben irgendwo absichert, sollte man sich auch keine Kind zulegen dann. Ich meine, gut: Ich habe mir auch immer das Ziel gesetzt: 25-27, so die Drehe; 27 wäre ja noch erreichbar ... Aber alleroberste Grenze 29, also nach 30 möchte es eigentlich schon nicht werden! Ich glaube, sonst lasse ich es ganz sein! Erzähler Auch in der Umkleidekabine, nach dem Auftritt, kam das Thema auf. O-Ton 63 Annette Koslick/ Jacqueline Schneider 2005 - ... na ja, ist auf Zuwachs gemacht! Warum eigentlich auch nicht? - Ich bin ja im richtigen Alter! - Na, dann gib dir mal ein bißchen Mühe! Ist ja wohl kein Problem, jemanden zu finden! - Doch, in Weißwasser schon! - Ach, für den kleinen Moment! Mein Gott, nee! - Na, find mal jemanden in meinem Alter, die sind doch alle jünger! - Na und - jung ist auch nicht schlecht! - Ja toll, da sitze ich mit dem Kind alleine da! Ich bin schon ein Scheidungskind, da muß mein Kind nicht auch noch ohne Vater aufwachsen! - Ach so, du willst ein Kind mit Vater haben, der immer da ist! - Na sonst kann ich auch zur Samenbank gehen! Außerdem habe ich noch ein paar Jahre! - Du, die Jahre vergehen so schnell! - Außerdem: Hosen sind nicht billig! Demzufolge ... -... auf Zuwachs kaufen, ja! -... auf Zuwachs kaufen. O-Ton 64 Jacqueline Schneider 2022 LACHT Ja, den Satz kann ich eins zu eins wiederholen, also das Weggehen und Kommen, das habe ich gut hinbekommen. Aber an der Gesamtsituation hat sich trotzdem nichts geändert, wirklich. Also, ich muss dazu sagen am Anfang war es wirklich Arbeit und Hobby die ganze Zeit. Dann bin ich durch Umstände, auch durch eine Trennung von dem Partner damals wirklich so in die Arbeitswelt reingerutscht. Also ich hab mich so in die Arbeit verbarrikadiert. Ich hatte damals dann parallel drei Nebenjobs. Damit waren die Wochenenden auch. Ja, und dabei ist das Thema dann leider auf der Strecke geblieben. Ja, aber ich habe sehr, sehr viele Freunde dazu gewonnen, jede Menge kleine Familien. Nur die eigene ist dabei auf der Strecke geblieben. Es ist schwierig. Ja, manchmal habe ich auch so das Gefühl: Angenommen, es würde passieren. Und ich würde schwanger sein. Der Gedanke ist auch ein bisschen abstrakt! So dann dieser Gedanke, jemand würde "Mama" zu mir sagen, das ist irgendwie, fühlt sich auch komisch an. Vielleicht ist es dann auch noch mal so dieses letzte Stückchen Kindheit loslassen. LACHEN Ich weiß nicht. Vielleicht ist es aber auch das, was mich so jung gehalten hat. Viele sind immer erschrocken, wenn ich mein Alter sage, "Nein, das glaube ich nicht!" LACHEN Ich kann Ihnen den Ausweis zeigen! LACHEN Erzähler Sie war Bürokauffrau damals, hat verschiedene Jobs gemacht, auch mal im Callcenter, eine Insolvenz eines Betriebes mußte sie auch erleben. O-Ton 65 Jacqueline Schneider 2022 Also ich war nie wirklich arbeitslos. Der einzige Knackpunkt damals, für den ich aber mittlerweile sehr dankbar bin, war, dass ich Weißwasser verlassen musste. 2009 bin ich dann nach Berlin gegangen, aus beruflichen Gründen, weil es hier einfach nicht mehr weiterging und ich nicht in die Arbeitslosigkeit rutschen wollte. Und dann über Beziehungen. Freunde kennen Freunde, die haben in Berlin jemanden gesucht als Verkäuferin. Und dann ging das Rucki-Zucki, und innerhalb von 14 Tagen war ich plötzlich weg. Erzähler Zum Training mit den Cheerleadern - es war ja ihr Baby - fuhr sie 1-2 mal die Woche die 2 Stunden mit der Bahn von Berlin nach Weißwasser. Inzwischen arbeitet sie schon 11 Jahre bei einem großen Versandhändler. Mit dem Training wurde es schwieriger. O-Ton 66 Jacqueline Schneider 2022 Zum einen ist es sehr, sehr schwierig, umso älter man wird, das Ganze mit der Ausbildung beziehungsweise gerade dann auch mit einem Beruf hinzubekommen. Und ich bin auf die Mädels nach wie vor stolz, dass sie das auch ohne uns geschafft haben, wo wir das Training immer gut in gute Hände abgeben konnten. Wir haben aber trotzdem immer tapfer weitergemacht, und wir haben dann auch Nachwuchs bekommen. Und ich glaube, da begannen dann auch die ersten Probleme. So diese alte Generation und die neue Generation - von der Einstellung her. Für uns war das Team und allgemein der Sport, das war Familie. Erzähler Am Ende mußten sie einsehen, dass es nicht mehr geht. "Jacqua's Ice Devils" gibt es seit Dezember 2016 nicht mehr. Sie verschwanden, versanken in der Erinnerung von Jacqueline, von Laura. O-Ton 67 Laura Noparlik 2022. Ich war hin und wieder dann noch mal, wenn ich hier war, in Weißwasser beim Spiel, wo es die "Jacqua's Ice Devils" noch gab. Aber das hat sich dann auch verlaufen. Kurz gab es noch mal das Gespräch, dass so das alte Team sich noch mal trifft privat, aber kam leider nicht mehr. Dafür sind viele einfach wirklich verstreut hier in Deutschland oder einige haben Kinder ... Und da ist ja alles nicht mehr so leicht, sich zusammenzufinden. O-Ton 68 Jacqueline Schneider 2022 Ja ... Und da sind dann wirklich sehr, sehr viele Wochen ins Land gegangen, wo wir uns dann auch beim Eishockey trotzdem immer wieder gesehen haben. Viele Tränen sind geflossen, wenn man jetzt drüber nachdenkt, selbst dann kommen noch mal ein paar Tränchen, dass es ist immer wieder was Emotionales. Und ich habe auch, ich glaube, es war gestern oder vorgestern, habe ich ein Foto bei Facebook geteilt. Das hatte ich vor vier Jahren drin. Da hat nämlich ein Fan für uns - also, das hat er mir zum Abschluss geschenkt - ein Fotobuch gemacht. Der hat immer fleißig Fotos von uns gemacht, egal, wo wir aufgetreten sind. Und ja .... Wenn ich mir das Buch angucke, dann kommt die Gänsehaut dann doch wieder. Ja. Erzähler Von den ehemals etwa 16 Mädchen und 3 Jungen bei "Jacqua's Ice Devils" sind noch etwa gut die Hälfte in Weißwasser, schätzt sie. Alle anderen hat es verstreut - nach Rostock, Potsdam, Dresden ... Jacqueline Schneider ist, sobald es der Job im Home Office zuließ, zurückgekommen nach Weißwasser. Cheerleader gibt es wieder beim Eishockeyclub, aber das hat mit ihrer alten Truppe nichts zu tun. Ohne Eishockey wäre Weißwasser gar nicht denkbar - sagt fast jeder, den man danach fragt. Immerhin war es ja in der DDR der einzige Club neben dem Berliner. O-Ton 69 Claudia Wolf Genau, da war ich in Berlin gewesen. Ich habe damals eine Ausbildung angefangen ... Erzähler Erzählt Claudia Wolf, die Tochter von Lutz Buschmann, dem Arzt. O-Ton 70 Claudia Wolf Ich habe mich sehr wohl gefühlt, und es war alles super gewesen. Aber es kam dann dieser Wendepunkt. 2009 war es, glaube ich gewesen, wo man dann so erstmals darüber nachgedacht hat: Möchte ich nicht doch wieder zurückkommen? Hab mich dann gefragt, "Wie wäre das Leben eigentlich in Weißwasser?" Habe dann so erstmals darüber nachgedacht, habe auch angefangen, tatsächlich zu suchen nach Arbeitsstellen, hier in Weißwasser und Umgebung. Es hat nicht geklappt. 2012 war es dann aber doch so weit. Und dann bin ich doch nach Weißwasser zurück. Allerdings aus dem Grund, dass ich schwanger geworden bin. Ja dieses Familiengebundene, das war eigentlich der Grund, warum ich zurückwollte. Erzähler Inzwischen arbeitet sie in Buschmanns Praxis. Sie fahren sogar alle zusammen in den Urlaub. Großeltern für die Kinder in der Nähe zu haben, sei unbezahlbar, sagt sie. O-Ton 71 Claudia Wolf Bin verheiratet, habe zwei Kinder, einen Hund, ein Haus mit Garten. Ein Mann natürlich. LACHT O-Ton 72 Lutz Buschmann Der Vorteil in Weißwasser und in unserem ländlichen Bereich ist ja, dass man hier auch noch ein Haus oder ein Grundstück zu total akzeptablen Preisen bekommt. O-Ton 73 Claudia Wolf Zum Beispiel mein Mann ist auch hier aufgewachsen in Weißwasser. Er kann sich zum Beispiel nie vorstellen, woanders hinzugehen. Also der ist so alt wie ich, auch 36. Er möchte ja auch gar nicht weggehen. Auch bei ihm, von seinen Freunden, sind viele hiergeblieben. Erzähler Buschmann, der 60 bis 80 Stunden pro Woche arbeitet, ist jetzt 62 und hat keinen Nachfolger für seine gutgehende Praxis in Sicht. Aber es gäbe auch Positives in der Stadt in den letzten Jahren. Toll sanierte und umgebaute Häuser, eine neue Eissporthalle, ein ganzes Sportzentrum seien entstanden. Die Wege seien kürzer geworden, weil die Stadt von außen nach innen schrumpft. ATMO 74 O-Ton Dorit Baumeister Also, ich bin in eine Stadt ... Ach, das gibt's doch gar nicht, jetzt kommt schon der Nächste! Was ist denn hier los!? O-Ton 75 Dorit Baumeister Ein bißchen Verkehr ist hier in Weißwasser, damit sie nicht denken, wir sind im Dorf! O-Ton 76 Dorit Baumeister Ich habe meine ganze mein ganzes Leben hier investiert, mittlerweile 30 Jahre. Und das ist nicht selten, dass man dann denkt: Gehe ich lieber nach Leipzig!? Da brauche ich mich nicht engagieren, dass die Stadt belebt ist. Da kann ich raus und kann ein Glas Wein trinken gehen. Da kann ich zum Tango gehen, muss es nicht selber organisieren. Sie müssen das nicht alles allein auf die Beine stellen. Also, es ist immer schon so gewesen, dass, wenn man mich gefragt hat, "Bleibst du oder gehst du?", dann war es immer so, dass ich sage, "OK, vier Tage bleibe ich, drei Tage gehe ich!" Das ist meine Haltung. Und das ist aber nicht schlimm, diese Reibung. Ich will ja sagen, das ist ja eine Qualität! Das ist eine Qualität, behaupte ich. ATMO 78 SCHLAGERNACHT Darin: Laura Noparlik 2022 Hi! Autor Alles Gute zum Geburtstag! Laura Noparlik 2022 Dankeschön, danke, danke! Karsten Hi, ich bin der Karsten! Laura Noparlik 2022 Da sind auch schon die Mädels, die ersten zwei ... Erzähler Es ist Lauras 33. Geburtstag. Bei der Schlagernacht am Badesee mitten in Weißwasser trifft sie ihre Freundinnen von früher. Am Mittag war sie noch beim Friseur, in Polen, da ist es günstiger. Weiter ATMO Hello! Grüß dich! Alles Gute zum Geburtstag! Laura Noparlik 2022 Dank, danke, danke, danke! Stimmen Bitte schön! Erzähler Sie kennt hier, sagt sie, vom Sehen bestimmt 70% der Leute. Über 2.000 sind da, ausverkauft. O-Ton 79 Laura Noparlik 2022 Wir haben gerade schon gesprochen hier mit meinem Freund, dass ich mich wahnsinnig freue drauf, weil er halt meine Freunde mal kennenlernt, die Leute mit denen ich am meisten zu tun hatte. Und das ist nun die erste richtig große Veranstaltung seit Corona jetzt wieder. Und ich finde es einfach nur schön, dass man zusammenkommt und wirklich alle möglichen Gesichter hier in der Stadt sieht. Es ist ein schönes Zusammensein mal wieder. Das ist halt das Schöne an Weißwasser, dadurch, dass es wie eine Kleinstadt ist, zu so einer Veranstaltung wie der Schlagernacht kommt jedes Alter. Weil halt nicht viel los ist - und das nimmt dann jeder mit! Egal, ob es die Musikrichtung ist, die man hört, oder nicht. Das ist dann nebensächlich. Hauptsache, der Spaß ist da. Deswegen freue ich mich wahnsinnig doll drauf. LACHT Sprecherin Weißwasser schrumpft sich alt. Vom Bleiben, vom Weggehen und vom Wiederkommen Ein Feature von Henry Bernhard Es sprachen Anna-Magdalena Fitzi und der Autor Ton: Christoph Richter Regie Dörte Fiedler Redaktion: Wolfgang Schiller Eine Produktion des Deutschlandfunks 2022 Bonus Tracks (alle M/S): 80-81 Cheerleader-Training 82 Festumzug Tag der Sachsen 2005 ("3 tolle Tage hier in Weißwasser ...") 83-85 Dorit Baumeister beim Rauchen und Lachen 86 Schalmeienorchester beim Tag der Sachsen 2005 87-88 Gitarrenunterricht 2005 89 Entkernen Haus 90 Punkband beim Festumzug 2005 91-93 aufgedrehte Cheerleader nach dem Auftritt 2005 94 Auftritt Cheerleader im Eisstadion 2005 95 Telefoninterview mit Laura 2005 kurz nach Beginn der Lehre (X/Y) 23